Die Anmutige - Peter Greminger - E-Book

Die Anmutige E-Book

Peter Greminger

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Beschreibung

Die Insel La Graciosa, nördlich von Lanzarote, ist ein Kleinod von idyllischer Schönheit und beschaulicher Ruhe. Dass gerade an diesem verträumten Ort verbrecherische Mächte ihr Unwesen treiben sollen, erstaunt selbst den altgedienten Comisario Fernando. Sein Sohn Pablo scheint dort in ein Gewirr von Leidenschaft und Intrigen verstrickt zu sein, nachdem er seine Frau und das Weingut oberhalb Geria leichtsinnig vernachlässigte. Zur Bestürzung seines Vaters, wird er auch mit dem gewaltsamen Tod von Penélope María de Miravalle in Verbindung gebracht. Kann er, der ehemalige Polizist, dort auf der einsamen Insel, Licht in die dunklen Vorfälle bringen und seinem Sohn helfen?

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Über das Buch

Die Insel La Graciosa, nördlich von Lanzarote, ist ein Kleinod von idyllischer Schönheit und beschaulicher Ruhe. Dass gerade an diesem verträumten Ort verbrecherische Mächte ihr Unwesen treiben sollen, erstaunt selbst den altgedienten Comisario Fernando.

Sein Sohn Pablo scheint dort in ein Gewirr von Leidenschaft und Intrigen verstrickt zu sein, nachdem er seine Frau und das Weingut oberhalb Geria leichtsinnig vernachlässigte. Zur Bestürzung seines Vaters, wird er auch mit dem gewaltsamen Tod von Penélope María de Miravalle in Verbindung gebracht. Kann er, der ehemalige Polizist, dort auf der einsamen Insel, Licht in die dunklen Vorfälle bringen und seinem Sohn helfen?

Über den Autor

Für Peter Greminger war Reisen immer eine besondere Herausforderung. Er verbrachte einen großen Teil seines Lebens im südostasiatischen Raum, wo er lange beruflich tätig war. Schon damals hielt er seine Erlebnisse oft in Reiseberichten und Kurzgeschichten fest.

Nach Abschluss seiner beruflichen Tätigkeit verbrachte der Autor zwei Jahre in Neuseeland, wo vier Romane über das Land der Kiwis entstanden. Nun lebt er, zusammen mit seiner Frau, in der Ostschweiz. Seit mehreren Jahren entfliehen die Beiden der Kälte des Winters nach Lanzarote. Dort, auf der bizarren kanarischen Insel, sind der Fantasie des Autors, mit Comisario Fernando, keine Grenzen gesetzt.

Peter Greminger

Weitere Romane des Autors:

9 783 752 820 836 „Pakeha“ (Fremde in Neuseeland)

9 783 752 806 380 „Tangiwai“ (Weinendes Wasser, Neuseeland)

9 783 752 805 604 „Kahurangi“ (Grüner Stein, Neuseeland)

9 783 752 820 393 „Paua“ (Meerohrschnecken, Neuseeland)

9 783 741 205 477 „Sunda“ (Indonesien)

9 783 752 877 663 „Fuego“ (Lanzarote Utopie)

9 783 753 463 551 „Schwarze Masken“ (Lanzarote-Krimi 1)

„Si nada nos salva de la muerte, al menos que el amor nos salve de la vida.“

Wenn uns nichts vor dem Tod rettet, mindestens die Liebe rettet uns im Leben.

Pablo Neruda

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 1

Er war nahe daran, sich zu übergeben. Die ständige Schaukelei war scheußlich und machte ihm zunehmend zu schaffen. Der Comisario klammerte sich verzweifelt an die Reling der kleinen Fähre und betete, dass die Überfahrt endlich zu Ende gehe, bevor er sich total lächerlich machte. Wenigstens befanden sich nur wenige Passagiere an Bord, und sie kümmerten sich auch kaum um den älteren Mann im braunen Jackett und dunkler Hose. Fernando Romero hatte sich diesen Sonntagmorgen auf jeden Fall anders vorgestellt, aber der Anruf, mitten in der Nacht, hatte ihn aufgeschreckt.

Pablo wurde seit dem vorigen Abend festgehalten, und seine Stimme klang bedrückt und verzweifelt aus dem Hörer: „Papá, ich brauche deine Hilfe.“

Zum Teufel, was hatte der Junge nun wieder angestellt? Auf La Graciosa verhaftet? Etwas Blöderes konnte man sich nicht vorstellen – festgehalten, auf der kleinen unscheinbaren Insel mit dem anmutigen Namen. Der Ort war derart einsam und naturbelassen, man könnte ihn ja geradezu ‘unschuldig‘ nennen.

Nachdem die Fähre die schwarzen, spitz aus dem Wasser ragenden Felsen umrundet hatte, hielt sie sich leicht links. Der Kapitän suchte damit wohl den Schutz der steil abfallenden Klippen der Nordwestküste von Lanzarote, denn der steife Passatwind fegte wütend durch die Passage zwischen den beiden Inseln. Die massiven Felsen des Riscos, jetzt buchstäblich über ihnen hängend, lagen zu dieser frühen Stunde im dunklen Schatten. Sie verstärkten, zusammen mit den donnernd anbrausenden Wellen, das Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber dieser Urgewalt der Natur und bestätigten die Erkenntnis der eigenen Winzigkeit, gegenüber einer höheren Macht. Fernando fror und verwünschte seine Voreiligkeit, welche ihn veranlasst hatte, die erste Fähre um acht Uhr zu nehmen.

Rechts, auf der anderen Seite, auf der Insel La Graciosa, lag der kleine Ort Sebo, mit dem einfachen Hafen. Er lag im hellen Sonnenlicht, und die Fähre stampfte unbeirrt darauf zu. Die Überfahrt dauert kaum mehr als eine halbe Stunde, aber Fernando kam es wie eine Ewigkeit vor.

Er war schon seit Tagesanbruch unterwegs und hatte sein Haus in Tías kurz nach sechs Uhr verlassen. Die Autofahrt nach Órzola dauerte knapp vierzig Minuten. Kurz vor seiner Ankunft, an der Nordspitze von Lanzarote, klaubte er sein Handy hervor und rief seinen Freund bei der Policía Nacional an. Er war sich seiner rücksichtslosen Art bewusst. Einerseits telefonierte man nicht während der Fahrt, andererseits war ein derart früher Anruf auch in Spanien äußerst unhöflich.

„Dígame?“, kam dann auch nach langem Läuten die unwillige Antwort.

„Javier!“, antwortete Fernando. „Entschuldige die frühe Stunde, aber es ist dringend. Ich brauche deine Hilfe.“

„Mierda, du Unverbesserlicher, was um alles in der Welt treibst du jetzt wieder? Hat man denn tatsächlich niemals Ruhe?“

Fernando grinste und ließ seinen Freund warten. Inspector Javier Sánchez war seit zwei Jahren der neue Leiter der Comisaría Policía National in Tías, und damit war er auch sein Nachfolger. Nachdem er selber, nach langem Zögern, in den wohlverdienten Ruhestand gegangen war, rückte sein ehemaliger Assistent nach, und dessen wohlverdiente Beförderung war eine logische Folgerung. Trotzdem konnte sich Fernando oft nicht verkneifen, seinen Freund wie einen Untergebenen zu behandeln und hinzuhalten. Er wusste, das war überhaupt nicht fair, und wenn er die Unterstützung seines Freundes weiterhin erwartete, galt es, diese Macke endgültig zu begraben.

