Die Angst vor der Wahrheit - Patricia Vandenberg - E-Book

Die Angst vor der Wahrheit E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Es kam selten vor, daß Daniel und Fee Norden sich zu später Stunde noch einen Fernsehfilm gemeinsam anschauten, aber dies geschah aus gegebenem Anlaß an einem sehr kühlen Juliabend. Vom Sommer hatten sie noch nicht viel gehabt. Ein paar heiße Tage und dann wieder Regen, Regen und nochmals Regen. Der Arzt Dr. Daniel Norden konnte sich auch in Anbetracht der bevorstehenden Sommerferien wenig Muße gönnen, da die Menschen unter körperlichen und auch seelischen Beschwerden litten, wie sie häufig bei so großer Luftfeuchtigkeit und ständig wolkenverhangenem Himmel auftraten. Es konnte keine Stimmung aufkommen. Und dabei stand die Hochzeit der so überaus reizvollen Hauptdarstellerin dieses Filmes bevor. Eine Hochzeit, über die schon wochenlang gesprochen wurde, da der schwerreiche Industrielle Rainer Latsan als eingefleischter Junggeselle galt. Ja, man hatte ihm schon nachgesagt, daß er für Frauen überhaupt nichts übrig hätte. Vielleicht kam das daher, daß er selbst ein eher weichlicher Typ war, sehr gut aussehend, sehr gepflegt, immer nach der neuesten Mode gekleidet, immer irgendwie auch wie ein Schauspieler wirkend, der die Rolle eines Beaus spielte. Jedenfalls stellte Fee Norden fest, daß sie überhaupt nicht verstehen würde, warum Olivia Remus, die doch wahrhaftig die Auswahl unter den Männern hätte, ausgerechnet diesen »Gecken« heiraten würde. Ja, diesen Ausdruck gebrauchte Fee, und Daniel hob mahnend, wenn auch mit einem hintergründigen Lächeln, den Zeigefinger. »Du sollst nicht so von einem meiner besten und wohlhabendsten Privatpatienten reden, Feelein«, sagte er anzüglich. »Er hört es ja nicht«, stellte Fee gelassen fest. »Was hat er denn eigentlich für Wehwehchen?« »Das unterliegt der Schweigepflicht«, meinte Daniel lächelnd.

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Dr. Norden Bestseller – 313 –

Die Angst vor der Wahrheit

Patricia Vandenberg

Es kam selten vor, daß Daniel und Fee Norden sich zu später Stunde noch einen Fernsehfilm gemeinsam anschauten, aber dies geschah aus gegebenem Anlaß an einem sehr kühlen Juliabend.

Vom Sommer hatten sie noch nicht viel gehabt. Ein paar heiße Tage und dann wieder Regen, Regen und nochmals Regen.

Der Arzt Dr. Daniel Norden konnte sich auch in Anbetracht der bevorstehenden Sommerferien wenig Muße gönnen, da die Menschen unter körperlichen und auch seelischen Beschwerden litten, wie sie häufig bei so großer Luftfeuchtigkeit und ständig wolkenverhangenem Himmel auftraten. Es konnte keine Stimmung aufkommen.

Und dabei stand die Hochzeit der so überaus reizvollen Hauptdarstellerin dieses Filmes bevor. Eine Hochzeit, über die schon wochenlang gesprochen wurde, da der schwerreiche Industrielle Rainer Latsan als eingefleischter Junggeselle galt. Ja, man hatte ihm schon nachgesagt, daß er für Frauen überhaupt nichts übrig hätte.

Vielleicht kam das daher, daß er selbst ein eher weichlicher Typ war, sehr gut aussehend, sehr gepflegt, immer nach der neuesten Mode gekleidet, immer irgendwie auch wie ein Schauspieler wirkend, der die Rolle eines Beaus spielte.

