Der Hitler Code - Heiger Ostertag - E-Book

Der Hitler Code E-Book

Heiger Ostertag

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Beschreibung

„Die Maschine des Führers, eine Junkers 52/3m, befindet sich nun im Anflug. Der Rückflug vom Ufer des Lago Maggiore, wo in der kleinen Stadt Castelveccana ein Treffen mit dem Duce wegen der polnischen Frage stattgefunden hat, ist turbulent gewesen, genauso stürmisch wie die europäische Gegenwart. Doch die Menschen in allen deutschen Gauen, von der Nordseeküste bis zu den Dolomiten, von Tilsit an der Memel bis Trier an der Mosel, sind in ihren Herzen voller Zuversicht. Ja, sie hoffen, nein, sie wissen, dass es unserem Führer auch diesmal, wie schon im letzten Herbst in München, gelingen wird, unbeachtet der Provokationen Warschaus, mit den Westmächten Frankreich und England zu einer einvernehmlichen, friedlichen Lösung zu gelangen. Die Ostmark und das Sudetenland wurden heim ins Reich geführt, und wir sind felsenfest davon überzeugt, dass bald auch die alten deutschen Städte Danzig, Posen, Bromberg und Thorn wieder dem Deutschen Reich angehören werden.“ Die Stimme des Reporters verstummte und die Kamera, die ihn bisher in Großaufnahme vor dem Flugfeld Tempelhof gezeigt hatte, schwenkte hinauf zum Himmel. Es war ein sonniger, warmer Augusttag, genauer der 25. August 1939, 14:27 Uhr. Eine eingeblendete Skala zeigte die Bodentemperatur von fast 27 Grad Celsius und den Luftdruck von 1015 Millibar. Keine Wolke befand sich am strahlend blauen Sommerhimmel. „Der Hitler Code" ein Polit-Thriller von Heiger Ostertag. Basierend auf historisch-kontrafaktischen Recherchen zum III. Reich.

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swb media publishing®

Heiger Ostertag

Der Hitler-Code

Thriller

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Die Handlung und die handelnden

Personen sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen ist zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2017

ISBN 978-3-946686-43-9

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzungen,

Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen.

© 2017 SWB Media Publishing

SWB Media Publishing, Gewerbestr. 2, 71332 Waiblingen

Printed in Germany

Umschlaggestaltung Dieter Borrmann, Kleve

Lektorat: Carolin Ehrfeld

Satz: Julia Karl / www.juka-satzschmie.de

Druck und Bindung: Rosch-Buch Druckerei GmbH, 96110 Scheßlitz

Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.

www.suedwestbuch.de

Inhalt

1.Der Führer ist tot

2.Hoßbachs Papiere

3.Unter dem schwarzen Totenkopf

4.Die Fahne hoch

5.In der Stadt der Bewegung

6.Wer putscht, der stirbt

7.Befiehl du, wir folgen

8.Du bist nichts, dein Volk ist alles …

9.Ein Volk, ein Reich, ein Füh …

10.Der tote Hitler, ein »guter Hitler«?

Danksagung

1.Der Führer ist tot

»Die Maschine des Führers, eine Junkers 52/3m, befindet sich nun im Anflug. Der Rückflug vom Ufer des Lago Maggiore, wo in der kleinen Stadt Castelveccana ein Treffen mit dem Duce wegen der polnischen Frage stattgefunden hat, ist turbulent gewesen, genauso stürmisch wie die europäische Gegenwart. Doch die Menschen in allen deutschen Gauen, von der Nordseeküste bis zu den Dolomiten, von Tilsit an der Memel bis Trier an der Mosel, sind in ihren Herzen voller Zuversicht. Sie hoffen, nein, sie wissen, dass es unserem Führer auch diesmal, wie schon im letzten Herbst in München, gelingen wird, ungeachtet der Provokationen Warschaus, mit den Westmächten Frankreich und England zu einer einvernehmlichen, friedlichen Lösung zu gelangen. Die Ostmark und das Sudetenland wurden heim ins Reich geführt, und wir sind felsenfest davon überzeugt, dass bald auch die alten deutschen Städte Danzig, Posen, Bromberg und Thorn wieder dem Deutschen Reich angehören werden.«

Die Stimme des Reporters verstummte und die Kamera, die ihn bisher in Großaufnahme vor dem Flugfeld Tempelhof gezeigt hatte, schwenkte hinauf zum Himmel. Es war ein sonniger, warmer Augusttag, genauer der 25. August 1939, 14:27 Uhr. Eine eingeblendete Skala zeigte die Bodentemperatur von fast 27 Grad Celsius und den Luftdruck von 1015 Millibar. Keine Wolke befand sich am strahlendblauen Sommerhimmel.

Aus Südwesten näherte sich ein silberglänzender Punkt, der rasch größer wurde, das Flugzeug, in dem Adolf Hitler von seinem Krisentreffen mit Benito Mussolini zurückkehrte. Allmählich wurden die Konturen deutlicher; nun senkte sich die Maschine nach vorne und der Pilot begann mit der Landephase.

»Jetzt geht das Flugzeug in den Landeanflug über«, setzte wieder die Stimme des Reporters ein. »Ganz sacht gleitet die Junkers näher und näher. Der Pilot wackelt zur Begrüßung mit den Flügeln … Was ist das? Aus Westen ist plötzlich ein zweites Flugzeug aufgetaucht, dessen Bahn direkt die der JU 52 zu kreuzen droht. Um Gotteswillen, sieht der andere Pilot nicht die Gefahr? Wenn er so weiter fliegt, werden beideMaschinen in der Luft kollidieren! Da, im letzten Augenblick reißt der Pilot des Führers die Junkers in die Höhe. Diese schwankt, droht durchzusacken, in ein unkontrolliertes Trudeln zu geraten und in die Tiefe zu stürzen! Aber ihm gelingt es, das schwere, für solche Manöver nicht ausgelegte Flugzeug zu stabilisieren und auf Höhe zu bringen, um erneut in den Anflug zu gehen. Und die andere Maschine? Es scheint sich um eine Messerschmitt vom Typ 109 zu handeln. Das wird für den Piloten Konsequenzen haben, eine solche Gefährdung muss geahndet werden, zumal der Führer … Mein Gott, was macht der Mann jetzt? Die Messerschmitt zieht ebenfalls nach oben, legt sich in eine enge Kurve und setzt sich genau hinter die Junkers. Fast möchte man meinen, einem Luftkampf beizuwohnen. Nun zieht er die Maschine steil nach oben und … ist der Pilot völlig verrückt geworden? Er stößt schräg nach unten, gerade auf den Rücken des anderen Flugzeugs zu und kracht mit der Messerschmidt direkt in die Junkers hinein! Beide Maschinen bilden ein dunkles Gewirr und – sie explodieren! Sie explodieren!«

Die Stimme des Reporters überschlug sich. Ein ungeheurer Detonationsknall war zu hören, Menschen schrien, aus der Ferne tönten Sirenen. Dann, nach einer endlos wirkenden Pause, setzte wieder der Reporter ein. Mit tränenerstickter Stimme verkündete er: »Es ist schrecklich, es ist unvorstellbar! Das kann niemand überlebt haben. Entsetzliches ist geschehen! Ein Attentat auf den Führer, unser Führer Adolf Hitler ist tot!«

Die Filmaufzeichnung endete.

Dr. Friedrich von Schirach lehnte sich zurück. Wie oft hatte er die Aufzeichnung in den letzten Tagen schon angesehen? Er wusste es nicht, doch noch immer traf ihn der Mitschnitt des Todes des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler bis ins Innerste. Offiziell war der Führer bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Und jetzt das! Das war kein Unfall, das war ein bewusster Angriff auf die JU 52 gewesen. Über Jahrzehnte hinweg war das wirkliche Geschehen streng geheim gehalten worden. In keiner der zahlreichen Darstellungen und Biografien zum Leben des Führers hatte auch nur eine Zeile über ein Attentat im Sommer 1939 oder gar über mögliche Hintergründe gestanden.

