Schwarze Masken - Peter Greminger - E-Book

Schwarze Masken E-Book

Peter Greminger

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Beschreibung

Nach seiner Pensionierung vertreibt Comisario Fernando seine Zeit mit kellnern im El Rondó, einem Fischlokal am alten Hafen von Puerto del Carmen auf Lanzarote. Die blonde Frau erregt seine Aufmerksamkeit, da sie seit Tagen oft alleine an einem Tisch sitzt und vor sich hinstarrt. Nachdem sie ihm vom Verschwinden ihres Freundes erzählt hatte, versucht er zu helfen und gerät damit in dramatische Ereignisse. Als Ex-Polizist sind ihm die Hände gebunden, aber er findet Wege, trotz Entführung und Mord, Licht in die dunklen Machenschaften zu bringen, welche von höchster Stelle orchestriert werden. Lange ist unklar, was es mit den auftauchenden schwarzen Masken für eine Bedeutung hat.

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Über den Autor

Für Peter Greminger war Reisen immer eine besondere Herausforderung. Er verbrachte den größten Teil seines Lebens im südostasiatischen Raum, wo er lange beruflich tätig war. Schon damals hielt er seine Erlebnisse oft in Reiseberichten und Kurzgeschichten fest.

Nach Abschluss seiner beruflichen Tätigkeit verbrachte der Autor zwei Jahre in Neuseeland, wo vier Romane über das Land der Kiwis entstanden: „Pakeha“ (Fremde in Neuseeland), „Tangiwai“ (Weinendes Wasser), „Paua“ (Meerohrschnecken) und „Kahurangi“ (Grüner Stein). Ein weiteres Buch „Sunda“ erzählt eine spannende Geschichte aus Indonesien, und „Fuego“ ist eine futuristische Fantasie.

Der vorliegende Roman entstand dann auf der kanarischen Insel Lanzarote, wohin er mit seiner Frau oft dem kalten Winter entflieht. Die bizarre Landschaft und die bewegte spanische Geschichte veranlassten ihn, dieses spannende Buch zu schreiben.

Peter Greminger

Über das Buch

Nach seiner Pensionierung vertreibt Comisario Fernando seine Zeit mit kellnern im El Rondó, einem Fischlokal am alten Hafen von Puerto del Carmen auf Lanzarote.

Die blonde Frau erregt seine Aufmerksamkeit, da sie seit Tagen oft alleine an einem Tisch sitzt und vor sich hinstarrt. Nachdem sie ihm vom Verschwinden ihres Freundes erzählt hatte, versucht er zu helfen und gerät damit in dramatische Ereignisse.

Als Ex-Polizist sind ihm die Hände gebunden, aber er findet Wege, trotz Entführung und Mord, Licht in die dunklen Machenschaften zu bringen, welche von höchster Stelle orchestriert werden. Lange ist unklar, was es mit den auftauchenden schwarzen Masken für eine Bedeutung hat.

“Soy el desesperado, la palabra sin ecos, el que lo perdió todo, y el que todo lo tuvo.“

„Ich bin der Verzweifelte, das Wort ohne Echo, derjenige, der alles hatte, und alles verlor.“

Pablo Neruda

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Epilog

Kapitel 1

Die tiefstehende gleißende Sonne schien ihr direkt ins Gesicht und blendete sie unbarmherzig bis fast zur völligen Blindheit. Rechts erahnte sie noch die endlosen Reihen der Geschäfte und Lokale. Auch um diese Stunde war entfernt immer noch das Treiben der Touristen zu hören. Links der Promenade lagen die Strände mit den in Reihen angeordneten Liegen und den bunten Schirmen, flankiert von verlassenen Buden und Bars. Vor all dem, weiter draußen, schwappte ein träges Meer. Das leise Plätschern verriet, dass es Ebbe war und erst in ein paar Stunden die Flut sich mit sanfter Gewalt den Strand wieder beharrlich zurückerobern würde.

Ingrid verlangsamte ihre Schritte und ließ sich treiben. Jetzt war die schönste Zeit in Richtung Hafen zu schlendern, denn kurz vor Sonnenuntergang verzogen sich die Menschen in ihre Häuser und Appartements, um sich für den abendlichen Ausgang fertig zu machen. Geblendet vom Licht der Sonne und umschmeichelt vom leisen Hauch des warmen Windes, wurde das Herz weit und empfänglich. – Christian. Wie herrlich wäre es, wenn seine schlaksige Gestalt neben ihr ginge, wenn er sie verstohlen an der Hand nähme und ihr mit leisen Worten romantische Bemerkungen über die, weit draußen dem Hafen zustrebenden Boote machen würde.