„Javier, es tut mir leid“, fuhr er deshalb einlenkend fort. „Ich habe erfahren, dass letzte Nacht ein Tötungsdelikt bekannt wurde, drüben auf der Insel La Graciosa heißt es. – Weißt du mehr?“

Der Inspector knurrte etwas Unverständliches, antwortete aber widerwillig: „Ja, da fand man tatsächlich eine weibliche Leiche. Aber kann das nicht warten, die läuft schon nicht weg. – Woher überhaupt weißt du das jetzt schon wieder?“

Fernando entgegnete seinerseits ungehalten: „Mein Sohn Pablo, der Blödmann, ist da irgendwie hängen geblieben. Keine Ahnung, was der dort mit einer Toten zu schaffen hat. Er bat mich zu kommen, er werde festgehalten. – Wer ist denn die Tote?“

„Eine junge Frau. Wie die auf ‘La Graciosa‘ kommt ist ein Rätsel. Ist doch kein Ort um zu sterben…“

„Womit wieder einmal bewiesen ist, dass der Tod überall lauert“, sagte Fernando und dachte an die, vor ein paar Monaten an der Küste von Lanzarote, ertrunkenen Flüchtlinge. Plötzlich war die beschauliche, friedliche Insel der Kanaren, wo normalerweise kaum einmal eine Beerdigung stattfand, zum Schauplatz einer Tragödie geworden. Die Welt schien im Chaos zu versinken, und selbst ein unschuldiger Ort wie die kleine Insel ‘La Graciosa‘ war nicht ausgenommen.

Javier war jetzt hellwach. „Du sagst es! Die Tote wurde gestern am späten Nachmittag gefunden. Wie sie zu Tode kam ist noch unklar. Ein natürlicher oder gewaltsamer Tod wäre möglich.“

„Und da war mein Sohn zur Stelle?“, fuhr Fernando auf. „Vielleicht noch mit dem blutenden Messer in der Hand.“

Der Inspector grunzte: „Unsinn! Das wird sich klären, sobald der Bericht eintrifft. Im Moment tappen wir völlig im Dunkeln, und die Guardia Civil wird sicher auch noch auftauchen und sich der Sache annehmen.“

Inzwischen hatte Fernando den Ort Órzola erreicht und lenkte seinen alten Skoda zum kleinen Hafen. Nachdem er das Telefonat recht abrupt, mit einem unverständlichen ‘Vale‘ beendet hatte, fluchte er leise vor sich hin. Eigentlich war nichts anderes zu erwarten. Die Polizei arbeitete in diesem Land in einem besonderen, schlampigen Tempo. Die Rangelei über Zuständigkeiten schien manchmal wie zähflüssige heiße Suppe im Topf zu brodeln. Jeder wollte sie probieren, aber keiner sich die Zunge verbrennen. Die Guardia Civil würde bestimmt auftauchen, und er konnte nur hoffen, dass er ihnen zuvorkam.

Die Fähre steuerte inzwischen zielstrebig die enge Hafeneinfahrt an. Fernando richtete sich mühsam auf und blickte verstohlen um sich. Die Fahrt war jetzt gedrosselt und etwas ruhiger. Noch immer klammerte er sich an die kalten Eisenrohre der Reling, aber die Übelkeit nahm langsam ab. Bleich und elend blickte er um sich und hoffte, dass keiner der Mitreisenden seine Schwäche bemerkt hatte. Er wusste seit langem von seinem Problem mit dieser verfluchten Kinetose, der Seekrankheit, und mied deshalb nach Möglichkeit jede Schifffahrt. Kürzlich hatte er eine, von Ilona vorgeschlagene, Kreuzfahrt mit der fadenscheinigen Begründung abgesagt, er hätte einfach zu viel zu tun. Ilona, seine neue, unerwartete Liebe, hatte die Ausrede natürlich schnell durchschaut, sich dann aber damit abgefunden. Fernando war im wohlverdienten Ruhestand und von zu viel Arbeit konnte nun wirklich keine Rede sein. Aber der Comisario Fernando war stolz und nicht gewillt, seine Reputation durch solch eine Bagatelle, wie Seekrankheit, zu gefährden. Am besten, man blieb auf sicherem Boden und vermied Wind und Wellen auf unruhigem Wasser.

Während sie langsam zwischen die Molen des kleinen Hafens glitten, musterte er die wenigen Passagiere genauer. Waren da vielleicht Beamte der Guardia Civil an Bord? – Kaum. – Ein alter Mann, wahrscheinlich ein Fischer, saß geduldig auf der Bank im Bug. Eine Frau, mit schweren Taschen, vermutlich direkt vom Markt kommend, wartete ungeduldig neben dem Ausstieg. Ein junges Paar, Touristen, zu leicht bekleidet für die kalte Überfahrt, drückte sich an die Wand in den notdürftigen Windschatten. Unten in der Kabine hockten zwei Arbeiter in blauen Overalls. Sie hatten schwere Werkzeugkisten vor den Füssen. Niemand hatte das Aussehen eines Beamten und besonders auch nicht die stolze Haltung der Offiziere der Guardia Civil. Wenn diese Männer nicht mit einem eigenen Motorboot unterwegs waren, dann hatte er tatsächlich einen Vorsprung. Den galt es auszunützen.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis die Taue befestigt waren und die Rampe endlich auf den Pier schrammte. Rasselnd gaben die Ketten den Weg frei. Fernando überquerte den großen Platz und eilte zielstrebig durch eine enge Gasse neben dem verwaisten Restaurant ‘El Varadero‘. Er kannte den Weg zur kleinen Polizeistelle des Ortes. Gleich um die Ecke war er da.

Als er die kleine Rampe, welche zum blau gestrichenen Eingang führte, erreichte, stockte er und blickte auf die neue, glänzende Tafel über der Tür. Da stand protzig auf grünem Grund: ‘GUARDIA CIVIL’ und darunter, (Oficina de Atencion al Ciudadano). Ja, waren die jetzt total verrückt? Versuchten sie nun selbst dieser kleinen Insel den Stempel der orangen katalanischen Partei aufzudrücken. Nicht dass die ‘Ciudadano‘, was für ‘Bürgerschaft‘ stand, eine besonders extreme Politik vertrat, aber was hatte die Guardia Civil damit zu schaffen. Bei seinem letzten Besuch der Insel war hier ein einfacher Oficial de Policía stationiert, und wenn er sich richtig erinnerte, war das der alte Miguel Moreno.

Die einfache Tür war nicht verschlossen, und Fernando trat in einen kleinen Vorraum. Erleichtert atmete er auf, denn durch die Scheibe des Schalters erkannte er den alten Beamten.

„Miguel!“, rief er. „Du bist tatsächlich noch da. Guten Morgen! Ich befürchtete schon das Schlimmste.“

„Buenos Días!“, brummte der Alte. „Fernando, wo denkst du hin? Schlimmer kann es nicht kommen.“ Er hatte die Scheibe geöffnet und grinste dem Besucher entgegen. „Dein Sohn wartet da hinten. Ich zeige dir gleich wo.“

„Danke!“, entgegnete Fernando. „Aber, warum hast du ihn denn eingesperrt. Der Junge hat doch nichts mit der toten Frau zu tun.“

„Hab‘ ihn doch nicht eingesperrt! Er war am Tatort und hat die Tote gemeldet. Deshalb sollte er sich zur Verfügung halten. Die hohen Herren von Arrecife wollten es so.“

„Aber das macht ihn doch nicht automatisch zu einem Verdächtigen!“

„Klar, logisch, aber da war kein anderer zur Stelle. Wohin hätte er denn sollen? Unser bescheidenes Hotel ist so gut wie jedes andere hier.“

„Also, mach schon!“, befahl Fernando. „Wo ist er? Ich will mit ihm reden.“

Der Polizist ging voraus. Sie folgten einem engen Korridor und gelangten zu einer einfachen Brettertür.

Grinsend meinte Moreno: „Gefängnis kann man das wohl kaum nennen. Hier verbringt höchstens mal ein Betrunkener eine Nacht und schläft seinen Rausch aus. Geh‘ ruhig hinein, vielleicht schläft er noch.“

Die Tür war weder verschlossen, noch machte sie den Eindruck einer soliden Zelle. Ein kräftiger Fußtritt würde wohl jedem zur Flucht verhelfen. Pablo saß aber ruhig auf der Pritsche und blickte seinem Vater entgegen.

„Endlich!“, seufzte er und erhob sich. „War eine lange Nacht, aber jetzt können wir endlich gehen.“

„Moment!“, protestierte Moreno. „Ich kann dich doch nicht einfach laufen lassen. Wir sollten auf die Herren aus Arrecife warten.“

Fernando winkte ab. „Lass gut sein, ich übernehme jetzt. Wir laufen schon nicht weg.“

„Dann unterschreib wenigstens die Entlassung!“

„Klar, mach schon, her mit dem Fetzen!“

Es dauerte und dauerte, bis Moreno das richtige Formular fand und dieses unterschrieben war. Fernando betrachtete seinen Sohn, der mit undurchdringlicher Miene schweigend dabei stand. Der Fund einer Toten und die lange Nacht schienen ihre Spuren zu zeigen. Aber war da noch mehr?