Von Schirach blickte sinnend aus dem Fenster seines Büros im Historischen Institut in der Alfred-Rosenberg-Straße. Ein Trupp Hitlerjungen marschierte singend und trommelnd am Haus vorbei. Gegenüber lag das verwinkelte Gebäude des Museums für Entartete Kunst, das der Nachfolger Hitlers im Reichskanzleramt Hermann Göring 1947 für seine Kunstsammlung hatte bauen lassen. Zwei Jahre später war Göring einer Herzattacke erlegen, was in Anbetracht seines enormen Übergewichts kein Wunder gewesen war. Überhaupt schienen viele der Granden des Großdeutschen Reichs erstaunlich früh und unerwartet verstorben zu sein. Heinrich Himmler, der, wie es in Historikerkreisen hieß, wohl selbst Ansprüche auf die Führung in Berlin angemeldet hatte, war ein Jahr nach Hitlers Tod im Alter von gerade vierzig bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Rudolf Hess, der offizielle, von Göring allerdings rasch beiseitegeschobene Stellvertreter des Führers, hatte im Winter 1941/1942 eine Lebensmittelvergiftung dahingerafft. Und und – die Liste ließ sich mit Heydrich, Saukel, Ley und Rosenberg durchaus fortsetzen. Für die Öffentlichkeit waren diese Fakten weitgehend unbekannt geblieben. Weder die Reichspresse noch die Wochenschau hatte sich mit ihrem Ableben mehr als nötig beschäftigt. Sie waren von einem auf den anderen Tag aus der allgemeinen Wahrnehmung wie verschwunden gewesen. Erst durch seine Forschung waren von Schirach diese Fakten aufgefallen, wobei er eine zufällige Koinzidenz der Fälle nicht gänzlich ausschließen mochte. Auch hatte von Schirach seine Untersuchungen längst nicht abgeschlossen, und vieles schien ihm nach wie vor unklar zu sein. So waren seine Ergebnisse bislang unter Verschluss geblieben und nur zwei Personen hatte er Einblick in seine Aufzeichnungen und Unterlagen gestattet. Der Kreis der »Wissenden« beschränkte sich auf seinen Freund aus der Schulzeit Hans-Joachim von Ribbentrop und seine Assistentin Eleonore Klink. Jetzt war von Schirach aufgefordert worden, einen Vortrag über den Stand seiner Recherchen zu halten und diesen auch in Schriftform vorzulegen. Das konnte schwierig werden, denn seine Forschung hatte in bestimmten Bereichen längst den Pfad des ihm vorgegeben Auftrages verlassen. Ja, dachte er, der Auftrag …

Er erinnerte sich genau der Situation im Frühsommer. An jenem Morgen, es war Dienstag, der 26. Juni gewesen, rief ihn die Sekretärin von Professor Mannerheim an und bestellte von Schirach für den Mittag in das Militär- und Nationalgeschichtliche Institut nach Potsdam …

»Mein lieber Dr. von Schirach«, begrüßte ihn der Professor jovial, als er in dessen Arbeitszimmer trat. »Schön, dass Sie die Zeit gefunden haben, in unser Institut zu kommen. Der militärische Leiter unseres Hauses General von Alvensleben ist Ihnen sicher bekannt.«

Ein schlanker Mann Anfang, Mitte fünfzig erhob sich aus einem Sessel und gab von Schirach die Hand.

»Ich freue mich, den Großneffen unseres verehrten Reichsjugendführers Baldur von Schirach einmal persönlich kennen zu lernen. Mein Großvater und er waren lange Jahre gute Freunde. Ich glaube, Ihr Großonkel hat ihn sogar einmal in Santa Rosa de Calamuchita besucht, wo mein Großvater seine letzten Lebensjahre verbrachte. Ja, die guten alten Zeiten … Aber kommen wir zum Grund Ihres Besuches. Herr Professor, wenn Sie bitte die Darstellung übernehmen!«

»Sie sind seit einigen Jahren als Fachjournalist für ›Historia heute‹ tätig und arbeiten seit kurzem, wie ich weiß, an einer Studie zur jüngeren Geschichte des Deutschen Reichs in den Jahren 1940 bis 2015. Korrekt?«

Von Schirach nickte. Das war der Hintergrund seiner Kontakte zum Institut und zum Reichsarchiv. Vor allem die Quellen zur Phase der späten 40er und der 50er Jahre stellten in dem Zusammenhang eine lohnende Forschungsaufgabe dar, da diese Umbruchszeit bislang nicht vollständig erfasst und dargestellt worden war.

»Sie sind daher mit der Quellenlage gut vertraut.«

Mannerheim stockte einen Augenblick, als ob er um eine Formulierung zu ringen habe. Von Alvensleben wippte ungeduldig mit den Füßen und es schien, als wolle er selbst das Wort ergreifen, da hatte der Professor offenbar die passende Wortwahl gefunden.

»Wie Sie wissen, arbeitet unser Haus derzeit an dem Jahrhundertwerk zur Deutschen Geschichte, das pünktlich zum hundertjährigen Jubiläum des Eintritts des Führers in die Politik 2019 in zwanzig Bänden erscheinen soll. Nun hat Oberst Dr. Schröder, dessen Gruppe für die Bände 1935 bis 1940 und 1941 bis 1945 verantwortlich war, bedauerlicherweise einen Infarkt erlitten und ist vor einer Woche verstorben. Sein Stellvertreter, Oberstleutnant Dr. Maier-Welcker, ist seit Monaten erkrankt. Und der dritte Mann im Bunde, Major Seersfeld, ist überraschend zu unserer Botschaft in Teheran als Militärattaché abkommandiert worden …«

An dieser Stelle räusperte sich der General vernehmlich und Mannerheim unterbrach sofort seine Erklärung.

»Jedenfalls brauchen wir dringend jemanden, der in der Materie zu Hause ist. Und das sind Sie, Herr Dr. von Schirach. Professor Vensge, der Ihr Projekt betreut, hat Sie wärmstens empfohlen.«

»Zumal Ihr Großonkel ein Mann der ersten Stunde und mit dem Führer eng verbunden gewesen ist!«, warf der General ein. »Kurz, Sie übernehmen das Projekt. Für die Zeit werden Sie militärisch aktiviert und erhalten den Dienstgrad eines Majors. Ihre Berichte gehen direkt an mich und an Professor Mannerheim.«

»Schröders Assistentin Frau Dr. Klink wird Sie über den aktuellen Stand in Kenntnis setzen«, fügte letzterer hinzu.

Damit sah sich von Schirach entlassen. Das Ganze hatte mehr den Charakter einer Anweisung, ja einer Befehlsausgabe gehabt, überlegte von Schirach. Ganz in der Art und Weise, wie dies Militärs zu halten pflegten. Dass sich die Gesellschaft und vor allem die politische Wirklichkeit in den letzten zwanzig Jahren deutlich verändert hatten, schien bei der militärischen Elite noch nicht angekommen zu sein.

Seine neue Arbeitsstätte war die Außenstelle des Militär- und Nationalgeschichtlichen Instituts in der Alfred-Rosenberg-Straße.

Frau Dr. Eleonore Klink hatte ihn in den folgenden Wochen intensiv eingewiesen. Das Projekt war zu seiner Überraschung erstaunlich weit geraten gewesen. Im Eigentlichen standen beide Bände kurz vor der Drucklegung.