Jedenfalls stellte Fee Norden fest, daß sie überhaupt nicht verstehen würde, warum Olivia Remus, die doch wahrhaftig die Auswahl unter den Männern hätte, ausgerechnet diesen »Gecken« heiraten würde. Ja, diesen Ausdruck gebrauchte Fee, und Daniel hob mahnend, wenn auch mit einem hintergründigen Lächeln, den Zeigefinger.

»Du sollst nicht so von einem meiner besten und wohlhabendsten Privatpatienten reden, Feelein«, sagte er anzüglich.

»Er hört es ja nicht«, stellte Fee gelassen fest. »Was hat er denn eigentlich für Wehwehchen?«

»Das unterliegt der Schweigepflicht«, meinte Daniel lächelnd.

»Stell dich nicht so an, ich bin schließlich auch Ärztin.«

»Aber dich hat er nie konsultiert, mein Schatz.«

»Ich frage mich, wieviel er überhaupt von Frauen versteht.«

»Fang du jetzt nicht auch noch damit an. Der Film beginnt.«

»Wir brauchen ja nicht unentwegt in die Glotze zu starren, Daniel. Es reicht doch, wenn wir sehen, wie Steve Benson noch vor zwei Jahren ausgesehen hat, als dieser Film gedreht wurde.«

Daniel richtete sich unwillkürlich auf. »Wieso der, ich denke, wir sehen uns den Film wegen Olivia Remus an.«

»Aber Steve Benson ist vorige Woche an Aids gestorben, es stand erst heute in der Zeitung.«

Daniel starrte Fee fassungslos an. »Und das sagst du so ruhig? Es bedeutet doch, daß er mit Olivia in sehr nahe Berührung gekommen ist.«

»Wie nahe wissen wir nicht, und es ist nicht unser Bier, Daniel. Ich kenne sie und ihren Charakter nicht, aber wenn sie diesen Larsan zu heiraten gedenkt, kann es mit ihrer Moral nicht weit her sein.«

»Das ist hart gesagt, Fee«, stieß Daniel vorwurfsvoll hervor.

»Ich habe eben meine Meinung über solche Männer, die nur das Geld ausgeben, was ihre Vorfahren hart erarbeitet haben. Und ich habe sie auch über Frauen, die solche Männer heiraten, denn dumm ist sie bestimmt nicht, und Geld hat sie selbst auch genug verdient.«

»Vielleicht nicht genug«, sagte Daniel heiser. »Und vielleicht ist er ihr Mäzen.«

»Ein Kosmetikfabrikant?« sagte Fee spöttisch.

»Was versteht er selbst denn davon? Er hat doch seine Leute. Er hat seine Ambitionen und steckt sein Geld dorthin, wo es ihm Profit bringt. Davon versteht er wirklich etwas. Er ist kein eitler Geck. Er ist überaus clever und geschäftstüchtig.«

»Was du nicht sagst! Aber du wirst es ja wissen, denn ich nehme an, daß du nicht nur sein Arzt, sondern auch sein Beichtvater bist.«

»So ähnlich mag es sein«, erwiderte Daniel ruhig. »Was aber nicht besagt, daß ich diesen Mann verstehe. Er ist mir ein Rätsel.«

»Willst du damit sagen, daß er ein Zwitter ist?« fragte Fee entsetzt. »Aber das dürfte der Remus doch wohl kaum entgangen sein.«

»Liebe Güte, reg dich nicht so auf, Fee. Es mag eine Zweckehe sein ohne Verpflichtungen.«

»Und du billigst so was?« fragte Fee empört.

»Das habe ich nicht gesagt. Ich meine nach wie vor, daß jeder Mensch sein Eigenleben hat und auch das tun kann, was er will. Ich hatte noch nichts mit Olivia Remus zu tun und kann mir kein Urteil über sie erlauben. Also sollten wir uns hüten, ein Urteil über sie zu fällen, wenn wir nicht ihre Beweggründe zu dieser Heirat kennen. Für Larsan sind sie jedenfalls gegeben.«

»Inwiefern?«

»Um sein Prestige aufzupolieren, und ich bin überzeugt, daß Olivia Remus das dafür bekommen wird, was sie verlangt.«

Obwohl Fee nun diese Schauspielerin nicht mehr objektiv betrachten konnte, war sie fasziniert von der Ausdruckskraft dieser noch jungen und bildschönen Schauspielerin. Steve Benson spielte die Rolle eines kranken Mannes, der seine Frau abgöttisch liebte, und es nicht ertragen wollte, daß sie sich seinetwegen aufopferte.

