Sie ist weg - Heiger Ostertag - E-Book

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Heiger Ostertag

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Beschreibung

„Jemand musste Angela K. beschuldigt haben, denn da sie etliches Böse getan hatte und obwohl sie behauptete, dass es nichts Böses sei, wurde sie eines Morgens verhaftet." Ist „Sie ist weg" eine kafkaeske Parodie, eine Satire oder gar eine radikale Provokation? Haarscharf an der Wirklichkeit vorbei und absolut im Fantastischen zu Hause beschreibt der Roman die Absurdität unserer politischen Wirklichkeit. Lesen Sie selbst – noch ist SIE nicht weg!

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HEIGER OSTERTAG

SIE IST WEG

HEIGER OSTERTAG

SIE IST WEG

DER PROZESSDER ANGELA K.

swb media entertainment

Die Handlung und die handelnden Personen sind, soweit nicht historisch oder zeitgeschichtlich existent, frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden und bereits verstorbenen Personen ist zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die über die

Grenzen des Urheberrechtsgesetzes hinausgeht, ist unzulässig und strafbar.

Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Speicherung in elektronischen Systemen.

Veröffentlicht im Südwestbuch Verlag, einem Unternehmen der SWB Media Entertainment Jürgen Wagner, Waiblingen, August 2019

1. Auflage 2019

ISBN 978-3-96438-977-0

© 2019 SWB Media Entertainment, Gewerbestraße 2, 71332 Waiblingen

Lektorat: Johanna Ziwich, Waiblingen

Titelgestaltung: Dieter Borrmann

Titelfotoanimation: © Dieter Borrmann

Satz: suedwestbuch, Waiblingen

Druck, Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz

Für den Druck des Buches wurde chlor- und säurefreies Papier verwendet.

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Webseite www.suedwestbuch.de

Für Charlotte und Klara Louisa

Inhaltsübersicht

Vorwort

1. Kapitel – Verhaftung und Vorladung

2. Kapitel – Erste Untersuchungen, Aktenkunde

3. Kapitel – Schuld oder Unschuld

4. Kapitel – Erneute Verhaftungen

5. Kapitel – Vor dem obersten Gericht

6. Kapitel – Die Suche nach der Wahrheit

7. Kapitel – Urteil und Vollstreckung desselben

Epilog

Vorwort

Der vorliegende philosophisch-politische, in Teilen auch phantastische Roman basiert auf dem Textkorpus des Werkes von Franz Kafka und nutzt – mit entsprechender Hochachtung – dessen Inhalt und seine sprachliche Performance – in Umrissen jedenfalls, da und dort auch im Detail, und natürlich primär im parodistischen, satirischen Sinne und mit persiflierender Absicht. Im Zentrum der Darstellung stehen die Politik und die aktuelle Spitzenfigur, deren Namen jeder kennt. Sie und ihre Persönlichkeit werden in einer Situation betrachtet, die absolut fiktiv ist: im Prozess einer gewissen Angela K. In diesem Prozess liefert uns die Sprache des Originals das methodische Werkzeug, um den aktuellen Politbetrieb, dessen zentrale Exponenten sowie die medialen Hilfskräfte zu analysieren und möglicherweise auch zu demaskieren. Der Leser mag dann selbst entscheiden, ob es sich bei den Protagonisten um tragische Helden im Sinne des klassischen Dramas oder um – mit Blick auf ihren vorgetragenen Anspruch – sich selbst überschätzende, der Hybris verfallene und somit scheiternde Figuren handelt, die der Komödie zuzurechnen wären. Zum dargestellten Politpersonal dürfen sich natürlich auch alle bekannten Verschwörungstheoretiker, die kommunistischen, sozialistischen wie faschistischen Utopisten und sonstige leichtgläubige Geister gesellen. Kurz gesagt, niemand wird verschont, ob Linker, Grüner, Mittlerer oder Rechter, Spießer oder Alternativer, ob bekennender Anarchist, Surrealist und Hedonist, alle nimmt der Autor, wahrscheinlich auch sich selbst, mit der Spitze seiner Feder aufs Korn.

Brecht lässt seinen Galilei sagen, ein Land, das Helden brauche, sei schlecht dran. Mag sein, dass dies zutrifft, jedenfalls ist ein Land, das solch eine Führung wie die unsrige erlebt, nicht unbedingt mit Glück gesegnet. Nun, es könnte problematischer sein, wenigstens werden wir nicht russisch oder amerikanisch regiert und die Zeiten eines Kaisers oder die des Kunstmalers aus Braunau sind lange vorbei. Doch auch Dilettanten sind gefährlich, vor allem, wenn sie sich als Idealisten ausgeben und von der gutgläubigen Masse als solche gesehen und gehypt werden, selbst wenn sie sich als unfähig erweisen, ihren Twitter-Account sachgemäß zu „usen“ oder auf Facebook hinreichend zu kommunizieren.

Natürlich sind die angeführten Personen autonom und in keiner Weise der Wirklichkeit nachempfunden. Namen sind in diesem Spiel gewissermaßen Schall und Rauch, manchmal aber auch Programm und damit Omen. Ähnlichkeiten mit lebenden, toten oder untoten Persönlichkeiten sind jedoch – soweit nicht gewollt – reiner Zufall und überhaupt nicht beabsichtigt. Der Narr erkennt sich selbst im Spiegel.

Genug der Worte; das Publikum lese selbst und finde zum sachgemäßen Urteil!

H.O.