Der Fischer Ziel war bestimmt die Sicherheit der wuchtigen Molen des Puertos, um dort die kurze Nacht zu verbringen und dann, am frühen Morgen des nächsten Tages, wieder hinaus zu fahren. Der Ablauf dieses einfachen Lebens schien Ingrid wie ein wahres, für sie selber unerreichbares Glück, und eine sichere Geborgenheit für diese Menschen, wenn auch klar war, dass es ein hartes und einfaches Leben für sie bedeutete.

Ingrid blinzelte erneut und es war nicht sicher, schimmerten da ein paar Tränen durch die Wimpern oder war es tatsächlich der Schimmer der letzten Sonnenstrahlen über dem allmählich dunkler werdenden Wasser. – Christian war nicht hier. Dieser Gedanke durchfuhr sie immer wieder wie ein glühendes Eisen. Was war nur geschehen? Alles war doch perfekt geplant. Ja, es war doch unmöglich, dass ihre Hoffnung einfach so brutal endete. Wo war er? Warum war er einfach ohne ein Wort verschwunden? War ihm etwas zugestoßen oder hatte er sich einfach aus dem Staub gemacht?

Die bohrenden Fragen trieben sie an, und da ihr jetzt der Abendwind von Westen her kühler entgegen blies, beschleunigte sie ihre Schritte, folgte dem kurzen Aufstieg entlang den Touristenlokalen und lief hinunter zu der kleinen Kirche, die versteckt hinter den Gebäuden des Hafens lag. Unmittelbar gegenüber lag auch das Lokal „El Rondó“, ihr Ziel.

Kapitel 2

Rechts, ab der Marktgasse, führt eine Seitenstraße zum ältesten Teil der ostschweizer Industriestadt Winterthur. Dort, an der Steinberggasse, befanden sich noch einige kleine Geschäfte, deren Auslagen darauf hindeuteten, dass auch ihre Tage gezählt waren. Es waren vor allem Künstler-Ateliers, Nähstuben, Läden mit Modeschmuck, Antiquitäten oder einfachem Trödel. Die abgelegene Gasse war an diesem Novemberabend wie leergefegt. Ein paar gusseiserne Laternen beleuchteten die nassen Pflastersteine und spiegelten sich in den spärlich beleuchteten matten Scheiben der Schaufenster. Der Regen hatte aufgehört, aber noch immer klatschten schwere Tropfen von den vorstehenden Traufen.

Die dunkle Gestalt verharrte kurz, wich den Pfützen aus und strebte dann einem Eingang auf der linken Seite zu. Er trug einen schwarzen Mantel und hatte die Kapuze übergezogen, so wie heutzutage viele Jugendliche das als besonders cool betrachten. Bei dem Mann handelte es sich aber wohl eher um eine ältere Person, was man an der etwas gebeugten Haltung erahnen konnte und am festen, schwerfälligen Schritt. Sein Gesicht lag im Dunkeln verborgen.

Vor der massiven Eingangstür blieb er kurz stehen und wechselte das in Öltuch gewickelte mitgebrachte Objekt vom rechten unter den linken Arm. Der Inhalt musste von beachtlichem Gewicht sein, denn der Mann kämpfte kurz gegen ein Fallenlassen. Dann stieß er die Türe auf und betrat das Innere des Ladens. Mit einem scheppernden Klingeln schlug die Türe hinter ihm ins Schloss. Ein wuchtiger Ladentisch stand im Wege und versperrte den Zugang zu einem wilden Durcheinander von Antiquitäten, Kunstgegenständen, Trödel und Ramsch. Die Regale waren überfüllt, und vieles lag achtlos auf dem Fussboden verstreut. Im schummerigen Licht sah alles wenig einladend aus und erinnerte eher an ein lang vergessenes Lager oder an eine alte Remise, als an ein Verkaufslokal.

