FUEGO - Peter Greminger - E-Book

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Peter Greminger

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Beschreibung

Lanzarote, die Insel am westlichen Rand der afrikanischen Platte, explodiert gegen Ende dieses Jahrhunderts, und alles Leben wird mit einem Schlag ausgelöscht. Die Feuerberge der östlichsten Kanareninsel speien Feuer, Asche und Lava, und bringen das Wasser des Atlantiks zum kochen. Nur eine kleine Gruppe Konzertbesucher überlebt, eingeschlossen im unterirdischen Konzertsaal der Grotte Jameos del Agua. Der Überlebenskampf der illustren Gesellschaft nimmt groteske Formen an. Totale Resignation, letztes Aufbäumen und Wahnsinn sind Eigenschaften des menschlichen Charakters, sie treten jetzt hemmungslos zu Tage. Sie führen direkt in die Hölle. Einzig ein vorerst getrenntes Paar bewahrt sich die Menschlichkeit und findet kraft ihrer Liebe einen Ausweg. Können sie, die Schwachen und Träumenden, das Unheil tatsächlich noch abwenden oder siegen die teuflischen Mächte?

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Über den Autor

Für Peter Greminger war Reisen immer eine besondere Herausforderung. Er verbrachte den größten Teil seines Lebens im südostasiatischen Raum, wo er lange beruflich tätig war. Schon damals hielt er seine Erlebnisse oft in Reiseberichten und Kurzgeschichten fest.

Nach Abschluss seiner Tätigkeit verbrachte der Autor zwei Jahre in Neuseeland, wo vier Romane über das Land der Kiwis entstanden: „Pakeha“ (Fremde in Neuseeland), „Tangiwai“ (Weinendes Wasser), „Paua“ (Meerohrschnecken) und „Kahurangi“ (Grüner Stein). Ein weiteres Buch „Sunda“ erzählt eine spannende Geschichte aus Indonesien.

Der vorliegende Roman entstand dann auf der Insel Lanzarote wohin er mit seiner Frau oft dem Winter entfloh. Die bizarre Landschaft und die oft groteske Lebensweise der vielen Touristen veranlassten ihn, diese futuristische Geschichte mit viel gedankenvollem Inhalt zu schreiben.

Peter Greminger

Ausschnitt aus den handgeschriebenen Aufzeichnungen des damaligen Pfarrers von Yaiza auf Lanzarote:

Am 1. September 1730, zwischen 9 und 10 Uhr abends, öffnete sich plötzlich die Erde bei Timanfaya, zwei Wegstunden von Yaiza. Ein gewaltiger Berg bildete sich bereits in der ersten Nacht, und Flammen schossen aus seinem Gipfel, die 19 Tage lang weiter brannten…

Andrés Lorenzo Curbelo

ROMAN

Ende des 21sten Jahrhunderts gerät die Welt aus den Fugen, und das Gebaren der Menschen offenbart sich schrecklich.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 1

Grelle Blitze schossen in den violett leuchtenden Himmel. Das Donnern klang wie ein Gebrüll aus dem Innersten, dem Schlund der Welt. Riesige glühende Brocken fuhren in die Höhe, wie wenn sie das endgültige Feuerwerk der Apokalypse veranstalten wollten. Sie fielen herunter in die aufgerissene Erde, wir Bomben, die ihre eigenen Krater nochmals und nochmals aufreißen wollten.

Mitten aus der brodelnden, kreischenden Glut stieg ein schwarzes Ungeheuer. Es stemmte sich hoch, schüttelte die hageren Schultern und spuckte Feuer und Asche in die Nacht hinaus. Für eine Weile hielt es inne und blickte mit Augen, die wie Phosphor glühten, in die Höhe.

„Diabólico infierno degenerado!“, brüllte es aus dem zerrissenen Mund.

Erneut: „Diabólico!“

Ein weiteres Mal: „Diabólico!“

Ein glühender Fünfzack erschien in seiner Hand und zeigte drohend in die Höhe. Ein Knall. Mit einem gewaltigen Satz schwang sich das Ungeheuer auf den Feuerrand. Sein rauchend schwelender Schwanz peitschte in die schweflige Luft. Es blickte in die Runde und grinste zufrieden. Die Welt war explodiert, zerstört und Nichts blieb übrig. Die Insel brodelte, glühende Ströme schoben sich unaufhaltsam in das kochende Meer. Es zischte und schäumte. Beißender Rauch, Asche und Dampf schossen in die Höhe und verdeckten den Himmel. Die Sterne erloschen, und der Mond versank in den schwarz wallenden Wolken.

„Lanzarote!“, schrie das Ungeheuer. „Endlich bist du mein, du Ort meiner höllischen Begierde und Macht. Ich, El Diablo, ich beherrsche dich. Dein Untergang, dein Tod ist mein.“

Damit sprang er in die höllische Flut aus Feuer und Lava, hüpfte von Krater zu Krater und ließ die glühenden Felsen fliegen wie Kiesel in einen brodelnden Teich. Er sprang auf den höchsten der Vulkane, kratzte sich zwischen den Hörnern und verfolgte zufrieden den Untergang seiner Insel, die einmal ein Paradies war.

Kapitel 2

„Die Vögel!“, flüsterte Morena verstört. „Sie fliegen hinaus aufs Meer?“ Sie setzte sich auf und blickte in die Ferne. Kein Lüftchen wehte, und es herrschte eine Stille wie in einer großen Kirche. Ihre grünen Augen schimmerten trübe und sie hielt sich die Hand darüber, um das gleißende Sonnenlicht abzudecken. Selbst unter dem Schutzdach war es unerträglich heiß. Sie hatte sich schon in eine schützende Kühldecke gewickelt, aber deren Wirkung hielt nicht lange. Die weiße Haut glühte und verlangte nach Abkühlung im Wasser. Sie warf die Decke von sich und war mit wenigen Schritten am Rand des Beckens. Ihr makelloser Körper glänzte von der schützenden UV-Salbe. Eigentlich verabscheute Morena die schmierige Substanz, aber es war Pflicht, sich vor den aggressiven Strahlen zu schützen.

Sovero Roj blickte ihr nach und dachte, dass sie trotz ihrer achtundvierzig Jahre immer noch wunderschön und jugendlich wirkte. Früher, da hatten sich die Mädchen in der Sonne geaalt, bis sie braun wie Ebenholz waren, aber heutzutage galt die hellhäutige Nixe als genauso verführerisch.

„Vorsichtig, meine Liebe!“, rief er warnend. „Der Kälteschock!“ Das Wasser im Pool war auf fünfundzwanzig Grad gekühlt, und wenn man da zu schnell hineinsprang, konnte das zum Herzstillstand führen. Roj sah zu, wie sie langsam ins grünblaue Wasser glitt und sich treiben ließ. Er selber war zu träge, um ihr zu folgen. Er genoss die Ruhe in der Anlage. Seine große Gestalt wirkte etwas unbeholfen, aber wer ihn näher kannte wusste, dass viel Energie in seinen sehnigen Muskeln steckte. Sein Haar war schon früh ergraut. Die hellblauen Augen passten hervorragend zu seiner ruhigen Erscheinung.