1. Kapitel

Verhaftung und Vorladung

Ein düsterer Herbstmorgen lag über Berlin, und alle Häuser im Kupfergraben an der Spree waren noch lichtlos, als Angela Kestner aus schweren Träumen erwachte. Draußen vor dem Fenster zeigte sich nichts als klammes Dunkel. Kein Licht, nirgends. Ein keimender Tag, einer, der niemals hell werden würde: Jemand musste Angela K. beschuldigt haben, dass sie etliches Böse getan hätte und obwohl sie behauptete, dass sie nichts Derartiges getan habe, wurde sie an diesem Morgen in der Frühe verhaftet!

Ihr Dienstmädchen Petra Vogel, das ihr jeden Tag gegen 6.10 Uhr einen ersten Kaffee brachte, den zweiten nahm sie mit ihrem Gatten Jonathan ein, kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehen. Angela wartete noch eine Weile; gleichzeitig befremdet und allmählich auch ziemlich ärgerlich betätigte sie die Klingel auf ihrem Nachttisch und läutete. Sofort klopfte es kurz und, ohne auf ihr „Herein“ zu warten, trat ein Mann, den sie noch nie in der Wohnung am Kupfergraben gesehen hatte, in das Zimmer. Er wirkte schlank und muskulös gebaut und war ganz in ein sehr dunkles Schwarz gekleidet. Sein eigenartiger Anzug erschien mit den verschiedenen Taschen, Schnallen, Knöpfen und dem Gürtel geradezu militärisch, es war jedoch keine Uniform, sondern eher eine Art von praktischer Arbeitskleidung.

„Wer sind Sie?“, fragte Angela Kestner scharf und setzte sich im Bett halb auf. „Was suchen Sie in meinem Schlafzimmer? Ich bin die Bundeskanzlerin! Verlassen Sie umgehend den Raum!“

Der Mann aber ging ohne eine Antwort über die Aussagen und die Aufforderungen hinweg, als müsse sie seine Erscheinung ohne Erklärung und klaglos hinnehmen, und sagte lediglich: „Sie haben geläutet?“

„So ist es“, erwiderte Angela K. „Frau Vogel soll mir den Kaffee bringen und dann erwarte ich Beate Braumann zum Morgenrapport.“

Sie versuchte, zunächst stillschweigend, durch Aufmerksamkeit und Überlegung festzustellen, wer der Mann eigentlich sei und was er für eine Funktion habe. Vielleicht gehörte er zum Sicherheitspersonal?

„Handelt es sich um eine Übung?“, hakte sie endlich nach. „Oder ist etwas passiert?“

Aber der Fremde gab noch immer keine Erklärung ab, sondern wandte sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um jemandem, der sich offenbar knapp hinter der Tür befand, mitzuteilen:

„Frau K. will, dass Petra Vogel den Kaffee bringt!“

Im Nebenzimmer folgte Gelächter; es war nicht sicher, ob mehrere Personen daran beteiligt waren.

„Kaffee gibt es heute nicht“, gab der Mann nun im Ton einer Meldung bekannt.

„Das wollen wir sehen“, sagte Angela K., sprang energisch aus dem Bett, griff zum Morgenmantel und warf sich diesen über.

„Ich will wissen, was für Personen im Vorzimmer sind und wie der Personenschutz diese ungeheure Störung mir gegenüber verantworten wird.“

„Sie sollten besser hierbleiben!“

„Ich werde weder hierbleiben, noch will ich von Ihnen angesprochen werden, solange Sie mir nicht mitteilen, was geschehen ist!“

„Wie Sie wünschen, Frau Kanzlerin“, sagte der Fremde und öffnete jetzt mit einer einladenden Geste weit die Tür. Im Vorraum, in den Angela K. nun trat, sah es auf den ersten Blick fast genau so aus wie am Abend vorher. Es war ihr Ankleidezimmer, außer mit einem großen Schrank voller Blazer und anderer Wäsche lediglich mit ein paar Sesseln ausgestattet. In einem von ihnen saß bei geöffnetem Fenster ein zweiter Mann mit einem Buch, von dem er bei ihrem Kommen aufblickte. Ein dritter stand neben ihm.

„Sie hätten in Ihrem Schlafzimmer bleiben sollen!“, rief er ihr gebieterisch zu. „Hat Sie denn mein Kollege nicht entsprechend informiert?“

„Nein, das hat er nicht – und was fällt Ihnen überhaupt ein, so mit mir zu reden?“, fuhr ihn Angela K. an. „Wo sind meine Personenschützer? Wo befindet sich Frau Braumann? Wo ist mein Mann?“

Sie wandte sich zur anderen Tür, um den Raum zu verlassen. Der eine Mann trat ihr in den Weg, sodass sie gezwungen war, stehenzubleiben.

„Ich werde gleich mit dem Sicherheitschef Herrn Preiß sprechen, um zu erfahren, was hier los ist!“, sagte Angela K. und machte eine Bewegung, als reiße sie sich von dem Fremden los und wolle weitergehen.

„Halt!“, befahl der Mann beim Fenster und stand rasch auf. „Sie dürfen nicht weggehen, Sie sind verhaftet!“

Hiermit kam er zu ihr und legte ihr die Hand fest auf die Schulter.

