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Hauptmann Wedigo von Wedel wird Zeuge eines tödlichen Luftkampfs zweier Flugzeuge. Zur Aufklärung des Vorfalls holt Major Nicolai den jungen Offizier in die Geheimdienstabteilung des preußischen Kriegsministeriums zurück. Zunächst verdächtigt Wedel den französischen Geheimdienst, doch bald merkt er, dass viel mehr hinter dem Mordanschlag steckt. Seine Ermittlungen führen ihn in die Tiefen der Spionage und Gegenspionage und schließlich bis nach Sarajevo.
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Seitenzahl: 371
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Heiger Ostertag
Operation Sarajevo
Kriminalroman
Personen und Handlung – soweit nicht historisch – sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten, nicht historischen Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Sven Lang
Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild –
Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl
ISBN 978-3-8392-4534-7
Für meine Tochter Sarah
Berlin, 30. Mai 1914
Der Berliner Zeitung wurde die Information zugespielt, dass tatsächlich von russisch-französischer Seite an die englische Regierung die Zumutung gestellt wurde, der Flottenkonvention der beiden verbündeten Mächte beizutreten. Aus verlässlicher Quelle wird dem Blatt jedoch versichert, dass der russische Botschafter Iswolski von England eine ablehnende Antwort erhalten hat. Die englische Regierung wünsche mit Rücksicht auf die Stimmung im eigenen Lande und die guten Beziehungen zu Deutschland jeden Schritt, der als gegen eine befreundete Macht gerichtet gesehen werden könnte, zu vermeiden.
Baden-Baden, 30. Mai 1914
Der Kronprinz, Generalstabchef von Moltke, 16 Generäle, 17 Stabsoffiziere und vier Hauptleute des Großen Generalstabs sind heute von Straßburg kommend in Baden-Baden eingetroffen und werden bis Dienstag bleiben. Der Kronprinz und mehrere andere Offiziere haben im Hotel Messmer Wohnung genommen.
Berlin, 30. Mai 1914
Am Samstagnachmittag findet der mit 100.000 Mark dotierte Dreiecksflug Johannisthal – Leipzig – Dresden –Johannisthal statt. Die Elite der Zivilflieger wird zum Start erwartet, außer Hirth und Stöffler haben 33 Flieger zugesagt, die in einem Zeitraum von 22 Minuten auf die Reise gehen sollen. Der Ausgang des Rundflugs wird nach den Wettkämpfen des letzten Jahres mit dem geplanten Flug rund um Berlin Ende August und der Herbstflugwoche Anfang Oktober mit Spannung erwartet.
Der Otto-Alberti-Doppeldecker flog in ruhigem Gleiten aus Südwesten heran und näherte sich dem Flugplatz Johannisthal. Schon waren die Zuschauertribünen in Sicht, und der Pilot wackelte mit den Flügeln, um das Publikum zu grüßen. Die Menge winkte zurück und schwenkte Tücher und Hüte. Da tauchte wie aus dem Nichts ein zweites Flugzeug auf, stürzte von oben aus einer Wolke auf die erste Maschine und setzte sich direkt hinter diese. In rasantem Tempo näherte sich das Flugzeug dem Heck des voranfliegenden Doppeldeckers. Es kam immer näher und näher, der Abstand betrug schließlich nur noch knapp 50 Meter. Plötzlich blitzte es mehrfach rot auf der oberen Tragfläche des Verfolgers und die stakkatoartige Schussfolge eines Schnellfeuergewehres war zu hören. Die Zuschauer am Boden erstarrten: Die zweite Maschine griff die erste an! Der Verfolger näherte sich feuernd mehr und mehr dem Doppeldecker. Die Distanz war mittlerweile auf 20 Meter geschrumpft. Eine Salve traf klatschend den Rumpf der Maschine. Diese brach nach links aus. Mit Mühe gelang es dem Piloten, das Flugzeug abzufangen und wieder auf Kurs zu bringen. Die Schüsse endeten abrupt, und der Führer der fremden Maschine zog diese steil nach oben und rollte gleichzeitig sein Flugzeug zur Seite. Als er die alte Flughöhe erreicht hatte, ließ er den Vogel mit vollem Querruderausschlag um die Längsachse rollen und beschoss erneut den Doppeldecker. Der Flugzeugführer der ersten Maschine, von den unerwarteten Attacken völlig überrascht, reagierte nun auf das unbegreifliche Geschehen. Er führte mit seiner Maschine eine halbe Drehung aus und zog dann den Steuerknüppel zurück, um den Angreifer abzuhängen. Es begann ein wildes Kurven, Steigen und Fallen, die Flugzeuge führten einen bizarren Tanz auf. Sie umkreisten einander, schossen nach oben und kippten plötzlich nach links oder rechts ab in die Tiefe. Immer wieder ertönten Schüsse. Dann zeigte eine Rauchfahne, die aus dem Otto-Alberti-Doppeldecker aufstieg, dass dieser gefährlich getroffen war. Der Motor stotterte und ruckelte, setzte aus und verstummte. Die Maschine verlor den Halt, drehte sich und schoss in einer trudelnden Kurve dem Boden entgegen.
Vor ihm lag ein endlos blauer Himmel, nirgends waren Wolken zu sehen. Ein wunderbarer Pfingsttag. Unten öffnete sich die weite Silhouette Berlins. Die Straßen und Häuser der Hauptstadt glichen aus dieser Höhe einem Steinbaukasten für Kinder. Auch die größeren Gebäude wirkten von oben wie buntes Spielzeug. Das galt für die vielen Kirchen wie für die neuen Bauwerke im Regierungsviertel der Hauptstadt, für den Reichstag und das Brandenburger Tor, über das der Flieger nun flog. Da und dort waren in der Tiefe Menschen zu ahnen, dunkle, hastende Punkte, winzig und klein; alles war zierlich und fern. Wedigo legte die Maschine in eine leichte Rechtskurve und verließ das Stadtzentrum in Richtung Südwesten. Bald zeigte sich unter ihm ein vielfältiges Gewirr von Seen, Wiesen und Wäldern. Dem jungen Hauptmann pochte das Herz vor Freude. Er genoss das Gefühl, 1.000 Meter hoch über allem zu schweben und frei zu sein wie ein Vogel. Der 75-PS Motor seines Albatros-Doppeldeckers schnurrte wie eine Katze. Ein herrlicher Tag: Heute war sein erster Alleinflug, seit sich vor einer Woche sein größter Traum erfüllt und er mit Ablegen der Flugprüfung den Pilotenschein des Deutschen Luftfahrerverbandes erworben hatte. Wedigo von Wedel blickte auf die Taschenuhr. Jetzt war er seit einer Stunde in der Luft. Später, um 19 Uhr, hatte er im Kasino eine Verabredung, langsam sollte er umkehren. Er entschloss sich, mit einem Schlenker über den Müggelsee, zurück zum Flugplatz Johannisthal zu fliegen, um dort zu landen. Der Gardehauptmann fasste den Steuerknüppel, drückte den Albatros langsam tiefer und lenkte die Maschine, nachdem der See erreicht war, in einer eleganten Schleife nach Nordwesten. Vor ihm zogen Schönwetterwolken auf, die er vorsichtig umflog. Schon näherte er sich dem Flugplatz. Da sah er in einem halben Kilometer Entfernung zwei Flugzeuge, die sich verfolgten. Sie flogen in engen Kreisen umeinander, zogen steil nach oben und drehten plötzlich nach rechts oder links ab. Dann hörte Wedigo mehrere, sehr laute Geräusche, offenbar Schüsse, und aus einem der Flugzeuge stieg schwärzlicher Rauch auf. Bestürzt sah er, wie der Doppeldecker zur Seite kippte und mit trudelnden Bewegungen in die Tiefe stürzte. Aus einem Impuls heraus folgte er mit seinem Albatros dem zweiten Flugzeug. Doch die andere Maschine stieg steil nach oben, tauchte in eine Wolke ein und geriet umgehend außer Sicht. Wedigo brach die Verfolgung ab und drehte um. Wenig später lag Johannisthal wieder vor ihm; Hauptmann von Wedel setzte zur Landung an.