Sie ließ sich auf dem Rücken treiben. Richtiges Schwimmen war sowieso nicht möglich, da die Größe des Beckens gesetzlich limitiert war und deshalb kaum sechs Meter betrug. Man sparte so Wasser und Energie zur Kühlung. Sie zeigte nochmals aufgeregt in den Himmel und rief: „Roj, schau doch, die fliegen alle aufs Meer hinaus. Was sind denn das für schwarze Vögel?“

„Woher soll ich das wissen?“, brummte der Mann. „Ich bin kein Ornithologe, sondern Ingenieur. Die Tiere haben doch alle ihre eigenen Marotten. Es schein, die wollen alle hinüber nach Afrika.“

Es war schon außergewöhnlich wie dieser Schwarm davonzog, aber was kümmerte ihn das. Sie verbrachten endlich einmal einen wohlverdienten Urlaub. Trotz der Hitze war es hier auf Lanzarote noch angenehm, denn oft wehte ein Wind und verschaffte so etwas Kühlung. Das Schönste aber war, dass man hier so herrlich ungestört sein konnte. Früher wimmelte es hier an den Stränden und Promenaden von Touristen und Sonnenanbetern. Heute lagen die meisten Anlagen wie ausgestorben und verfielen, denn die Leute bevorzugten die kühleren Ziele, wie Skandinavien, Schottland und sogar Sibirien. Seit die Erderwärmung derart rapide fortschritt, fuhren die Wenigsten in den Süden an die Sonne. So waren die Kanaren ein Typ für Ruhesuchende und Nostalgiker geworden. Sie beide hatten keine Stunde bereut, diese Reise angetreten zu haben.

Das kleine Hotel Fayna lag unmittelbar an der einsamen Bucht, etwas außerhalb von Puerto Calero, wo immer noch die vielen teuren Yachten lagen. Der Anstieg des Meeresspiegels, wie er vor Jahrzehnten vorausgesagt worden war, war fast gänzlich ausgeblieben. Die Gletscher schmolzen wohl immer schneller weg, aber nach neuesten Erkenntnissen verflüchtigte sich bei der Wärme auch viel Wasser in die Luft und dann als Microeiskristalle in die Weite des Universums. Die Buchten präsentierten sich also wie eh und je, nur war das Schwimmen nicht mehr ratsam, da der hohe Salzgehalt des Wassers gefährlich war. Ein einziger unbeabsichtigter Schluck konnte bereits tödlich sein. Die Erde hatte damit weit mehr ein Problem mit Austrocknung und Dürre, als mit Überflutungen. Roj war sich bewusst, dass die riesigen Meerwasserentsalzungsanlagen für die Trinkwasserversorgung durchaus reichten, aber auch, dass diese Unmengen an Energie verbrauchten. In seinem Job im Forschungsinstitut MAR in Basel, suchten sie fieberhaft nach einem Verfahren, welches diesen Teufelskreislauf durchbrechen könnte.

Seine Gedanken wurden durch Morena unterbrochen, als diese aus dem Pool kletterte und zu ihm in den Schatten flüchtete. Sie griff nach ihrem Transcom und sprach leise darauf ein.

„Was machst du da?“, verlangte Roj zu wissen. „Du weißt doch, dass diese Strahlungen schädlich sind.“

„Nur ganz kurz“, winkte sie ab. „Ich bestell unser Abendessen. Es gibt Huhn in Koriander mit Karottenmus. - Ist das ok?“

„Ja, gut, und dazu einen trockenen Malvasia aus Polen. Das ist ausgezeichnet.“

Sie legte das Transcom hin und küsste Roj. „Ich freue mich auf einen schönen Abend. „Danach fahren wir zum Konzert.“

Im Speisesaal traf sich eine illustre Gesellschaft, Männer und Frauen aller Rassen und Altersklassen. Kinder sah man keine. Es war zwar nicht verboten, seine Sprösslinge mit auf die Inseln zu nehmen, aber es war genauso deplatziert. Man wollte die Kinder nicht der Sonne und der Hitze aussetzen und ließ sie besser zu Hause, wo sie unter der Obhut von Nannies bestens versorgt wurden. Über diese Ordnung regte sich Morena öfters auf, denn sie verstand nicht, wie man so selbstsüchtig sein konnte. Wenn sie selber Kinder hätte, dann würde man an die kühle Ostsee fahren oder zu Hause bleiben. Allerdings wurde ihr der Wunsch nach eigenen Kindern nie erfüllt, und jetzt war es wohl zu spät. Sie war mit diesem Problem aber nicht allein, denn seit einigen Jahrzehnten nahm die Zeugungskraft der Männer, wie auch die Fruchtbarkeit der Frauen stetig ab. Längst war das nicht nur in Europa der Fall, sondern auch in Asien und Afrika. In den südlichen Kontinenten war dies eher eine Notwendigkeit, denn einen weiteren Anstieg der Bevölkerung konnten diese Länder nicht mehr verkraften. Dort verhalfen deshalb Verhütungsmittel, welche tonnenweise verteilt wurden, zum Rückgang des Kindersegens. Ein leiser, schmerzhafter Stich im Herzen traf aber Morena immer noch, wenn sie an ihre eigene Kinderlosigkeit dachte.

Der lange Tisch stand in der Mitte eines großen Raumes mit riesigen Aussichtsfenstern, durch welche einen Moment lang das herrliche Farbenspiel der einsetzenden Dämmerung zu bewundern war. Das Meer wechselte rasch die Farbe von hellem Silber zu schwerem Blei bis es dann pechschwarz die geheimnisvollen Tiefen erahnen ließ. Die Dunkelheit brach rasch herein, aber im Saal erstrahlten automatisch die Leuchten über dem Tisch. Im Hintergrund waren die Takte eines spanischen Liebesliedes zu hören.

Morena trug ein hautenges, schillerndes grünes Kleid, keinen Schmuck und nur sehr wenig Makeup. Auch die anderen Frauen hatten sich in zauberhafte luftige Kleider gehüllt. Die meisten ließen sehr viel freie Haut sehen, was tagsüber ja kaum möglich war. Die Männer gefielen sich in einem Standard-Outfit von dunkler Hose und schneeweißem Oberhemd mit weiten Ärmeln. Die letzteren erinnerten etwas an Figuren aus den alten Märchen. Auf jeden Fall herrschte eine durchaus elegante Stimmung.

Etwa zwei Dutzend Personen gruppierten sich um den Tisch, Paare und Einzelgänger setzten sich an die bezeichneten Plätze. Damit der programmierte Servrobot die Speisen richtig verteilen konnte, war es wichtig, sich an die Sitzordnung zu halten.

„Ach, wie schön war’s doch damals, als man den Wein noch kosten und sich über seine Qualität und Reife mit dem Kellner anlegen durfte“, brummte ein älterer Herr gegenüber von Morena und nahm einen kräftigen Zug aus dem Kelch.

„Der hier ist aber hervorragend“, sagte Morena und nippte am Glas. - Wie war doch ihr Name? - Herr…“

„Ferguson, meine Verehrte“, antwortete er charmant. „Ariel Ferguson, Dozent der Naturwissenschaften in Berlin, jetzt allerdings im Ruhestand. Ich verbringe hier meine Zeit und fröne meinem Hobby. Sie sind neu?“

Morena nickte. „Ja, mein Mann und ich sind gestern angekommen. Wir wollen drei Wochen Urlaub verbringen. Es ist herrlich hier, wenn auch etwas heiß. Das Klima wird immer schlimmer.“

„Da kann ich ihnen nur beipflichten, und das hat natürlich Auswirkungen auf die Fauna und die Flora dieser Insel. Schon früher war es für Pflanzen schwierig mit dem wenigen Wasser. Heute verdorren bald die letzten Halme. Man müsste unbedingt viel mehr Bewässerungsanlagen installieren. Aber was langweile ich Sie da mit meinen Überlegungen…“

„Nein, nein, Herr Professor, Sie langweilen mich überhaupt nicht. Glauben Sie, dass auf Lanzarote mit der Zeit alles ausstirbt?“

Sie wurden unterbrochen durch den Arm des Servrobot, der einen Teller auf den Tisch schob. Das Essen sah verführerisch aus, herrlich garniert mit allerlei Kräutern.

„Bitte meine Liebe“, sagte der Professor. „Genießen Sie das Essen, so schnell geht Lanzarote nicht unter. - Guten Appetit!“

„Danke!“

Roj beugte sich zu ihr und wünschte: „Ebenfalls guten Appetit, das war tatsächlich eine hervorragende Wahl.“

Sein Nachbar links nickte und machte sich ebenfalls über das Essen her. Es war ein Schwarzer, was das blütenweiße Hemd entsprechend unterstrich. Er blickte hinüber und lächelte. Das Weiße der Augen funkelte wie zwei Lichter.