Angela K. zuckte unter der fremden Berührung zusammen und hielt in der Bewegung inne. Was waren denn das für Menschen? Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an? Sie lebte doch in einem demokratischen Rechtsstaat, überall herrschte Frieden, alle Gesetze bestanden aufrecht. Wer wagte es, sie, die Kanzlerin des Landes und Chefin der Regierung, in ihrer eigenen Wohnung zu überfallen? Jedenfalls durfte sie den Männern keinen Anlass zu Gewaltmaßnahmen geben. Sie musste ruhig bleiben, wie unberührt wirken. Das würde ihr nicht schwer fallen, denn sie neigte zumeist dazu, alles möglichst leicht zu nehmen, das Schlimmste erst beim Eintritt des Schlimmsten zu glauben, keine Vorsorge für die Zukunft zu treffen, selbst wenn alles drohte. Im Augenblick schien ihr dieses Verhalten bei genauerer Überlegung doch nicht angebracht. Sie konnte zwar das Ganze als einen groben Streich ansehen, den ihr aus unbekannten Gründen, jemand – vielleicht sogar ihr Mann – gespielt hatte. Obwohl, Jonathan ließ selten Ansätze von Humor erkennen. Er zeigte sich immer ernst, der Herr Professor, fast schwermütig. Ihr erster Ehemann Ulrich war völlig anders gewesen … Ulrich liebte vor allem ihre Kochkunst. „Doro“ hatte er immer gesagt, gern benutzte er ihren zweiten Vornamen, „Doro, deine Kartoffelsuppe, dein Rinderbraten und dein Pflaumenkuchen sind einfach umwerfend!“

Nur, das hatte nicht gereicht, auch nicht, dass sie ihr blaues Hochzeitskleid umgeändert und in einen flotten Mini verwandelt hatte. Vielleicht eine andere Frisur und nicht dieser damalige Topfschnitt … Angela K. riss sich zusammen. Wenn sie ihren Gedanken nachhing und nicht Disziplin zeigte, konnte sie der Strom ihres Denkens wirklich sonstwohin führen. Jetzt galt es, sich der Situation zu stellen, rief sie sich zur Ordnung. Sicher brauchte sie nur auf irgendeine Weise den zwei Männern ins Gesicht zu lachen, und sie würden beide mit ihr lachen. Nein, darin, dass die Öffentlichkeit beziehungsweise die Presse später sagen würde, sie habe keinen Spaß verstanden, sah Angela K. eine vergleichsweise geringe Gefahr. Wohl aber erinnerte sie sich an einige, an sich unbedeutende Fälle, in denen sie sich im Unterschied zu ihren Parteifreunden, ohne das geringste Gefühl für die möglichen Folgen, unvorsichtig benommen hatte und später dafür durch ein unerwartetes Wahlergebnis gestraft worden war. Es sollte nicht wieder geschehen, zumindest nicht diesmal; war es eine Komödie, so wollte sie fröhlich mitspielen. Noch war sie jedenfalls frei.

Da öffnete sich die Außentür und mehrere Bewaffnete stürmten regelrecht ins Zimmer. Ihr Anführer, ein jüngerer Mann, der sie stark an den verstorbenen FDP-Politiker Westerhagen erinnerte, salutierte kurz.

„Frau Kanzlerin, ich darf Sie bitten, sich unverzüglich anzukleiden und uns dann zu begleiten.“

„Wohin, wenn ich fragen darf?“

„Zum Gericht. Sie werden noch heute Vormittag der Staatsanwaltschaft zugeführt!“

*

Als der Journalist Gregor Gysar am gleichen Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er auf dem Display seines i-Pads etliche Nachrichten vor, die alle davon handelten, dass die amtierende Regierung gestürzt und durch ein sogenanntes Nationalkomitee ersetzt worden sei. Man habe, so lautete der Text, umgehend sämtliche Regierungsmitglieder ab Staatssekretär aufwärts sowie alle Parlamentsmitglieder, soweit man der Abgeordneten des Bundestages habhaft werden konnte, verhaftet.

Was ist geschehen?, dachte Gysar und er zweifelte, ob er nicht noch träume. Doch offenbar war es kein Traum, denn alles schien real. Sein Zimmer lag ruhig zwischen den vier wohlbekannten Wänden. Auf dem Schreibtisch befanden sich Bücher und sein Tablet. An der Wand hing die Fotografie, die er vor kurzem auf einer Versammlung von seiner ehemaligen Kollegin Leni Knecht geschossen hatte. Es zeigte sie mit einer schwarzen Baskenmütze und feuerrotem Schal auf einem Rednerpult, wie sie eine Ansprache an eine größere Menge hielt. Knecht gehörte wie ihre Mutter Sarah der Linken an und war Bezirksverordnete; ob sie auch, wie die Meldungen besagten, verhaftet worden war?

Gregors Blick richtete sich zum Fenster, und das trübe Wetter – Regentropfen schlugen auf das Fensterblech – ließ ihn ganz melancholisch werden.

Leni verhaftet? Blödsinn, sie war eine Abgeordnete und somit immun. Auf den Internetportalen der FAZ, TAZ, des Focus’ und des SPIEGELs konnte er zudem dergleichen Nachrichten nicht finden. Eindeutig, das war alles blühender Unsinn. Wie wäre es, wenn ich einfach weiterschliefe und all diesen Unsinn vergäße, dachte er. Gregor versuchte es sogleich und schloss die Augen. Doch es war ihm nicht möglich, zurück in den Schlaf zu finden, zu sehr machte sich Unruhe in ihm breit.

Ach Gott, dachte er, was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tagaus, tagein bin ich unterwegs, um Neuigkeiten und Skandalen nachzujagen. Ständig fahre ich durch die Gegend. Dazu kommen die Sorgen um das Honorar und die Spesenabrechnung, das unregelmäßige, schlechte Essen, das Herumhängen in verrauchten Kneipen bis tief in die Nacht und das viele Saufen, weil man sonst mit den Leuten nicht ins Gespräch kommt. Der Teufel soll das alles holen! Hätte ich doch auf den Onkel gehört und das Jurastudium abgeschlossen!

Das frühe Aufstehen macht einen ganz blödsinnig. Der Mensch braucht seinen Schlaf. Er insbesondere. Andere Kollegen sehen das alles lockerer. Wenn ich schon unterwegs und beim zweiten oder dritten Interview bin, sitzen die Damen und Herren erst beim Frühstück. Das sollte ich bei meinem Ressortleiter versuchen; ich würde auf der Stelle hinausfliegen.