Nach einem kurzen Gruß, dirigierte er seinen Sohn wortlos aus der Dienststelle und um die nächste Ecke. Einen Blick hinüber zum Pier bestätigte seine Befürchtung. Die Fähre glitt eben leise brummend hinaus aufs Meer.

„Zu spät!“, knurrte Fernando. „Die Nächste fährt erst in zwei Stunden. Bis dann ist hier der Teufel los.“

Er blickte hilfesuchend um sich. Die verwinkelten Gassen zwischen den weißen Häusern boten wenige Möglichkeiten. Die Wege waren durchwegs nicht asphaltiert, mit feinem Sand bedeckt und vermittelten den Eindruck eines Wüstendorfes, ohne Leben und Verkehr. Die niederen schneeweißen Gebäude, mit geraden, getünchten Wänden und flachen Dächern, standen im Sand wie willkürlich hingestellt. Die wenigen kleinen Fenster und Türen schienen permanent geschlossen und dienten höchstens dem heimlichen Ausblick in die Gasse. Um die nächste Ecke fanden sie einen verwahrlosten Hof, wo drei verlotterte Boote wohl schon seit langem ihr Dasein fristeten. Keine Menschenseele weit und breit. Vater und Sohn fanden einen Platz hinter den Wracks und ließen sich aufatmend an der Wand nieder. Für den Moment waren sie aus der Schusslinie.

„Nun erzähl schon!“, schnaubte Fernando und entledigte sich seines viel zu warmen Jacketts. „Wie um alles in der Welt bist du in so eine Situation geraten? Was hast du überhaupt auf dieser Insel zu suchen?“

Pablo ließ sich Zeit und blickte starr zu Boden. „Ich weiß auch nicht…“, begann er stockend.

Fernando winkte ungeduldig ab. „Was! – Du weist auch nicht? So etwas Blödes! Ich denke, es wird an der Zeit, dass du deinem Vater erklärst, weshalb du ihn mitten in der Nacht aus dem Bett holst und über die ganze verfluchte Insel jagst. – Nun mach schon!“

Nach geraumer Zeit krächzte der junge Mann gequält: „Ich… will sie nicht verlieren…“

„Wen?“ entfuhr es Fernando. War der jetzt völlig wirr. Die war doch schon tot.

„Ingrid…“, flüsterte Pablo.

Ingrid! – Klar, das war logisch. Sein Sohn meinte nicht die aufgefundene Tote, sondern seine Frau. Warum befürchtete er seine Partnerin zu verlieren? Die waren doch seit drei Jahren ein Herz und eine Seele. Der Junge war inzwischen über dreißig und hatte auf der Finca Magdalena, zusammen mit der Deutschen, eine vielversprechende Zukunft vor sich. Na ja, die schöne Blonde hatte ihm damals wohl richtig den Kopf verdreht, aber die Beiden waren offensichtlich verliebt, und die dramatischen Ereignisse um das Flüchtlingsdrama vor drei Jahren, hatte sie endgültig zusammengeschweißt. Seitdem lebten sie auf ihrem Weingut oberhalb von Conil und waren glücklich.

Die Bodega Magdalena war inzwischen ein bekannter Name geworden, und die köstlichen Weine, unter dem Logo ‘Lena‘, wurden in vielen Lokalen auf Lanzarote angeboten. Neben dem üblichen weißen Malvasía starteten sie nun auch mit einem roten Syrah und experimentierten an einem außergewöhnlichen Dessertwein. Sie hatten inzwischen einen erfahrenen Önologen verpflichtet, und Ingrids Verbindungen zu Deutschland erweiterten ihren Marktanteil bedeutend. Nach wie vor galt ein Wein von der Insel Lanzarote als etwas Besonderes. Dies nicht zuletzt wegen der ungewöhnlichen Anbaumethode. Die Rebberge im Weintal ‘La Geria‘, mit den tiefen Trichtern in schwarzer Lapilli, galten als einmalig auf dieser Welt. Als vor bald dreihundert Jahren die letzten Eruptionen der Vulkane von Timanfaya auf dem südlichen Teil von Lanzarote erloschen, ließen sie weite Gebiete bedeckt mit Lava und dicker Lapillischicht zurück. Die Bauern gaben aber nicht auf, denn sie wussten, dass darunter wertvolle fruchtbare Erde lag. Sie gruben also bis dort hinunter, setzten die Reben in die entstandenen Trichter und umfassten diese, zum Windschutz, mit einer, Zoco genannten, kleinen Steinmauer. Die schwarzen Kiesel Lapilli haben die Eigenschaft, die Feuchtigkeit des Taus zu speichern und das Wasser zu den Wurzeln der Reben zu leiten. So gedeihen diese in den Vertiefungen bestens. Bald erstreckten sich tausende von Trichtern bis hinauf an die Abhänge der Vulkane und gaben der Gegend ihr einzigartiges Aussehen.

Die Finca Magdalena lag genau an so einem Abhang über dem Tal ‘La Geria‘ und hatte zudem einen spektakulären Ausblick bis hinüber zu den Feuerbergen. Das junge Paar scheute keine Mühe und brachte die Bodega, in nur zwei Jahren, auf den heutigen hervorragenden Stand. Sie hatten das Haupthaus durch einen Anbau erweitert, um Platz für die Pressen, Kühlanlagen, Tanks und Abfüllanlagen zu schaffen. Auch ein Raum für Gäste und Besucher wurde gebaut, wo Degustationen und gesellige Anlässe durchgeführt werden konnten. Alles war in traditioneller Weise, mit viel lokalem Naturstein und kanarischem Kieferholz, erstellt und natürlich, wie üblich, weiß getüncht.

Fernando verbrachte viel Zeit auf dem Weingut und legte Hand an, wo immer notwendig. Er wohnte aber noch immer in Tías, in seinem kleinen Haus an der Calle Drago, zusammen mit Tante Amara. Die Tante, sie nannten sie alle liebevoll Tía Amara, war eigentlich Pablos Großmutter, aber nach dem Tode von Fernandos Frau übernahm sie ganz selbstverständlich den Haushalt und war ab da für jeden einfach die Tante Amara. Fernando liebte seine alte Mutter und hatte gehofft, dass seine neue Partnerin Ilona sich mühelos in diesen Haushalt einbringen würde. Nicht dass Ilona etwas gegen Tante Amara vorzubringen hätte, nein, sie hatte die alte Frau sofort in ihr Herz geschlossen, aber Ilona war zu sehr mit ihrem alten Leben verwurzelt, als dass sie eine solche Entscheidung vorschnell treffen konnte. Dieser Gedanke schmerzte ihn manchmal, denn Ilona war der wichtigste Teil seines Lebens geworden, und er hatte gehofft, dass sie alle zusammen glücklich werden könnten.

Ilona war eine ganz besondere Frau. Ihre zierliche Gestalt, mit den dunklen Haaren und dem verschmitzten Lächeln, stand fortwährend vor seinen Augen und wärmte sein Herz wie eine Frühlingssonne. Sie war nur ein paar Jahre jünger als er, aber er hatte das Gefühl, von überschäumender unbeschwerter Jugend ergriffen zu sein. Das war natürlich Unsinn, denn sie Beide hatten einen großen Teil ihres Lebens bereits hinter sich. Er, Fernando, war ein pensionierter Polizeibeamter, und Ilona führte seit vielen Jahren das bekannte Lokal unten am Puerto del Carmen. Dort hatte er sie auch kennengelernt, aber die Zeit, wo er sich dort seine Tage beim Servieren von Fisch und Krabben vertrieben hatte, war vorbei. Dennoch besuchte er das ‘El Rondó‘ regelmäßig zu einem Bierchen, aber Ilona hatte klar gemacht, dass es sich für einen Comisario nicht zieme, als Kellner zu arbeiten, besonders wenn er noch mit der Eigentümerin liiert war.