Die abgeschossene Maschine war unweit der Landebahn nahe dem Gebäude der Firma Rumpler-Flugzeuge aufgeschlagen. Aus dem Wrack stieg beißender Qualm auf, Trümmer lagen in einem Umkreis von 50 Metern ringsherum verstreut. Der verrenkte Körper des Piloten konnte nur mit Mühe geborgen werden, zu helfen war ihm nicht mehr. Ein zufällig anwesender Militärarzt untersuchte den Toten.
»Der Mann muss unmittelbar beim Aufprall ums Leben gekommen sein«, sagte er und zuckte die Achseln. »Nichts mehr zu machen.«
Menschen drängten zur Absturzstelle, ein Fotograf schob sich durch die Menge der Schaulustigen und machte mit seiner Standkamera Bilder vom Unfallort.
»Der Angreifer war bestimmt ein Franzose«, meinte ein älterer Mann.
»Wo soll hier ein Franzose herkommen, Karl?«, fragte sein Begleiter und korrigierte ihn: »Wenn das ein Ausländer war, muss es ein Russe oder Pole gewesen sein.«
»Jedenfalls war es ein Feind«, stellte Karl abschließend fest.
Müßiges Gerede ohne Fakten, dachte Wedigo. So waren die Leute. Natürlich gab es in Johannisthal jede Menge ausländische Gäste, entweder Piloten oder Zuschauer. Wie die beiden Engländer und der Amerikaner rechts von ihm. Aber warum sollten diese einen deutschen Flieger abschießen? Er wandte sich vom Geschehen ab und ging zur Straße. Helfen konnte er ohnehin nicht. Ein Gefreiter hatte auf ihn gewartet und fuhr ihn im Automobil zurück nach Potsdam. Am Himmel zeigten sich mehrere Flugzeuge, die Kreise drehten. Auch ein Zeppelin zog majestätisch seine Runden. Offenbar wurde nach der Angreifermaschine gesucht.
Kurz vor sieben trat Hauptmann von Wedel durch die Tür des Kasinos des 1. Garde-Regimentes zu Fuß an der Kellertorbrücke direkt am Potsdamer Stadtkanal. Er trug seine neue Uniform, das schickte sich am Pfingstmontag im Kasino. Der junge Offizier war stolz auf sein Regiment, die Potsdamer Garde gehörte zur Elite des Offizierkorps und zur Spitze der Gesellschaft. Die Offiziere stützten und trugen die Monarchie, und damit den Staat. Das war schon immer so gewesen, der Korpsgeist war seit Jahrhunderten ungebrochen. Als Angehöriger dieser geradezu ›ritterlichen‹ Elite ertrug man geduldig den militärischen Drill, fuhr gemeinsam ins Manöver, übte, kämpfte, paradierte und lebte zusammen, fest im Geist des großen Ganzen. Und man wusste gemeinsam zu feiern, auch das gehörte dazu.
Mittags hatte das traditionelle Schrippenfest stattgefunden, bei dem der Kaiser seinem Musterregiment persönlich weiße Schrippen mit anderen Köstlichkeiten kredenzt hatte. Später hatte es einen Empfang im Neuen Palais gegeben. Nun war es Abend geworden. Das hell erleuchtete Kasino füllte sich zusehends. Die älteren Hauptmänner fanden sich an den hinteren Tischen zusammen, während die jüngeren Leutnante und Oberleutnante die vorderen Plätze besetzten, wo sie sich lautstark unterhielten. Leutnant Natzmer, der Maître de Plaisier im Regiment, stand am Billard, wo er mit dem Regimentsadjutanten Oberleutnant Kuno von Sick und Leutnant von Katte eine Partie Karambolage spielte. Er hatte gerade einen sehr leichten Ball nicht gemacht und stieß unmutig sein Queue auf den Boden.
»Alle Wetter, geht mir dieser Ball hinten weg!«, rief er. »So viel Pech hatte ich schon lange nicht mehr im Spiel!«
»Desto größer ist sicher dein Glück in der Liebe«, entgegnete Katte lachend. »Denk an die kleine Blonde von neulich. So viel aber ist gewiss, du solltest heute Abend nicht mit Oberleutnant von Hanke spielen. Du bist ziemlich zerstreut und er ist ein wahrer Meister. Schone also lieber deine Börse.«
Wedigo winkte Natzmer kurz zu, nach Karambolage stand ihm heute nicht der Sinn. Er setzte sich an einen Tisch abseits des allgemeinen Treibens. Er wollte sich heute Abend mit seinen alten Freunden Heinrich von Helldorff und Karl Wilhelm Ludwig von Weiher treffen. Die Kameraden waren wie er im Herbst letzten Jahres zum Hauptmann befördert worden; sie dienten allerdings nicht mehr im 1. Garde-Regiment. Heinrich von Helldorff, hochgewachsen und schlank, war jetzt Adjutant beim Kommandeur der Brigade Generalmajor von Kleist und seit Jahresbeginn frisch gebackener Ehemann. Karl Wilhelm Ludwig, ein fröhlicher, leicht rundlicher Junggeselle, war mit seiner Beförderung zum 5. Garde-Regiment zu Fuß nach Spandau versetzt worden und hatte dort die 2. Kompanie übernommen.
Die Freunde kamen und man plauderte über den militärischen Alltag, streifte die aktuelle Tagespolitik und die Lesung des Militärhaushaltes im Reichstag. Helldorff neckte Wedigo mit den Pressekritiken zur Berliner Impressionistenausstellung, da er wusste, wie sehr dieser sich über unsachgemäße Artikel zur Kunst ärgerte, und kam schließlich auf sein Lieblingsthema, den kommenden Krieg, zu sprechen.
»Ich bin sicher, dass es noch in diesem Jahr losgeht«, sagte er. »Der Franzmann wartet nur auf einen Anlass, gegen den Rhein vorzustoßen. Aber ihm wird es gehen wie Anno 1870. Wir versohlen den Franzosen rasch die roten Hosen!«
»Ich glaube nicht an Krieg«, entgegnete Weiher kritisch. »Nicht in unserem Teil der Erde. Vielleicht drüben in Amerika. Die Besetzung von Vera Cruz durch amerikanische Truppen und die Einmischung der Amerikaner in die inneren Verhältnisse des Landes werden die Mexikaner nicht hinnehmen. Der Amerikaner ist seit dem Sieg über Spanien sehr großmäulig geworden.«
»Da drüben gibt es doch nur Krämerseelen, Trapper und Indianer«, meinte Helldorff geringschätzig. »Die haben mit ihren eigenen Problemen genug zu tun.«
Die Freunde verloren sich in Spekulationen, denen Wedigo nur mit halbem Ohr lauschte. Seine Gedanken waren noch immer bei dem seltsamen Zwischenfall während seines Flugs, dessen unmittelbarer Zeuge er geworden war. Doch er erzählte den Kameraden nichts von seinem Erlebnis. Sein Schweigen fiel auf, die Freunde spürten, dass er nicht ganz bei der Sache war.