Mitten in diese Überlegungen hinein klopfte es mehrmals laut an der Tür. Gregor schreckte aus seinen Gedanken auf. Wer mochte das um diese frühe Stunde sein?

*

„Der Staatsanwaltschaft? Von welcher Gerichtsbehörde?“

Der Befragte gab darauf keine Antwort. Er winkte kurz und zwei der Bewaffneten drängten Angela K. nun, als wäre das selbstverständlich, zurück in das Schlafzimmer.

„Worauf warten Sie?“, riefen sie. „In diesem Aufzug können Sie nicht vor dem Generalstaatsanwalt erscheinen! Er wird Sie nicht anhören und gleich in Haft nehmen und uns mit, weil wir einen solchen Auftritt zulassen!“

„Lassen Sie mich in Ruhe!“, rief Angela K. ärgerlich, die schon bis zu ihrem Bett zurückgewichen war. „Wenn man mich im Bett überfällt, kann man nicht erwarten, mich vollständig angezogen vorzufinden. Zudem möchte ich beim Ankleiden allein sein, was wohl selbstverständlich ist.“

„Gut, gut“, lenkte der Anführer der Gruppe ein und gab jemandem, den Angela nicht sehen konnte, einen erneuten Wink. „Bringt Frau Braumann her, sie soll der Kanzlerin behilflich sein.“

Damit schloss er die Tür.

Dieser Befehl verwirrte Angela K. und brachte sie gleichermaßen zur Besinnung. Noch nie hatte sie Frau Braumann in Modefragen zur Beratung herangezogen. Für diesen Bereich war Bettina Schönbach zuständig, wie Udo Wels für ihre Frisur. Überhaupt, was sollte sie groß anziehen? Was immer passiert war, denn dass etwas passiert und der ganze Auftritt längst kein Scherz mehr war, schien ihr allmählich klar zu sein. Was also passiert war, es musste etwas Gefährliches sein. Ein kühler Schauder überlief sie und sie vermochte ein inneres Beben kaum zu unterdrücken. Dann überkam sie ein starkes Durstgefühl. Mit zitternder Hand griff Angela K. zur Mineralwasserflasche auf ihrem Nachttisch, goss Wasser in ein Glas und trank dieses aus. Noch zweimal wiederholte sie das Manöver, bis sich ihre Nerven beruhigten.

Eindeutig, sie musste sich der Situation stellen. Diese Bewaffneten, das ganze Auftreten deutete auf eine Terroristengruppe hin. Anders wären sie auch kaum ins Haus gelangt. Wer waren diese Leute? Wohin sollte sie gebracht werden? Zu einer gerichtlichen Anhörung? Eine Anhörung vor einem wahrscheinlich selbst ernannten Generalstaatsanwalt einer wie immer gearteten Terroristengruppe erschien ihr im höchsten Grade lächerlich. Oder vielleicht doch nicht? Die Leute waren nun einmal bewaffnet und schienen die vollständige Kontrolle über ihre Wohnung erlangt zu haben. Ob ihr ein Schicksal wie das von Hanns Martin Schleyer drohte? Ein kaltes Gefühl der Angst stieg in ihr auf.

Da öffnete sich wieder die Tür und ihre Vertraute Beate Braumann wurde hineingeschoben. Ihr folgte eine der Kanzlerin unbekannte, breitgesichtige Frau, die ebenfalls diese Art von dunkler Uniform trug und wie selbstverständlich mit einem Revolver bewaffnet war. Die Frau trat, ohne sich weiter vorzustellen, ans Fenster, stellte sich breitbeinig davor hin und schien ganz offensichtlich eine Beobachterrolle einnehmen zu wollen.

„Frau Braumann“, begrüßte Angela K. ihre Beraterin. „Sagen Sie mir, was ist passiert?“

„Ich darf es Ihnen nicht sagen, Frau Kanzlerin“, erwiderte die Befragte in ängstlich wirkendem Ton. „Selbst wenn ich es wüsste, müsste ich schweigen.“

„Und warum?“, forschte Angela K. nach.

„Wegen der Anhörung, wurde mir gesagt.“

„Was für eine lächerliche Zeremonie!“, gab die Kanzlerin zurück. „Nun, dann beraten Sie mich wenigstens in der Frage meiner Kleidung, wenn Sie mich sonst schon nicht zu unterstützen vermögen. Mein Abendkleid von Oslo kommt sicher nicht infrage“, fügte sie, in dem matten Versuch zu scherzen, hinzu.

Frau Braumann aber hielt bereits einen roten Blazer in die Höhe, den sie von einem Stuhl aufgehoben hatte und streckte ihn einen Augenblick mit beiden Händen in Richtung der Frau am Fenster, als unterbreite sie das Kleidungsstück dem Urteil der Bewacherin. Diese schüttelte verneinend den Kopf.

„Es muss ein schwarzer Blazer sein“, sagte sie bestimmt.

Angela K., verärgert über die fremde Einmischung, riss Frau Braumann den Blazer aus den Händen und warf ihn voller Unmut auf den Boden.

„Was spielt die Farbe für eine Rolle?“, widersprach sie der Fremden. „Es ist doch nicht die Hauptverhandlung, nur eine vorläufige Anhörung.“

Wie sie auf diese Aussage kam, konnte sich Angela K. allerdings nicht erklären.