»Klaus-Peter …, also Oberst Schröder, hatte das Gesamtmanuskript bereits zum Satz gegeben«, erklärte die Kollegin. Sie wirkte ziemlich jung, von Schirach schätzte ihr Alter auf höchstens dreißig. Dazu war Frau Klink mit ihrem modisch frisierten Blondhaar und der schlanken, dabei durchaus fraulichen Figur und den klaren, fein geschnittenen Gesichtszügen sehr attraktiv. Auch besaß die Kollegin erstaunliche Fach- und Sprachkenntnisse und gehörte damit zum Typus der neuen Frau. Noch 1983 hatte Frauenschaftsführerin Eva Riefenstahl auf dem Reichsfrauenschaftstag in Nürnberg mit großer Vehemenz aus »Mein Kampf« zitiert. »Mädchen gedenke, dass du eine deutsche Mutter werden sollst!« und »Das Ziel der weiblichen Erziehung hat unverrückbar die kommende Mutter zu sein.« Doch seit Ende der 80er Jahren war das alte Frauenbild Stück für Stück revidiert worden. Das blonde Gretchen, das im Schiller’schen Sinne daheim am Herd waltete, die Kinder hütete und sich für den Gatten und das Land gleichermaßen aufopferte, war schon in den Endsechziger Jahren von den Studentinnen des Leni Riefenstahl-Bundes heftig hinterfragt worden. Erst als sich 1986 ihre Mitkommilitonen vom George-Kreis und des Wartburg-Bundes sowie die unermüdliche Hitler-Witwe Eva Braun ihren Forderungen anschlossen, letztere sogar unter Zitierung einschlägiger Passagen aus »Mein Kampf«, hatte die Partei sich genötigt gesehen, mehr Freiheiten sowohl im Privaten als auch in der Gesellschaft zuzulassen. »Durchblick und Offenheit« waren vom neuen Kanzler und Reichsverweser Rudolf von Papen 2001 als Parole ausgegeben und damit – zumindest in Teilbereichen – größere Veränderungen angestoßen worden. Allerdings gab es beim konservativen Flügel der NSDAP weiterhin massive Widerstände gegen die Reformen des mittlerweile verstorbenen von Papen und seines Nachfolgers Gregor Strasser Junior. Und dass es 2014 einem Exponenten der »Sozialisten« gelungen war, die Macht im Reich zu übernehmen, war für die meist ländlichen Anhänger der konservativen Rechten geradezu Verrat am Geist des Führers …

Wie auch immer, Eleonore Klink war von Schirach gleich von Beginn ihrer Zusammenarbeit sehr sympathisch gewesen und dieses Gefühl hatte sich durchaus verstärkt. Bald waren beide zum vertrauten Du übergegangen.

Vier weitere Wochen verbrachten sie damit, gemeinsam die Unterlagen des verstorbenen Obersten zu sichten. Dabei fiel auf, dass in den Kapiteln zu den Jahren 1938 bis 1943 an etlichen Textstellen Markierungen angebracht worden waren. »Überprüfen« hatte Schröder gut zweidutzend Mal notiert. Und dann waren im August 1939 sowie in den Jahren 1941 und 1942 unerklärliche Lücken aufgetaucht.

»Ich verstehe nicht, wieso das Skript an den Satz abgegangen ist, wenn noch Prüfungsbedarf bestand und wohl auch besteht. Die Lücken müssen natürlich gefüllt werden«, stellte von Schirach fest. »Ich denke, das wird, neben dem Redigieren des Textes, unsere Hauptarbeit sein. Wie sieht es mit Oberst Schröders Materialiensammlung aus?«

»Der Herr Oberst«, sagte sie und vermied, erneut das vertrauliche »Klaus-Peter« zu verwenden, »hat eine umfangreiche Datenspeicherung vorgenommen und zudem alle relevanten Unterlagen zusätzlich kopiert. Normalerweise …«, sie öffnete mehrere Schränke und hielt überrascht inne. »Normalerweise müssten die Datenträger und die Kopien hier gelagert sein …«

In den betreffenden Aktenbehältern herrschte gähnende Leere. Sie durchsuchten Schröders komplettes Büro und das von Oberstleutnant Dr. Maier-Welcker, doch das Material war und blieb verschwunden. Nur ein Datenstab war erhalten geblieben, den Eleonore per Zufall unter einem Schrank entdeckt hatte. Auf ihm waren einige kodierte Dateien gespeichert, die sich bislang jedem Entschlüsselungsversuch erfolgreich widersetzt hatten. Dazu ein ganz normales Wort-Schrift-Programm, das sich ohne weiteres öffnen ließ. In ihm fanden sich auf einer Seite mehrere »Notizen«, die sich mit den fehlenden Lücken beschäftigten und unter anderem den Vermerk enthielten: »Recherche Babelsberg«.

»Weißt du, was Oberst Schröder damit gemeint haben kann?«

»In Babelsberg ist das Reichsfilmarchiv beheimatet, ich weiß, dass er von dort mehrfach Kopien von Dokumentationen bezogen hat. Alte Wochenschauen, Riefenstahlproduktionen und ähnliches. Ich könnte mir vorstellen, dass die Kryptodateien entsprechende Hinweise enthalten.«

»Oder wir fragen direkt im Reichsfilmarchiv nach«, schlug von Schirach vor.

Das taten sie und fuhren gleich am nächsten Tag nach Babelsberg.

Der Film … Sie hatten ihn erst nach zweiwöchigen Recherchen ganz versteckt in einem als Privatarchiv etikettierten Fundus in einer Sondersammlung entdeckt. Mehrere Wochenschaujahrgänge waren aneinandergeschnitten und geklebt worden. Dann hatten Techniker den Filmstreifen vor acht oder neun Jahren digitalisiert. Ein Eintrag, der besagte, dass Oberst Schröder Einsicht genommen habe, ließ von Schirach neugierig werden. Er rollte sich durch den Bestand und hätte beinahe den Markierungsstreifen übersehen, der vom Oberst offenbar gesetzt worden war. Aber Eleonore, die neben ihm vorm Bildschirm saß, stoppte plötzlich den schnellen Vorlauf.

»Warte, Friedrich. Hast du den roten Streifen gesehen? Das ist Schröders Handschrift. Lass uns in die Normalwiedergabe gehen.«

Doch beim langsamen Vorlauf der Wochenschau, es war die vom 9. November 1953, welche sich ausführlich mit den Feiern zum dreißigjährigen Jubiläum des heldenhaften Münchner Aufstandes von 1923 beschäftigte, blieb ergebnislos. Auch die zweite Betrachtung führte nicht weiter. Ein Regiment der Waffen-SS marschierte schweigend zu den riesigen Tempeln auf dem Münchner Königsplatz, wo Reichsverweser Joseph Goebbels – Göring hatte die Bezeichnung anstelle des Titels »Führer« geführt und angeordnet, dass »Führer« nur für Adolf Hitler vorwendet werden durfte – den riesigen Ehrenkranz niederlegte und zum letzten Appell aufrief. Erst bei der dritten Sichtung waren sie fündig geworden. Ehrenmarsch, Kranzniederlegung, Appell, Salut …

»Halt!«, rief Eleonore. »Siehst du, dort drüben!«

Die Kamera vollzog einen Schwenk, bei dem für einen kurzen Augenblick der Himmel zu sehen gewesen war – und an ihm ein Messerschmitt Strahlenflieger Model ME 2016! Von Schirach stoppte und klickte mit der Katz die silberne Silhouette an. Ein neues Sehfenster öffnete sich und sie waren plötzlich mitten in einem völlig anderen Film:

»Die Maschine des Führers, eine Junkers 52/3m, befindet sich nun im direkten Anflug …«

Wie erstarrt saßen sie eine Weile auf ihren Stühlen, als der Ausschnitt endete.

»Ein Attentat auf den Führer. Wenn der Film bekannt wird, schlüge das ein wie eine Bombe!«

Wieder schwiegen sie.