»Du bist so nachdenklich, hast du Neuigkeiten von Fräulein von Bredow?«, fragte ihn Heinrich von Helldorff. »Schlägt ihre Kur diesmal an?«
»Baden-Baden bekommt ihr ausgezeichnet«, antwortete Wedigo kurz.
Helldorff merkte, dass Wedigo ungern über die Kur seiner Verlobten sprechen wollte, und wechselte das Thema. Er wandte sich seinem anderen Lieblingsbereich, dem Sport, zu. Am gestrigen Pfingstsonntag war er extra mit der Eisenbahn nach Magdeburg gefahren, um das Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft zusammen mit 4.000 anderen sportbegeisterten Zuschauern zu verfolgen. Der SpVgg Fürth hatte den Titelverteidiger VfB Leipzig mit 3:2 nach Verlängerung besiegt; Helldorff verlor sich in enthusiastischen Darlegungen der jeweiligen Spielzüge. Wedigo und Karl Wilhelm Ludwig lauschten gottergeben. Demnächst, rief er endlich begeistert, könne man sich das Spiel sogar als Filmvorführung anschauen.
Nach einer Stunde gingen die Freunde. Wedigo blieb allein am Ecktisch vor einem Glas Bier und hing erneut seinen Gedanken nach. Ilse von Bredow war bereits die dritte Woche in Kur in Baden-Baden, und er hatte noch immer nichts von ihr gehört. Langsam machte er sich Sorgen. In Baden-Baden verkehrten die Großen der Welt, wer wusste, welcher Fürstensohn seiner Ilse den Kopf verdrehte. Voller Stolz hatte er ihr in einem Brief vom Erwerb seines Pilotenscheins berichtet – und keine Antwort erhalten. Wedigo griff zum Glas und leerte es.
Heute hatte er seinen ersten Flug als Pilot absolviert; ein tolles Ereignis, doch zum Feiern war ihm nicht zumute. Sein Denken wandte sich dem am Nachmittag Erlebten zu. Der beschossene Alberti-Doppeldecker war am Boden zerschellt und der Flugzeugführer getötet worden. Fassungslos hatten die Menschen am Flugplatz das Geschehen verfolgt. Sie waren alle Zeugen des unvorhergesehenen Luftkampfes geworden und das mitten in Zeiten des Friedens; eine Ungeheuerlichkeit, eine neue Art von Mord! Wedigo hatte die Tat mit angesehen und nicht verhindern können. Dafür war er nicht nahe genug am Geschehen gewesen. Unbewaffnet hatte er zudem keine Chance gegen den fliegerisch sehr erfahrenen Gegner gehabt. Und die Maschine des Angreifers war weitaus wendiger und schneller als sein eigenes Flugzeug gewesen. Der Flugzeugtyp kam ihm bekannt vor, doch fiel ihm die genaue Bezeichnung auf Anhieb nicht ein.
»So in sich gekehrt, Kamerad von Wedel?«, unterbrach eine bekannte Stimme seine Gedanken. Überrascht blickte Wedigo auf. Vor ihm stand Major Walter Nicolai, sein Vorgesetzter in der Zeit, als er im letzten Jahr im Kriegsministerium in der Abteilung III b gearbeitet hatte. Die Abteilung beschäftigte sich mit geheimdienstlichen Angelegenheiten und vor allem mit der Abwehr feindlicher Spionage. Nicolai war ein Mann mit klaren, sehr streng wirkenden Gesichtszügen und hoher Stirn; der dunkle Schnurrbart war akkurat geschnitten und kurz, genau wie das an den Schläfen lichter werdende Haar. Wedigo hatte im letzten Mai mit Nicolai zusammengearbeitet und gemeinsam mit ihm einen russischen Spionagering ausgehoben. Parallel dazu hatte er einen Anschlag auf hohe und höchste Persönlichkeiten unter Einsatz seines Lebens verhindert. Dafür war er zum Hauptmann befördert und mit dem Königlichen Kronenorden geehrt worden. Seine Majestät der Kaiser hatte Wedigo sogar eine persönliche Audienz gewährt. Wedigo wäre gern weiter in der Abteilung geblieben, aber im letzten September erschütterte ein Skandal das 1. Garde-Regiment zu Fuß in Potsdam. Während einer Schießübung im Lager Döberitz bemerkte ein Offizier, dass ein Soldat der 6. Kompanie des Regiments aus seinem Stiefel und dem Brotbeutel Patronen herausnahm. Eine Untersuchung deckte auf, dass nahezu alle Unteroffiziere und Mannschaften der Kompanie Patronen versteckt hatten. Man fand über tausend Patronen, die wohl verkauft werden sollten. Der Kompanieführer Hauptmann von Schlich wurde daraufhin abgelöst und kurzerhand Wedigo zum neuen Kompaniechef ernannt.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte Nicolai.
»Selbstverständlich, Herr Major«, antwortete Wedigo.
Nicolai nahm am Tisch Platz und winkte der Ordonanz. »Bringen Sie uns zwei Helle«, wies er den Gefreiten an. Das Bier kam und die beiden Offiziere stießen an.
»Wohl bekomm’s«, wünschte der Major. »Sie sehen aus, Kamerad, als könnten Sie einen Schluck gebrauchen. Was ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?«
Wedigo warf Nicolai einen forschenden Blick zu. Konnte es sein, dass der Geheimdienstchef wegen des heutigen Flugvorfalls das Kasino aufgesucht hatte? Aus der Miene des Majors ließ sich wie immer nichts ablesen. Trotzdem war er überzeugt, dass Nicolai nicht zufällig aus Berlin nach Potsdam gekommen war. Kurz und knapp gab Wedigo einen Bericht seiner Erlebnisse. Er endete mit dem Abbruch der Verfolgung und seiner Rückkehr zum Flugplatz Johannisthal.
»Ein Luftkampf über den Hauptgebäuden des deutschen Flugzeugbaus«, fasste der Major zusammen. »Das lässt auf eine gezielte Aktion schließen. Haben Sie das Flugzeugmuster des Angreifers erkannt?«
»Es war ein kleineres Flugzeug. Mein Albatros hat eine Spannweite von über 14 Meter. Die Maschine hatte etwas mehr als die Hälfte davon«, antwortete Wedigo.
»War es ein Einsitzer oder ein Zweisitzer?«
»Ich glaube, es war ebenfalls ein Zweisitzer. Genauer, ein Zweisitzer mit V-Stielen zwischen den Tragflächen. Die unteren Tragflächen waren schmaler und nach hinten versetzt. Jedenfalls gab es keine Hoheitsabzeichen.«
»Womit hat der Pilot geschossen?«, fragte Nicolai weiter.
»Ich hatte den Eindruck, dass auf der oberen Tragfläche eine Art Gewehr montiert war. Ich bin mir aber nicht sicher. Jedenfalls war es eine schnelle Schussfolge.«
»War es dieses Flugzeug?« Der Major legte Wedigo ein Bild vor.
»Nein, das ist eine britische Avro 504. Ich kenne die 504 zufällig, die ist viel größer, ihre Spannweite beträgt fast elf Meter.«
»Und diese Maschine?« Ein weiteres Schwarzweißfoto kam auf den Tisch. Der Major schien sich für ihr scheinbar zufälliges Treffen gut vorbereitet zu haben.