Steve Benson war ein gezeichneter Mann, diesen Ausdruck konnte man nicht in ein Gesicht hineinschminken. Das war Fees Meinung, aber auch Daniels, der gar nichts mehr gesagt hatte.

Das tragische Ende machte sie noch nachdenklicher. Und dann sagte Fee: »Ich möchte diese Frau gern kennenlernen.«

»Das kannst du, wir sind zur Hochzeit eingeladen, ich habe aber bisher noch nicht zugesagt.«

»Dann sag zu.«

Daniel seufzte hörbar. »Aber ich kann dir jetzt schon sagen, daß ein Haufen Leute da sein werden, die dir bestimmt nicht gefallen.«

»Ich werde es überstehen. Es kann sehr interessant werden.«

»Ich bewundere wirklich deine Flexibilität, mein Schatz«, sagte Daniel mit einem etwas hintergründigen Lächeln.

»Es kommt immer darauf an, was ich bei einem solchen Ereignis dazulernen kann«, erwiderte Fee.

Daniel legte seinen Arm um sie. »Wir lernen nie aus, mein Schatz, und es könnte durchaus sein, daß wir da Einblick in eine Welt gewinnen, die uns ganz fremd ist und auch bleiben wird.«

»Davon bin ich jetzt schon überzeugt, Daniel. Wir haben uns unsere Welt selbst geschaffen. Wir lassen uns daraus nicht vertreiben.«

»Bestimmt nicht«, erwiderte er. »Aber nun zu Benson. Ist das wahr?«

»Das würden sie bestimmt nicht veröffentlichen, wenn es nicht wahr wäre. Was meinst du, wieviel Millionen er einklagen könnte.«

»Ein Toter kann nicht klagen, und daß er tot ist, steht doch schon länger fest. Das habe ich sogar mitbekommen. Der berühmte Filmschauspieler Steve Benson verstarb nach längerer schwerer Krankheit, das haben sie doch sogar in den Nachrichten gebracht, und die höre ich auch im Autoradio.«

Fee stand auf und holte eine Zeitung. »Und heute können wir lesen, daß es ein weiteres prominentes

Aidsopfer gibt.«

Er las die Nachricht. Sie war recht diskret abgefaßt. »Larsan wird es auch lesen«, sagte Daniel.

»Er wird es schon wissen«, gab Fee ihren Kommentar dazu.

»Peinlich, peinlich, man weiß ja, daß Olivia Remus mit Benson filmte. Wir sollten gespannt sein, wie sie sich verhält.«

*

Olivia Remus stand vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer. Sie betrachtete sich von den Haarspitzen bis zu den Zehenspitzen. Sie litt schon seit Tagen unter einem fast unerträglichen Hautjucken. Und weil ihr seit Steve Bensons Tod die schrecklichsten Gedanken durch den Kopf gingen, hatte sie sich nicht getraut, zu einem Arzt zu gehen.

Sie gehörte zu den ganz wenigen, die gleich erfahren hatten, an welcher Krankheit Steve gestorben war, und sie war in Panik geraten.

Nicht, daß sie je intime Beziehungen zu ihm gehabt hätte, aber bei den Filmarbeiten hatte er sie laut Drehbuch in die Arme nehmen und küssen müssen.

Steve, er war so ein netter Kerl gewesen, so kameradschaftlich, niemals anzüglich, immer hilfsbereit. Sie wollte gar nicht mehr daran denken und mußte es dennoch. Diese entsetzliche Krankheit, wie hatte er sie sich geholt, und wen konnte er angesteckt haben? Sie vielleicht auch?