»Wir sollten vielleicht erst mit Professor Mannerheim sprechen, bevor wir mit unserem Fund an die Öffentlichkeit gehen. Bis dahin …«

»Du willst den Film zurückhalten?«, fragte Eleonore ungläubig. »Das ist ein Jahrhundertfund!«

»Das habe ich nicht gesagt. Aus meiner Sicht ist es aber wichtig, wissenschaftlich an die Entdeckung heranzugehen. Vor allem stellt sich für mich die Frage, warum wurde das Attentat damals verschwiegen? Und wer ist für das Geschehen verantwortlich? Oberst Schröder muss sich die gleichen Fragen gestellt haben, warum hat er das Ganze unter Verschluss gehalten? Hat er denn nie mit dir über diesen Film gesprochen?«

»Nein«, entgegnete Eleonore fast ärgerlich. »Er war mir bis eben nicht bekannt. Könnte es nicht sein«, sie stockte, setzte dann neu an. »Wenn der Oberst den Film nicht veröffentlicht hat, muss er starke Gründe dafür gehabt haben. Vielleicht hat er noch mehr brisantes Material entdeckt, eventuell kann uns der Datenstab Auskunft geben.«

»Wir benötigen einen Krypto-Experten, aber keinen offiziellen«, überlegte von Schirach. »Ich kenne da jemanden …«

Soweit war der Sachstand vor zwei Wochen gewesen. Von Schirach hatte seinen alten Schulfreund, Dr. Hans-Joachim von Ribbentrop, einem Krypto- und Nachrichtentechnikfachmann an der Friedrich-Wilhelm-Universität, der dort auch als Dozent Seminare abhielt, für die Entschlüsselung anwerben können. Hans-Joachim, ein Urenkel des früheren Reichsaußenministers, hatte zusammen mit ihm die Napola I in Potsdam besucht. Schon früh war er eigene Wege gegangen und hatte sich bewusst aus dem Familienverband Ribbentrop-Henkel zurückgezogen.

»Alles dreht sich um den Urgroßvater und dessen große Bedeutung für das Reich. Du weißt schon, ›Hitler-Stalin-Vertrag‹ und so. Ich kann das nicht mehr hören«, hatte ihm der Freund einmal gestanden, »und dass Großonkel Adolf Henkell von Ribbentrop diese schreckliche Gräfin von und zu Eltz geheiratet hat, empfinde ich als absolut peinlich.«

Das Peinliche und Delikate war gewesen, dass der Sohn der Gräfin aus erster Ehe, ein gewisser Freiherr von und zu Guttenberg wegen einer Plagiatsaffäre seinen Hut als General hatte nehmen müssen und der Familienname damit unliebsam in die Schlagzeilen geraten war.

Nun jedenfalls erklärte sich Hans-Joachim bereit, eine interne Entschlüsselung des Datenstabs zu versuchen. Seit dem Erfolg der Enigma-Technologie der 40er Jahre durch die Fachleute der Firma »Heimsoeth & Rinke« hatte die Forschung im Reich an den deutschen Universitäten völlig neue Wissenschaftssektoren hervorgebracht, die sich mit der Kryptologie und ihre Anwendung im Rechner und Datenbereich beschäftigten. Durch diese Forschung war es Deutschland gelungen, seinen technischen Wissensvorsprung auszubauen und wirtschaftlich sowie militärisch zu nutzen. Bislang hatte sich die Kodierung jedoch nicht knacken lassen, obwohl die modernste Siemens-Rechner-Technologie zum Einsatz gekommen war.

Währenddessen arbeiteten sowohl von Schirach als auch Eleonore Klink weiter im Reichsarchiv Potsdam sowie im Historischen Institut, um alle vorhandenen Dokumente aus dem von Oberst Schröder behandelten Zeitraum zu sichten und mit ihrer Hilfe bestehende Lücken zu schließen beziehungsweise primär das Umfeld der Absturzsituation zu klären.

Inzwischen war der August ins Land gegangen und der Kalender zeigte Montag, den 4. September.

Der Fernsprecher läutete, von der anderen Seite meldete sich militärisch knapp: »von Alvensleben. Kommen Sie sofort zu mir, Herr Major. Ich erwarte Sie in spätestens einer Stunde!«

Ohne weitere Begründung beendete der General den Anruf. Verwundert legte von Schirach auf. Was sollte die schroffe Art? Ein solcher Ton herrschte bei einer Heereseinheit der Wehrmacht, doch nicht in der geisteswissenschaftlichen Forschung. Zudem kam ihm die Fahrt nach Potsdam ungelegen, eigentlich hätte er anderes zu tun gehabt. Kurz überlegte er, von Alvensleben länger warten zu lassen, entschied sich aber dagegen. Wenn es irgendwelche Probleme gab, sollte er diese am besten gleich klären, wobei sich von Schirach nicht vorstellen konnte, worum es ging. Der Bericht jedenfalls musste erst in einer Woche vorgelegt werden. Er rief die Fahrbereitschaft an und bestellte einen Transport nach Potsdam.

Anschließend zog er die Uniformjacke an. Vor dem Spiegel schloss er die Knöpfe und fuhr sich mit der Bürste über das kurze, dunkelblonde Haar.

»Herr Major«, sagte er und grüßte sein Spiegelbild durch das Anlegen zweier Finger.

»Schaust passabel aus!«, zumindest hatte ihm das vor kurzem Professors Vensges Sekretärin Carola Weiß versichert, als er seinen alten Doktorvater wegen eines anderen Projekts aufgesucht hatte. Carola hatte wunderschöne schwarze Locken und eine wahre Traumfigur. Ihr Urgroßvater war Polizeipräsident in Berlin gewesen und hatte in den 30er Jahren auf dem Höhepunkt des plumpen Antisemitismus das Land verlassen müssen. Erst 1952, mit dem Tode Julius Streichers, des fanatischen Herausgebers des »Stürmers«, war dieser allmählich abgeebbt. Die heimliche Unterstützung der vom Führer ursprünglich abgelehnten jüdischen Zionistenbewegung in Palästina, die die Engländer aus dem Mandatsgebiet in den Jahren ’56 bis ’61 bekämpft und schließlich vertrieben hatte, mündete 1975 sogar in ein offizielles Bündnis mit dem neu gegründeten Staat Israel. Damit endeten schlagartig jegliche antizionistischen Propagandaaktivitäten. Die bereits mit Beginn der Kanzlerschaft Karl von Bülows einsetzenden Reformen hatten dann die Nürnberger und andere antijüdischen Gesetze und Vorschriften aufgehoben und eine umfassende Revision der Medien, der Publikationen und besonders der Schul- und Jugendbücher in die Wege geleitet. Dennoch lebte im rechten Flügel der NSDAP das frühere Gedankengut fort und wurde von den »Alt-Parteigenossen«, wie sie sich nannten, weiterhin gepflegt und tradiert. Im Alltag sahen sich daher jüdische Mitbürger vereinzelt Diskriminierungen ausgesetzt, die die Obrigkeit allerdings durchaus ahndete. Von Schirach war Carola Weiß in einer solchen Situation einmal zur Seite gestanden, und seitdem hatte sich zwischen ihnen ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt, mehr aber auch nicht. Jedenfalls war ihr Kompliment durchaus ernst gemeint gewesen, was seine persönliche Eitelkeit ein wenig gekitzelt hatte.

Luftwaffenmajor – passenderweise hatte von Schirach seine dreijährige Militärzeit in einer Luftwaffeneinheit absolviert und war im Rahmen der obligatorischen, jährlichen Wehrübungen zum Hauptmann der Reserve aufgestiegen. Der Karrieresprung zum Major war also durchaus respektabel, jedoch nicht riesig gewesen. Er verließ sein Büro und begab sich zur Pforte, wo mit laufendem Motor bereits ein feldgrauer VW-Kübel auf ihn wartete.

In einer guten Stunde erreichten sie das Militär- und Nationalgeschichtliche Institut in Potsdam. Dieses war in der Villa in der Brandenburger Vorstadt im Westen von Potsdam untergebracht. Das ursprüngliche Privatgebäude befand sich seit 1894 in Besitz der Hohenzollern und war von Prinz Eitel Friedrich, dem zweiten Sohn Kaiser Wilhelms II. bis zu seinem Tod im Jahre 1942 bewohnt worden. Seit den 50er Jahren wurde die weitläufige Anlage der Villa Ingenheim durch das Reichinstitut für Militärgeschichte und das Reichsmilitärarchiv genutzt. 1994 war das Reichsinstitut in das Militär- und Nationalgeschichtliche Institut umbenannt worden. Von Schirach meldete sich im Vorzimmer von Alvenslebens und wurde sogleich in das Allerheiligste des Generals vorgelassen. Dieser hatte sich das Kommandantenzimmer ganz im Stile des früheren Potsdamer Garderegiments eingerichtet. Der Raum wurde fast zur Hälfte von einem riesigen Schreibtisch ausgefüllt, hinter dem an der Wand die alte Regimentsfahne mit dem gekrönten Adler hing. Unter der Fahne prangte der Wahlspruch »Semper Talis«.