Dennoch trat sofort ein junger Mann aus dem Hintergrund und begrüßte den Ankömmling dienstfertig: „Guten Abend. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Der Mann im schwarzen Mantel legte seinen mitgebrachten Gegenstand vorsichtig auf den Tresen und schob seine nasse Kapuze mit einer energischen Gebärde zurück, wie wenn er signalisieren wollte: Da bin ich und jetzt bist du dran!

Danilo Gasser, der Geschäftsinhaber, blickte in kalte graue Augen und erschauerte. Es war nicht ungewöhnlich, dass manchmal zwielichtige Gestalten herkamen und Gegenstände, deren Herkunft man besser nicht besonders beachten sollte, verhökern wollten. Nun ja, entsprechend konnte man den Wert dann auch erbarmungslos herunterhandeln. So kam man oft günstig in den Besitz von besonderen Objekten. Nicht alles war Ramsch, was sich da hinten stapelte.

Bedrohlich lag aber dieses Ding da, eingewickelt in Ölpapier, zwischen ihnen auf dem Tisch. Sein Gegenüber verzog keine Miene, deutete darauf und brummte: „Da, mach schon auf!“

„Sie wollen verkaufen?“, erkundigte sich Danilo.

„Hm!“, knurrte der Mann.

Inzwischen beurteilte Danilo den Besucher als nicht so alt wie angenommen. Seine Haare waren glänzend schwarz. Der Schatten eines Bartes gab ihm einen verwegenen Anblick, aber seine Körperhaltung war jetzt aufrecht und eher sportlich. Er war wohl nur wenig über dreißig.

Gefährlich, taxierte Danilo den Fremden und begann vorsichtig das Papier zu entfernen. Zum Vorschein kam eine dunkle Fratze mit schmalen schlitzartigen Augen. Ein Gesicht mit langgezogener Kinn- und Halspartie, eine Maske, gefertigt vermutlich aus hartem Ebenholz.

„Ich kaufe keine afrikanischen Masken“, war Danilos automatische Reaktion. „Die sind hier nicht mehr verkäuflich.“

Der Mann stand schweigend da und starrte ihn an. Die Augen glitzerten gefährlich, und der Mund bildete einen schmalen Strich, wie wenn er mit Gewalt den Ausbruch von Wut zurückhalten wollte. Solche Besucher jagten Danilo ein Frösteln über den Rücken. Langsam tastete er sich in Richtung der Lade, wo er für alle Fälle eine Waffe, eine alte Luger 7.65, versteckt hielt.

„Bleib stehen!“, knurrte der Mann. „Mach ein Angebot!“

„Ich sagte doch schon…“

„Lass das! Ich will wissen, was das wert ist.“ Er schupste die Maske in Danilos Richtung. „Keine Ausreden!“

Danilo überlegte fieberhaft. Hätte er doch nur das Geschäft eine Viertelstunde früher geschlossen, dann stände er jetzt nicht da und müsste mit dem Schlimmsten rechnen. Der Mann war gefährlich und wahrscheinlich auch bewaffnet. Sein Auftreten war alles andere als beruhigend.

Trotzdem schüttelte er den Kopf und begann erneut: „Tut mir leid, aber damit kann…“

„Sag endlich den Preis!“, unterbrach ihn der Mann grob. „Ich hab‘ nicht alle Zeit.“

„Ich könnte Ihnen einen anderen Händler empfehlen…“

Der Mann knurrte und deutete energisch auf die Maske. „Chris hat mich aber zu dir geschickt.“

„Wer hat…?“ Danilo stockte. – Christian, verdammt noch mal, was für einen Unsinn hatte dieser Idiot schon wieder im Sinn? Was für krumme Geschäfte liefen da…?

Christian. Sie kannten sich seit der Zeit am Technikum. Sie hatten einige wilde Jahre zusammen verbracht. Chris machte dort seinen Abschluss als Ingenieur und war eindeutig der Streber, was ihm, Danilo, natürlich oft zugutekam, wenn’s darum ging, die schwierigen Lehrgänge zu meistern. Er selber war aber nicht richtig bei der Sache und schmiss nach zwei Semestern das Studium frustriert. Er hatte Besseres vor. Chris beschwor ihn durchzuhalten und verstand den Entschluss überhaupt nicht. Der hatte gut reden. Der hatte seine Eltern hinter sich, die ihn unterstützten und alles berappten. Er selber war da weit schlechter dran. Seine Mutter war vor drei Jahren verstorben und der Vater hatte sich ins Ausland verabschiedet. Irgendwo in Südamerika ging der einer Arbeit nach, von der Danilo keine Ahnung hatte. Mit kaum neunzehn Jahren allein gelassen, einfach so. Klar, der Scheck war immer gekommen, manchmal sogar pünktlich, und seinem Studium wäre eigentlich nichts im Wege gestanden. Aber frustriert und jeglicher Motivation beraubt gab er auf und versuchte sich mit Gelegenheitsarbeiten durchzuschlagen. Eigentlich keine schlechte Zeit. Dem ewigen Druck des Lernens entflohen, fühlte er sich frei und ungebunden. Ein paar lockere Bekanntschaften mit jungen Frauen trugen ebenfalls dazu bei, dass er sich bestens fühlte und sich keine großen Gedanken über die Zukunft machte.