„Ihre Frau Gemahlin ist eine Augenweide“, sagte er leise zu Roj. „Sie sind ein Glückspilz.“

„Ja, wir sind auch glücklich“, versicherte Roj und drückte Morenas Arm. „Ich denke, das trifft auch auf Sie und ihre reizende Gemahlin zu.“

Der Schwarze lachte. „Aber sicher. Darf ich vorstellen, mein Name ist Mohammed Achmed Arubani Onyemaechi. Aber nennen Sie mich einfach Bani. Und das ist meine Assistentin Nahla.“

Die Frau lächelte. Sie war eine Schönheit, so wie sie oft schwarze Frauen ausstrahlen.

„Freut mich“, kam die übliche Antwort. „Ich bin Roj und das ist meine Frau Morena. - Was machen Sie denn hier auf dieser sinkenden Insel?“

„Ha! Sinkende Insel, das ist gut. Ich versuche hier meine letzten Besitztümer zu retten. Wir hatten einmal ein erstklassiges Modegeschäft, aber es ist nicht mehr viel übrig. Wir hätten uns die Reise sparen können. In Senegal haben wir jetzt aber eine hervorragende Zukunft. Das Land macht enorme Fortschritte, und in ein paar Jahren werden wir dort die Nummer Eins im Modesektor sein.“

„Das freut mich für Sie…“

„Oh! Ein Modezar!“, mischte sich von gegenüber eine Dame mit schriller Stimme ein. „Wie aufregend! - Sagen Sie, verraten Sie mir, was die neue Sommerkollektion bringt?“

Die Frau, um die sechzig, war auffallend extravagant gekleidet. Rote glänzende Seide wollte irgendwie nicht zu dem bleich gepuderten Gesicht passen. Eine lange Kette von Perlen hing über ihrer flachen Brust, und das Haar war eindeutig zu hell gefärbt.

„Ich kleide mich gerne modebewusst, nicht war Timothy. - So sag doch etwas!“

„Ja, ja“, brummte der unscheinbare Mann neben ihr.

Bani lächelte und sagte: „Sie sehen bezaubernd aus Madame, und ich bin überzeugt, dass Sie als Erste dem neuen Trend des Sommers folgen werden.“

Sie strahlte wie ein Schulmädchen. „Danke, vielen Dank für das Kompliment. Es gibt einfach immer noch Gentlemen mit ausgezeichnetem Geschmack.“

„Lass das!“, knurrte nun ihr Gatte. „Immer diese Übertreibungen. Der Herr ist einfach nur höflich zu dir.“

Sie hob die Hand und winkte energisch ab. Die Geste sah aus, wie wenn sie ihn schlagen wollte. „Du Miesmacher, du verstehst doch überhaupt nichts. Du verdirbst immer jede Stimmung.“

„Ja, ja, ja…“

Sie erhob sich und keifte: „Komm schon! Wir gehen! Ich halte das nicht mehr aus.“

Damit rauschte sie aus dem Saal und hinterließ eine Fahne von teurem Parfüm. Der Mann folgte zögernd.

Neben den leer gewordenen Plätzen beugte sich ein junger Mann über den Tisch und wandte sich an den Modemann: „Gestatten Sie, wie ich höre, besitzen Sie immer noch Guthaben auf Lanzarote. - Mein Name ist Beneton, James Beneton, von der Lloyd & Henson Bank of London. Darf ich fragen, mit welchem Geldinstitut der Insel Sie in Verbindung stehen. Nach unseren Informationen sind die meisten spanischen Banken hier doch geschlossen worden.“

Selbst in diesem blütenweißen Hemd konnte man den Banker erahnen. Schon immer hatten sie eine Art Aura des Geldes um sich. Auch jetzt, wo der Handel praktisch nur noch elektronisch erfolgte, war das immer noch genauso spürbar. Das glatt rasierte Gesicht und die suchenden Augen verrieten ihn. Ein typischer Engländer mit zurückgekämmtem blondem Haar und einem zu klein geratenen Mund.

Als der Angesprochene nicht sofort reagierte, sagte er schnell: „Entschuldigen Sie, ich wollte nicht aufdringlich sein, aber ich bin von unserem Stammhaus beauftragt, die letzten Verbindungen hier zu analysieren.“

„Da ist wohl nicht mehr viel zu analysieren“, lachte Bani gutmütig.

„Sie wollen doch nicht sagen, dass unsere Chipins auf einmal nicht mehr gültig sind?“, warf Morena leicht besorgt ein.

„Ach wo!“, lachte Roj. „Die Herren meinen natürlich, dass die Zeit der großen Geschäfte hier vorbei ist. Unser kleine Beitrag an die hiesige Wirtschaft ist sicher nicht gefährdet.“

Das Bargeld von damals war längst durch programmierte Chipins abgelöst worden. Eine Zeit lang waren Kreditkarten das gängige Zahlungsmittel, bis diese dann immer weniger sicher wurden und die Delikte drastisch zunahmen. Der ganze elektronische Daten- und Zahlungsverkehr brach in den Fünfzigerjahren völlig zusammen und musste durch neue Systeme ersetzt werden. Bezahlt wird nun mit einem implantierten Chip, der ein Leben lang gültig bleibt.

„Dann bin ich beruhigt, wollte ich doch morgens am Puerto das Geschäft mit den tollen Kleidern besuchen. - Ist das vielleicht eines der ihren, Mr. Bani?“

„Ja, das ist es“, sagte Bani. „Es wird aber demnächst ebenfalls geschlossen. - Das war’s dann.“

Morena wand sich. „Schade, da gab es doch herrliche luftige Abendkleider, aber was soll’s, wir bleiben sowieso nicht lange hier.“

Bani beugte sich vor und raunte: „Ihr Kleid ist doch bezaubernd, Verehrte.“

Roj fühlte sich etwas betreten. Es genügte mit all dieser Schmeichelei. Wollte der Kerl seine Frau anmachen?

Morena merkte mit feinem Instinkt, was in Roj vorging und fasste sofort den Entschluss, dem ein Ende zu bereiten. Sie erhob sich und wünschte dem Rest der Tischgesellschaft einen schönen Abend. Auch Roj erhob sich und begleitete seine Frau hinaus. Unter der Tür flüsterte er: „Welch ein Heuchler, dieser Schwarze.“

„Lass es gut sein“, sagte Morena und hakte ein. Dann entrüstet: „Wieso Heuchler? Du meinst wohl ich sehe nicht gut aus?“

„Ach, so war das doch nicht gemeint, Liebste. Du bist und bleibst immer die Schönste.“

Zufrieden und glücklich drückte sie seinen Arm. „Du bist ein Schatz und ich liebe dich. - Wir sollten uns jetzt aber fürs Konzert bereit machen.“

Kapitel 3

Die Forschungsstation auf dem Atalaya war 2072 erbaut und drei Jahre darauf in Betrieb genommen worden. Es handelte sich dabei um eine Einrichtung zur Erfassung der seismischen Aktivitäten im östlichen Atlantik. Es war festgestellt worden, dass der Afrikanische Kontinent immer weiter und schneller gegen Westen driftete und dort die südamerikanische Platte in die Höhe schob. Natürlich waren das jährlich nur ein paar wenige Zentimeter, aber doch geschah es fortlaufend. Eine erhöhte Aktivität der Vulkane und mehrere Erdbeben waren die Folgen.

Die Station war lediglich durch zwei Personen besetzt, welche sich im Dienst abwechselten. Da die Geräte vollautomatisch funktionierten, war eine Dauerbesatzung auch nicht notwendig.

Am 23sten Januar 2089 um 17:46:50 Uhr registrierte der Hauptseismograph eine ungewöhnliche, leichte tektonische Aktivität im Raume der nördlichen Vulkane auf Lanzarote.