»Der Typ könnte es gewesen sein«, meinte Wedigo und drehte die Fotografie um. Auf der Rückseite stand: ›Nieuport 10, 80 PS, Höchstgeschwindigkeit 115 km/h, Flugdauer 2 Stunden 30 Minuten‹. »Das ist ein französischer Typ«, sagte er überrascht. »Mit mehr PS als meine Albatros. Kein Wunder, dass ich den Kerl nicht einholen konnte. Aber in zweieinhalb Stunden kommt eine Nieuport nie und nimmer von Frankreich nach Berlin.«
»Das sicher nicht«, erwiderte der Major. »Auch nicht aus Russisch-Polen. Das Flugzeug muss auf deutschem Territorium gestartet sein. Andererseits ist erst am Pfingstsonntag Leutnant Wentscher mit einer Maschine in fünf Stunden und fünf Minuten von Johannisthal nach Wien geflogen.«
»Kamerad Wentschers Flugzeug war ein LVG Doppeldecker mit einem 105 PS starken Mercedes-Motor«, wandte Wedigo ein. »Das ist eine völlig andere Ausgangslage.«
»Sie sind sich aber sicher, dass es sich bei dem Angreifer um eine Nieuport 10 gehandelt hat?«, fragte der Major.
»Es war eine Nieuport, aber ob die Maschine nur 80 PS und nicht 100 oder gar 110 PS und eine ganz andere Reichweite hatte, kann ich natürlich nicht sagen.«
»Verstehe«, sagte Nicolai und strich sich nachdenklich übers Kinn. »Jedenfalls flogen keine Viertelstunde später mehrere unserer Aufklärer den Großraum Berlin ab, leider ohne Erfolg. Auch eine spätere Zeppelinerkundung führte zu keinem Ergebnis. Die Maschine ist wie vom Erdboden verschwunden. Ich fürchte, hinter dem Angriff steckt eine sehr üble Geschichte, Kamerad von Wedel. Sie wissen, wer der abgeschossene Pilot war?«
»Nein, das weiß ich nicht.«
»Kapitänleutnant Walter Schroeter von den Kaiserlichen Marinefliegern in Kiel-Holtenau. Der ganze Vorgang und vor allem Schroeters Tod sind sofort unter strenger Geheimhaltung gestellt worden, eine Order der Admiralität. Ich bin ersucht worden, das Geschehen aufzuklären. Und jetzt kommen Sie ins Spiel, Herr Hauptmann.« Nicolai hielt inne und trank einen Schluck aus seinem Glas. »Sie und Ihre fliegerischen Kenntnisse, Herr von Wedel. Ich möchte Sie zur Aufklärung hinzuziehen!«
»Herr Major«, sagte er, ohne zu zögern. »Ich bin natürlich dabei. Sie wissen, dass mich Geheimnisse reizen. Mein Regimentskommandeur müsste allerdings einverstanden sein und mich gehen lassen. Ich bin gespannt, ob es wirklich ums Fliegen geht.«
»Nun«, erwiderte Nicolai ruhig. »Ein Flugzeug wurde von einem anderen abgeschossen, das ist doch eindeutig? Mit Generalmajor von Friedeburg habe ich bereits gesprochen. Er hat Ihrer Kommandierung zugestimmt. Die Papiere an Ihr Regiment sind unterwegs. Sie können gleich morgen in Berlin anfangen. Ich erwarte Sie um 11 Uhr in meinem Büro in der Wilhelmstraße. Jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss noch eine weitere Persönlichkeit für meinen Stab akquirieren.« Der Major erhob sich und verließ mit forschen Schritten das Kasino.
Am nächsten Morgen weckte Wedigos Bursche Werner seinen Hauptmann pünktlich um sieben. Wedigo erhob sich, wusch sich und ließ sich anschließend von Werner rasieren. Noch im Hemd trank er seinen Kaffee und aß dazu eine Schrippe. Nun schlüpfte er in seine blaue Uniform und überprüfte den Sitz vor dem großen Spiegel in der Diele. Er betrachtete sich kritisch. Aus dem Glas blickte ihm ein hochgewachsener Mann von nunmehr 24 Jahren entgegen. Das Gesicht scharf geschnitten, die Augen graublau. Die dunkelblonden Haare trug Wedigo militärisch kurz und in der Mitte gescheitelt. Der Schnurrbart war der Mode entsprechend sauber gestutzt, doch auf das obligate Einglas hatte er dankend verzichtet. Der junge Hauptmann strich sich mit der Bürste übers Haar, griff dann zum Wandkalender und riss das tägliche Blatt ab. Heute war Dienstag, der 2. Juni 1914. Er schloss den obersten Knopf seiner Uniformjacke, schnallte den Degen um und begab sich von seiner Wohnung in der Siefertstraße hinüber zu der nahe gelegenen Kaserne des 1. Garde-Regiments zu Fuß Potsdam in der Priesterstraße. Die Sonne schien schon kräftig, der Tag versprach, wieder sehr warm zu werden. In der Kaserne ordnete er im Schreibbüro seiner Kompanie noch das eine oder andere und übergab Leutnant von Alvensleben vorerst die Führung. Dann meldete er sich bei seinem Kommandeur nach Berlin ab. Von Friedeburg wünschte ihm viel Erfolg und entließ ihn. Um 9 Uhr fuhr der Hauptmann vom Potsdamer Bahnhof aus mit der Wannseebahn nach Berlin. Während der Fahrt blätterte er in der Berliner Morgenpost. Rasch überflog er die Meldungen:
Die Beschlagnahme eines deutschen Schiffes in Mexiko durch amerikanische Besatzungstruppen schlug hohe Wellen. In Frankreich hatte Ministerpräsident Gaston Doumergue seinen Rücktritt für den 4. Juni angekündigt. An der Börse von St. Petersburg war es zu einem Kurssturz der Bank- und Erdölaktien gekommen. Der Kommentator vermutete hinter dem Ereignis das Werk amerikanischer und französischer Spekulanten. Unter Vermischtes gab es eine Meldung über den Raubmord von Mitte Mai in der Berliner Weberstraße 15a an der Almosenempfängerin Julianne Mahler, der noch immer nicht aufgeklärt war. Im Kulturteil wurde berichtet, dass die Künstlerin Mata Hari vom Herbst an ein halbes Jahr lang im Metropoltheater auftreten würde. Am Ende stand ein Bericht über die Ankunft des neuen Deutschen Meisters in Fürth. Es hätten sich, schrieb die Zeitung, ›solch ungeheure Menschenmassen« angesammelt, dass der Straßenbahnbetrieb »eingestellt werden musste‹. Ein Autokorso – angeführt von einer Kapelle – sei stundenlang durch die Stadt gezogen. Über den gestrigen Luftkampf gab es keine Zeile, offenbar war das Kriegsministerium bereits aktiv gewesen und hatte jede Meldung unterbunden.
Berlin war erreicht, der Hauptmann verließ den Zug und suchte sich eine Droschke. Während der Kutscher durch das vormittägliche Verkehrsgetümmel lenkte, betrachtete Wedigo das Treiben auf der Straße. Pferdedroschken fuhren neben Automobilen, dann zeigte sich ein Straßenhändler, der seinen schweren Karren schob. Auf dem Trottoir sah er Dienstmädchen sich unterhalten und biedere Handwerker, Ladenschwengel, die rauchten, und seriöse Herren von der Bank, daneben Backfische mit kessen Hütchen und Matronen auf Einkaufsbummel. Die Straßen spiegelten die Bildervielfalt der Großstadt Berlin wider. Sie bogen gerade in die Wilhelmstraße ein, als er eine Gestalt bemerkte, die ihm bekannt vorkam. Es war eine sehr modisch gekleidet Dame, die mit einem kleinen weißen Hund an der Leine auf dem Trottoir spazierte. Sie fuhren an der Dame vorbei und Wedigo konnte einen Blick auf ihr Gesicht werfen. Es war zu seinem Erstaunen eine alte Bekannte, die Gräfin Maria Melissa Walewska. »Melissa«, rief er unwillkürlich und wollte die Kutsche schon anhalten lassen, um auszusteigen, unterließ es jedoch. Die Gräfin hatte in einem militärischen Spionagefall, mit dem er sich im letzten Jahr beschäftigt hatte, eine höchst eigene Rolle gespielt. Im Rahmen der Ereignisse hatten sich ihre Wege mehrfach gekreuzt, und der attraktiven Frau war es gelungen, ihn und seine Gefühle kräftig zu verwirren.