Trotzdem suchte Chris weiterhin den Kontakt, und sie trafen sich öfter mal an der Bar des Lokals an der Ecke zur Hauptstraße. Der banale Namen „Drinks“, täuschte nicht darüber hinweg, dass es sich um ein Haus für den lockeren Kontakt zu willigen Mädchen handelte. In den spärlich beleuchteten Räumlichkeiten verkehrten gerne junge Leute, auch Studenten, welche sich, nach etlichen Drinks, eine Gelegenheit für eine heiße Nacht erhofften.

Danilo und Christian saßen meist am Ende der Bar und beobachteten das oft belustigende Treiben der jungen Leute. Irgendwie fühlten sie sich als die Senioren, welche die notwendigen Erfahrungen bereits hinter sich gelassen hatten und hier als Zuschauer ein paar amüsante Stunden verbrachten.

„Du meine Güte!“, grinste Christian und deutete mit dem Glas in Richtung einer Gruppe. „Die Rothaarige lässt die aber wirklich zappeln. Bin gespannt, mit welchem der Kerle sie dann abzieht.“

Etwas gelangweilt blickte Danilo in die Richtung. „Na ja, die sind doch alle noch nicht ganz trocken hinter den Ohren“, brummte er. „Ich wäre beinahe versucht, denen die Rote wegzuschnappen. Sie gefällt mir.“

Es wurde dann aber meist doch nichts aus den erotischen Plänen, und die beiden Freunde verabschiedeten sich und strebten getrennt ihrer jeweiligen Unterkunft zu. Christian wohnte immer noch im Wohnheim der Uni, wobei Danilo in einem Altstadthaus nahe der Kaserne ein Zimmer hatte.

Es dauerte noch ein ganzes Jahr, bis Chris endlich die Examen hinter sich hatte und nach einigen turbulenten Feiern seinen Freund anrief und ein Treffen in ihrem Lokal vereinbarte.

„Ich hab‘ da etwas zu besprechen…“, erklärte er vage. Und als er Danilos Unsicherheit bemerkte: „Du kommst doch?“

„Ja…, ja, ich komme schon.“

„So gegen zehn Uhr, ist das in Ordnung?“

„Ich komme…“ Skeptisch warf Danilo das Handy aufs Bett und überlegte, ob er überhaupt hingehen sollte. Chris hatte in den vergangenen Monaten kaum einmal etwas von sich hören lassen. Er wähnte sich jetzt wohl in der „Upper Class“ und hatte mit seinem Titel wohl bereits eine lohnende Stellung gefunden. – Neid? Nein, das konnte nicht sein. – Obwohl, seine momentane Situation war nicht gerade rosig. Die Gärtnerei drüben am Heiligberg reduzierte, wie jeden Herbst, die Beschäftigten. Während dem Winter war da nicht mehr viel zu tun. Es war schon klar, wer da den Job verlieren würde. Er hatte keinen festen Anstellungsvertrag. Also, wie weiter? Der Gang zum Arbeitsamt war wohl unausweichlich. Mit dem Arbeitslosengeld würde er es vermutlich über den Winter schaffen, und dann würde man wieder sehen. Also, etwas Ablenkung konnte man gut gebrauchen.

Er saß schon da, als Chris eintrudelte und sich auf den Hocker nebenan schob. Das Lokal war gut besucht, und der Lärmpegel stieg mit jedem neuen Glas, das über die Theke ging.