Die Wächterin lächelte böse und blieb dabei: „Es muss ein schwarzer Blazer oder ein schwarzes Kleid sein.“

„Wenn ich dadurch die Sache beschleunige, soll es mir recht sein“, sagte Angela K. resignierend. Sie trat selbst zum Kleiderschrank und suchte lange unter den vielen Kleidern und Hosenanzügen. Schließlich wählte sie ihr bestes schwarzes Kleid aus, ein Jackettkleid, das durch seine Taille beim letzten Staatsempfang Aufsehen erregt hatte. Dann zog sie aus einer Schublade frische Wäsche hervor und begann, sich sorgfältig anzuziehen. Ein kurzer Besuch im Bad, wieder von der Fremden und Frau Braumann begleitet, diente der Auffrischung des Make-ups.

Endlich war sie vollständig angezogen. Nun wurde die Tür geöffnet und zwei weitere Bewaffnete, die draußen gewartet hatten, geleiteten die Kanzlerin aus der Wohnung zur Straßen hinab. Dort wurde sie genötigt, in eine bereitstehende gepanzerte Limousine zu steigen, die, kaum dass sie auf der Rückbank Platz genommen hatte, startete und losfuhr.

*

Wieder klopfte es, diesmal lauter und heftiger. Gregor blieb im Bett. Wer störte ihn um diese frühe Stunde? Wenn er einfach liegen blieb, würde der Störenfried sicher bald genug haben und unverrichteter Dinge wieder abziehen müssen. Er steckte den Kopf unter die Decke, doch es half ihm nichts. Jetzt hämmerte es derart an die Tür, dass er fürchtete, diese würde unter den dauernden Schlägen endlich nachgeben und zerbrechen.

„Herr Gysar“, rief eine dunkle Männerstimme. „Hier ist die Gerichtspolizei! Öffnen Sie umgehend!“

Die Gerichtspolizei? Er kannte eine solche Gruppierung nicht. Doch womöglich hing ihr Erscheinen mit der Revolution zusammen, von der er gelesen hatte. Hastig sprang Gregor im Nachtgewand aus dem Bett, lief zur Tür und öffnete diese. Im Gang vor ihm standen mehrere Männer in pechschwarzer Uniform.

„Sie sind Herr Gysar?“, fragte ihn der vorderste von ihnen, der wohl ihr Anführer war, scharf. „Finsterwald mein Name.“

Er streckte ihm kurz einen Ausweis entgegen, steckte diesen jedoch, bevor Gregor ihn richtig zu prüfen vermochte, rasch wieder in seine Tasche.

„Herr Gysar“, sagte Finsterwald nun mit erhobener Stimme. „Was ist los mit Ihnen? Sie verbarrikadieren sich in Ihrem Zimmer, kriechen unter die Decke und antworten auf unser Klopfen nicht. Sie machen uns schwere, unnötige Sorgen und versäumen – dies nur nebenbei erwähnt – Ihre staatsbürgerlichen Pflichten in einer eigentlich unerhörten Art und Weise. Ich spreche hier im Namen des Gerichtskomitees und ersuche Sie ganz ernsthaft um eine augenblickliche, plausible Erklärung.“

Gregor wusste keine Antwort und schwieg. Was wollten diese Leute von ihm? Von welchen Pflichten sprach der Herr namens Finsterwald? Was war das für ein Komitee, von dem er noch nie gehört hatte?

„Sie antworten nicht?“, fuhr der Unbekannte fort. „Sind Sie taub? Wir glaubten, Sie als einen ruhigen, vernünftigen Menschen zu kennen, und nun scheinen Sie plötzlich anfangen zu wollen, uns mit sonderbaren Launen von unserer Arbeit abzuhalten. Ich bin erstaunt, äußerst erstaunt!“

„Verzeihen Sie“, wagte es Gregor, Herrn Finsterwald zu unterbrechen. „Ich verstehe mit keinem Wort, was Sie meinen beziehungsweise von mir erwarten.“

„Mann!“, bellte ihn sein Gegenüber geradezu an. „Was soll dieser schier unbegreifliche Starrsinn? Ich verliere ganz und gar jede Lust, mich auch nur im Geringsten für Sie einzusetzen, wenn Sie so weiterreden. Sie sollen Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit tun, mehr wird von Ihnen nicht erwartet.“

„Könnten Sie mir nicht einfach erläutern, was Sie von mir wollen?“, bat Gregor zaghaft.

„Mein Herr!“, rief Finsterwald jetzt voller Zorn. „Sie lassen mich hier nutzlos meine Zeit versäumen! Sie sind Anwalt und wissen nicht, was Sie zu tun haben? Zwar waren Ihre Leistungen vor Gericht in der letzten Zeit nicht sehr befriedigend, aber das, was Sie hier aufführen …“

Er hielt inne, um sich zu besinnen. „Ich würde Ihnen das alles unter vier Augen sagen, meinetwegen auch erklären, doch die Zeit drängt und ich kann mich nicht länger mit diesem Unsinn aufhalten.“

„Aber Herr Finsterwald“, rief Gregor außer sich und vergaß in der Aufregung alles andere. „Ich habe beziehungsweise hätte doch augenblicklich geöffnet. Ein leichtes Unwohlsein, ein Schwindelanfall haben mich daran gehindert, sogleich aufzustehen. Ich lag, wie Sie meinem Aufzug ansehen können, bis eben noch im Bett. Jetzt bin ich aber schon wieder ganz frisch und werde gleich verstehen, was Sie von mir wollen. Nur einen kleinen Augenblick Geduld!“

„Sie sind doch Gregor Gysar?“, erwiderte der Angesprochene mühsam beherrscht. „Der bekannte Strafverteidiger?“

„Nein! Nein, der bin ich nicht“, antwortete Gregor erleichtert, denn ihm schien, als habe sich das Missverständnis soeben geklärt. „Der Strafverteidiger ist mein Onkel, der Bruder meines Vaters, der zufälligerweise den gleichen Namen trägt wie ich. Obwohl“, fügte Gregor in dem Bemühen hinzu, Herrn Finsterwald alles umfassend zu erläutern, „es eigentlich doch kein Zufall ist, dass ich wie der Onkel heiße, da ich nach ihm benannt worden bin.“