Der Major meldete sich, von Alvensleben bot ihm mit einer kurzen Geste einen Stuhl an und las weiter in dem Schriftstück, mit dem er bereits beim Eintritt von Schirachs beschäftigt gewesen war. Ein, zwei Minuten vergingen, dann legte er das Papier zur Seite.

»Ich höre, Sie kommen mit Ihrem Auftrag gut vorwärts?«

»Jawohl, Herr General.«

»Und es ist richtig, dass Oberst Schröder das Gesamtmanuskript bereits zum Satz gegeben hatte?«

»Das ist korrekt, aber …«

Von Schirach zögerte. Ihm war deutlich, der General musste von seinen Recherchen erfahren haben, doch was er davon hielt, vermochte er nicht abzuschätzen, zumal er über den entdeckten Film vorerst nicht berichten wollte.

»Warum forschen Sie und Frau Dr. Klink dann weiter?«

Die Stimme von Alvenslebens klang scharf und befehlsgewohnt.

»Es gibt etliche Lücken, die unklar sind. Sie waren dabei, als mich Professor Mannerheim beauftragte, diese zu schließen. Und das geht nur durch Recherchen.«

»Korrekt, aber wozu wollen Sie einen Krypto-Experten heranziehen? Die Herren von der Geheimen Staatspolizei sind darüber sehr verwundert und haben eine Stellungnahme angefordert!«

Von Schirach erschrak. Hatte Hans-Joachim sein Schweigeversprechen gebrochen und mit dritten über den verschlüsselten Datenstab gesprochen? Und was hatte die Gestapo damit zu tun? Noch immer war die von Heinrich Himmler aufgebaute Organisation im Volk gefürchtet, auch wenn ihre Befugnisse seit den 90er Jahre stark eingeschränkt worden waren. Das Gebäude in der Prinz-Albrecht-Straße in Kreuzberg galt nach wie vor als das Herz des Inland- und Auslandgeheimdienstes. Die heutige Gestapo unter ihrem Leiter Wolf Markus Kaltenbrunner war eine Mischung von Reichsverfassungsschutz, Reichsnachrichtendienst und Reichssicherheit. Wenn diese Behörde sich für etwas interessierte, konnte es für den Betroffenen, so er nicht absolut kooperierte, gravierende Folgen haben.

»Ich nehme an, es geht Ihnen um die Wannseebriefe vom Sommer 1939«, fuhr der General fort. »Oberst Schröder hielt sie ebenfalls für wichtig, also machen Sie sich ruhig an eine Sichtung. Ich werde die Brüder von der Gestapo beruhigen. Die alte Masche: Man versucht, den Streitkräften ans Bein zu pinkeln. Sie haben also Rückendeckung. Möchte aber über alles informiert werden, verstanden, Herr Major? Über alles!«

»Jawohl, Herr General!«, erwiderte von Schirach, der nicht wusste, worum es sich bei der Briefangelegenheit handelte, aber froh war, dass die Anfrage der Gestapo nicht dem entdeckten Film und Hans-Joachim gegolten hatte.

»Gut, dann ist alles klar. Denken Sie bei Ihrer Arbeit immer an das große Führerwort«, fügte von Alvensleben hinzu und schlug ein in braunes Leder gebundenes Exemplar von »Mein Kampf« auf, das wie eine Bibel vor ihm lag: »›Es dürfte wohl kaum ein Volk mehr an Geschichte lernen als das deutsche; es wird aber kaum ein Volk geben, das sie schlechter anwendet als das unsere. Wenn Politik werdende Geschichte ist, dann ist unsere geschichtliche Erziehung durch die Art unserer politischen Betätigung gerichtet. Auch hier geht es nicht an, über die jämmerlichen Ergebnisse unserer politischen Leistungen zu maulen, wenn man nicht entschlossen ist, für eine bessere Erziehung zur Politik zu sorgen.‹ Soweit, Herr Major, Sie können gehen!«

Von Schirach grüßte und verließ den Raum. Wenn er schon mal hier war, konnte die Gelegenheit nutzen und ein paar Stunden im Archiv arbeiten. Frau Dr. Klink und ihm war dort ein fester Bereich eingeräumt worden, wo sie mindestens einmal die Woche Akteneinsicht nahmen und ihre speziellen Recherchen anstellten. Vielleicht sollte ich schauen, was es mit diesen Wannseebriefen auf sich hat, dachte von Schirach. Wenn er auch nicht wusste, warum sich sein Vorgänger für die Briefe interessiert hatte, war natürlich ihm als Historiker ihre Existenz bekannt. In den Jahren 1938 und 1939 hatte sich in der NSDAP um den SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich eine informelle Gruppe gebildet, die sich als die kommende Führungsriege verstand und diverse Zukunftspläne für das neue Reich entwickelt hatte. An den Sitzungen am Wannsee nahmen unter anderem verschiedene Staatssekretäre aus dem Reichsjustizministerium, dem Auswärtigen Amt und dem Reichsministerium des Innern sowie hochrangige SS-Offiziere wie Otto Hofmann, Karl Schöngarth und Rudolf Lange teil. Später trat man in einen ausgedehnten Briefwechsel, der allerdings mit dem Tod Reinhard Heydrichs schlagartig endete. Um diesen Briefwechsel ging es.

Im Archiv erhielt von Schirach die Auskunft, Oberst Schröder habe die betreffende Briefsammlung vor Monaten ausgeliehen und nicht mehr zurückbringen lassen. Im Bestandsverzeichnis war als Inhalt der Briefe lediglich mit »Verwaltungsfragen betreffend« angegeben gewesen. Auch eine Aktennotiz wurde angeführt, PAAA Berlin, R 100857, Blatt 166-180, allerdings mit dem Hinweis, die Akte sei verloren gegangen. Seltsam, möglicherweise wusste Eleonore zumindest über den Verbleib der Briefe Bescheid. Von Schirach kehrte zu seinem Arbeitsplatz zurück – und fand ihn belegt vor. Ein kräftiger Mann saß vor dem Aktenbord und blätterte in Papieren.

Von Schirach tippte dem unverschämten Kerl auf die Schulter.

»Darf ich fragen, was Sie an meinem Platz machen?«

Der »Besucher« drehte sich langsam um. Seine vierschrötige Physiognomie erinnerte an einen Holzfäller oder Metzger.

»Tag, Herr Major. Natürlich dürfen Sie fragen, aber ob ich antworte …«

»Sie setzen sich hierher, wühlen in meinen Unterlagen und wollen keine Antwort geben. Mensch, wer sind Sie denn?«, gab von Schirach scharf zurück.

Der andere erhob sich und stand jetzt breitbeinig vor ihm. Mit seinen guten Zweimetern überragte er deutlich den Major.

»Regen Sie sich nicht auf, es gehört zu meinem Beruf, mich zu informieren und genauer umzuschauen. Und was Sie betrifft. Sagen wir mal so. Mein Chef möchte eben gern wissen, was Sie, Herr von Schirach, so treiben. Aber Sie machen sicher nichts, was unkorrekt ist, oder? Also, nichts für ungut, Volksgenosse. Heil Hitler!«

Damit schob sich der Mann an ihm vorbei und ging davon.

Von Schirach starrte ihm verblüfft nach.

»Wissen Sie, wer das war?«, wandte er sich an die ältliche Archivarin, die nervös irgendwelche Akten von links nach rechts schob.