Chris grinste. „Bin etwas spät dran. Entschuldige.“

„Ein Bier…?“, brummte Danilo. Dann lauter: „Möchtest auch eins?“

Christian schien bester Laune. „Ach, nein! Heute ist etwas Besseres fällig. Wie wär’s mit Whiskey, Single Malt?“

„Na ja, wenn der Herr meint…“ Der Sarkasmus war unverkennbar.

Sein Freund ließ sich aber nicht beirren. Er gab dem Barmann ein Zeichen und bestellte zwei Doppelte.

„Ich habe zwei gute Nachrichten und eine schlechte“, begann er. „Ich fang‘ gleich mit den guten an. – Ich bin verlobt.“

„Wau!“, entfuhr es Danilo mit einem abschweifenden Blick ins Lokal. „Das geht bei dir aber im Eiltempo. Wer ist denn die Glückliche? – Kenne ich sie?“

„Kaum!“, entgegnete Chris spitz. „Und schon gar nicht von hier.“

„Aha…“

„Ingrid ist eine Deutsche“, begann er. „Wir haben uns im August in Basel kennengelernt. Du weißt schon, unsere Abschlussfeier führte uns nach Basel, und da ist es eben passiert. Es war einfach ein Einschlag wie eine Bombe. Sie ist wunderbar, schön, blond, eine Göttin. Außerdem ist sie intelligent und gebildet. Sie ist einmalig.“

Danilo grinste: „Du bist verknallt!“

„Ja, ich liebe sie und werde sie heiraten. Allerdings wollen wir uns Zeit lassen. Wir sind noch jung und das ganze Leben steht noch vor uns.“

„Klar, dachte ich auch. – Warum dann diese Eile?“ Danilo verzog das Gesicht. „Ach, kommt da vielleicht die zweite Überraschung? Ist sie schwanger?“

„Unsinn!“, fuhr Christian auf. „Natürlich nicht. – Und dann wollen wir auch zuerst noch zu den Eltern fahren. Ingrid sagt zwar sie könne tun und lassen was sie möchte, die Eltern hätten sicher nichts dagegen. Aber der Anstand verlangt natürlich, dass wir uns da sehen lassen.“

Danilo hob sein Glas. „Na dann, Gratulation, viel Glück!“

Christian ignorierte die guten Wünsche und grinste dämlich in sein Glas. „Sie ist einfach eine Wucht“, raunte er.

„Wo ist sie denn jetzt?“

Der Lärm im Lokal wurde langsam unerträglich, und die Beleuchtung war auf ein Minimum reduziert worden. Entsprechend schien der Barmann am anderen Ende weit entfernt und dessen Bewegungen erfolgten wie im Zeitlupentempo. Ein paar junge Männer schäkerten gegenüber, auf der anderen Seite der Bar, ungeniert mit zwei Damen in glitzernden Minis und engen Tops. Danilo überlegte kurz wer da wohl die Auserwählten sein könnten. Dann wiederholte er die Frage und stieß seinen Freund in die Seite.

„Wo…? Was! – Ach du meinst Ingrid“, antwortete Christian verlegen. „Ich war grad wo anders.“

Danilo schüttelte den Kopf. Was war der Chris doch für ein Träumer. Die Verliebtheit hing dem ja geradezu aus den Ohren heraus. Sein Freund hatte eine braune Strickjacke übergezogen, was ihm den Anschein eines unerfahrenen Jungen gab. Er war schon immer der stille, zurückhaltende gewesen, der wohl alles kameradschaftlich mitmachte, aber nie selber die Initiative ergriff und sein Studium immer sehr wichtig nahm. Umso mehr erstaunte es Danilo, wie er plötzlich auftaute und derart über seine blonde Eroberung schwärmte. – Was so eine Frau da alles bewirken konnte.

„Also, wo hast du deine Herzdame versteckt?“

„Ich verstecke doch niemanden“, wehrte sich Christian. „Sie ist noch in Basel, aber morgen kommt sie her.“

„Ach, ich dachte sie ist Deutsche?“, wunderte sich Danilo.

„Ist sie auch“, konterte Christian. „Aber sie lebt seit einiger Zeit in der Schweiz. – Du weißt ja, die Personenfreizügigkeit.“

„Na ja!“ Man wusste ja, was diese offenen Grenzen für das Land bedeuteten.