Roger Denaux versah an diesem Nachmittag seinen Dienst und wartete eigentlich nur noch auf den wohlverdienten Feierabend. Er bemerkte den außergewöhnlichen, aber kleinen Ausschlag sofort und überlegte, ob er die Feststellung wirklich weiterleiten müsste. Er entschied vorerst einmal abzuwarten. Das Ganze beruhigte sich auch wieder und er dachte zufrieden, dass man ja nicht gleich wegen jedem kleinen Rülpser die ganze Welt in Aufregung versetzen sollte. Dadurch unterblieb eine rechtzeitige Warnung, die der Bevölkerung eine reale Chance gegeben hätte.

Roger trat vor die Türe. Ein kräftiger Wind blies ihm aus Nordosten entgegen. Das war auf dieser Höhe eigentlich immer so, denn der Atalaya war mit 609 Metern die höchste Erhebung des südlichen Teils der Insel. Er blickte hinüber zu den Feuerbergen bei Timanfaya und war wie immer von der unglaublichen Szenerie gefangen. Im sanften Licht der niedrigen Sonne sah alles wie ein großes, herrliches, dreidimensionales Gemälde aus. Unten breiteten sich bereits die Schatten aus, während oben die Berge in einem überirdischen Licht glänzten. Vulkankegel an Kegel, Krater an Krater erstreckten sich über einer bizarren Landschaft aus erstarrter Lava und Lapilli. Zwar hatte sich die Natur in den letzten Jahrzehnten einen großen Teil der verwüsteten Gegend zurückgeholt, so dass einzelne Büsche, Flechten und zähes Alphagras sich breit machten, aber die Narben der verheerenden Eruptionen von vor rund dreihundertfünfzig Jahren waren immer noch deutlich zu sehen. Solche Ereignisse waren auch in der jetzigen Zeit durchaus vorstellbar, dachte Roger. Man war aber gut gerüstet, und diese, seine Messstation, war ein Teil davon. Das System der Beobachtungsstationen war weltweit lückenlos und auch durch Satelliten unterstützt.

Nach seinem Geologiestudium in Toulouse hatte er eine Zeit lang für das Majesté Menjoulas Institut gearbeitet, bis er vor vier Jahren Maria kennenlernte hatte. Sie war eine Austauschstudentin aus Madrid, und Roger hatte sich sofort in die temperamentvolle Zwanzigjährige verliebt. Schlank, sexy, aber nicht besonders groß, war sie der Inbegriff seiner Träume. Schnell war die Beziehung zu Etwas herangewachsen, das sein Leben bestimmte. Maria wollte aber, fest entschlossen, ihr Studium in Spanien fortsetzen und nach Abschluss eine Karriere im Tourismussektor anstreben. Als dann eine Stelle auf der spanischen Insel Lanzarote ausgeschrieben wurde, griff Roger ohne zu zögern zu. Die Betreuung einer geologischen Messstation war genau das, was er sich in der Praxis vorgestellt hatte, und irgendwann würde Maria nach Lanzarote folgen und eine Stelle in der Tourismusindustrie einnehmen. Leider waren diese Pläne etwas voreilig, denn der Besucherandrang auf der Insel nahm immer mehr ab, und eine Zukunft in der Branche war kaum mehr wahrscheinlich. So saß er nun hier fest, und Maria verbrachte das letzte Semester an der Uni in Madrid.

Roger klaubte sein Transcom hervor und drückte auf Marias Icon. Fast sofort war sie dran und strahlte ihn an. „Hola Querido, schön dich zu sehen.“ Das Bild war gestochen scharf und der Ton, wie wenn sie vor ihm stehen würde. „Was machst du denn? Ich sehe, du bist immer noch auf deinem Berg.“

„Nun ja, ich habe bald Feierabend, dann fahre ich hinunter nach Femés. Ich wollte eigentlich nur deine Stimme hören und sehen wie es dir geht.“

„Mir geht es gut“, antwortete die junge Frau lächelnd. „Wenn es auch in Madrid wahrscheinlich noch heißer ist als bei dir auf der Insel. In drei Wochen ist hier aber alles vorbei. Die Prüfungen sind geschrieben und wir warten eigentlich nur noch auf die Diplomfeier. Dann komme ich mit dem ersten Flug zu dir.“

„Darauf freue ich mich sehr. Es wird wohl Zeit, dass ich mich nach einer Wohnung umsehe. Hier in Femés ist kaum der Ort wo du dich wohl fühlen könntest. Ich wohne immer noch bei der Doña Catalina. Sie ist ja in Ordnung, aber das Zimmer ist wirklich eine einfache Behausung. Für dich nicht zumutbar.“

„Ach, das ist doch egal“, schmeichelte sie. „Hauptsache wir sind zusammen.“ - „Was ist das?“

Roger hatte es sofort gespürt, ein leichter Erdstoß. Einen Moment unterbrach die Verbindung, und das Bild wackelte. Ein Erdbeben.

„Bist du noch dran? - Mach dir keine Sorgen, das war eine leichte Erschütterung. Ich muss rein zu den Geräten. Ich ruf später nochmals an. - Ich liebe dich!“

Drinnen spielten die Skalen verrückt. Die Ausschläge zeigten bis zur Stärke 3. Das musste gemeldet werden. Mittlerweile war es 18:45 Uhr, und die Sonne war hinter dem Horizont am Versinken.

Mit geübten Griffen schaltete Roger den Transmitter an und beugte sich über das Mikrofon. „X2 Atalaya, ich rufe OX15W, bitte antworten.“

Prompt kam die Antwort. „OX15W verstanden. Was gibt’s denn?“

Die Stimme klang distanziert, aber Roger erkannte sie sofort. „Bist du das Xenia? Habt ihr das Beben vorhin mitbekommen?“

Xenia gehörte zur Besatzung des stationären Überwachungssatelliten OX15W im Orbit über dem Äquator. Die reservierte Antwort war aber nicht nur der großen Distanz zuzuschreiben. Vergangene Bilder stiegen schmerzhaft in Roger hoch.

Entsprechend ruppig war dann die weitere Frage: „Hör‘ mal, schlaft ihr dort oben eigentlich? Wir hatten eben ein Erdbeben der Stärke 3. Habt ihr mehr Informationen?“

Für einen Moment war nur das Knistern der Verbindung zu hören. Was zum Teufel war los?

Dann kam die Stimme des Commanders: „X2 Atalaya, ich habe übernommen. - Roger, wir sind seit Stunden äußerst besorgt. Unsere Aufnahmen zeigen einen deutlichen Riss entlang der afrikanischen Kontinentalplatte. Er führt ziemlich genau von den Azoren durch die Kanaren bis in den Süden Richtung Cape Verde. Wir versuchen eben vom weiter westlich liegenden Satelliten OX45W mehr Daten zu bekommen. Alles deutet auf einen tektonischen Bruch hin.“

„Und was heißt das?“

„Das heißt, dass wenn der Bruch tatsächlich passiert, dann wird sich die Welt des Atlantiks drastisch verändern.“

Roger wurde wütend. „Nun sag schon, was heißt das für uns hier?“

„Schwierig zu beurteilen“, lenkte der Commander der OX15W ab. „Wir sollten die Berichte aus dem Westen abwarten. Im schlimmsten Fall gibt es schwere Erdbeben und Eruptionen von ungeahntem Ausmaß. Die völlig überhitzten Erdplatten werden bersten.“

„Großer Gott! Und das erfahren wir erst jetzt“, sagte Roger entsetzt. „So etwas kann den Untergang der ganzen Inseln zur Folge haben. Wir müssen sofort alarmieren und die Evakuierung veranlassen. Die eben erlebten Beben sind wohl ein erster Warnschuss.“

„Das kann durchaus sein, aber bevor wir den Bericht aus dem Westen haben, sollten wir Nichts überstürzen. Ich gebe sofort Bescheid, wenn es so weit ist.“

„Gut danke, ich warte“, sagte Roger. „Ich werde trotzdem vorsorglich die kommunalen Stellen benachrichtigen.“

„Ja, tu das. Ich melde mich. - Aus.“

Der Gobernador, der verantwortliche Statthalter, war aber nicht erreichbar, und das entsprechende Büro war um diese Zeit auch nicht mehr besetzt. Verflucht, wenn man einmal einen brauchte, war der bestimmt nicht zu finden. Roger versuchte es wieder und wieder. Nichts.