Er hatte sich deshalb immer mehr seinen Arbeiten auf der Finca Magdalena zugewandt, immer in der Hoffnung, Ilona würde endlich zu ihm ziehen und sein Glück perfekt machen. Sein Sohn hatte sogar davon gesprochen, sie alle sollten auf die Finca ziehen. Platz genug wäre da auf jeden Fall, und die Familie zusammen, das wäre doch herrlich. Wenn das auch verlockend tönte, da hatte doch jeder auch seine Vorbehalte. Ilona, Tante Amara und er selber, sie hatten alle ihre eigenen festgefahrenen Lebensumstände, von denen sie sich nicht einfach trennen konnten oder wollten. – Und Pablo selber steckte in seiner neuen Beziehung mit dieser Deutschen. Sie schienen tatsächlich verliebt und voller Zukunftspläne. Ob da aber eine Wohngemeinschaft sinnvoll wäre? Natürlich, Ingrid war ihnen allen lieb. Sie war eine natürliche junge Frau, schön und attraktiv. Sie war die Eigentümerin des Weingutes. Na ja, eigentlich ihr Vater, aber der alte Mann lebte in Deutschland und hatte das Gut längst seiner Tochter überschrieben.

Es war somit nur verständlich, dass Pablo sich ins Zeug legte und seine große Liebe auf Händen trug. Fernando wunderte sich, weshalb sie nicht längst geheiratet hatten. Außerdem gab es kein Anzeichen auf Nachwuchs, was natürlich Tante Amara entrüstete und ihre Zweifel schürte. Die jungen Leute, nörgelte sie, meinten immer, eine richtige Familie sei eine zu große Belastung und hindere sie in ihrem Vorankommen. Selbst Fernando beobachtete, dass das junge Paar sich zu sehr in den Erfolg des Weingutes verbiss und die Beziehung oft vernachlässigte. Er verbat sich aber solche Gedanken und wünschte den Beiden viel Glück.

Im Herbst letzten Jahres wurde die Idee geboren, die Bodega für Besucher zu öffnen. Pablo plante ein kleines Museum zur Darstellung und Erläuterung des speziellen Kelterprozesses auf Lanzarote. Er hatte eine weltweit aktive Touristenagentur gefunden, die ihre Werbung darauf ausrichten wollte. ‘Sonne, Liebe und Wein‘ war der Slogan. Etwas gar pathetisch, dachte Fernando, aber schwieg. Pablo war Feuer und Flamme und verbrachte bald mehr Zeit mit der Agentur und den Vorbereitungen, als mit der Arbeit auf dem Weinberg. Ingrid ging schweigend ihren Aufgaben nach. Sie hatte Marketing, Verkauf, Auslieferung und Buchhaltung mit einer perfekten Gründlichkeit im Griff. Deutsche Tüchtigkeit, dachte Fernando bewundernd, denn die spanische Lässigkeit war auch auf Lanzarote normalerweise eher die Regel.

Kapitel 2

„Nun mach‘ schon!“, schnauzte Comisario Fernando. „Erzähl‘ die Geschichte, am besten von Anfang an. Wir haben nicht alle Zeit.“

„Wir waren auf Erkundung“, sagte Pablo leise. „Das neue Projekt…“

„Was für ein Projekt?“

„La Graciosa und der Ort Pedro Barba im Osten, eine neue Attraktion für die Touristen.“

„Pedro Barba!“, schnaubte Fernando. „Dieses gottverlassene Nest auf dieser gottverlassenen Insel. Ihr habt‘s wohl nicht alle!“

Jetzt kam Pablo in Fahrt: „Doch, doch! Es ist gerade diese Einsamkeit, die Ruhe und Abgeschiedenheit, welche den Reiz ausmachen. Viele gestresste und ausgebrannte Manager suchen heute nach einem Versteck, wo sie eine kurze Zeit ohne Handy und Internet verbringen können. – María meinte, das sei genau der richtige Ort. Wir sollten uns das einmal ansehen.“

„Aha! – Und María, wer ist das? – Die Tote?“

Ein Schatten huschte über Pablos Gesicht, und gepresst antwortete er nach einer Weile: „Ja, sie ist es. – Aber warum denn nur?“

„Ja, wenn wir das wüssten, dann…“

Die Gedanken rasten durch Fernandos Kopf. Sein Sohn war tatsächlich mit einer fremden Frau alleine unterwegs zu dem wohl abgelegensten Flecken der kanarischen Inseln. Und genau diese Frau war da draußen irgendwo zu Tode gekommen. Es war nicht zu fassen, warum trieb der Kerl sich auf ‘La Graciosa‘ herum und blieb nicht auf seiner Finca, zu Hause auf seinem Weinberg. War ihm, nach so kurzer Zeit, seine Frau langweilig geworden, und waren jetzt die verfluchten Triebe völlig mit ihm durchgegangen? Wer war diese Frau überhaupt?

Laut sagte er: „Pablo, was geht hier vor? Wer ist diese Frau?“

„Sie heißt Penélope María de Miravalle und ist eine Angestellte der Agentur ‘Mytour‘ in Puerto del Carmen. Du weißt schon, diejenige, welche die Besichtigungen unserer Bodega organisiert. – Mein Gott, jetzt ist sie tot!“

„Offensichtlich!“, blaffte Fernando. „Wo ist sie denn jetzt? Liegt die immer noch dort draußen?“

„Nein, soviel ich weiß, liegt sie in der ‘Camara Frigorifica‘ der Fischer am Hafen, dem einzigen Kühlhaus der Insel. Der Sargento meinte, man könne sie nicht einfach liegen lassen. Sie haben sie mit dem Pickup abgeholt.“

Fernando schüttelte den Kopf. „Unglaublich! Hier herrscht ja völlige Ignoranz. Wissen die denn nicht, dass man an einem Tatort nichts verändern soll? – Natürlich haben sie, wie eine Herde Elefanten, alles zertrampelt und alle Spuren völlig vernichtet. – Na ja, sie hatten den Täter ja schon.“

„Ich habe sie nicht umgebracht!“, fuhr Pablo auf. „Sie war schon tot, als ich sie fand.“

„Schon gut“, beruhigte ihn der Vater. Er glaubte seinem Sohn aufs Wort. Pablo war einfach nicht der Mensch, der jemanden töten könnte. Dafür war er viel zu sensibel. Aber ob das die Anderen auch so sahen. – Die Anderen, die Polizei, die Guardia Civil und allen voran Coronel Martinez, die hatten sicher keine Bedenken. Die würden bald hier auftauchen, nicht um Ermittlungen zu führen, sondern um den überführten Täter abzuholen. Besonders dieser Martinez, der hatte in der Vergangenheit oft bewiesen, dass für ihn die schnelle Erledigung und Verurteilung wichtiger waren, als die Untersuchung, damit er den Erfolg und den Ruhm für sich verbuchen konnte. Der Coronel war ein sturer Hund und würde mit eiserner Faust seine Meinung durchsetzen. Dem galt es entschieden entgegen zu treten.

Fernando erhob sich und befahl: „Komm, ich muss die Leiche sehen. Wir müssen zum Kühlhaus. Jetzt, sofort!“

Der kleine Ort, mit den engen Gassen, und die frühe Stunde, kamen ihnen zu Hilfe. Sie brauchten nur um zwei Ecken zu gehen und schon standen sie vor dem schlichten Gebäude am Rande der Molen. Der fensterlose Bau und die grauen ausgetretenen Bodenplatten davor, zeugten davon, dass das Kühlhaus einmal häufig, wohl täglich, benutzt wurde. Die Zeiten waren aber lange vorbei. Jetzt war der Eingang unbewacht und sogar unverschlossen. War das überhaupt noch ein Kühlhaus? Sie schlüpften unbemerkt durch das schwere Eisentor. Drinnen empfing sie unangenehm die Kälte und ein konstantes Brummen der Aggregate. Eine schwache Glühbirne beleuchtete den Raum, und mitten auf dem Boden entdeckten sie die zugedeckte Gestalt. Pablo blieb stehen und kämpfte gegen die Übelkeit, verursacht durch den immer noch vorhandenen, penetranten Fischgeruch. Der kahle Raum machte nicht den Eindruck, dass er noch viel benutzt würde. Ein paar leere Kisten standen achtlos an der Wand, und ein Transportwagen wartete unbenützt in der Ecke. Der Boden war mit glatten, weißen Fließen belegt, was das Gefühl von nackter Kälte noch verstärkte.