Der Wagen hielt vor dem Ministerium. Wedigo sprang hinaus und sah suchend die Straße hinab. Doch die Gräfin war bereits außer Blick geraten; vielleicht hatte er sich auch geirrt. Er bezahlte den Droschkenkutscher und trat durch das mit Soldatenfiguren geschmückt Einfahrtstor der Wilhelmstraße 86-87. Vor ihm lag eines der Gebäude des Kriegsministeriums. Er wandte sich zur Abteilung III b, in der Major Nicolai residierte. Punkt elf klopfte er an dessen Tür und trat ein.
»Hauptmann von Wedel, Herr Major, melde mich wie befohlen!«
»Mein lieber von Wedel, nicht so formal, wir sind unter uns, also lassen Sie das Exerzierreglement ab sofort einfach zur Seite«, antwortete Nicolai und wies auf einen Stuhl: »Setzen Sie sich! Oberfeldwebel Schneidmann wird gleich mit unserem dritten Mann kommen, dann können wir mit unserer Besprechung anfangen.«
Die Räumlichkeiten des Major Nicolai bestanden im Wesentlichen aus zwei Zimmern sowie einem Aktenarchiv und einer Waffenkammer. Gegenüber dem letzten Jahr hatte sich nichts verändert. Nach wie vor roch es nach Waffenöl, Akten und Nicolais Fotolaborchemikalien. In der Mitte des größeren Zimmers stand ein breiter Schreibtisch, auf dem sich ein Fernsprechapparat befand. An den Wänden hingen Karten: Ein Stadtplan vom Großraum Berlin, eine militärische Reichskarte mit allen Garnisonen, 50.000er Blätter der k.u.k. Monarchie, von Russisch-Polen und dem westlichen Frankreich sowie eine riesige Afrikakarte, in der die deutschen Kolonien hervorgehoben waren. Auf den an der Seite stehenden, halbhohen Schränken lagen allerlei technische Geräte und Werkzeuge, darunter optische Instrumente und Filmkameras.
Gerade als es sich Wedigo bequem gemacht hatte, erschien der Oberfeldwebel und direkt mit ihm ein schlanker Offizier im blauen Rock der neuen Fliegertruppe, das Abzeichen mit dem fliegenden Eindecker auf der Brust.
»Ich darf die Herren bekannt machen«, sagte der Major. »Hauptmann Wilberg aus der Inspektion der Fliegertruppen, Hauptmann von Wedel, 1. Garderegiment zu Fuß.«
Die beiden Offiziere gaben sich die Hand und Wilberg setzte sich ebenfalls.
»Meine Herren, ich komme gleich zur Sache«, begann Nicolai. »Ich habe Sie für die Abteilung III b angefordert, da wir seit dem Frühjahr eine neue Serie feindlicher Spionage gegen unsere Festungen, gegen die Marine und vor allem im Hinblick auf unsere in der Aufstellung befindliche Fliegertruppe feststellen mussten. Hauptmann Wilberg ist direkt vom Fach und Herr von Wedel war bereits im letzten Jahr in der Abteilung überaus erfolgreich tätig. Unglücklicherweise waren Sie Zeuge des tödlichen Angriffs auf Kapitänleutnant Schroeter. Dieser mörderische Anschlag, meine Herren, ist zwar einmalig, stellt aber vermutlich nur die Spitze eines Eisbergs dar. In den letzten drei Jahren haben wir bei etlichen sogenannten Flugunfällen eine große Anzahl junger Piloten verloren. Am 29. September 1911 erlitt Korvettenkapitän Paul Engelhard einen tödlichen Absturz. Am 15. November 1911 stürzte der Ingenieur Alfred Pietschker bei der Erprobung seines neuen Eindeckers zu Tode. Nur um zwei Kameraden zu nennen. Die Zahl der Abstürze nahm 1912 noch zu. Weitere Flieger kamen 1913 ums Leben, alles hervorragende und erfahrene Piloten. Auch in diesem Jahr hat es bereits mehrere tödliche Unfälle gegeben. Natürlich ist die Fliegerei mit hohen Risiken verbunden, aber eine derartige Häufung von Unfällen ist einfach zu unwahrscheinlich. Deswegen hat mich Ihr Chef«, der Major nickte Wilberg zu, »Oberst von Eberhardt, dienstlich ersucht, dem Geschehen nachzugehen. Der offene Angriff gestern war sozusagen der Gipfel des Ganzen. Jetzt werden und müssen wir endlich Gegenmaßnahmen ergreifen.«
»Gibt es noch keinen Anhaltspunkt dafür, woher die angreifende Maschine gekommen ist?«, fragte Wedigo.
»Die Nieuport ist wie aus dem Nichts aufgetaucht und dann wiederum im Nichts verschwunden«, erwiderte Nicolai. »Es wurde sofort eine Rotte vom Flugplatz Döberitz aus in die Luft geschickt, doch das fremde Flugzeug war nicht aufzufinden. Schon im letzten August konnte der Franzose Lefort unbemerkt bis Danzig gelangen. Allerdings geschah dies im Rahmen des Pommery Pokal Wettfluges und ohne dass Sabotage im Spiel war. Das beweist, wie schwer sich die Suche nach der Herkunft des Angreifers für uns gestaltet. Die Reichweite der Maschinen wird von Jahr zu Jahr größer.«
»Wir können also unseren Luftraum nicht schützen«, rief Hauptmann Wilberg. »Dem Gegner gelingt es ohne Probleme, mitten im Reich einen militärischen Anschlag zu initiieren und ungeschoren zu verschwinden.«
»Das ist leider richtig«, bestätigte Nicolai. »Aber unser Auftrag richtet sich primär auf die Klärung der Unfallserie und damit auf eine Vereitelung weiterer Sabotageakte.«
»Warum sollte ein feindlicher Agent derart offen auftreten?«, fragte Wedigo. »Eine Manipulation an einem Flugzeug wäre einfacher und weniger auffällig gewesen.«
»Das sehe ich genauso«, meinte Hauptmann Wilberg. »Die Möglichkeiten, auf dem Flugplatz den Motor oder die Steuerungsseile zu beschädigen, sind weitaus größer. Die Sabotageserie, wenn es sich denn um Sabotage handelt – ich habe da meine Zweifel –, die Serie also kann nur vom Boden aus bewerkstelligt worden sein. Und es muss sich jeweils um einen Fachmann gehandelt haben, der sich mit Flugzeugmotoren auskannte.«
»Wir werden alle nur denkbaren Optionen prüfen und in jeder Hinsicht mehrgleisig operieren«, sagte der Major. »Sie werden daher, meine Herren, unserem Flugplatz in Döberitz einen Besuch abstatten und dort nachforschen. Sie sind vom Fach und wissen, wo Sie ansetzen müssen. Heute früh habe ich zudem Nachrichten erhalten, die auf die Reichslande als operative Basis französischer Agenten hinweisen. Seit dieser unglücklichen Zabern-Affäre gärt es im Elsass und in Lothringen. Neben örtlichen Protesten und den Petitionen an den Reichstag zieht vor allem das Deuxième Bureau aus dem Konflikt Nutzen. Elsässer werden angeworben und zur Spionage sowie zur Sabotage eingesetzt. Sie werden sich daher nach Straßburg und Metz begeben, wo Kompanien unseres 4. Flieger-Bataillons stationiert sind. Gerade in Metz gibt es Anzeichen für verstärkte Aktivitäten des Deuxième Bureau. Ihr Ansprechpartner in Straßburg ist Hauptmann Starke vom XV. Armeekorps, in Metz wenden Sie sich an Hauptmann Lübcke im Stab des XVI. Armeekorps. Gehen Sie bitte vorsichtig vor. Eine erneute Blamage wie vor 14 Tagen in Köln, als wir den französischen Geschäftsmann Clement-Bayard nach 36 Stunden mangels Beweisen laufen lassen mussten, muss vermieden werden. Kaum war der Kerl entlassen, wurde durch Zeugen bestätigt, dass er wochenlang Luftschiffe ausspioniert und Bauskizzen angefertigt hatte. Zu spät, der Franzose war längst über alle Berge.«
»Wir sollen also vor Ort recherchieren«, stellte Hauptmann Wilberg ruhig fest. »Ich gehe davon aus, dass uns die örtlichen Polizeikräfte dabei unterstützen.«
»Das ist korrekt«, bestätigte der Major.