Die Zeit verstrich ohne dass etwas geschah. Langsam fragte sich Roger, ober er nicht überreagierte. Die aus dem Satelliten sahen vielleicht auch nur Gespenster. Ha, ein Bruch in der Erde? Man stelle sich vor, so etwas wie ein gigantischer Rippenbruch. Daran ging doch keiner gleich zu Grunde.

Als seine Ablösung ankam, war Roger erleichtert. Juan war ein schweigsamer Mann, den nichts so schnell aus der Fassung bringen konnte. Auf Rogers Schilderung reagierte er gelassen.

„Warten wir’s mal ab“, brummte er. Und als er die Aufzeichnungen des Seismographen sah, beruhigte er: „Ja, ja, wir hatten schon schlimmere Beben. Ich werd‘ ein Auge darauf haben.“

Roger ließ seinen Kameraden allein zurück. Die steile kurvenreiche Straße hinunter bewältigte er mit seinem allradgetriebenen Monteporter spielend. Diese Fahrzeuge waren immer noch mit Diesel betrieben, obwohl die modernen Autoporter längst mit Wasserstoffzellen fuhren. Er fuhr aber nicht zu seiner Pension, sondern nahm die Straße hinunter nach Puerto Calero. Er kannte das Haus des Statthalters. Der Gobernador musste doch irgendwo zu finden sein.

Puerto Calero war immer noch ein beliebter Yachthafen. Entlang dem Quai lagen ein paar exklusive Lokale, wo sich die Besitzer der stolzen Schiffe amüsierten. Der Hafen von Arrecife war längst zu einem unbedeutenden Umschlagsplatz für Frachter geworden. Die frühere Hauptstadt hatte, als die Touristen ausblieben, vor Jahren ihre Bedeutung verloren. Ein großer Teil der Bevölkerung war ausgewandert, nach Spanien oder Nordafrika. Geblieben waren ein paar Händler und Arbeiter. Was hier noch Rang und Namen hatte, war an die südliche Küste gezogen, so zum Beispiel nach Puerto Calero.

Das Haus des Gobernadors lag etwas oberhalb, mit einem herrlichen Blick auf das Meer und die Yachten. Riesige Büsche von roten Bougainvilleen flankierten die hohen Mauern, welche von gleißenden Flutlichtern angestrahlt wurden. Roger hielt in der Einfahrt. Im Erdgeschoss brannte Licht, also musste jemand da sein. Auf sein Klopfen öffnete ein Dienstmädchen im schwarzen Kleid.

„Nein, El Gobernador ist nicht zu Hause“, verkündete sie auf Rogers Frage. „Er und Madame sind zum Concierto zu den Cuevas gefahren.“

„Er gibt aber mit seinem Transcom keine Antwort“, entgegnete Roger. - Dann: „Moment mal, du meinst die Jameos del Agua, die Lavahöhlen?“

„Ja sicher. Da ist heute Abend ein Konzert der Philharmoniker von Gran Canaria.“

„Zum Teufel! In den Höhlen! Ausgerechnet! Wir erwarten schwere Erdbeben.“

Die Hausangestellte wurde bleich. „Sie sind schon vor zwei Stunden losgefahren. Sie wollten vorher noch eine Mahlzeit einnehmen. Sie sind sicher schon dort…“

„Da sind wahrscheinlich einige Hundert Besucher“, sagte Roger entsetzt. „Und keiner hat eine Ahnung. - Können wir denn da niemanden erreichen? - Die müssen da raus, aber schnell.“

„Ich weiß auch nicht“, klagte das Mädchen.

„Ich fahr hin! Die sind verrückt, wenn ein Beben kommt, haben die keine Chance. Diese Konzerthöhle bricht beim ersten Stoß wie ein trockener Kuchen zusammen. - Ruf du Juan an, er wird wissen was zu tun ist. Hast du ein Transcom?“

„Ja, aber die Nummer…“

Er gab sie ihr. Dann rannte er zum Monteporter und fuhr mit aufheulendem Motor davon.

Die starken Scheinwerfer warfen ein gespenstisches helles Band auf die Fahrbahn. Roger beschleunigte bis zum Maximum und verfluchte den Umstand, dass dieses Gefährt für Gebirgstrassen gebaut war und nicht für die Schnellbahn. Diese Straßen waren für Geschwindigkeiten bis zu zweihundert kmh gebaut und er, er zuckelte mit kaum der Hälfte dahin. Es half nichts, er würde mindestens eine halbe Stunde brauchen.

Kapitel 4

Ihr Multiporter schaffte die Strecke in fünfundzwanzig Minuten. Die Gäste des Hotels Fayna waren fast alle der Einladung zum Konzert gefolgt. Zwei Sinfonien von Ludwig van Beethoven, das war nicht jedermanns Musik. Sie stammte aus den Jahren anfangs des achtzehnten Jahrhunderts und wurde heute von den Philharmonikern von Gran Canaria gespielt.

Morena beobachtete die bunte Gesellschaft mit gemischten Gefühlen. Die Gruppe bestand aus etwas über zwanzig Beteiligten, eine bunte Schar von Touristen und Besuchern. Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass da einige dabei waren, die von klassischer Musik keine Ahnung hatten, und welche einfach die Neugier dahin trieb. Gestern hatte man ihr am Empfang erklärt, dass die Angebote auf Lanzarote immer spärlicher würden, denn wer wollte schon das Risiko eingehen, mit viel Aufwand einen Event zu organisieren, der dann doch kaum Beachtung fand. Beachtung war vielleicht das falsche Wort, die wenigen Besucher der Insel brachten wohl Interesse für einen Anlass auf, aber es waren einfach zu wenige da.

Die Jameos del Agua waren aber schon immer so etwas wie ein magischer Anziehungspunkt. Sie liegen ein paar Kilometer nördlich von Arrieta in einem Gebiet, das als „Malpaís“ gilt, einem „Schlechten Land“. Der Vulkan Corona hatte vor dreitausend Jahren eine bizarre Landschaft geformt, in der durch Lavaflüsse unterirdische Höhlen entstanden waren. Während die Lava oberirdisch erkaltete, bewegte sich das heiße Magma unterirdisch weiterhin dem Meere zu und hinterließ dadurch gigantischen Höhlen. Diese erstrecken sich über viele Kilometer den Hang hinunter und weit in den Ozean hinaus. Sie sind nur teilweise erforscht. Der Künstler César Manrique, welcher im vorigen Jahrhundert lebte, war fasziniert von diesen Lavablasen und baute darin sogar sein Wohnhaus, einige Restaurants und eben diese einzigartige Konzerthalle. Das alles hatte Morena dem Prospekt entnommen, welcher im Zimmer auf dem Tischchen lag.

Die Gesellschaft, welche nun diesem Ziel entgegenfuhr, war wohl eher an diesem speziellen Ort interessiert, als an der klassischen Musik. César Manrique war für Morena aber doch ein ganz besonderer Mann. Er war Architekt, Künstler und Maler. Seinem Engagement war zu verdanken, dass Lanzarote lange vom fürchterlichen Touristenboom Ende des letzten Jahrhunderts verschont geblieben war. Da er aber 1992 verstarb, ließ sich leider auch hier die fragwürdige Entwicklung nicht aufhalten, und es folgten Jahrzehnte des ungebremsten Tourismus. Wie alles Überbordende fand auch das ein abruptes Ende. Wirtschafts- und Finanzkriese, sowie riesige Immigrantenströme aus dem Süden, zwangen die Leute zu bescheidenerem Leben, und Ferienreisen wurden immer mehr zum Luxus. Lanzarotes Wirtschaft, welche damals fast ausschließlich vom Tourismus lebte, brach, als die Besucher ausblieben, dramatisch zusammen.