„Haben Sie auch nur ein Wort verstanden?“, sagte Finsterwald zu einem anderen Mann, der direkt neben ihm stand. „Der Kerl macht sich lustig über uns! Sie sind“, wandte er sich wieder an Gregor, „Herr Gysar und haben Jura studiert? Richtig?“

„Das stimmt“, gab Gregor zu, „allerdings …“

„Es gibt kein ‚Allerdings‘“, unterbrach ihn Finsterwald grob. „Sie kommen mit uns zum Generalsstaatsanwalt. Dort erwartet Sie eine Mandantin! Folgen Sie uns – oder zwingen Sie mich, andere Maßnahmen zu ergreifen?“

„Um Gottes willen, nein“, rief Gregor erschrocken. „Erlauben Sie nur, dass ich mich rasch anziehe, dann werde ich Ihrer Aufforderung unverzüglich Folge leisten.“

„Sehen Sie, es geht doch“, erwiderte Finsterwald zufrieden. „Also, kleiden Sie sich endlich an!“

*

Vizekanzler Schulte schaute gelangweilt aus dem Fenster. Unten rostete die Kunst und wurde täglich unschöner, drüben strömte matt die Spree; oben hing ein trüber Tag. Zudem ließ die Kanzlerin auf sich warten. Er gähnte, drehte sich dann um: sein Blick glitt nun über die versammelten Portraits der früheren Kanzler des Landes. Der erste mit dem gestrengen Blick, dem buschigen Bart und dem Namen eines bekannten Fisches. Daneben die Kanzler Bellow und Michael, gefolgt vom badischen Prinzen sowie dem Mehrfachkanzler Luther. Drüben der unsägliche Alois Schnackelhuber, dann der arme Konrad und der gute Heinz Erhard. Und und und – immer so weiter bis zum Bildnis der aktuellen Kanzlerin Angela K. Fehlte eigentlich nur noch sein eigenes Konterfei. Ob es jemals dort hängen würde? Einmal war er nahe dran gewesen, zumindest an der Kandidatur. Doch seine spezielle Freundin Storch-Nehle hatte all seine Anstrengungen zunichte werden lassen. Schulte seufzte. Dann war er noch genötigt gewesen, in das aktuelle Kabinett als Vizekanzler einzutreten – natürlich aus Gründen des Proporz‘ und der Parteiräson. Die Partei, er schnaufte verächtlich, viel war von ihr nicht mehr übrig, magere fünfzehn Prozent bei der Europawahl, im Bundestrend sogar unter zehn Prozent. Und dies trotz der propagierten Erhöhung aller Sozialausgaben um sagenhafte siebzig Prozent. Das Volk kassierte die Wohltaten – und wählte die SPD trotzdem nicht! Das schien ihm sehr undankbar zu sein. Wenigstens war er Storch-Nehle losgeworden, jetzt musste nur noch … Schulte schaute erneut ungeduldig auf seine Uhr. Wo blieb Frau K. denn? Es war bereits neun und das Treffen war für acht Uhr angesetzt gewesen. Pünktlichkeit war zwar nie ihre Stärke gewesen, so sehr aber hatte sich die Kanzlerin bislang nie verspätet. Dabei war Dringlichkeit geboten, die Gerüchte von einer Krise hatten über die Presse längst die Öffentlichkeit erreicht. Mancher munkelte gar von einer Revolution, obwohl das absolut unsinnig war. Dennoch, allmählich fühlte sich Schulte von Nervosität gepackt. Er griff zum Handy, vielleicht wusste Jonathan, wo seine werte Gattin weilte.

*

Der Wagen, in den Angela K. hatte einsteigen müssen, ein Mercedes der 600er Reihe, kam überraschend schnell vorwärts. Die Straßen der Stadt waren völlig leer, der Verkehr schien komplett zum Erliegen gekommen sein, stellte sie mit wachsendem Unbehagen fest. Es handelte sich offenbar um mehr als um einen terroristischen Überfall oder eine banale Entführung. Ganz Berlin oder zumindest das Zentrum der Stadt schien sich unter fremder Kontrolle zu befinden. Hatte vielleicht sogar eine Revolution stattgefunden? Erneut beschlich sie diese merkwürdige Unruhe.

Trotz der bereits festgestellten Geschwindigkeit zog sich die Fahrt mehr und mehr in die Länge. Das Regierungsviertel mit Reichstag, Kanzleramt und Abgeordnetenhaus wie auch der Amtssitz des Bundespräsidenten waren längst passiert. Jetzt bewegte sich das Auto ungefähr in Richtung Grunewald.

„Wohin bringen Sie mich?“, wandte sich die Kanzlerin an den Mann, der ihr in ihrer Wohnung als Anführer der Eindringlinge erschienen war und den sie für sich, wegen der Ähnlichkeit mit dem Politiker Westerhagen, Guido nannte. Dieser war ebenfalls in den Wagen gestiegen und hatte sich vorn neben den Fahrer gesetzt.

„Zum Generalstaatsanwalt, wie Ihnen bereits mitgeteilt wurde.“

„Also zu Frau Kloppert in die Elßholzstraße?“

Statt einer Bestätigung ihrer Feststellung gab „Guido“ dem Chauffeur einen kurzen Befehl, worauf dieser eine Trennwand zur Rückbank hin aus den Lehnen hochfahren ließ. Gleichzeitig verdunkelten sich die Seitenfenster, sodass es für Angela K. keine Möglichkeit mehr gab, die Route genauer wahrzunehmen.