Fröstelnd kniete Fernando neben die Gestalt und hob das grauschmutzige Tuch. Selbst der Tod konnte nicht darüber hinweg täuschen, dass die junge Frau eine Schönheit gewesen war und einen attraktiven makellosen Körper hatte. Sie trug lediglich einen knappen rosa Bikini. Langes schwarzes Haar lag wirr um den Kopf. Es war offensichtlich mit Blut verklebt. Die Augen waren geschlossen, und der Anblick des Gesichtes war starr und ausdruckslos. Es war unmöglich zu ergründen, wie sie der Tod ereilt hatte. War sie überrascht worden, vielleicht sogar von hinten erschlagen, im Streit umgebracht, oder ganz einfach gestürzt und unglücklich auf einen Stein gefallen? Die reglos vor ihm liegende Gestalt verriet absolut nichts. Fernando konnte sich nicht einmal vorstellen, wie und wo sie dort draußen gelegen hatte. Reste von Sand an Beinen und Füssen waren nur logisch, an einem Strand. Er musste annehmen, dass da wohl niemandem in den Sinn gekommen war, den Tatort zu fotografieren. Das einzig Offensichtliche war, dass sie durch einen Schlag auf den Kopf zu Tode gekommen war.

Er zog das Laken wieder über die Leiche, erhob sich und wandte sich an seinen Sohn. Dieser stand bleich, mit versteinerter Miene, hinter ihm und erschrak, als er angesprochen wurde.

„Wie lag sie denn da, als du sie entdeckt hast?“

„Wie…?“

„Ja, wie hast du sie gefunden?“

„Sie lag einfach da neben dem Badetuch“, flüsterte Pablo.

„Ja, ja“, brummte Fernando, die Geduld verlierend. „Aber wie lag sie da?“

„Auf dem Rücken, denke ich…“

„Na ja, möglich“, überlegte Fernando. „Ist dir etwas aufgefallen? Hast du etwas gehört oder gar gesehen?“

„Was soll das?“, begehrte Pablo plötzlich auf. „Ist das jetzt ein Verhör? – Nein, ich habe nichts gesehen und auch nichts gehört. Sie lag einfach da und war tot. Ich wunderte mich noch, dass sie neben dem Badetuch lag.“

Fernando überlegte. Es war unmöglich, er wusste überhaupt nichts und hatte keine Ahnung. Er tappte völlig im Dunkeln. Ihn fröstelte.

„Wo liegt denn die Stelle da draußen? Was wolltet ihr dort eigentlich? …Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Erzähl endlich!“

„Ich friere…“

„Ich auch“, knurrte Fernando. „Lass uns draußen weiter reden. Nicht, dass wir hier noch überrascht werden.“

Gleich um die Ecke fanden sie, nahe dem Wasser, eine geschützte Stelle. Nebeneinander an die Mauer gelehnt, saßen Vater und Sohn und wusste nicht so recht, was das alles sollte. Verhalfen die Familienbande nun tatsächlich zu einem absoluten Vertrauen, oder war ein gewisses Misstrauen trotzdem vorhanden und angebracht?

Fernando baute aber auf die Ehrlichkeit seines Sohnes und fuhr fort: „Ihr wolltet also nach Pedro Barba, und auf dem Weg dorthin rastetet ihr am Strand. Wo genau?“

„Der Weg führt dort entlang der Küste, und kurz bevor dieser steil und schroff wird, überquert man den Barranco de los Conejos. Da gibt es einen kleinen einsamen Strand. Wir beschlossen, dort zu schwimmen.“

„Na ja, verständlich, es war heiß und weiter…“

„Nichts weiter!“, brummte Pablo.

„Ach, erzähl doch nichts! Da war noch mehr… Ihr seid übereinander hergefallen, nicht wahr.“

Pablo wand sich. „Also gut, ja, wir hatten Sex. Es ist einfach passiert.“

„Klar, es passiert immer einfach so, du Trottel. Ist dir klar, dass das bei einer Obduktion sowieso herauskommt. – Ich fass es nicht, mein Sohn geht fremd, obwohl er zu Hause eine wunderbare Frau hat. Ist dir noch zu helfen?“

„Es tut mir ja leid. Ich weiß auch nicht was da war. – Die warme Sonne, der einsame Strand…“

„Ja, ja, und eine schöne willige Frau. Ha, wir Männer werden einfach niemals gescheiter. – Und danach, was ist passiert?“

„Wir gingen schwimmen. María hatte aber schnell genug und ging zum Strand zurück. Ich blieb noch eine ganze Weile im Wasser und schwamm hinaus. Als ich endlich zurück ans Ufer watete, war ich ganz in Gedanken und achtete auf nichts. – Und dann fand ich sie.“

„Wie lange warst du draußen?“

„Etwa eine halbe Stunde, vielleicht etwas länger.“

„Und du hast nichts gesehen?“

„Nein, der Strand ist dort etwas erhöht und die Stelle, wo sie lag, ist vom Wasser aus nicht einsehbar“, erklärte Pablo. „Außerdem habe ich nicht darauf geachtet.“

„Aber wenn sich jemand auf dem Küstenpfad genähert hätte, müsstest du das doch bemerkt haben“, zweifelte Fernando.

Pablo überlegte. „Eigentlich schon“, antwortete er. „Aber, wie ich bereits sagte, ich hab‘ einfach nicht darauf geachtet. – Vielleicht kam jemand von den Klippen her, oder den Barranco hinunter. Weiter oben führt auch die Fahrpiste nach Pedro Barba entlang.“

„Gut möglich, überlegte Fernando. „Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass sie einfach gestürzt ist und unglücklich auf einen Stein aufschlug. Trotzdem, die Kopfverletzung scheint mir verdächtig. Es könnte sich auch um einen Mord handeln.“

„Aber warum denn, Papá?“

Ja, wenn er das wüsste, dachte Fernando. Warum sollte sich jemand die Mühe machen, auf eine einsame Insel zu kommen, um in einer abgelegenen Bucht einer Badenixe aufzulauern und diese zu ermorden? Vielleicht war es doch einfach nur ein Unfall. Die Autopsie müsste das klären. Sein Gefühl sagte ihm aber, dass mehr als nur ein unglückliches Stolpern der jungen Frau dahinter steckte. Junge kräftige Menschen fielen nicht einfach um, sie waren meist in der Lage, einen Sturz aufzufangen oder mindestens zu mildern. Viel wahrscheinlicher war, dass diese María von hintern erschlagen wurde. Erneut verfluchte der Comisario die liederliche Art und Weise, wie die Beamten mit dem Tatort umgegangen waren. Es machte wohl wenig Sinn, da hinzufahren. Und trotzdem, er wusste aus Erfahrung, dass die Besichtigung des Ortes ganz unerwartete Hinweise aufdecken konnte.

„Ich muss da hin“, murmelte er und erhob sich.