Diese Entwicklung empfand Morena aber nicht nur negativ, denn sie erlaubte es ihnen, nun ungestörte Wochen an einem faszinierenden Ort zu verbringen. Als Kunsthistorikerin hatte sie ein besonderes Interesse an diesem Manrique, und seine Bilder faszinierten sie ungemein. Manriques Arbeiten erstreckten sich von beinahe kindlichen, heimatlichen Motiven über gigantische Wandmalereien bis hin zu abstrakten, fast dreidimensionalen Werken. Vor gut einem Jahrhundert hatte er gelebt und gearbeitet. Sein Einfluss auf die Entwicklung der Insel war nicht unbedeutend. Dank guten Beziehungen zu den Behörden, erreichte er damals eine Baukultur, welche sich an den einfachen, kubischen Gebäuden im maurischen Stil orientierte. Die weißen Orte aus verschachtelten Häusern mit grün oder blau gestrichenen Türen und Fenstern waren ein Markenzeichen von Lanzarote. Leider wurde später vieles wieder dem Profit geopfert, und es entstanden einige hässliche Bettenburgen an den schönsten Stränden von Puerto del Carmen und der Playa Blanca. Diese waren jetzt verlassen und verfielen zunehmend. Es war, wie wenn die Natur sich rächen und die Auswüchse der gierigen Gesellschaft wieder beseitigen wollte.

Während der Transporter durch die Nacht schoss, dachte Morena an eine längst versunkene Zeit. Wie musste es damals ausgesehen haben? Etwa hundert Jahre zurück, das war eigentlich kein besonders riesiger Zeitsprung, trotzdem hatte sich viel verändert. War es nun besser oder schlechter? Historiker kämpften wohl immer mit dieser Frage und fanden kaum eine wirkliche Antwort. Besser waren sicher die vielen Möglichkeiten, Annehmlichkeiten und Techniken, die sich dem modernen Menschen boten. Aber waren diese damit glücklicher. Schlechter war doch die Vereinsamung der einzelnen Individuen, was manchmal an Isolierung grenzte. Man war schneller, effektiver, vernetzter, aber auch einsamer geworden. Es wurde notwendig, sich ultimative Freiräume zu schaffen, so wie sie es mit Roj hielt. Ihr Televisor war tagsüber gesperrt und das Transcom war nur jeweils zehn Minuten für wichtige Nachrichten zugelassen. Jegliche unkontrollierte Benutzung der Kommunikationsmittel war untersagt, da beachtliche gesundheitliche und psychische Schäden durch Verstrahlung nachgewiesen wurden.

Hier auf Lanzarote war das alles wahrscheinlich noch nicht besonders schlimm. Die paar Transcoms konnten sicher keinem Schaden anrichten. Anders war es in den riesigen Ballungsgebieten der meisten Weltstädte. Da war die ganze Strahlungsproblematik zum Ernstfall geworden.

Mit abklingendem Motorenlärm bogen sie in den großen Platz vor dem unscheinbaren Gebäude ein. Natürlich, der Konzertsaal lag ja unterirdisch und war von außen nicht sichtbar. Neben ihr schreckte Roj auf. Er hatte die Angewohnheit bei einer noch so kurzen Fahrt, gleich einzunicken. Sorglosigkeit schien ihn wie eine warme Decke einzuhüllen, während Morena aufrecht dasaß und die Ereignisse hellwach auf sich einwirken ließ.

„Komm schon!“, schupste sie ihn und kletterte aus dem Gefährt. Helle Strahler erleuchteten den Platz und warfen lange Schatten in die umliegenden Lavafelder. Bizarre schwarze Gebilde zeichneten sich wie gespenstische Skulpturen gegen den etwas helleren Hintergrund ab. Weiter unten hörte man ein regelmäßig wiederkehrendes Rauschen der Brandung. Manchmal schimmerte es matt von flüchtiger Gischt, Wellen, die sofort wieder in der Dunkelheit versanken. Dahinter erahnte man die tiefschwarze Weite des Meeres.

Im hellen Licht der Scheinwerfer strebte die kleine Gruppe dem Eingang zu. Vor ihnen stiegen weitere Besucher lärmend und lachend hinab in den Untergrund. Morena klammerte sich an den Arm ihres Mannes und folgte ihnen. Die Eingangskontrolle erfolgte völlig unbemerkt elektronisch über das Chipin jedes Besuchers. Morena fragte sich im Stillen, wo sich denn die entsprechenden Sensoren und Kameras befänden. Eine Treppe führte hinunter zu einer riesigen Grotte. Nachts vermittelte das dunkle Portal dem Ankömmling das Gefühl, in eine grausame Unterwelt hinabzusteigen. Was würde sie dort unten erwarten? Waren nicht bedrohliche Gestalten in den dunklen Schatten versteckt? Ein Schlund, der sie ohne Gnade verschlingen würde, bevor nur einer von ihnen wieder den Ausgang aus diesem Höllengrund finden würde.

Sobald man aber unten einem kleinen unterirdischen Teich entlang weiterging, entstand im sanften Licht der fackelgleichen Laternen eine romantische Stimmung. Weiter hinten war der eigentliche Eingang zum Konzertsaal. Davor lag so etwas wie ein Foyer mit einer Bar und kleinen Tischchen. Erstaunlicherweise wuchsen hier unten in großen Steintöpfen Farne und großblättrige Philodendren. Bei näherem Hinsehen entdeckte man, dass diese tagsüber durch von oben hinunterführende Schächte mit Licht versorgt wurden. Diese dienten wohl auch der Lüftung.

Mittlerweile drängten sich die Besucher um den Eingang. Das Konzert sollte in weniger als einer halben Stunde beginnen. Als sie den Saal betraten, entfuhr Morena ein Ton des Entzückens. Begeistert drückte sie Rojs Arm und raunte: „Es ist unglaublich, einfach himmlisch!“

Man betrat das Auditorium eigentlich von oben. Vor dem Besucher erstreckten sich die Reihen wie Terrassen hinunter in die Tiefe, wo sie vor einer Bühne Halt machten. Die Letztere lag in einer wunderschönen, hell erleuchteten Grotte. Dort befand sich aber nicht eine weihnächtliche Krippe, sondern das Orchester. Ein breiter Mittelgang führte hinunter. Menschen drängten sich jetzt wie Wogen, nach ihren Plätzen suchend. Über ihnen wölbte sich die gigantische Lavablase mit einer matt schimmernden Kuppel. Das Licht von Scheinwerfern beleuchtete das Gestein, so dass ein fantastisches Schattenspiel weit in die Höhe hinauf entstand. Mitten in diesem Zauber hing ein silbernes filigranes Gebilde, einem Stern oder Spinnennetz gleichend und schwebte schwerelos über der unterirdischen Szene.

Roj und Morena entdeckten bald ihre Plätze. Sie befanden sich im unteren Drittel, gleich neben dem Mittelgang. Die Besucher verteilten sich weiter in den Rängen, und es war erstaunlich wie wenig Lärm entstand. Irgendwie war eine ehrfürchtige Stimmung entstanden, die laute Worte verwehrte. Auch Morena flüsterte: „Roj, das ist einfach phantastisch. Ich habe noch nie so etwas erlebt.“

Ein eher verhaltener Applaus begrüßte den Dirigenten. Dann wurde es mäuschenstill. Als die Musik einsetzte und die vibrierenden Töne der Geigen durch die Halle schwebten schien, der Saal erfüllt von einer überirdischen Reinheit. Die Sinfonie begann mit einem „adagio molto“.