„Lass das!“, brummte Christian. „Ihre Eltern leben in Hamburg, aber sie arbeitet seit Jahren hier. Sie ist Archäologin und hat einen Abschluss der Humboldt-Uni Berlin. Ihre Eltern scheinen wohlhabend zu sein und haben ihr das Studium wie auch den Start ihres eigenen Geschäftes ermöglicht.“

„Wau!“, kommentierte Danilo das Gehörte und schwenkte sein Glas. „Darauf wollen wir noch einen trinken. – Ja, ist das vielleicht die zweite gute Nachricht. Jetzt kommt wohl die schlechte.“

Christian wartete bis der Barmann eingeschenkt hatte und die Flasche wieder ins Regal vor den Spiegeln stellte. Dann richtete er sich auf, wie wenn er der Ankündigung mehr Gewicht verleihen wollte. „Pass auf! Jetzt kommt die wirklich gute Nachricht, besonders für dich Dan.“

Danilo ließ ihm Zeit. Chris konnte ganz schön nervig werden mit seiner Gemächlichkeit. Mann, spuck’s schon aus!

„Das Geschäft, ich sagte ja schon, Ingrid führt ein Geschäft hier. Das passt jetzt aber überhaupt nicht in unsere Zukunftspläne, verkaufen will sie aber doch nicht.“

Danilo verkniff sich ein Grinsen. „Also was sage ich, die Sache ist also doch nicht so felsenfest. Sie lässt sich eine Option offen. Ganz schön clever die Dame...“

„Nein, so ist es doch nicht!“, fiel ihm Christian ins Wort. „Ihr Vater besitzt eine Finca auf Lanzarote und braucht dort dringend einen Verwalter. Wir möchten die Chance nutzen und dort ganz neu anfangen. Wir sind jung und die Welt steht uns offen.“

Das wiederum passte genau zu Christian, dem Träumer, Schwärmer und Fantasten. Er sah sich wahrscheinlich bereits als Manager einer Bodega. Herrlich warme Sonne an einem einsamen Strand und Siesta bis in die Abendstunden hinein. – Der Herr Ingenieur und die Archäologin! – Ha, und das sollte gut gehen?

Trotzdem, irgendwie bewunderte Danilo seinen Freund. Kaum zu glauben, der traute sich was. Darauf konnte man trinken.

„Chris, du Schlaumeier!“, grinste Danilo. „Darauf wollen wir trinken. Das hätte man dir nicht zugetraut.“

„Prost Dan! – Aber jetzt kommt die eigentliche Nachricht.“ Er ließ sich Zeit bevor er weiterfuhr: „Du könntest das Geschäft hier übernehmen.“

Für einen Moment schien völlige Stille zu herrschen, wie wenn jemand die Zeit, das blitzende Licht und den dröhnenden Lärm angehalten hätte. Die Starre dauerte nur einen Bruchteil einer Sekunde, aber für Danilo fühlte es sich wie Stunden an. Er starrte seinen Freund mit offenem Mund an.

„He, du kannst wieder zurückkommen“, schmunzelte Chris. „Du hast schon richtig gehört. Das Geschäft ist ein Antiquitäten-Laden an der Steinberggasse, gleich hier um die Ecke.“

Endlich drehten die Räder im Gehirn weiter. Trotzdem war Danilo noch wie benommen. Ein flaues Gefühl machte sich im Magen breit. Er versuchte es mit einem kräftigen Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit zu beruhigen. Tausend Fragen fuhren ihm durch den Kopf.

„Wie um alles in der Welt kommst du auf so eine Schnapsidee? Wie kommt deine Freundin überhaupt zu diesem Laden? Ich kenne mich mit solch altem Zeug doch überhaupt nicht aus. Das ist ja noch blöder als du als Verwalter einer Finca. Seid ihr denn noch bei Trost?“

„Nun stell dich mal nicht so dämlich an!“, entgegnete Chris und nahm seinerseits einen kräftigen Schluck. „Das ist doch keine Hexerei, du stellst dich hinter den Ladentisch und verhökerst das Zeug. Das meiste ist sowieso Made in China und die Kunden sind kaum Experten. Für Nachschub wird bei gegebener Zeit gesorgt.“

„Na ja…“

„Und außerdem bist du doch immer auf der Suche nach einer Arbeit.“

„Hmm…“, brummte Danilo wohlwissend, wie seine finanzielle Situation stand. „Wann…?“

Christian merkte, dass alles nach Wunsch lief. „Ich sagte schon, Ingrid kommt morgen an. Wir treffen uns abends um sechs Uhr dort im Geschäft. Wir regeln alles und gehen anschließend schön essen und feiern.“

Danilo nickte ergeben. Er hatte ja kaum Zeit das Ganze zu überlegen. Er brauchte unbedingt noch einen Whiskey.