„Klar“, feixte Pablo. „Es ist ein Fußmarsch von fast einer Stunde. Ein Taxi gibt es auf der Insel wohl kaum.“ Dann wurde er aber unsicher und meinte leise: „Außerdem sollte man mich vielleicht nicht gleich auf offener Straße ertappen.“

„Mach dir keine Sorgen!“, entgegnete Fernando. „Wir marschieren jetzt los! Es ist noch lange vor Mittag, und auf dem Küstenpfad treffen wir höchstens auf ein paar einsame Touristen, die uns nicht kennen und keine Ahnung von dem Geschehenen haben. Nachdem wir den Tatort untersucht haben, trennen wir uns. Du gehst weiter nach Pedro Barba und bleibst dort bis ich dich abhole. Der Ort ist um diese Jahreszeit meist völlig verlassen. Versteck dich dort und warte. Du kannst unmöglich mit der Fähre zurück nach Lanzarote, denn die wird sicher bereits streng kontrolliert.“

„Vielleicht ist aber die Polizei schon dort am Strand, und wir laufen ihr direkt in die Arme.“

„Diese Möglichkeit besteht, aber ich bin mir fast sicher, dass dieser Coronel Martinez und die Guardia Civil sich keine Beine ausreißen werden. Ein einfacher Bericht wird ihnen vorerst genügen. Das dürfte sich aber nach der Autopsie ändern. Bis eine solche vorliegt, werden wohl Tage vergehen. Die Leiche liegt ja immer noch hier im Kühlhaus. Und bei Mord ist dann sowieso die Policía Nacional zuständig.“

Sie erhoben sich, und Pablo blickte auf seinen Vater. Dann lachte er bedrückt: „Papá, mit Jacke und Straßenschuhen siehst du wirklich nicht wie ein Tourist aus. Fehlt nur noch die Krawatte. Lass wenigstens die blöde Jacke hier.“

Fernando entledigte sich des viel zu warmen Kleidungstückes und schob es unter ein, in der Nähe liegendes, umgekehrtes Boot. Prüfend blickte er auf seine schwarzen Schuhe. Die würde er unweigerlich ruinieren, da musste er seinem Sprössling Recht geben. Er war wieder einmal ziemlich planlos aufgebrochen, das hatte er nun davon. Tante Amara würde Himmel und Hölle schimpfen und ihn einen kopflosen Blödmann nennen, der einfach nie lernen würde, auf seine Sachen zu achten. Sie mühte sich Tag und Nacht für ihn ab, damit er anständig daher kam, versorgt war, Kleidung und Essen hatte. Aber eben, Männer waren nun einmal einfach nicht in der Lage, auf sich selber aufzupassen. Fernando konnte das Gezeter schon hören, aber er wusste auch, dass die Tante ein gutes Herz in der Brust hatte, und hinter dem Lamento sich eigentlich bedingungslose Liebe verbarg.

Sie mussten los. Die Sonne stand bereits hoch, und um die Mittagszeit würde sie erbarmungslos auf die Insel niederbrennen. Die vor ihnen liegende Strecke war auch völlig baumlos, sandig, rau und steinig. Links erhob sich ein zweigeteilter, grau-rötlich schimmernder Vulkankegel aus der Wüste, wie wenn er planlos dahin gepflanzt wäre. Die kahle Flanke entlang, etwas oberhalb, führte die einzige Fahrpiste gegen Norden. Rätselhaft, warum sie nicht unten auf der Ebene lag und wofür man sie überhaupt brauchte. Auf der ganzen Insel gab es kaum ein Motorfahrzeug, außer vielleicht ein paar alte Geländewagen. Aber das brauchte sie im Moment nicht zu kümmern. Sie folgten dem Fußpfad, der gewunden und unwegsam der felsigen Küste entlang führte.

Nach kurzer Zeit war Fernando völlig verschwitzt und rang nach Atem. Der stetige Gegenwind blies feinen Sandstaub in die Luft, in die Augen und die Nase. Es erschwerte den beiden Menschen das Vorankommen zusätzlich.

Schwankend blieb Fernando stehen und rief keuchend: „Pablo, verflucht noch Mal, renn doch nicht so!“

Der Junge wartete. „Entschuldige, aber ich dachte, wir sollten uns beeilen.“

„Schon, aber dieser Wind, der bringt mich noch um. – Seid ihr gestern nachmittags auch so hier entlang gelaufen? Das ist doch kein Vergnügen.“

„Ja, doch, aber es war weniger windig, und María wollte unbedingt die Strecke selber erkunden. Sie meinte, dieser romantische, mühsame Weg wäre genau der richtige Auftakt für Menschen, welche die Einsamkeit suchten. Nach ihrer Ankunft in Pedro Barba, müssten sie sich dann weit weg von der Zivilisation fühlen.“

Fernando schüttelte ungläubig den Kopf. „Was habt ihr da denn für einen Unsinn ausgedacht. Der Ort ist, besonders um diese Jahreszeit, doch völlig ausgestorben. Ob da überhaupt noch jemand permanent wohnt, ist fraglich. Nur zur Urlaubszeit, wenn die erschöpften Spanier aus dem brütenden Madrid fliehen, sind die paar Villen belegt. Sonst ist dort nichts. – Warst du eigentlich schon einmal dort?“

„Nein…“, kam es zögerlich.

„Siehst du, da will doch niemand hin. Es gibt nicht einmal ein Restaurant, weder ein simples Café, noch eine Bar. Da ist absolut nichts. Was zum Teufel wollte deine María da?“

Pablo ging langsam weiter und murmelte: „Ich weiß es auch nicht…“

Fernando folgte stolpernd. „Was sagst du? – Bleib doch stehen! Ich versteh‘ nichts.“

„Ich ja auch nicht“, brummte Pablo. „Sie meinte, es wäre eine gute Ergänzung zu unserer Bodega.“

Die Sonne brannte unbarmherzig auf die beiden Wanderer nieder, und Fernando kämpfte gegen ein aufkommendes Schwindelgefühl. Sein Gehirn schien die wirre Situation nur langsam zu verarbeiten. Sein Sohn hatte sich da in etwas verrannt, oder besser gesagt, hatte sich in etwas Dubioses hinein ziehen lassen. Natürlich, die schöne María war dabei ein besonderer Anreiz, und wohl mancher verlor über einer solchen attraktiven Frau seinen gesunden Menschenverstand. Aber was hier geschah, war viel verworrener und sogar gefährlicher, als nur Pablos kopflose Liebelei, welche er natürlich überhaupt nicht gut heißen konnte. Ein Tötungsdelikt war geschehen und Pablo wurde unweigerlich sofort damit in Verbindung gebracht. Sein Sohn war allein mit dem Opfer unterwegs, war am Tatort und konnte nicht erklären, wie das geschehen konnte. Noch war nicht auszuschließen, dass es sich um einen Unfall handelte, aber alles sprach eigentlich dagegen. Diese Frau, das Opfer, er kannte sie nicht und hatte sie noch nie gesehen. Ihre Absichten schienen sehr fragwürdig. Da musste er ansetzen. Er musste wissen, woher sie kam, was sie antrieb. Hatte sie Familie und für wen arbeitete sie? Die Agentur ‘Mytour‘ war ihm flüchtig bekannt, sie arbeitete auch für die Finca Magdalena und brachte Touristen zur Bodega. Diese Wein-Degustations-Touren waren auf Lanzarote sehr beliebt. Es war ein zusätzliches Einkommen des Gutes und steigerte den Verkauf von Wein. Aber was für weitere Absichten hatte diese Firma? Was wollten die auf der Insel La Graciosa? Fragen, über Fragen… Seine Gedanken rasten, und er torkelte halb benommen hinter Pablo her. Plötzlich durchfuhren ihn wirre Zweifel. Kannte er seinen Sohn wirklich so gut? Man nahm einfach an, dass in der eigenen Familie alles zum Besten stand. Seine Erfahrungen hatten ihn aber gelehrt, dass es zu den unglaublichsten Situationen kommen konnte und selbst nahe stehende Menschen von Irrwegen nicht gefeit waren. Dieser junge Mann, in seinem einfachen schwarzen Shirt und kurzer khakifarbener Hose, der da vor ihm voran hastete, sein Sohn, wäre er tatsächlich in der Lage, eine Frau zu ermorden? Sein Innerstes sagte, niemals, aber sein Verstand konnte nicht alle Zweifel vertreiben.

Nach einer qualvollen Dreiviertelstunde tauchte ein klaffender Einschnitt im Gelände vor ihnen auf. Der Barranco war nicht sehr tief aber karg und staubtrocken. Er schien aus dem Nichts oberhalb der Küste zu kommen und endete in einer kleinen Sandbucht. Nur schwer konnte man sich einen Bach oder auch nur ein Rinnsal darin vorstellen. Da lagen bizarre Steine, Geröll und ein kleiner abschüssiger Strand. Das Wasser rauschte in kurzen Wellen heran. Es war offensichtlich Flut und der Strand entsprechend winzig. War dieses wirklich der Tatort?