„Die Fahrtstrecke und das Ziel sind für den Verlauf des Verfahrens nicht relevant“, belehrte sie eine Lautsprecherstimme. „Verhalten Sie sich bitte ruhig.“

Die Kanzlerin schwieg, weitere Fragen schienen nicht sinnvoll zu sein. Eine Lichtreihe in der Decke leuchtete auf, wenigstens saß sie nicht völlig im Dunkeln. Weiter und weiter ging die Fahrt. Allmählich merkte Angela K., dass sie hungrig wurde. Auch der Kaffee fehlte ihr.

Endlich, sicher war mehr als eine Stunde vergangen, verlangsamte sich das Tempo. Der Wagen bog ab, fuhr noch einige Minuten, wobei Angela K. das Gefühl hatte, es ginge in die Tiefe, und hielt endlich an.

Die Tür wurde geöffnet und eine weitere unbekannte Person zeigte sich, ein breitschultriger Mann, der sie in barschem Ton aufforderte, auszusteigen.

Um sie herum erstreckte sich ein großer, kahler Raum, in dem weitere Fahrzeuge standen und den zwei seitlich befindliche, flackernde Neonlampen kaum erhellten. Sie mussten in eine Art Parkhaus oder Garagenanlage gefahren sein.

Ein halbes Dutzend Männer erwartete sie, die meisten in den bekannten schwarzen Uniformen, nur der Unfreundliche trug einen grauen, abgenutzt wirkenden Anzug.

„Soll Frau K. gleich dem Generalstaatsanwalt vorgeführt werden?“, fragte „Guido“ den Mann.

„Nein, der Herr Generalstaatsanwalt führt gerade ein anderes Verhör“, erwiderte dieser. „Frau K. kann in der Kantine warten.“

Guido ergriff ihren Arm und führte die Kanzlerin durch verschiedene Gänge und Treppen in einen kargen Raum mit wenigen Tischen und einigen Stühlen aus grauem Plastik sowie zwei großen Küchenschränken älterer Art.

„Sie werden nach diesen Aufregungen Hunger haben“, sagte er. „Setzen Sie sich!“

Er trat zum linken Schrank, öffnete ein Fach und entnahm diesem einen Teller und eine Platte mit runzligen Zwiebeln sowie einem walzenartigen Brot, in dessen Laib ein langes Messer steckte. Das alles stellte er vor Angela K. auf den Tisch sowie eine Kanne mit einer dunklen Flüssigkeit, die nur sehr entfernt an Kaffee erinnerte und zudem kalt war.

„Aber das ist ja ein Essen für Sträflinge“, rief eine korpulente Frau, die, von Angela K. unbemerkt, aus einer Türe kommend an ihren Tisch trat.

„Einen Augenblick, Frau Kanzlerin“, sagte sie dann. „Ich werde gleich etwas Besseres zusammengestellt haben.“

Sie ging mit einer bei ihrem Leibesumfang bewunderungswerten Beweglichkeit zum zweiten Schrank, öffnete diesen und schnitt mit einem dünnen, sägeblattartigen Messer ein breites Stück von einem großen Käselaib ab. Darauf nahm sie aus einem Behälter mehrere duftende Brötchen und legte diese in einen leichten Strohkorb, den sie mitsamt einem Butternapf der Kanzlerin reichte.

„Frischer Kaffee kommt gleich, diese Plörre hier ist ungenießbar“, erklärte die Frau sodann und räumte die erste Kanne fort.

„Clara, du bist viel zu freundlich“, meinte nun Guido. „Für jemanden in der Situation von Frau K. hätte es der Zichorienkaffee auch getan.“

„Noch ist sie nicht verurteilt, sondern nur verhaftet“, gab Clara zurück und schenkte aus einer gerade geholten Thermoskanne Angela K. eine Tasse frischen Kaffees ein.

Während sie saß, aß und trank, versuchte Angela K., über ihre Lage nachzudenken. Wo befand sie sich? Nebenan mussten weitere Räume sein. Doch sie hörte hier keinen Laut, die Mauern schienen sehr dick.

Und sonst? Was erwartete sie? Wessen wollte man sie anklagen? Sie konnte sich auf das Ganze einfach keinen Reim machen. Unschlüssig griff sie in die Tasche ihres Blazers und zog überrascht eine Schachtel Zigaretten hervor, der sie eine entnahm und mithilfe eines Feuerzeugs aus der anderen Tasche anzündete. Gierig inhalierte sie den Rauch, diesen Genuss hatte sich Angela K. schon lange nicht mehr gegönnt.

*

Nachdem er sich angezogen hatte, wurde Gregor von Herrn Finsterwald und dem zweiten Herrn, der sich nicht vorstellte, zu einem vor dem Hause stehenden Wagen geführt. Die drei Männer stiegen ein und fuhren, wie Gregor mitgeteilt wurde, zur Generalstaatsanwaltschaft, da dort für einen Klienten sein Rechtsbeistand benötigt werde. Gregors Versuche, den Irrtum hinsichtlich seiner rechtlichen Qualifikation aufzuklären, blieben vergeblich, ja, sie zogen erneut den Zorn seiner Begleiter auf sich, sodass er sich wohl oder übel in die Situation schickte und schwieg.

Die Fahrt kam Gregor endlos vor, und die Stadtteile, durch die es ging, schienen ihm sonderbar fremd zu sein. Die Straße, über die sie eben fuhren, wurde auf beiden Seiten durch sehr einförmige Häuser begrenzt. In der Mehrzahl waren es hohe, graue, von einem wenig bemittelten Klientel bewohnte Mietshäuser, deren Fassaden vielfach mit hässlichen Graffitis beschmiert waren. Jetzt, obwohl es früher Morgen war, zeigten sich die meisten Fenster besetzt. Männer in Unterhemden der Marke Schießer lehnten dort und rauchten. Andere Fenster waren mit Bettzeug angefüllt. Über diesen erschienen unfrisierte Köpfe von Frauen jeden Alters. Regelmäßig verteilt befanden sich in der Straße kleine Läden mit verschiedenen Lebensmitteln, Tabakwaren und Spirituosen. Frauen gingen aus und ein oder standen mit altertümlichen Milchkannen in den Händen auf den Stufen und plauderten.