»Nein!« schrie sie laut in ihr Spiegelbild hinein. »Dieser Ausschlag kann kein Zeichen dieser Krankheit sein!«

Das Telefon läutete. Sie wartete wie gelähmt, daß es aufhören würde, aber es hörte nicht auf.

Dann meldete sie sich heiser, voller Angst. Es war Rainer Larsan.

»Hast du gelesen, was sie in den Zeitungen schreiben, Olivia?« fragte er tonlos.

»Ja, ich habe es gelesen, und ich habe dir gesagt, daß ich nie intime Beziehungen zu ihm hatte.«

»Darum geht es doch gar nicht. Ansteckung kann auch anders erfolgen, aber von mir hast du nichts zu fürchten. Dreh bloß nicht durch. Die Hochzeit wird nicht abgesagt. Und der nächste Film ist bereits geplant. Übermorgen wird alles besprochen. Sehen wir uns vorher noch?«

»Nein, ich bin morgen verplant«, erwiderte sie mit letzter Überwindung, um ihm nicht ihre ganze Verachtung durch den Draht zu schreien. Und alles, was ihr noch auf der Zunge lag, wollte sie lieber nicht aussprechen. Sie zwang sich zur Ruhe.

»Es ist also alles okay«, sagte er.

»Soweit schon, aber was ist, wenn ich angesteckt wäre auf Umwegen?«

»Kein Problem. Ich werde dich nicht anrühren und du könntest einen schönen Tod sterben«, erwiderte er brutal. »Aber was ich mir vorgenommen habe, wird auch durchgeführt, hast du verstanden?«

»Das habe ich.« Und dann legte sie den Hörer auf, sonst wäre er ihr nämlich aus der zitternden Hand gefallen.

Sie saß lange Zeit zusammengesunken, die Hände vor ihr Gesicht gelegt, in einem Sessel. Oh, Jobst, was hast du uns angetan, ging es ihr durch den Sinn, aber es wäre ja Nonnas Tod, wenn sie alles erführe. Sie liebt dich so sehr, und du bist so feige und drückst dich vor jeglicher Verantwortung. Du überläßt es mir, für dich zu büßen.

Sie ging auf die Dachterrasse. Sternenklar wölbte sich jetzt der Himmel über der Stadt, und die Silhouetten der Türme zeichneten sich ab. Schon lange hatte man dieses romantische Bild nicht mehr betrachten können, aber nun schien tatsächlich die angekündigte Schönwetterperiode zu kommen.

Oder sollte es ein gutes Omen für sie sein, daß sie den Himmel über sich sah? Momentan kam ihr der Gedanke, daß ein Sprung von diesem Dach ihr ganzes Elend beenden könnte, aber diesen verdrängte sie sofort. Nein, diesen Gefallen würde sie niemandem tun, wenn es von Rainer auch zu allerletzt gewünscht wäre. Er wollte ja seinen Triumph auskosten, und leider kannte er ihre einzige Schwachstelle nur gar zu gut. Ihre heißgeliebte Nonna, die sie und ihren Bruder Jobst nach dem tragischen Unfalltod der Eltern aufgezogen hatte. Die Nonna, Anna Maria Remus, durfte niemals erfahren, daß Jobst von der Polizei, sogar von Interpol gesucht wurde, wegen Rauschgiftschmuggels und Unterschlagung beträchtlicher Beträge.

Olivias Augen brannten, aber Tränen kamen nicht mehr. Sie hatte schon zu viele geweint um den Bruder, den auch sie geliebt hatte, und der nicht einmal bereit war, wenigstens ihr gegenüber eine Schuld einzugestehen. Er war wortlos, sang- und klanglos verschwunden, und dann hatte ihr Rainer Larsan sein schriftliches Schuldeingeständnis unter die Nase gehalten.