Während die herrlichen Töne dahinschwebten, versank Morena in einen Zustand der Schwerelosigkeit. Die Musik hob und senkte sich mit ihr, und ihr Geist nahm teil an einer Reise durch himmlische, schwebende Sphären. Ihr Leben erschien auf einmal so leicht, wie es diese Musik vorgaukelte. War alles nur eine Frage des Hinhörens, des Sichgleitenlaßens auf Wolken der Selbstfindung. Sie hatte sich für Roj entschieden noch ehe sie sich im Klaren war, dass ihre alte Beziehung zu Ende war. Beziehungen waren zu etwas geworden, was einer verpflichtenden Dauerhaftigkeit nicht mehr entsprach. Früher redete man von Lebensabschnittpartnerschaft, dann von Zeitbeziehungen, alles weit entfernt von der monogamen Ehe, wie sie im vorigen Jahrhundert noch bestanden hatte. Doch, war der Wunsch nach fortwährender Hingabe und Entgegennahme von beständiger Liebe wirklich so absurd? Ihre Gefühle zu Roj sprachen etwas Anderes. Sie sehnte sich nach Geborgenheit bis an das Ende der Tage. In starken C-Dur-Akkorden unterstrich die Musik die Gedanken eines Menschen, der mühsam einen Weg durch das Dickicht der modernen Zeit suchte.

Die Akkorde waren noch nicht richtig verklungen, da erlosch plötzlich das Licht. Einen Moment herrschte unsicheres Schweigen im Publikum. Ein gewollter Effekt der Regie? Kaum. Von der Bühne hörte man ein paar laute Geräusche. Dann flammte ein Scheinwerfer auf, und die Zuhörerschaft erstarrte. Da stand eine Gestalt in schwarzer Montur in der Mitte und schwenkte eine Maschinenpistole. Eine Frau schrie.

„Ruhe!“, brüllte der Mann, der sich eines Mikrofons bemächtigt hatte und feuerte eine kurze Salve in die Höhe. Wie ein Kanonenschuss hallte es durch das Gewölbe. „Ruhe! Wer sich bewegt, wird erschossen. Alle Ausgänge sind besetzt, und keiner wird entkommen.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis diese Ansage wirklich bei den Anwesenden ankam. Dann verstummten aber auch die Letzten und harrten angsterfüllt der Dinge.

„Ihr werdet alle sterben“, sagte der Mann dort vorne und schwenkte seine Waffe demonstrativ gegen das Orchester und zurück. „Nur wenn uns die Europäische Zentralbank zwanzig Milliarden überweist, habt ihr eine Chance.“

Roger Denaux erreichte den Ort gerade noch rechtzeitig. Er blieb einen Moment vor dem Eingang stehen und benutzte sein Transcom. Unten in der Höhle würde die Verbindung kaum mehr funktionieren. Er sprach mit Juan.

„Juan, gibt’s etwas Neues?“

„Nein, nichts. Es war wohl falscher Alarm. Dieses Hausmädchen des Gobernadors ist einfach hysterisch.“

„Nimm das nicht zu leicht“, warnte Roger. „Hast du nochmals mit OX15W gesprochen?

„Nein, noch nicht. - Werd‘ ich aber tun, wenn du das wünscht.“

„Ja, tu das! - Was ist mit den Seismographen?“

„Nichts Außergewöhnliches. Alle Anzeigen der letzten Stunde sind im normalen Rahmen.“

„Gut, ich geh‘ jetzt hinein, das Konzert beginnt gleich. Ich versuche die Besucher trotzdem zu evakuieren. Eine Vorsichtsmaßnahme.“

„Na dann, viel Erfolg!“ Der Sarkasmus war deutlich zu hören.

Roger versuchte nochmals die Nummer des Statthalters, denn wie sollte er sich ohne amtliche Zustimmung Gehör verschaffen und eine solche Evakuierung durchsetzen. Wie erwartet, war der entsprechende Teilnehmer nicht zu erreichen. Der Gobernador war sicher bereits im Inneren der Konzerthöhle und deshalb außerhalb des Funkbereiches. Während er sich zum Eingang begab, hörte er plötzlich ein fernes Grollen und Donnern, so wie wenn irgendwo weit entfernt ein Fahrzeug vorbei fahren würde. Ein leichtes Zittern erschütterte den Boden. Roger blieb stehen und erstarrte. Der Corona, durchfuhr ihn ein schrecklicher Gedanke. Der Monte Corona war kurz vor einer Eruption. Jetzt musste er schnell handeln.

Er holte sich die große Stablampe aus dem Monteporter und rannte los. Er erreichte aber den Eingang nicht mehr. Ein mächtiger Stoß erschütterte die Erde, Risse taten sich auf und riesige Gesteinsbrocken polterten heran. Über allem erhob sich ein glühender Himmel, zu welchem dicke dunkle Wolken hochstiegen.

Die Felsen über dem vorderen Eingang stürzten krachend zusammen. Ein Durchkommen war aussichtslos. Nicht auszudenken, was im Konzertsaal passieren musste, wenn die ganze Kuppel einbrach. Menschen würden erschlagen, Panik würde ausbrechen. Er musste hinein, koste es was es wolle. Er brauchte auch niemanden mehr zu allarmieren. Diese Katastrophe war nicht zu übersehen.

Roger rannte los. Er wich Steinen aus, umrundete Felsen, wo vorher keine waren und sprang über Gräben. Rechts, hinter dem Gebäude, das eigentlich nur noch eine Ruine war, musste der Notausgang liegen. Ja, wenn der noch frei war…

Weitere Stöße erschütterten die Welt. Ein Blick zum Meer enthüllte, dass dieses in schäumendem Aufruhr war. Wellen überschlugen sich und sogen das brodelnde Wasser von der Küste weg hinaus. Noch drohte von dort keine Gefahr, aber danach war mit einer Monsterwelle zu rechnen. Mittlerweile regnete es Kiesel und Asche. Irgendwo schlugen auch größere Brocken ein. Die Himmelsglut schien zu wachsen und erhellte die Szenerie, der Vulkan war am Bersten. Gnade uns Gott!

Der Schacht mit der Treppe war noch da. Roger stieß Felsen aus dem Weg und kletterte hinunter. Die Stablampe half ihm dabei. Er zitterte vor Anstrengung und Angst. Wenn jetzt ein nächster Erdstoß kam, war er geliefert. Er würde erdrückt, zermalmt werden wir ein lästiges Insekt. Unten führte ein Gang direkt hinter die Bühne. Als erstes hörte er die Schreie, unmenschliche Töne und Stöhnen. Hier war es für viele schon zu spät, erkannte Roger sofort. Irgendwie hatte eine Notbeleuchtung den Geist noch nicht aufgegeben. Ein Teil der Decke war eingestürzt. Glücklich, wer da sofort erschlagen worden war und einen schnellen Tod fand. Andere schrien eingeklemmt um Hilfe. Die Bühne war relativ unversehrt. Die massive Grotte hatte standgehalten. Die Mitglieder des Orchesters rannten unter Schock in alle Richtungen und ließen ihre Instrumente schutzlos zurück. Da lag sogar eine Maschinenpistole.

Roger schrie und gestikulierte in Richtung Ausgang. „Raus! Schnell raus!“, schrie er. „Da hinten ist ein Ausgang!“ Niemand achtete darauf. Die Panik hatte die Überlebenden ergriffen. Es schien unmöglich, die Menschen zu Vernunft zu bringen. Da packte Roger die Maschinenpistole, riegelte daran und feuerte eine kräftige Salve in die Luft. Ein gemeinsamer Schrei, dann plötzlich Totenstille. Nochmals schrie Roger: „Alle raus hier! Dort hinten ist ein Ausgang!“

Wie eine mörderische Antwort darauf, bebte die Erde erneut und brachte die Wände der Höhle ins Wanken. Was nun folgte war grauenhaft. Die linke Seite stürzte ein und begrub, zusammen mit der Kuppel, den größten Teil der Konzertbesucher. Roger wich einem herunterstürzenden Felsen mit knapper Not aus und musste mitansehen, wie der Notausgang ebenfalls einstürzte und viele der Musikanten in den Tod riss. Die Beleuchtung fiel ganz aus. „Hierher!“, schrie er erneut und fuchtelte mit der Lampe. „In die Grotte der Bühne!“ Ein paar Taschenlampen und Feuerzeuge flackerten auf. Noch immer umklammerte Roger die Maschinenpistole, bis er begriff, was er da überhaupt in der Hand hielt. Dann warf er die Waffe weg und half einer Frau, welche verzweifelt auf die Bühne klettern wollte.