»Wie viel Zeit haben wir und wann sollen wir aufbrechen?«, fragte Wedigo.
»Die Tatsache, dass im Zentrum des Reiches ein derartiger Angriff erfolgte, hat die Herren im Generalstab sehr erregt«, erwiderte Nicolai. »Generaloberst von Moltke fordert im Hinblick auf die Aufklärung des Luftangriffs absolute Priorität. Auch Kriegsminister von Falkenhayn erwartet rasche Ergebnisse. Wir stehen also unter großem Zeitdruck. Zudem darf es zu keinen weiteren Todesfällen mehr kommen, und wir müssen verhindern, dass der Gegner nochmals derart unverfroren Einblick in die Entwicklung unserer neuesten Rüstung nehmen kann.«
»Dann wäre es doch am besten, wenn wir uns die Arbeit aufteilten«, schlug Wedigo vor. »Einer von uns fährt nach Döberitz, während der andere die Reichslande aufsucht.«
»Ich würde Döberitz vorziehen«, meinte Wilberg. »Ich kenne den Platz gut und natürlich auch die dortigen Fliegerkameraden.«
»Das fügt sich mit meinen Plänen«, sagte der Major lächelnd. »Sie sind in Döberitz und Johannisthal bereits als Inspizient aus dem Kriegsministerium angemeldet. Offiziell reisen Sie im Auftrag von Generalmajor Messing. Und Sie«, wandte er sich an Wedigo, »werden für einen Besuch bei Ihrer Verlobten in Baden-Baden beurlaubt. Ich habe für Sie für morgen ein Zimmer im Maison Messmer reservieren lassen. Über Baden-Baden reisen Sie nach Straßburg. Dort bekommen Sie weitere Instruktionen.«
»Da möchte ich fast tauschen«, sagte Hauptmann Wilberg, »aber ich fürchte, meine Frau wäre mit dem Besuch bei Kamerad von Wedels Verlobten nicht einverstanden«, fügte er hinzu. »Wann breche ich auf?«
»Umgehend«, erwiderte Nicolai knapp. »Im Hinblick auf die Suche nach dem feindlichen Flugzeug ist keine Zeit zu verlieren. Oberfeldwebel Schneidmann wird Ihnen die notwendigen Unterlagen und Papiere geben.«
Wilberg und Schneidmann erhoben sich, Wedigo wollte sich anschließen, doch der Major wies ihn an, zu warten. »Einen Augenblick, Herr von Wedel, ich muss noch etwas mit Ihnen besprechen. Kamerad Wilberg, ich erwarte bis Freitag Ihren ersten Bericht!«
Der Pilot und der Oberfeldwebel verließen das Zimmer. Nicolai wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte. Nun holte er aus seinem Schubfach eine blaue Akte hervor. Er lehnte sich zurück und blätterte einige Zeit in der Kladde. Wedigo schaute schweigend zu. Wie er Nicolai kannte, war er sicher, dass der Major noch etwas in petto hatte und lediglich den richtigen Zeitpunkt abwarten wollte. Der junge Hauptmann wappnete sich mit Geduld und wartete. Zwei, drei Minuten vergingen, dann warf Nicolai die Akte mit Schwung auf den Tisch.
»Ich hatte heute früh Besuch«, begann er langsam.
»Von der Gräfin Walewska«, fiel ihm Wedigo ins Wort. Er wusste nicht, welcher Teufel ihn ritt, doch das Bild der Dame in Weiß, die er heute Morgen gesehen hatte, trat ihm derart vor die Augen, dass er nicht anders konnte, als den Namen der Gräfin zu nennen.
»Wenn Sie schon alles wissen, Herr Hauptmann«, entgegnete der Major scharf, »dann brauche ich nicht weiterzusprechen. Ansonsten hören Sie einfach zu!«
»Pardon, Herr Major!«
»Schon gut«, meinte Nicolai, jetzt wieder gelassener, »mir ist durchaus bekannt, welch starke Gefühle die schöne Gräfin bei Männern im Allgemeinen und bei Ihnen im Speziellen hervorzurufen vermag. Aber darum geht es nicht. Maria Walewska war bei mir im Büro, um Bericht zu erstatten.«
»Gräfin Maria Walewska arbeitet für Sie?«, fragte Wedigo erstaunt.
»Wussten Sie das nicht?«, entgegnete der Major ruhig. »Ich dachte, man hätte Ihnen zugetragen, dass nach den Ereignissen im Mai im letzten Jahr, zu deren Aufklärung Maria Walewska beitrug, sie sich in den Schutz unserer Abteilung begeben hat. Ich weiß, dass ihre Rolle im damaligen Spionagespiel durchaus zwiespältig gesehen werden kann. Aber ich bin das Risiko eingegangen und habe ihr gewisse Aufgaben anvertraut, die sie zur vollen Zufriedenheit gelöst hat.«
»Das heißt, Herr Major, Sie setzen die Gräfin in gleicher Weise ein, wie das vorher Oberst Martschenko von der russischen Raswedka getan hat«, stellte Wedigo nüchtern fest.
»Das ist nicht ganz richtig«, sagte Major Nicolai. »Oberst Martschenko beauftragte die Gräfin, in Berlin jungen Gardeoffizieren den Kopf zu verdrehen. Mit solchen Aktivitäten beschäftigt sich unsere Abteilung nicht, aber wir wissen natürlich von den Möglichkeiten, die sich einer schönen und intelligenten Frau bieten. Die Gräfin lebt und verkehrt in hohen und höchsten Gesellschaftskreisen. Sie ist einmal in Wien, dann in London und wieder in Paris, Berlin oder Prag – nur nicht mehr in St. Petersburg und Warschau, was sie sehr bedauert. Sie besucht die großen gesellschaftlichen Veranstaltungen, die glanzvollen Bälle und Feste und erfährt so vieles, von dem unsere Abteilung sonst nie Kenntnis erlangen würde. Ihr Lebenswandel und Stil sind teuer. Wir investieren einiges in ihre Kleidung und Hüte, in Schmuck, Dienerschaft und Reisen. Die Gräfin ist attraktiver und anziehender als je zuvor, und das zahlt sich auf der Ebene der Informationsbeschaffung deutlich aus. Glauben Sie mir, die Dame ist jede Mark wert, die wir sie ausgeben lassen.«
Der Ton Nicolais hatte fast etwas Schwärmerisches angenommen. So ganz immun schien er gegenüber Melissas Reizen nicht zu sein, dachte Wedigo und spürte einen Stich von Eifersucht.