Sie verließen den Weg und stiegen über ein paar Stufen hinunter. Pablo ging zögernd bis zum Wasser und blieb stehen. Blicklos starrte er in die Ferne, bis Fernando durch den Sand zu ihm hin stapfte.

„Ist das der Ort?“, brummte er.

„Klar“, kam die Antwort nichtssagend.

Fernando blickte um sich. Bizarre schwarze Felsen begrenzten den Strand auf beiden Seiten, und einige Brocken ragten schroff aus dem Wasser. Gut möglich, dass vom Wasser aus die Bucht nicht völlig überblickt werden konnte. Es könnte sich sogar jemand in den Felsen versteckt haben und im richtigen Augenblick zugeschlagen haben, ohne dass er bemerkt worden wäre. Ein Schwimmer hätte draußen wohl genug mit den Wellen zu schaffen, als dass er dauernd den Strand hätte beobachten können. In dieser Hinsicht dürfte Pablo die Wahrheit sagen. Nur, wer um alles in der Welt, sollte ihnen hier auflauern, um die Frau umzubringen?

„Pablo, komm endlich und zeig mir, wo sie lag!“, fuhr er seinen Sohn an. Sofort tadelte er sich für seine Grobheit. Für den Jungen musste der Ort ein wahrer Albtraum sein. Auch wenn die Frau vielleicht nur eine flüchtige Bekanntschaft war, er hatte sie hier tot aufgefunden. Das ging an niemandem spurlos vorbei.

„Komm bitte, zeig mir die Stelle!“, sagte er versöhnlich.

Pablo drehte sich um. „Dort, etwas weiter oben“, sagte er leise. „Ich sah sie erst, als ich durch den Sand herankam. Es war Ebbe, und der Strand war viel grösser als jetzt.“

Sie erreichten die Stelle, nur um festzustellen, dass Fernandos Befürchtungen völlig berechtigt gewesen waren. Der Sand war von Spuren übersät, wie wenn tausend Elefanten eine wilde Party gefeiert hätten. Hier war nichts mehr zu wollen. Weder die Position der Leiche, noch woher der Angreifer kam, waren auszumachen.

„Sie lag quer zum Strand neben dem Badetuch. Auf dem Rücken und die Beine in Richtung Sebo. Erst als ich näherkam, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Und dann sah ich den Kopf, voller Blut.“

„Da ist nichts mehr zu sehen“, brummte Fernando enttäuscht und blickte weiter um sich. „Die Tatwaffe müsste doch hier irgendwo liegen. – Oder haben die Beamten diese bereits gefunden?“

„Davon weiß ich nichts. Ich war ja nicht mehr dabei, als sie hier waren.“

Fernando fuhr hoch. „Wie das? Du bist weggelaufen?“

„Ich musste Hilfe holen, aber der Handy-Empfang war hier unten nicht möglich. Ich musste zurück nach Sebo.“

„Warum sagst du das denn nicht gleich? Du warst also nicht am Tatort, als die Polizisten eintrafen.“

„Nein, als der Notruf endlich ging, war ich kurz vor Sebo und man sagte mir, ich solle mich bei der Polizeistation dort melden. Das habe ich dann auch getan. Sargento Moreno bat mich dann später, zu bleiben. Die Ermittler würden mit mir reden wollen.“

„Na ja, den Rest wissen wir. Der Blödmann Moreno und seine Leute haben die Leiche geborgen, den ganzen Tatort abgeräumt und auch gleich total verwüstet.“

Hoffnungslos blickten sich die Beiden um. Der Ort, die Bucht und der Strand, bildeten einen solch harmonischen Eindruck, dass man sich einfach nicht vorstellen konnte, dass hier ein Verbrechen begangen sein sollte. Diese Abgeschiedenheit, die Sonne am strahlenden Himmel, der weiße Strand, die schwarzen Felsen, das rauschende Meer und der Blick hinüber zur nahen Insel Lanzarote, das alles passte perfekt in die Glanzseiten eines noblen Ferienprospektes. – Dennoch, für Fernando war der Ort viel zu einsam, zu mühsam zu erreichen, ja irgendwie auch seltsam irreal. Er seufzte, na ja, die Jungen sahen das wohl anders.

„Lass uns trotzdem etwas weiter umsehen“, befahl der Comisario, „besonders den Barranco hoch! Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Täter die Tatwaffe, höchstwahrscheinlich ein schwerer Stein, lange mit sich geschleppt hat. Er konnte ihn aber schlecht ins Wasser werfen, denn dann wäre er dir direkt in die Arme gelaufen. Am Tatort liegen lassen, das wäre möglich, aber dann hätten ihn die Beamten ja schon gefunden. Spuren daran könnten dich entlasten.“

Pablo horchte auf. Sein Vater hatte Recht, wenn sie die Tatwaffe finden würden, dann wären darauf Spuren, vielleicht sogar Fingerabdrücke… Dann erlosch seine Hoffnung aber wie ein verglimmendes Streichholz. Sie hatten das Offensichtliche vergessen. Was, wenn der Täter sich einfach hinter einem Felsen versteckt hatte und abwartete, bis er davoneilte, um Hilfe zu holen? Tatsächlich war er ja panikartig davongerannt und hatte sich kein einziges Mal umgesehen. Der Täter hätte dann alle Zeit der Welt gehabt, den Stein ins Meer zu werfen und sich, in aller Seelenruhe, aus dem Staub zu machen. Es war wie verhext, die gleiche Geschichte konnte man auch auf ihn selber anwenden, bevor er sich per Notruf meldete.

„Papá, es ist hoffnungslos“, haderte Pablo. „Der Schuft konnte sich doch Zeit lassen, bis ich weg war.“

„Natürlich, daran habe auch ich gedacht. Aber wir suchen trotzdem weiter. Wir kennen das von vielen früheren Ermittlungen. Man glaubt eigentlich, weitere Maßnahmen seien sinnlos, und trotzdem machen wir weiter. Oft werden wir überrascht und staunen, ob der Wendungen, die so ein Fall nehmen kann.“

Sie kletterten die schroffe Böschung hoch, überquerten den Küstenpfad und drangen den Barranco hoch. Sie suchten links und rechts und achteten auf jeden Stein. Viele waren schlicht zu klein, dann aber auch wieder viel zu groß, um diesen auch nur ein paar Meter mitzuschleppen. Das weglose Gelände war kräftezehrend und Fernando fürchtete um seine Schuhe. Keuchend blieb er stehen und rief: „Es ist zwecklos! Komm zurück!“

Was zum Teufel hatte er sich dabei gedacht, schalt sich Fernando. Das war ja wie Steine in einer Wüste suchen. So ein Blödsinn, der ganze Ausflug zu diesem Strand war völlig unüberlegt und dazu noch äußerst mühsam. Er, der Ex-Comisario, hätte es besser wissen müssen, bevor er sich auch noch die schönen Schuhe ruiniert hatte.

Auf dem Küstenpfad angekommen, brachen sie in unkontrollierbares Gelächter aus. Was für Blödmänner waren sie doch beide, glaubten sie im Ernst daran, hier die Lösung zu finden. Es wurde Zeit, weiterzudenken und die nächsten Schritte etwas besser zu planen.

Fernando fasste sich als Erster und stammelte: „Also, …mein Sohn, …ich denke nach Pedro Barba ist es nicht mehr weit. Bleib dort und warte auf mich. Ich nehme die nächste Fähre hinüber nach Órzola und hol‘ dich morgen früh mit einem Boot ab. Behalte die Anlegestelle im Auge.“

„Ich möchte aber mit dir zurück. Wenn sie mich dort finden, dann bin ich geliefert“, protestierte Pablo.

„Ich glaube kaum, dass die soweit kommen, das ist denen viel zu mühsam, und einen Geländewagen würdest du ja schon von weitem hören. – Also, Kopf hoch, ich komme so schnell ich kann.“

Damit wandte er sich ab, winkte flüchtig zum Abschied und stapfte zurück Richtung Sebo. Kaum hatte er ein paar Schritte gemacht, stoppte er abrupt und blinzelte gegen das Licht der hoch stehenden Sonne. Da war ein kurzes Aufblitzen am Wegrand. Wieder einer dieser schlampigen Touristen, die ihre Getränkedosen achtlos wegwarfen, fuhr es ihm durch den Kopf. Ungehalten trat er dagegen, zuckte aber zusammen, als er den Gegenstand genauer erkannte. Er bückte sich und sah genauer hin. Da lag ein silberner Anhänger mit einem Schlüssel daran.