»Der SS-Hauptsturmführer Dietrich«, gab sie flüsternd zur Antwort. »Er hat mir seinen Gestapo-Ausweis gezeigt und gesagt, es handle sich um eine ›geheime Reichssache‹ und daher sei er berechtigt, Ihre Unterlagen zu überprüfen. Was hätte ich machen sollen …?«

Dabei blickte sie ihn ängstlich an, geradeso wie ein Kind, das etwas angestellt hatte.

»Schon gut, Frau Gutach, Sie mussten Auskunft geben. Ihnen ist nichts vorzuwerfen.«

Von Schirach kehrte zurück zu seinem Arbeitsplatz und prüfte die Unterlagen. Er konnte jedoch nicht erkennen, was der Hauptsturmführer eigentlich untersucht hatte. Also packte er alles zusammen und verließ ebenfalls das Archiv; die Lust am Arbeiten war ihm heute vergangen. Der General hatte jedenfalls recht gehabt. Die Gestapo interessierte sich offenbar für seine Forschungsarbeit. Aber die Frage stellte sich, warum? Was hatte man in der Prinz-Albrecht-Straße erfahren, das man dort besser nicht wissen sollte?

Er stieg in seinen Wagen, einen schwarzen Borgward 2016, und fuhr in Richtung seiner Wohnung nahe der Zionskirche am gleichnamigen Platz.

Zu Hause nahm er das Fernsprechgerät und wählte die Nummer von Hans-Joachim.

»Hallo, hier Friedrich. Wir sollten uns treffen … Ja, möglichst heute noch … Wo? … Im ›Greta Garbo‹? Um acht, das passt.«

Das »Greta Garbo« lag am nördlichen Rand des Helmholtzplatzes. Das Lokal war in den 70er Jahren aufgemacht und vom Besitzer zunächst »Dicke Berta« genannt worden. In den späten 90ern war an Stelle der Bierkneipe ein spanisches Speiselokal mit dem Namen »Frida Karlo« getreten. Vor einigen Jahren hatte zufällig ein Parteigenosse aus dem Ministerium für Volksaufklärung und Bildung die Gaststätte besucht und sich an dem nichtdeutschen Namen gestoßen. Dies auch weil die Namensgeberin, eine mexikanische Malerin, für ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus bekannt gewesen war. Seit 2012 hieß das Lokal daher »Greta Garbo«.

Kurz nach acht trat Friedrich von Schirach in das Lokal. Das Ambiente hatte sich trotz des Namenstausches nicht verändert. Großflächige Bilder in starken Farben bedeckten die Wände, Stühle und Tische vermittelten zudem eine südliche Atmosphäre. Gleiches galt für das Getränkeangebot und die Speisekarte, Sangria, iberische Weine und spanisch-mexikanische Cocktails, Paella und Fischgerichte dominierten.

Hans-Joachim war bereits vor Ort und winkte ihm aus dem hinteren Bereich zu. Eine gute Wahl, dort würden sie weitgehend ungestört bleiben. Die Freunde begrüßten sich und von Schirach nahm ebenfalls am Tisch Platz.

»Ich komme gleich zur Sache, Hans-Joachim. Die Gestapo scheint sich für unsere Spezialforschung zu interessieren. Von Alvensleben hat mich heute kommen lassen und entsprechend informiert. Zudem bin ich vorhin einem SS-Hauptsturmführer Dietrich im Archiv begegnet, der mir deutlich signalisierte, dass man höheren Ortes unser Tun genauer beobachten und sich Informationen verschaffen werde.«

»Woher wissen die Bescheid?«, verwunderte sich Hans-Joachim. »Nur du, ich und deine Kollegin Klink sind eingeweiht.«

»Nun, wir waren im Reichsfilmarchiv, in den Bibliotheken und anderswo, unsere Informationsspuren sind durchaus nachzuvollziehen«, gab von Schirach zu bedenken.

»Ich habe nicht unterstellt, dass einer von uns mit den falschen Leuten gesprochen hat«, erwiderte der Freund. »Nur frage ich mich wirklich, was die Aufmerksamkeit der Gestapo geweckt haben kann. Unter Umständen wird bei der Einsichtnahme bestimmter Unterlagen so etwas wie ein Alarm ausgelöst.«

»Das könnte sein«, stimmte von Schirach zögernd zu. Ihm fielen Frau Gutach und ihre Nervosität ein. Vielleicht hatte sie selbst den Hauptsturmführer alarmiert? Er kannte sie seit Jahren, dennoch, man sah nicht in die Menschen hinein. Es konnte gut sein, dass es, wie überall im Land, auch in den Archiven und Bibliotheken Informanten gab.

»Wie könnten wir künftig einen solchen Automatismus umgehen beziehungsweise verhindern?«, überlegte er laut.

Die Bedienung kam, brachte die Karten und notierte die Getränkewünsche. Nachdem sie gegangen war, nahm von Ribbentrop, während er in der Speisekarte blätterte, den Gesprächsfaden wieder auf.

»Wir sind viel zu offen vorgegangen«, meinte er, »fast schon blauäugig. Jedenfalls ich. Krypto-Angelegenheiten landen automatisch bei der Abwehr.«

»Und die hat die Gestapo eingeschaltet«, schlussfolgerte von Schirach, erleichtert, dass damit die Archivarin außer Verdacht schien. »Wie willst du das vermeiden?«

Ihre Cocktails kamen und sie bestellten zweimal die pikante Fischplatte.

»Extra scharf«, fügte Hans-Joachim hinzu. »Es gibt eine Möglichkeit, unliebsame Aufmerksamkeit zu vermeiden«, sagte er dann, als die Kellnerin sich wieder entfernt hatte.

»Und die wäre?«

»Ganz einfach, wir wechseln die äußere Schale.«

»Was meinst du mit ›äußerer Schale‹?«

»Nun, bislang hast du im Archiv beziehungsweise in deinem Institut gearbeitet und ich habe die Rechner der Krypto-Abteilung genutzt. Ich gehe davon aus, dass die Systeme dort miteinander vernetzt sind und es unter den Mitarbeitern jede Menge willige Beobachter und Helfer gibt. Die Reichssicherheit, zu der die Gestapo gehört, ist für ihre Effizienz geradezu berüchtigt.«

»Schön, aber was soll die Lösung sein?«

»Wir wechseln den Nutzungsbereich. Wir haben noch die Außenstelle der Friedrich-Wilhelms-Universität drüben in Dahlem. Dort gibt es ein eigenes, in sich autarkes Großrechner-Zentrum. Ich schlage vor, wir verlagern unsere Dekodierungsaktivitäten hinüber.«

»Und dort sind wir sicher?«, fragte von Schirach zweifelnd.

»Vorläufig, auf die Dauer sicher nicht. Ich werde parallel mit einem alten Bekannten in Uppsala Kontakt aufnehmen. Vielleicht ist es möglich, auf Schweden auszuweichen. Das Land ist, wenn auch deutschfreundlich, nach wie vor neutral.«

Ihre Fischgerichte kamen.

»Einmal extra scharf«, sagte die junge Kellnerin und stellte die rötlich eingefärbte Platte vor dem Freund, die andere vor von Schirach ab. »Guten Appetit, die Herren!«, wünschte sie und lächelte von Ribbentrop an.

»Hübsches Mädchen«, meinte dieser. »Irgendwoher kenne ich das schöne Kind.«

Friedrich von Schirach warf einen Blick auf das Fräulein, das eben an einem anderen Tisch die Bestellung aufnahm. Ihr langes, rötlich-blondes Haar trug sie straff als Pferdeschwanz gebunden. Die schlanke Gestalt besaß ausgeprägte weibliche Formen, und das Gesicht schien ihm, soweit er es gesehen hatte, äußerst attraktiv. »Vielleicht eine Studentin?«, schlug von Schirach vor.

»Stimmt, du hast recht, das Fräulein nimmt an meinem Proseminar teil. Lea, heißt sie, Lea van Düren, eine Holländerin. Stellt kluge Fragen. Hielt sie mehr für eine graue Maus.«

Der Freund warf Fräulein van Düren noch einen Blick zu.