Es war ein schlimmer Tag in Olivias Leben gewesen, denn als ihre Eltern starben, war sie erst vier Jahre alt gewesen und hatte die Tragweite dieses Geschehens nicht begriffen. Sie hatte ja ihre Nonna, die schon immer bei ihnen gewesen war und die sie mehr liebte als ihre Mutter, die nie viel Zeit für ihre Kinder gehabt hatte.

Gina Remus war eine berühmte Sängerin gewesen, ihr Mann ihr Manager und stets an ihrer Seite. Aber das war längst vergessen, als Olivia ihre Karriere als Schauspielerin begann, nichtahnend, welche Rolle Rainer Larsan in ihrem Leben spielte und dann auch spielen wollte. Ja, manches war ihr immer noch nicht klar, und jetzt war sie auch viel zu erregt, um einen klaren Gedanken fassen zu können.

Steve und Aids? Das konnte sie nicht in Einklang bringen. Er hatte nicht in gefährdeten Kreisen verkehrt, er war eher ein stiller Philosoph gewesen.

Wie kam ein solcher Mensch wie Steve an diese Krankheit, das kreiste immer in ihren Gedanken. Und wie kam ihr Bruder Jobst dazu, Rauschgift zu schmuggeln und dazu noch Geld, das Larsan gehörte, zu unterschlagen?

Sie war bereit gewesen, Werbung für Larsans Kosmetik zu machen, Raila-Kosmetik wurde diese genannt, und sie benutzte auch einige Präparate, auch das Creme Bad und die Körpermilch, die ihr Rainer gleich in Großpackungen brachte.

Anfangs hatte sie auch ihn einfach nur nett gefunden, denn an Menschenkenntnis mangelte es ihr schon. Sie war zweiundzwanzig, als sie ihn kennenlernte, eben erst entdeckt für den Film, und sie hatte eine kleine, nicht bedeutende Nebenrolle gespielt, aber da war Jobst noch Regieassistent gewesen und hatte es verstanden, sie ins rechte Licht zu rücken. Und er war es auch gewesen, der Larsan auf Olivia aufmerksam gemacht hatte, aber das hatte Olivia erst erfahren, als Jobst in Schwierigkeiten war.

Sie saß da und überlegte, und plötzlich kam ihr der Gedanke, ihre Nonna anzurufen.

Sie wählte die Nummer sehr bedächtig, um die vielen Zahlen nicht durcheinander zu bringen, wie es ihr in der Eile mehrmals schon passiert war, denn allein die Vorwahl umfaßte vier Zahlen. Auch diesmal meldete sich eine Stimme, die sie nicht erwartet hatte.

»Signora Remus«, sagte Olivia hastig, »ich bin doch richtig?«

»Si, si, aber die Signora ist krank, sie kann nicht ans Telefon.«

»Wer sind Sie? Wo ist Luisa?« fragte Olivia erregt, »hier spricht Olivia Remus.«

»Das ist gut, Signora, ich hätte Sie benachrichtigt. Ich bin die Pflegerin Teresa. Es wäre gut, wenn Sie kommen könnten, Signora.«

Olivia hielt den Atem an, ihr wurde es schwarz vor Augen, aber sie riß sich zusammen.

»Was fehlt Nonna?« fragte sie bebend.

»Das Herz, sie hatte eine große Aufregung, und sie war doch schon krank. Mehr kann ich jetzt nicht sagen.«

»Ich komme«, erklärte Olivia. »Ich komme sofort.«

Ihre Nonna war krank! Diesmal blieb ihre Hand auf dem Telefon liegen. Sie mahnte sich zur Ruhe. Sie setzte sich wieder, nahm das Telefonbuch aus der Schublade und suchte die Nummer des Flughafens. Aber dann kam ihr ein anderer Gedanke. In der Nacht war gewiß nicht viel Verkehr, also konnte sie mit dem Wagen schon morgen früh in Como sein. In Windeseile packte sie gleich einen Koffer, trank dann noch zwei Tassen Espresso, der inzwischen durch die Maschine gelaufen war und kontrollierte noch einmal ihre Papiere, damit auch alles in der Tasche war, was sie brauchte.