„Am Samstag fliegen wir dann nach Lanzarote“, sagte Christian abschließend. „Das ist nun die schlechte Nachricht für dich, wir werden uns eine ganze Weile nicht mehr sehen.“

Kapitel 3

Es war nicht gut für sein Rheuma, das wusste er ganz genau, aber er hatte sich nun einmal dafür entschieden und gleich wieder aufgeben, das war nicht seine Art. Es zog aber auch wirklich durch das Lokal, wie wenn der kalte Nordostwind einen Spaß daran hätte, ihm bösartig in den Rücken zu fallen. Fernando schob die schweren Stühle zurecht und wischte die Tischplatte sauber. Um diese Zeit war hier nicht viel los, denn die meisten Touristen bevorzugten die angesagten Restaurants entlang der Promenade. Das El Rondó war eigentlich eine alte Fischhalle und vormittags wurde nebenan tatsächlich auch der eingetroffene Fang der lokalen Fischer verkauft. Das hier war eher eine einfache Halle mit einer großen Theke, wo Bier, Wein und Tapas angeboten wurden. Nach Feierabend saßen dann die Arbeiter draußen auf den Bänken, tranken ihr Bier und palaverten über ihr Dasein.

Fernando arbeitete hier, weil ihm die Situation gefallen hatte und weil er nach seiner Pensionierung keinen Sinn in untätigem Herumsitzen sah. Hier traf er immer interessante Leute, Einheimische, die Zigaretten rauchend über ihr Tagwerk referierten, Touristen, die in fremden Sprachen lärmten oder mit ein paar holperigen Sprüchen ihre Spanisch-Kenntnisse anbrachten. Viele von ihnen waren grell und luftig bekleidet und setzten sich als umworbene Gäste ungeniert über alle sittlichen Gepflogenheiten hinweg.

Die Arbeit war nicht schwierig. Ein Kellner musste hier keine besonderen Fähigkeiten beim Bedienen und Servieren haben. Das Lokal war bewusst einfach gehalten und entsprach der Atmosphäre der Fischhalle, mit steinernem Fussboden, hoher Decke und groben Tischen und Stühlen. Tischdecken brauchte man hier keine, Besteck und Geschirr war einfach und eher billig. Die Türen standen meist weit offen.

Draußen hatte die Dämmerung eingesetzt, und es würde bald dunkel werden. Da an diesem Abend kaum Gäste den Weg hierher fanden, stellte sich Fernando neben der Theke in die Ecke, dort wo es etwas weniger zog, und beobachtete die Frau am Zapfhahn. Diese füllte gekonnt Bier in ein Glas. Ihr kurz geschnittenes schwarzes Haar stand etwas wirr um den Kopf, was ihr einen leicht herausfordernden Ausdruck verlieh. Trotz der schlanken, drahtigen Figur war offensichtlich, dass sie nicht mehr die Jüngste war. Wie viele spanische Frauen, gab sie aber viel auf ihr sportliches Aussehen. Fernando wusste, dass sie eine Katalanin aus Barcelona war. Ihre aparte Art gefiel ihm, und sein Auge ruhte wohl oft etwas länger auf der Gestalt.

„Don Fernando“, rief sie lachend über den Tresen. „Was träumen Sie da? Oder beobachten Sie vielleicht eine Verdächtige?“

Sie wusste natürlich, dass er ein ehemaliger Beamter der Policía Nacional war und hier mehr aus Zeitvertreib, als aus Notwendigkeit arbeitete. Als Comisario war Fernando während seiner Laufbahn mit wachem Geist und Körper im Einsatz gestanden. Na ja, der Körper hatte inzwischen etwas zugenommen. Der Ruhestand war ihm wohl etwas zu wenig fordernd geworden. Dennoch, Don Fernando war ein stattlicher Mann. Sein grauer Schnauzer gab ihm sogar etwas Verwegenes, und das weiße Hemd und die schwarze Hose verliehen ihm durchaus Attraktivität.