»Dass mir diese Schönheit noch nicht aufgefallen ist.«

Er schüttelte den Kopf, und beide konzentrierten sich auf ihren Fisch. Während des Essens vermieden sie das komplizierte Thema der Kryptologie. Kaum waren die Teller jedoch abgeräumt worden, kam von Schirach auf den Grund ihres Treffens zurück.

»Ich bin mir nicht ganz sicher, inwieweit ich meiner Kollegin Eleonore, also Frau Dr. Klink, trauen kann. Zwar hat sie über die Filmentdeckung bislang Stillschweigen bewahrt und auch sonst ist sie verlässlich. Aber sie wirkt so kalt und dazu war ihre Großmutter die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink, eine mehr als hundertprozentige Nationalsozialistin. Du weißt schon, eine von der Sorte, ›mein Leben gehört dem Führer‹.«

»Die Dame hat aber, so viel ich weiß, den Führer deutlich überlebt, oder?«

»Das stimmt, sie ist im Frühjahr ’98 oder ’99 in beziehungsweise nahe Tübingen verstorben, dennoch …«

»Was heißt dennoch? Der Reichsaußenminister war mein Großvater und du bist mit dem früheren Reichsjugendführer der NSDAP Baldur von Schirach verwandt. Trotzdem sind wir beide keine Parteibonzen, sondern lediglich leidlich gute Patrioten. Es ist zwar richtig, dass viele, deren Väter und Großväter zu der Führung der ersten Stunde gehörten, die Möglichkeiten, die sich ihnen dadurch boten, genutzt haben und selbst nach ganz oben gelangt sind. Aber es gibt auch jede Menge Ausnahmen. Denk an Holdine Goebbels, die keine drei Jahre nach dem Tod ihres Vaters einen Inder geheiratet hat. Oder an ihre Schwester Heidrun, die in die USA auswanderte.«

»Helmut Goebbels dagegen wurde im gleichen Alter wie sein Vater Reichsminister für Bildung und Aufklärung. Und Edda Göring übernahm 1975, da war sie gerade siebenunddreißig Jahre alt, die Leitung der Reichsärztekammer. Und …«

»Gut, gut, du hast recht«, unterbrach ihn Hans-Joachim, »es gibt und gab solche und solche. Wir haben bislang keine große Karriere gemacht und die Dinge sind heutzutage auch anders als in den 60er und 70er Jahren. Denk an die Reformen, die Karl von Bülow eingeleitet und Rudolf von Papen endgültig durchgesetzt hat.«

»Alles richtig, wir leben viel freier als unsere Väter und Mütter. Und der Antisemitismus ist in den Keller verbannt. Dennoch, die Gestapo gibt es immer noch und die Wahlen …«

Friedrich von Schirach brach ab. Sie hatten derartige politische Diskussionen schon öfter geführt und meist ergebnislos beendet. Alle, die einigermaßen denken konnten, kannten die Schattenseiten im Alltag des Reiches. Die Dominanz des Militärischen, den breiten Raum, den die Partei einnahm. Ohne Beziehungen zu einem der Bonzen lief nichts. Dennoch, der Führer war nach wie vor die Leit- und Kultfigur, der Einiger Großdeutschlands und stand im historisch-politischen Bewusstsein direkt neben Friedrich dem Großen und Bismarck. Und der seit Jahrzehnten andauernde wirtschaftliche Aufschwung und der breite Wohlstand förderte die breite Zustimmung und Zufriedenheit der 130 Millionen Bürger des Großdeutschen Reiches. Auch er stand bedingungslos hinter Deutschland, eine andere Haltung schien ihm undenkbar. Doch in Sachen Wahlen und öffentliche Meinungsfreiheit konnte er sich trotz der Papen’schen Reformen noch einiges vorstellen. Zum Beispiel die Zulassung anderer national-demokratischer Parteien.

»Ich habe deine Kollegin nur einmal gesehen und halte sie für sehr zuverlässig, dazu für intelligent und zudem für attraktiv«, unterbrach Hans-Joachim seine Gedanken. »Du solltest dich einfach mehr um sie bemühen!«

»Lass nur, ich werde mit ihr schon klarkommen. Kümmer du dich lieber um deine Studentinnen!«

Das Gespräch wandte sich anderen Themen zu. Die Freunde waren begeisterte Reiter und besuchten als Zuschauer häufig Pferderennen. Zudem spielten sie in der Freizeit Polo, es gab also genug, worüber sich’s reden ließ. Man trank noch den einen oder anderen Cocktail. Und als sie zahlten und aufbrachen, war es bereits kurz nach Mitternacht.

Die Nacht war warm, und sie beschlossen, die Raumer Straße entlang hin zur Pappelallee zu laufen, um dort die Tram M 12 zu nehmen. Hans-Joachim wohnte in der Kollwitzstraße und fuhr bis zur Eberswalder Straße mit, wo er umsteigen würde. Sie mussten nicht lange warten, bis sich eine Tram der Haltestelle näherte und hielt. Beide stiegen ein. Da bemerkten die Männer eine Frau mit einem Kopftuch, die ebenfalls vom Helmholtzplatz kommend, fast laufend die Straße überquerte.

»Da will jemand noch die Bahn erreichen«, meinte von Schirach, »seien wir Kavalier«, fügte er hinzu und blockierte die Tür. Dann erkannten sie den Grund für die Hast der Frau. Ein Wagen war ihr gefolgt und hielt direkt neben ihr. Zwei Männer sprangen heraus und eilten auf sie zu und packten ihre Arme. Der Frau gelang es, sich loszureißen, jetzt kam sie direkt auf die Tram zu. Eine bedrängte Frau – von Schirach und Hans-Joachim zögerten nicht und verließen die Bahn, um ihr zur Hilfe zu kommen. Inzwischen hatten die Verfolger ihr Opfer erneut erreicht und hielten es fest. Im gleichen Augenblick erreichten die Freunde den Ort des Überfalls. Sie warfen sich auf die überraschten Angreifer und drängten die Kerle unter Einsatz ihrer Fäuste derart zurück, dass die Männer, verwirrt vom Angriff, von der Frau abließen und sie davoneilen konnte. Der Überraschungseffekt legte sich jedoch rasch, und es entwickelte sich ein heftiger Kampf zwischen den vieren. Von Schirach konnte mehrere Treffer landen, musste jedoch auch einiges einstecken, sein kräftiger Gegner schien gut trainiert zu sein. Auch Hans-Joachim geriet zunehmend in Bedrängnis.

»Halt, sofort aufhören!«, rief plötzlich eine befehlsgewohnte Stimme. »Schluss oder ich schieße«, fügte der Sprecher hinzu. »Auseinander!«

Die Männer hielten inne und wandten sich dem Kommandierenden zu. Er stand im vollen Licht einer Laterne und richtete eine Pistole auf die Gruppe. Der blonde Mann war groß gewachsen und trug die schwarze Uniform einer SS-Sondereinheit. Auf den Schultern prangte das Fallschirmjägerabzeichen, dazu am Arm Verbandsabzeichen der »Brandenburger«. Seine Gesichtszüge waren scharf und die hellen Augen blickten finster.

»Was ist hier los? Berichten Sie!«, forderte er den ihm am nächsten stehenden von Schirach auf, indem er mit dem Lauf seiner P 2008 auf ihn deutete.

»Diese beide Personen haben versucht, eine Frau zu entführen«, erklärte dieser, »Herr Sturmbannführer«, fügte er mit Blick auf die Rangabzeichen des SS-Offiziers hinzu.

»Sie haben die Festnahme einer Terroristin verhindert«, rief der Kräftige dazwischen. »Das Einmischen in die Angelegenheiten der Gestapo wird Sie teuer zu stehen bekommen!«

»Und Sie heißen?«, fragte der SS-Mann ungerührt.