„Sind Sie verletzt?“, fragte Roger automatisch.

„Nein, nein! Aber Roj, mein Mann. Wo ist er denn?“

„Helfen Sie doch!“, fuhr er sie an, als eine ältere Dame auf die Bühne zu schwankte.

„Timothy“, stammelte die Frau. „Ich glaube er liegt dort unten. Er wollte ja unbedingt dort auf der linken Seite sitzen.“

Dann tauchte auch Roj auf. „Los, hinauf!“, sagte er grob und schob die Dame in Richtung Morena. Wieder erzitterte die Erde, und alle blickten nach oben. Wie grinsende Fratzen des Todes hingen über ihnen die Felsen und keiner wusste, welcher sie wohl gleich treffen würde. Wie durch ein Wunder stürzte die Höhle aber nicht weiter ein. Oben, dort wo einst die Kuppel war, klaffte ein Loch, und der rote Feuerschein des Himmels leuchtete gespenstisch darüber. Ein schwacher Schimmer drang in die Tiefe und enthüllte ein Bild der Verwüstung. Zwischen den riesigen Brocken, in den Schatten der Spalten, lagen zertrümmerte Sitze. Unter Bergen von Gestein mussten hunderte von Leichen liegen. Menschen, die einen genussvollen Abend erwartet hatten und hier grausam den Tod gefunden hatten.

Langsam rappelten sich die Überlebenden zusammen. Viele bluteten oder hielten sich verletzte Gliedmaßen, aber alle waren totenbleich, gezeichnet vom Schock, völlig desorientiert. Die Meisten der Gruppe aus dem Hotel Fayna gehörten zu den einstweilig Verschonten. Ihre Plätze waren am wenigsten von den herabstürzenden Felsen getroffenen worden. Was aber nichts zu sagen hatte.

„Nahla, wo ist Nahla? Sie saß doch neben mir.“

„Nahla!“, gellte der Schrei durch den Raum. Er kam von Bani, dem Schwarzen mit dem komplizierten Namen. Sein dunkles Gesicht schimmerte verschwitzt, und seine Augen irrten umher.

„Helft den Verletzten hierher in die Grotte!“, schrie Roger. Ohne zu überlegen, hatte er das Kommando übernommen. Er war es auch, der als erster bemerkte, dass es ruhig geworden war. Die Beben hatten aufgehört. Er wusste aber auch, dass das eine trügerische Feststellung war.

„Macht schnell! Es kann jeden Moment wieder beben. Es gibt sicher mehrere starke Nachbeben.“

Rogers Stablampe fuhr gespenstisch umher und erfasste plötzlich eine schwarze Gestalt am Boden. Diese schob sich langsam über die Bretter und streckte die Hand nach der Maschinenpistole aus.

„He!“, rief Roger. „Was macht der da?“

Roj stand am nächsten. Er reagierte sofort, kam aber zu spät. Der Mann riss die Waffe hoch und feuerte. Roj warf sich auf den Angreifer, und sofort waren Bani und Roger zur Stelle. Die Maschinenpistole schepperte davon, und der Mann sackte nach einem Schlag auf den Kopf leblos hin.

„Roj!“, schrie Morena entsetzt, als sie sah wie ihr Freund sich das Bein hielt. „Bist du verletzt?“

„Es schmerzt schrecklich…“, antwortete der Verletzte stöhnend. „Dieser Scheißkerl! Ist es nicht genug, dass wir hier erschlagen werden?“

Roger war neben ihm und riss an der Hose. Eine klaffende Wunde kam am Unterschenkel zum Vorschein. Sie blutete stark.

„Wir müssen verbinden“, sagte Roger etwas sinnlos. „Ein Druckverband!“

Sie arbeiteten hastig, und nach geraumer Zeit kümmerten sich auch Andere um die Verletzten. Hilferufe und Stöhnen hallten durch das verschüttete Gewölbe. Möglichst viele wurden in die fragwürdige Sicherheit der Grotte der Bühne gebracht. Bunte Tücher, welche vermutlich normalerweise für Kulissen Verwendung fanden, lieferten das notwendige Verbandsmaterial. Schreckliche Momente erlebten sie, als ein hoffnungslos Eingeklemmter wimmernd starb, ohne dass sie ihm helfen konnten.

Roger hörte erstaunt von dem schrecklichen Überfall, kurz vor der Katastrophe, von den Geiselnehmern, welche eine Unsumme gefordert hatten.

„Er sagte, sie hätten alle Ausgänge besetzt und wir würden alle sterben, wenn sie die zwanzig Milliarden nicht bekämen.“, berichtete Morena. Dann resigniert: „Aber jetzt ist es ja sowieso vorbei. Wir werden alle sterben.“

„Um die Ausgänge müssen wir uns keine Sorgen mehr machen, die sind jetzt sowieso zu. Hatten die vielleicht noch eine Bombe dabei?“

Morena überlegte. „Das wissen wir nicht. Wir sahen eigentlich nur den einen, diesen hier. Aber da müssen schon noch mehrere gewesen sein.“

„Da haben Sie wahrscheinlich Recht. Wie sonst sollte ein Einzelner hunderte von Personen im Schach halten. Wir müssen also damit rechnen, dass noch so einer irgendwo ist.“

„Glauben Sie, dass wir hier wieder lebend hinausfinden?“, flüsterte Morena ohne Hoffnung.

Roger holte sich die Maschinenpistole und prüfte sie sorgfältig. Dann nickte er beruhigend. „Ich denke, wir haben eine gute Chance, denn die Rettungskräfte sind sicher schon unterwegs.“

Diese Aussage triefte nur so von Optimismus. Das gestand sich Roger gleich selbst. Es hing eigentlich nur davon ab, ob diese Eruptionen sich weiter ausdehnten und nicht aufhörten. Wenn die Afrikanische Platte tatsächlich barst, dann waren die Kanaren dem Untergang geweiht, damit auch Lanzarote und sie alle. Es würde weitere verheerende Ausbrüche geben, Feuer und Lava würde die ganze Insel zerreißen und nichts verschonen. Wenn die Urgewalt des Magmas aus der Tiefe dann vielleicht aufhörte, würde sich der Ozean aufbäumen und mit riesigen Tsunamis die kläglichen Reste dieser Welt vernichten. Ihr Tod konnte viele Gesichter haben. Ein weiteres Beben konnte sie begraben, dann war nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die glühende Lava, den Berg hinunter, den Weg in die Höhlensysteme fand. Weiter, der zu erwartende Tsunami, der sie alle jämmerlich ertränken würde, denn diese Höhle lag nicht viel über dem Meeresspiegel. Welches Ende sie schlussendlich erlitten war unwichtig, aber es würde schrecklich sein.

Vor rund dreihundert Jahren erlebte Lanzarote schon einmal gewaltige Eruptionen. Diese verwüsteten einen großen Teil der Insel, aber sie forderten keine Opfer, denn die wenigen Menschen konnten rechtzeitig fliehen. Heute war die Situation anders. Das gewaltige Aufbäumen der Erdkruste ließ niemandem die Möglichkeit zur Flucht. So gesehen, waren die Menschen draussen nicht viel besser daran, als sie hier in dieser Höhle. Die Insel hatte rund fünfzigtausend Einwohner und ein paar Touristen. Wenn es zum Schlimmsten kam, wären genau so viele Opfer zu beklagen. Es war kaum wahrscheinlich, dass sich jemand rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Trotz Frühwarnsysteme, Satellitenüberwachung und Katastrophenplänen, diesen urgewaltigen Elementen war niemand gewachsen.