Dann fuhr sie mit dem Lift abwärts und holte ihren Wagen aus der Tiefgarage. Es war ein flottes Cabrio und erst ein paar Wochen in ihrem Besitz. Sie hatte ihn sich selbst gekauft, aber als sie sich ans Steuer setzte, dachte sie sarkastisch, daß man wahrscheinlich darüber reden würde, daß sie alles von Rainer bekäme. Und was hatte sie schon von ihm bekommen und zu erwarten? Sie wußte es genau. Er hatte ihr die Filmrollen verschafft, aber auch eifrig mitverdient. Und was sie zu erwarten hatte, wußte sie noch besser. Er hatte die Trumpfkarte in der Hand. Sie hieß Jobst Remus.

Wenn ich wenigstens wüßte, wo ich dich erreichen kann, Jobst, dachte sie, als sie schon eine Weile unterwegs war und sich an die Dunkelheit und die entgegenkommenden Scheinwerfer gewöhnt hatte, denn nachts fuhr sie gar nicht gern. Wenn du doch wenigstens ein Lebenszeichen gegeben hättest, damit wir gemeinsam nach einer befriedigenden Lösung hätten suchen können!

Nichts wußte sie von ihrem Bruder seit einem halben Jahr, und genauso lange plante Rainer schon die Hochzeit mit ihr.

Plötzlich kamen Gedanken, die Zusammenhänge schafften, über die sie früher nie nachgedacht hatte.

Jobst hatte Rainer bereits gekannt, als dieser sich für sie zu interessieren begann, und zuerst hatte Rainer keineswegs einen persönlichen Kontakt zu ihr gesucht.

Jobst, der auch ein ausgezeichneter Fotograf war, hatte geschäftliche Verbindungen zu Rainer gepflegt, ihn auch als einen Freund bezeichnet. Er hatte auch Werbespots für seine Firma beim Fernsehen gemacht. Aber was nebenbei so lief, hatte Olivia nie erfahren, bis diese Rauschgiftsache aufkam. Weil da aber auch einige Prominente verwickelt waren, wurde nicht so ein Wirbel gemacht, wie zu fürchten gewesen war. Und dann war Jobst untergetaucht. Über Nacht, für Olivia unbegreiflich, bis ihr Rainer die Pistole auf die Brust setzte.

»Raila-Kosmetik«, in allen Zeitungen, im Fernsehen, im Rundfunk wurde sie angepriesen, aber Raila bedeutete nicht etwa Rainer Larsan, sondern Raimund Larsan. Das war Rainers Vater gewesen, ein ehrbarer Fabrikant, der einen Chemiekonzern aufgebaut hatte. Kosmetikartikel waren nur ein Teil davon, aber mit diesem identifizierte sich Rainer nach dem Tod seines Vaters. Arbeiten ließ er andere für sich, aber man mußte es ihm lassen, daß er selbst sein bester Repräsentant war.

Während Olivia auf stillen, nächtlichen Straßen durch die Schweiz fuhr, die Grenze hatte sie ohne Aufenthalt passiert, reihten sich ihre Gedanken aneinander.

Abgesehen davon, daß sie ihre Eltern früh verloren hatte, verlief ihr Leben ohne dramatische Ereignisse. Die Nonna, die ihren Mann bereits im Krieg verloren hatte, war finanziell gut gestellt. Es ging den Kindern nichts ab. Sie wuchsen in schöner landschaftlicher Gegend am Comer See auf, genossen eine gute Erziehung und Ausbildung und konnten den Beruf wählen, der ihnen zusagte, ohne daß Nonna dagegen ein Veto einlegte. Nonna hatte freilich auch nichts dagegen, daß Olivia Schauspielerin werden wollte, denn sie war selbst eine gewesen, die auf großen Bühnen Triumphe gefeiert hatte. Man erinnerte sich auch heute noch an sie, jedenfalls deutlicher als an ihre Tochter Gina.