»Batz, Hermann Batz und das ist mein Kollege Heinrich Müller. Ich fordere Sie auf, Herr Sturmbannführer, diese unzulässige Befragung zu beenden. Übergeben Sie uns unverzüglich diese beiden Individuen. Es handelt sich wahrscheinlich um Komplizen der Terroristin.«

»Mäßigen Sie Ihren Ton, Mann«, fuhr der Uniformierte ihn an. »Sie sagen, Sie seien von der Gestapo. Können Sie sich überhaupt ausweisen?«

»Unsere Dienstausweise liegen mit den Waffen im Auto«, erwiderte Batz und deutete auf den grauen Horch, der mit brennenden Lichtern und noch immer laufenden Motor an der Ecke stand. »Im Handschuhfach. Ich werde sie holen.«

Er wandte sich zum Wagen.

»Sie bleiben hier«, befahl scharf der SS-Offizier. »Ich schaue selbst nach.«

Er begab sich zum Wagen und stieg hinein.

»Gleich seid ihr dran«, sagte der zweite Gestapo-Mann. »Wir nehmen euch mit und dann gibt es richtig was aufs Maul«, fügte er grinsend hinzu.

Der SS-Offizier kehrte zurück.

»Bedauere, ich finde weder Ihre Ausweise noch Waffen.«

»Das gibt es doch nicht«, empörte sich Batz. »Haben Sie richtig nachgeschaut?«

»Werden Sie nicht frech!«

Der SSler zückte ein Handfon.

»Ich rufe in der Prinz-Albrecht-Straße an. Dort müsste man von Ihrem Einsatz wissen.«

»Das können Sie bleiben lassen. Wir waren verdeckt unterwegs«, erklärte der andere mit Namen Müller.

»Aber meine Herren, so geht das nicht mehr seit dem Reichssicherheitsgesetz von 2012. Ohne Absprache dürfen Sie nicht ermitteln. Für Festnahmen bedarf es zudem eines Verhaftungsbefehls. Das gilt auch für Ihre Kontrahenten, wenn Sie vorhaben, die Herren festzunehmen. Das Einzige, was ich für Sie tun kann, ist, Sie fahren zu lassen. Auch das nur, weil Ihr Fahrzeugschein auf die Prinz-Albrecht-Straße ausgestellt ist.«

»Geben Sie uns wenigstens die Personalien dieser Unterstützer!«, forderte Müller.

Der Sturmbannführer schüttelte den Kopf.

»Das werde ich nicht tun. Ich bin nicht Ihr Büttel. Aber keine Sorge, ich kümmere mich um die Angelegenheit. Also, fort mit Ihnen!«

Murrend und verärgert gingen die Gestapobeamten zu ihrem Wagen und fuhren ohne Gruß davon.

»Kommen Sie, meine Herren«, sagte der SS-Offizier, als das Fahrzeug verschwunden war. »Ich bringe Sie nach Hause. Duncker mein Name.«

»Major von Schirach«, stellte sich Friedrich vor.

»Von Ribbentrop«, fügte Hans-Joachim hinzu. »Sie wollen uns wirklich nach Hause fahren?«

»Natürlich setze ich Sie bei Ihren Wohnungen ab. Ich bin, wie gesagt, kein Handlanger der Gestapo. Aber schauen wir erst einmal nach dem jungen Fräulein, das Sie gerettet haben und wie es ihr geht. Sie tragen übrigens illustre Namen. Sind Sie nahe mit den jeweiligen Ahnherrn verwandt?«

»Das kann man so sagen«, erklärte Friedrich. »Sie haben gesehen, wohin sich die Frau gewandt hat?«

»Das habe ich, beziehungsweise ich weiß, wo Fräulein van Düren wohnt. Bei einer Freundin, drüben in der Greifenhagener Straße. Wir werden sie kurz besuchen.«

»Van Düren, etwa Lea van Düren?«, hakte Hans-Joachim nach. »Unter dem Kopftuch habe ich sie nicht erkannt.«

»Sie kennen das Fräulein?«

»Fräulein van Düren ist eine Studentin aus meinem Seminar und sie hat uns vorhin im ›Greta Garbo‹ bedient. Woher wissen Sie ihren Namen?«

»Das ist eine längere Geschichte«, antwortete Duncker, »die mit meiner aktuellen Tätigkeit zu tun hat. Doch es besteht kein Anlass zur Sorge, ich will Fräulein van Düren nichts Böses.«

»Das klingt glaubwürdig«, meinte von Schirach. »Immerhin haben Sie sich mit der Gestapo angelegt, obwohl ich nicht verstehe …«

»Warum ich als SS-Offizier so handle? Nun, zum einen gehöre ich, wie Sie sicher bemerkt haben, einer Spezialeinheit an. Zum anderen … lassen Sie mich das später erklären. Wir sollten erst einmal zu Fräulein van Düren gehen. Sie ist natürlich keine Terroristin. Dort, wo sie sich derzeit aufhält, ist sie auf jeden Fall nicht sicher. Beeilen wir uns!«

Und ohne weitere Erklärung eilte Duncker die Gneiststraße hinunter bis zur Einmündung der Greifenhagener Straße, wo an der Ecke in einem roten Backsteingebäude die Wohnung der Freundin lag, bei der die Holländerin Unterschlupf gefunden hatte. Direkt vor dem Gebäude hielt mit laufendem Motor ein weiterer grauer Horch.

»Verdammt, woher weiß die Gestapo von diesem Versteck?«, fluchte der SS-Mann. »Das gibt Ärger! Hier, nehmen Sie die Dienstwaffen der Herren Batz und Müller. Es könnte heiß werden.«

Damit drückte er den Verblüfften je eine Walther PPK in die Hand, die er offenbar im Wagen der Gestapo requiriert hatte. Im gleichen Augenblick öffnete sich die Haustür, und drei Männer in Zivil führten zwei junge Frauen in Handschellen hinaus. In der ersten erkannten die Freunde Lea van Düren. Das tarnende Kopftuch war verschwunden und ihr rotblondes Haar hing ihr wirr um den Kopf. Die zweite dunkelhaarige Frau war wohl ihre Freundin. Sie trug ein weit offenes Nachthemd, war barfuß und ihre Nase blutete. Auch Lea van Dürens Kleidung war zerrissen und mit Blut besudelt.

»Hände hoch!«, kommandierte Duncker und trat auf die Männer zu, wobei er sich bemühte, im Halbdunkel zu bleiben. Von Schirach und Hans-Joachim folgten ihm unaufgefordert.

»Runter mit den Waffen, kniet euch auf den Boden!«, kam der nächste Befehl.

Die Gestapo-Beamten gehorchten zögernd.

»Los, schneller«, herrschte sie der SS-Offizier an.

Gerade waren die Männer dabei, niederzuknien, da wurde die Tür des Horchs aufgerissen, ein vierter sprang mit gezückter Pistole heraus. Ohne zu zögern feuerte er zweimal aus nächster Nähe auf Duncker. Dieser schien getroffen, denn er schwankte, fing sich jedoch wieder und schoss zurück. Der Angreifer riss seine Arme hoch, stolperte und fiel nach hinten auf das Blech des Wagens. Noch einmal drückte er ab, dann rutschte er zu Boden. Die Dunkelhaarige schrie auf, griff sich an die Brust und sackte zusammen.

»In das Auto, rasch!«, rief Duncker. Er packte die Verletzte und zerrte sie in den Fond. Lea van Düren folgte verängstigt. Friedrich und sein Freund nahmen geistesgegenwärtig die Waffen der Übrigen an sich und sprangen ebenfalls in den Horch. Der SS-Mann warf sich auf den Beifahrersitz und von Schirach gab Gas. Er fuhr zur Schönhauser Allee und bog nach rechts Richtung Pankow ab.

Hinten bemühten sich Fräulein van Düren und Hans-Joachim um die Verletzte.

»Sieht böse aus. Offenbar steckt die Kugel in der Brust«, erklärte die Studentin nervös. »Agnes muss umgehend behandelt werden. Wohin fahren wir?«