»Jedenfalls war die Gräfin heute früh hier«, fuhr der Major jetzt nüchterner fort, »und hat mir berichtet, dass Georges Ladoux, ein französischer Nachrichtenoffizier, einen gewissen Joseph Crozier aus Lyon, Fachmann für Flugzeugbau, angeworben und unter anderem Namen nach Straßburg geschickt habe. Ferner soll Ladoux Mademoiselle Marthe Betenfeld, eine bekannte französische Fliegerin, für einen Sonderauftrag verpflichtet haben. Mehr konnte oder wollte mir Maria Walewska zunächst nicht erzählen. Als ich jedoch fallen ließ, dass ich plane, Sie ins Elsass zu entsenden, willigte sie ein, Ihnen genauere Informationen über die ihr bekannten Hintergründe und die Verbindung der genannten Personen zum französischen Nachrichtenwesen zu geben. Die Gräfin schlug vor, sich mit Ihnen im Weinhaus Rheingold zu treffen und sich dort bei einem gemeinsamen Gespräch über alles auszutauschen.«
»Verstehe ich Sie richtig«, sagte Wedigo leicht verärgert, »Sie haben die Gräfin über das Geschehen in Kenntnis gesetzt und meine Person sozusagen als Köder benutzt?«
»Beruhigen Sie sich, Herr Hauptmann«, entgegnete Nicolai gelassen. »Natürlich habe ich die Gräfin nur über das Notwendigste informiert. Und, unter uns, es gibt schwierigere Aufgaben, als mit einer schönen Frau zu Mittag zu speisen. Maria Walewska erwartet Sie jedenfalls um halb zwei im Rheingold im Mahagonisaal. Das heißt, Sie können den heutigen Abendzug nach Baden-Baden nehmen. Oberfeldwebel Schneidmann hat sich um alles gekümmert. Er wird Ihnen die Zugverbindungen nennen und die nötigen Unterlagen überreichen. Nutzen Sie das Treffen, die Gräfin weiß sicher mehr, als sie bislang verraten hat. Gehen Sie zum Essen, wie Sie sind, Herr Hauptmann. Die Gräfin erwartet Sie in Uniform. Und lassen Sie sich von Schneidmann einen Browning geben. Es könnte sein, dass Sie in Situationen geraten, in denen eine Waffe hilfreich wäre.«
Wedigo erhob sich, grüßte und verließ das Büro des Majors. Er suchte den Oberfeldwebel auf und gab Schneidmann die Hand. Der groß gewachsene, kräftige Mann, der wie der Kaiser einen gewichsten Bart mit hochgezwirbelten Spitzen trug, freute sich, dass Wedigo wieder zur Abteilung gehörte. Nach einem Plausch über alte Zeiten und den letztjährigen Einsatz überreichte Schneidmann im Auftrag Nicolais eine Mappe mit einem Bündel von Papieren und gab dazu mündliche Informationen. Wedigos Zug fuhr um 16:49 Uhr und erreichte Baden-Baden um 6:15 Uhr morgens. Für den Hauptmann war ein Schlafwagenabteil reserviert. In Baden-Baden würde eine Droschke Wedigo am Bahnhof abholen und ihn ins Hotel bringen. Von der Kurstadt reiste er am nächsten Tag nach Straßburg und bezog dort in der Margaretenkaserne des 8. Württembergischen Infanterie-Regiments Nr. 126 Quartier. Dort sollte er sich offiziell beim Regimentskommandeur Oberst von Schimpf melden, der aber über seine Mission nicht weiter eingeweiht war. Für die eigentlichen Informationen stand der ihm bereits genannte Nachrichtenoffizier Starke zur Verfügung, der Wedigo bei seinen Recherchen unterstützen würde. Wedigo dankte Schneidmann für die Auskünfte und beauftragte den Oberfeldwebel, seinen Burschen Werner anzurufen und ihn anzuweisen, zwei Koffer mit Wäsche, Hemden und einer Ersatzuniform sowie mehreren Anzügen zu packen und mit ihnen zum Bahnhof zu kommen. Wedigo nahm die Unterlagen in Empfang und ließ sich einen Browning mit Munition aushändigen. Dann verabschiedete er sich von Schneidmann.
Während er zum Ausgang schritt, beschäftigten sich seine Gedanken mit der neuen Mission. In Baden-Baden erwartete ihn ein renommiertes Kurhotel und Ilse von Bredow; in Straßburg dagegen eine wenig komfortable Kaserne. Früher wäre er im Palais seines Großonkels Karl Leo Julius Fürst von Wedel, dem langjährigen Reichsstatthalter im Elsass, untergekommen. Doch der Onkel hatte Anfang des Jahres das Amt wegen der Vorkommnisse in Zabern niedergelegt und befand sich zurzeit in Wien. Schade, dachte Wedigo, dann wandte er sich der bevorstehenden Begegnung zu.
Ein Mittagessen mit Gräfin Melissa – er merkte, dass er sich freute, sie wiederzusehen. Zum anderen sah er dem Treffen mit zwiespältigen Erwartungen entgegen. Das Geschehen im Frühjahr letzten Jahres trat ihm wieder vor Augen. Er hatte sich zu der polnischen Gräfin hingezogen gefühlt und den Eindruck gehabt, dass seine Zuneigung durchaus erwidert wurde. Doch alles war ganz anders gekommen. Die Ereignisse im Umfeld der Gräfin waren ihm immer undurchsichtiger erschienen, und er hatte ihr schließlich nicht mehr vertrauen können. Als dann Ilse von Bredow in sein Leben getreten war, hatte seine Affäre mit Melissa, wenn sie denn je eine gewesen war, ein Ende gefunden. Obwohl, er wollte nicht ungerecht sein. Er hatte mit ihr sehr schöne und sehr aufregende Tage erlebt. Ja, er verdankte ihr vielleicht auch sein Leben. Jedenfalls sah der junge Hauptmann der Begegnung mit gemischten Gefühlen entgegen. Während er in Gedanken durch die Gänge des Ministeriums lief, kam ihm ein Offizierskamerad aus dem Regiment entgegen, Oberleutnant Hans-Georg von Jagow, der seit Herbst zum Generalstab abkommandiert war. Die Offiziere begrüßten sich, Jagow entschuldigte sich sogleich, nur wenig Zeit zu haben, er müsse weiter.
»Wir haben in unserer Abteilung noch einiges für den Besuch Seiner Majestät des Kaisers und Großadmiral von Tirpitz bei Erzherzog Franz Ferdinand vorzubereiten«, erklärte er. »Die hohen und höchsten Herrschaften treffen sich Mitte des Monats im Schloss Konopischt, wo Seine Majestät bereits im letzten Oktober mit dem Außenminister Graf Berchtold konferiert hat. Eventuell will Seine Majestät die Reise wie zu Anfang des Jahres auf die Mittelmeerländer ausdehnen. Am Ende soll Sarajevo besucht werden, um dort zusammen mit dem Thronfolger dem Abschluss der Manöver des k.u.k. XV. und XVI. Korps in Bosnien beizuwohnen. Da ist einiges vorzubereiten, die Provinz Bosnien-Herzegowina ist ein gefährliches Pflaster.«
Jagow wusste noch mehr zu berichten, verabschiedete sich jedoch bald und eilte weiter. Als Wedigo das Ministerium verließ, zog er seine Taschenuhr hervor, es war kurz vor eins. Er hatte sich länger im Ministerium aufgehalten, als er gedacht hatte. Doch es blieb genügend Zeit, um in aller Ruhe das Stück zur Bellevuestraße und zum Rheingold zu laufen.