Sie fuhren immer tiefer in diesen fremdartigen Kiez hinein. Er musste irgendwo im Wedding oder in Moabit liegen, vielleicht auch in Neukölln, Gregor war sich in der Frage der Himmelsrichtung absolut unsicher. Berlin hatten sie jedenfalls nicht verlassen. Es war kurz nach acht, als sie ihr Ziel erreichten und in eine breite Toreinfahrt bogen. Diese war von ihrer Größe her offenbar für Lastwagen bestimmt, die zu den verschiedenen Warenlagern gehörten, die den großen Hof umgaben und Aufschriften von Firmen trugen, von denen Gregor zum Teil noch nie gehört hatte.

Der Wagen hielt, und Gregor wurde genötigt auszusteigen. Er folgte und sah sich forschend um. Im Hof befanden sich drei verschiedene Treppenaufgänge und überdies schien ein kleiner Durchgang in einen zweiten Hof zu führen. Finsterwald jedoch wandte sich, ohne zu zögern, einer Treppe zu, die, wie er sagte, direkt zum anwaltlichen Besprechungszimmer führe.

„Kommen Sie“, forderte er Gregor auf. „Das Gericht wartet nicht ewig auf uns.“

Gregor folgte ihm notgedrungen, zumal ihn der zweite Mann fast vorwärts stieß. Sie stiegen hastig die Stufen empor, wobei sie beim Hinaufgehen durch zahlreiche Kinder, die auf der Treppe spielten, behindert wurden.

„Wenn Sie nächstens wieder hierher kommen“, riet ihm Finsterwald, „bringen Sie Schokolade oder anderes Naschzeug mit. Oder noch besser einen Stock, um sie kräftig zu prügeln.“

Gregor erwiderte auf die Vorschläge nichts, Gewalt war ihm zuwider. Und ein zweites Mal würde er sicher nicht hierher kommen. Jedenfalls nicht freiwillig. Im ersten Stockwerk blieb Finsterwald zögernd stehen. Es zeigte sich nämlich, dass fast alle Türen offen standen und es unklar war, wo das Besprechungszimmer zu finden wäre. In dieser Etage befanden sich lediglich kleine, einfenstrige Räume, die ersichtlich bewohnt waren. Es wurde gekocht und roch nach Kohlsuppe. Frauen hielten plärrende Säuglinge im Arm, kleine Mädchen liefen geschäftig umher. In vielen Zimmern waren Betten zu sehen, in denen Leute, vor allem Alte, lagen.

„Wir sind offenbar falsch“, sagte Gregor zu Finsterwald. „Das ist ein Wohnblock.“

„Das sehe ich selbst“, gab dieser ärgerlich zurück. Sein Handy klingelte und er führte ein kurzes Gespräch, dessen Inhalt Gregor nicht verstand, da er sehr leise sprach und ein großes Lärmen herrschte. Finsterwald beendete das Telefonat und wandte sich an Gregor.

„Wir müssen in den fünften Stock, Herr Gysar. Beeilen Sie sich, man erwartet uns bereits seit fast einer halben Stunde!“

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Jonathan S. saß am Morgentisch und blätterte ohne großes Interesse in der Tageszeitung. Krisen, Demonstrationen und Handelsblockaden, Staatsdefizite, Messermorde und Naturkatastrophen, Kündigungen von Verträgen, Braunkohleausstieg und Dieselskandal, Greta Green, Revolution in Südamerika, Krieg in Kaschmir, Endowahn droht. Tump trifft Kim, King meets Kong und so weiter, das übliche langweilige Weltgeschehen. Wo Angela bloß blieb? Er hasste es, ohne sie den Kaffee zu trinken. Auch wenn dies häufig, wenn Angela in der Weltgeschichte umherreiste, mehr als ihm lieb war, der Fall sein mochte. Jonathan griff zur Glocke und läutete. Keine Minute später trat Frau Vogel ins Zimmer.

„Der gnädige Herr wünschen?“

„Bitte seien Sie so gut, Frau Vogel, und schauen Sie, wo meine Frau bleibt. Der Kaffee ist schon fast kalt geworden.“

„Verzeihung, gnädiger Herr“, erwiderte Petra Vogel und knickste. „Die Frau Kanzlerin ist bereits zum Gericht aufgebrochen.“

„Sie ist zum Gericht gefahren?“

„Jawohl, gnädiger Herr. Man hat die gnädige Frau Kanzlerin abgeholt.“

„Wer hat meine Frau abgeholt?“

„Mehrere Männer, Herr Professor. Alle in Schwarz gekleidet.“

„Personenschützer vermutlich. Nun, das wird seine Richtigkeit haben.“

Jonathans Handy klingelte, er meldete sich: „Sauerbrot? …

Ach, Sie sind es, Schulte … nein, sie ist zu Gericht … keine Ahnung, worum es geht … erfahre ohnehin nie etwas … geht Ihnen genauso? … Klar, richte ich aus.

Einen schönen Tag!“

Jonathan beendete das Gespräch.

„Frau Vogel, bringen Sie bitte noch einen Toast und etwas Rührei!“

Wieder griff er zur Zeitung und wandte seine Aufmerksamkeit dem Sportteil zu. Was machte Hertha? Und vor allem die Union?

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Eine junge Frau kam in den Raum und trat zu Angela K.