Fernando blickte zurück und sah seinen Sohn hinter den Felsen des Küstenweges verschwinden. Blitzartig fasste er einen Entschluss und drehte sich um.

Kapitel 3

Ingrid stand in der Küche und richtete ein großes Tablett mit Käsehäppchen und Weißbrot. Sie hatte keine Eile, denn die Ankunft der Gäste war auf zehn Uhr heute Vormittag angesagt. Alles war bereit und drüben, im Gästeraum, war Carmen und schaffte Ordnung. Die junge Spanierin war ihr eine große Hilfe, denn ihre temperamentvolle Art, die wohlklingende Sprache und ihr perlendes Lachen, kamen bei den Gästen immer gut an.

Die ‘Bodega Magdalena‘, so bezeichnete ein Schild den neu angebauten Degustations-Raum, war ein Juwel geworden. Sie hatten Wert darauf gelegt, dass der Raum und die Einrichtung einen alten spanischen Charakter bekamen. Die Decke stützten schwere dunkle Balken, und die Wände waren weiß getüncht. Auf der linken Seite befand sich eine lange Theke mit glänzender Platte und Fußrasten aus geschmiedetem Eisen. Die Hocker waren eher einfach gehalten. Ingrid hatte aber darauf bestanden, dass auch ein großer schwerer Tisch mit traditionellen spanischen Vintage-Stühlen in der Mitte platziert wurde. Darüber hing ein ausladender glitzernder Kristall-Leuchter, dessen Kerzenlampen einen warmen Schein in den ansonsten etwas düsteren Raum warfen. Tisch und Leuchter hatte sie, entgegen der Meinung der einheimischen Mitgestalter, durchgesetzt. Trotz der lokalen Gepflogenheit, ein Gläschen schnell an der Theke zu trinken, glaubte sie nämlich, dass besonders ausländische Touristen sich gerne niederlassen, gemütlich in der Runde sitzen und die offerierten Häppchen und Weine genießen würden. Der Erfolg gab ihr Recht. Längst war die Tafel der Finca Magdalena bekannt, und gerne saß man da gemütlich zusammen, probierte den köstlichen Malvasía, verweilte länger und bestellte danach ein paar Flaschen mehr als geplant. Auch größere Anlässe wurden hier in letzter Zeit gefeiert. Ingrid freute sich an diesem Erfolg.

Das Weingut Magdalena hatte sich in den drei Jahren hervorragend entwickelt. Die Weinberge waren bestens gepflegt, und der Önologe Juan produzierte Weine von hervorragender Qualität. Sie konnten also wirklich zufrieden sein. Sie und Pablo hatten sich mit großer Leidenschaft dieser Aufgabe gewidmet, und wenn sie auch nicht zu den großen Winzern auf Lanzarote gehörten, so war die Marke ‘La Lena‘ bereits bekannt und konnte sich, neben ‘El Grifo‘, ‘Vega de Yuco‘ oder ‘Los Bermejos‘, durchaus sehen lassen. Juan Alvarez war ein Könner seines Faches und experimentierte auch mit Neuheiten, denn die etwas einseitige Ausrichtung der Insel Lanzarote auf die Malvasía-Weine fand er nicht mehr ganz zeitgemäß.

Hinter dem Gastlokal hatten sie ein kleines Museum aufgebaut. Es präsentierte Geräte und Utensilien für die traditionelle Weinherstellung. Das absolute Prunkstück war die alte Presse, deren schwerer Balken durch ein Loch in den Hof hinaus ragte und dort durch eine grobe, rostige Spindel mit einem riesigen Felsblock als Gegengewicht verbunden war. Es war Pablos ganzer Stolz, auch wenn sich niemand richtig vorstellen konnte, wie da früher mit diesem Monstrum Trauben gepresst wurden.

Pablo, ja, wo steckte der Mann denn? Seit gestern hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Dass er die Nacht wegblieb, war nicht ganz ungewöhnlich. Er blieb öfter mal bei seinem Vater unten in Tías, besonders dann, wenn sie dort dem Wein etwas gar viel zugesprochen hatten. Es war aber schon ungewöhnlich, dass er sich nicht wenigstens gemeldet hatte. Normalerweise rief er immer an.

Ingrid verwarf die aufkommenden Gedanken, strich sich das blonde Haar zurück, ergriff das Tablett und machte sich auf den Weg zur Bodega. Die paar Schritte um die Ecke ging sie rasch und beschwingt. Es war Sonntag, und sie trug schlichte schwarze Hosen mit einer weißen Bluse, was ihre schlanke Gestalt hervorragend betonte. Etwas gar elegant, dachte sie, aber sie konnte der lockeren Art, wie sich manchmal Touristen kleideten, nichts abgewinnen. Oft kamen die daher, wie wenn sie am Strand wären, richtig schludrig, halb nackt und reichlich unanständig. Das waren dann auch nicht die guten Kunden, die tranken was sie gratis haben konnten, waren laut und kauften meist nichts. Heute erwartete sie aber eine Gruppe vom Hotel Fariones, eine der besten Adressen auf der Insel.

Aus dem Bus stieg eine fröhliche Schar, eher ältere Menschen mit erwartungsvollen Mienen und unter lebhaftem Geplauder. Zielstrebig steuerten alle dem Eingang zu und wurden dort von Carmen herzlich begrüßt. Die Letztere trug ein luftiges schwarzrotes Kleid, welches ihr spanisches Temperament demonstrativ unterstrich. Ihr ¡Hola, bienvenido! klang den Gästen fröhlich entgegen und begleitete sie ins Innere, in Richtung Museum.

Ingrid hatte das Tablett auf der Theke bereitgestellt und floh wieder ins Freie. Die Führung überließ sie gerne ihrer Mitarbeiterin, denn das dauernde Lächeln und die belanglosen Höflichkeiten waren nicht so ihre Sache. Sie beobachtete, etwas abseits, wie der Fahrer des Busses mit einem Mann in buntem Hemd sprach und zustimmend nickte. Sie folgerte, dass es sich um den Reiseleiter handelte und die Beiden die Rückfahrt zum Hotel besprachen.

Sie trat näher und grüßte: „Buenos días Señores.“

Der Mann fuhr erschrocken herum. „¡Hola!“, entfuhr es ihm.

„Entschuldigen Sie…“, entgegnete Ingrid verlegen. „Ich wollte Sie nicht erschrecken.“

Der Reiseleiter, ein Schildchen am Kragen wies ihn definitiv aus, grinste erleichtert. „Ist ja nichts geschehen. – Aber, Sie sprechen ja Deutsch.“

„Alemán …Deutsch, ja natürlich. Ja. – Sie aber auch.“

Das Grinsen wurde breiter. „Ich nehme an, Sie sind die Dame des Hauses, der ‘Bodega Magdalena‘. Vielen Dank, dass wir mit unserer Gruppe herkommen durften. – Ach, entschuldigen Sie bitte, mein Name ist Anton Ritter, aus Deutschland. Nennen Sie mich einfach ‘Toni‘. – Sie heißen nicht zufällig Magdalena?“

Nun lachte Ingrid herzlich. „Oh nein, ich bin die Ingrid, aus Hamburg.“

„Ich freue mich sehr, ihre Bekanntschaft zu machen, liebe Ingrid. Es scheint, halb Deutschland ist nach Lanzarote gekommen und geblieben. Sind Sie schon lange auf der Insel?“

„Ein paar Jahre“, entgegnete Ingrid ausweichend. „Aber bitte, kommen Sie doch herein. Ein Gläschen könnte Ihnen die Wartezeit etwas verkürzen. Es kann dauern, bis die ganze Gesellschaft alles gesehen hat, und die anschließende Degustation dürfte sich ebenfalls hinziehen. Ihr Freund ist natürlich auch eingeladen.“

„Achmed, unser Fahrer. Er ist Marokkaner und Moslem. Er trinkt keinen Alkohol. – Ist auch besser so, er fährt ja.“