Das Rheingold hatte im Februar vor sieben Jahren seine Pforten geöffnet und lockte als Konzerthaus und luxuriöses Großrestaurant gleichermaßen den Adel und das gehobene Bürgertum. Die Fassade an der Bellevuestraße zeigte Reliefs des Bildhauers Franz Metzner und wirkte auf Wedigo ungeheuer monumental. Im Innern boten 14 in den unterschiedlichsten Stilen ausgestattete Säle jede nur denkbare Annehmlichkeit. Wedigo wandte sich allerdings zur Potsdamer Straße, denn zum Mahagonisaal, in dem er mit der Gräfin verabredet war, konnte man nur über den dortigen Eingang gelangen. Er betrat das Haus durch eine Drehtür und gelangte direkt ins Vestibül. Dieses erstreckte sich über drei Etagen. Ein Mosaikboden schmückte den Fußboden, während die Wände und die Treppe mit Nussholz verkleidet worden waren. Wedigo gab die Offiziersmütze und seinen Degen ab, die Tasche behielt er, und durchquerte den sogenannten Galeriesaal. Er lief an Wänden aus dunkelbraunem Palisanderholz mit perlmutternen Intarsien und Hölzern in den unterschiedlichsten Farben vorbei. Ein Kellner trat auf Wedigo zu, begrüßte ihn und fragte, ob der Herr Hauptmann reserviert habe. Wedigo nannte seinen Namen und wurde darauf in den nächsten Raum, den Mahagonisaal, geführt. Der Namen erklärte sich aus der bordeauxroten Täfelung aus Mahagoni, die Wand und Decke zierte. Ein lebensgroßes Holzrelief schmückte die hintere Wand des Saales. Direkt unter dem Relief saß an einem Tisch Gräfin Maria Walewska und winkte Wedigo zu. Das helle, leichte Kleid, das sie trug, war von modischem Schnitt, und als sie sich erhob, um ihn zu begrüßen, umspielte es im lockeren Wurf ihre schlanke Gestalt. Das blonde Haar trug sie hochgesteckt und ihre grünblauen Augen schienen zu leuchten. Mein Gott, sie war wirklich schön, dachte Wedigo und hielt unwillkürlich im Schritt inne.
»Wedigo«, rief die Gräfin. »So kommen Sie doch. Wie ich mich freue, Sie zu sehen!«
Er trat zu ihr und küsste galant die ihm gereichte Hand. »Melissa«, sagte er mit ehrlicher Begeisterung. Sie sehen reizend aus, ganz bezaubernd!«
»Wedigo, Sie sind und bleiben ein Charmeur«, erwiderte Gräfin Walewska lächelnd. »Aber lassen Sie uns Platz nehmen.«
Beide setzten sich.
»Ihnen gefällt also mein neues Kleid? Das freut mich, es ist ein absolutes Unikat. Ich habe es in einer kleinen, nahezu unbekannten Pariser Boutique von einer Mademoiselle Chanel schneidern lassen. Der Laden liegt in der Rue Cambon gleich gegenüber der Rückseite des Ritz. Eine gute Bekannte von mir, Edith Louise Rosenbaum, eine Modejournalistin, – sie schreibt für Women’s Wear Daily – hat mir die Adresse empfohlen. Die Dame wird sicher Erfolg haben. Aber ich plaudere und plaudere und habe Ihnen noch gar nicht zur Ihrer Beförderung zum Hauptmann gratuliert. Ich weiß, das ist schon länger her, doch wir haben uns seit gut einem Jahr nicht gesehen – was ich sehr bedauere.«
Der Ober kam und unterbrach den Monolog der Gräfin. Melissa fragte nach der Tagesspezialität, und beide entschieden sich für Entenbrust mit Salzkartoffeln, Rotweinschalotten, glasierten Champignons und Sauce rouennaise. Als Vorspeise nahmen sie eine Hummercremesuppe, den Abschluss des Essens bildete ein Eissoufflé mit Erdbeeren. Dazu bestellte Wedigo einen Rheinwein des Jahrgangs 1908.
»Wie geht es eigentlich Ihrer reizenden Freundin Ilse von Bredow?«, wechselte Melissa das Thema, als der Kellner gegangen war. »Ich hörte, sie sei in Kur?«
Wedigos Stirn umwölkte sich. Ilse und Ilses Kur waren Themen, die er mit der Gräfin kaum erörtern wollte. »Es geht ihr gut«, antwortet er daher knapp. Zum Glück kam der Sommelier, brachte den Wein und schenkte ein, sodass Wedigo einer weiteren Antwort entbunden wurde. Er hob sein Glas und stieß mit der Gräfin an.
»Auf unser Treffen!«
»Auf den Erfolg Ihres Auftrags und auf unsere Zusammenarbeit«, erwiderte Maria Walewska. »Was wollen Sie nun von mir wissen?«, fügte sie in geschäftsmäßigem Ton hinzu. Der junge Hauptmann wiederholte in knappen Worten, was ihm Nicolai erzählt hatte. Die Hummercremesuppe wurde serviert, und Wedigo hielt kurz inne.
»Ich habe etliche Fragen«, fuhr er dann fort. »Was wissen Sie über Georges Ladoux? Ist Mademoiselle Betenfeld schon zum Einsatz gekommen? Welchen Namen hat dieser Joseph Crozier angenommen und vor allem, wie komme ich an den Mann ran?«
»Das ist eine ganze Reihe von Fragen«, meinte die Gräfin lachend. »Typisch unsere Garde, immer stürmisch voran!« Sie nahm einen Löffel von der Suppe und kostete. »Wirklich delikat, vielleicht eine Idee zu viel Cognac. Doch kosten Sie selbst, was meinen Sie, Wedigo?«
Melissa wollte ihn offenbar etwas zappeln lassen. Wedigo ging auf ihr Spiel ein, lächelte freundlich und probierte ebenfalls. Die Suppe war sehr sämig und schmeckte ausgezeichnet. Das Urteil des Hauptmanns führte dazu, dass Melissa zustimmend nickte und den Gesprächsfaden neu aufnahm und weiterspann.
»Mein Informant glaubt, Mademoiselle l’Alouette, wie Mademoiselle Betenfelds Spitzname unter französischen Fliegern lautet, sei nur zu Tarnzwecken angeworben worden, um einen anderen Einsatz zu decken. Der wahre Pilot, um den es geht, soll von einem geheimen Flugplatz in Russisch-Polen aus operieren. In diesem Zusammenhang fiel der Name Pjotr Nikolajewitsch Nesterow.«
»Das ist doch der russische Offizier, der im letzten August einen Looping flog«, rief Wedigo überrascht. »Das wäre freilich ein Pilot, mit dem kaum jemand mithalten könnte.«
»Das mag sein«, erwiderte die Gräfin. »Aber nicht er, sondern ein französischer Flieger soll zum Einsatz kommen oder bereits gekommen sein. Welcher Zusammenhang zu Nesterow besteht, ist mir nicht bekannt. Das wäre vor Ort in Straßburg oder Metz zu klären. Dorthin hat sich Joseph Crozier begeben, der in Wahrheit der Leutnant Pierre Desgranges vom 2. Büro des Französischen Generalstabes Sektion I ist. Dort befindet sich der geheime Nachrichtendienst und die Gegenspionage.«