„Señora Ilona, ich faulenze hier nicht“, konterte er. „Wie Sie sehen, sind da keine Gäste. Außerdem beobachte ich Sie, und Sie sind doch nicht verdächtig.“

„Woher wollen Sie wissen, dass ich nichts verbrochen habe?“, scherzte die Frau mit strahlendem Lächeln.

„Na ja, dem würde ich ganz gerne auf den Grund gehen, wenn Sie mir so gestatten.“

Ilona winkte energisch ab. „Solche Untersuchungen kennen wir. Hatten Sie in Ihrer beruflichen Laufbahn wohl öfters. – Außerdem, da kommt jemand. Sie haben zu tun.“

Die eintretende Frau, die kannte er doch. Sie kam zögernd durch den Eingang und blickte um sich, wie wenn sie nicht wüsste welchen der vielen leeren Tische sie wählen sollte. Sie entschied sich für den in der hinteren Ecke. Eigentlich untypisch, dachte Fernando. Die Leute bevorzugten meist die vorderen Tische mit viel Aussicht.

Er warf das Servicetuch über den Arm und trat zu ihr. „Buenas tardes Señora Ingrid, was darf es sein?“

„Ein Glas Weißwein bitte“, bestellte die Dame in unsicherem Spanisch. Dann stutzte sie: „Sie erinnern sich an meinen Namen?“

„Natürlich, Sie waren in letzter Zeit ja öfter hier. – Also, ein Glas vom Malvasía seco.“

„Ja, gerne.“

„Sofort!“

Während er die Bestellung weitergab, überlegte Fernando: Was war wohl mit der Frau? Sie war sehr schön, aber immer allein. Sie war hellblond, hatte die Haare aber zu einem Zopf zusammengebunden. Das Kleid mit dem hübschen Blumenmuster passte ausgezeichnet zur hellen Haut und umfloss weich die schönen schlanken Beine. Die Füße steckten in leichten, bequemen Sandaletten. Sie war nicht besonders groß, wohl kaum über 170 cm.

Sie kam immer allein und machte auch diesmal einen eher verstörten Eindruck. Das war keine der verrückten Touristinnen, die oft in Gruppen, schrill und laut hier auftauchten und ihn mit allerlei Anzüglichkeiten überhäuften. Deren Betragen ertrug er dann mit einem Lächeln, aber eigentlich widerte es ihn an. Diese Frau hatte Stil. Er überlegte, vielleicht war sie sogar auf der Insel wohnhaft.

Er wäre kein ehemaliger Polizist gewesen, hätte er nicht versucht ein paar Antworten zu bekommen. Also blieb er am Tisch stehen und sagte: „Bitte, ihr Wein, Señora. Sie kommen öfter her, wohnen Sie auf Lanzarote?“

Ingrid blickte auf und zögerte. Dann lächelte sie und antwortete: „Ja… aber eigentlich nein. Ich weiß selber nicht recht. Ich warte...“

„Sie warten, worauf denn, wenn ich fragen darf?“

Ein Schleier von Unsicherheit, Verstörtheit, oder war es tatsächlich Angst, schimmerte in ihren Augen. Fernando kannte diesen Blick, er war oft da, wenn Menschen unter extrem hohem Druck standen und vor Ausweglosigkeit beinahe verzagten.

„Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht bedrängen“, beeilte er sich und kehrte zur Theke zurück.

Ingrid blickte ihm unschlüssig nach. Der Mann hatte so gar nichts von einem Kellner an sich. Auf Lanzarote waren ihr die normalen Angestellten der Touristenlokale anders aufgefallen, jünger, oft recht aufdringlich aber dann eigentlich wieder kaum hilfsbereit und auch wenig zuvorkommend. Stolze Spanier, ungehobelte Engländer, radebrechende Frauen aus Osteuropa oder scheue Asiatinnen waren eher die Regel. Dieser Mann hier hatte etwas väterliches an sich. – Wie hieß er gleich wieder?

„Señor“, sprach sie ihn an, als er sich wieder ihrem Tisch näherte. „Wie war doch gleich ihr Name?“

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Fernando“, entgegnete er, „einfach Fernando. Kann ich noch etwas für sie tun?“

Einen Moment überlegte sie, ob der Mann ihr vielleicht helfen könnte, verwarf die Idee aber sofort wieder. Stattdessen bestellte sie einen Avocado-Salat mit Tomaten und ein Brötchen.

„Gerne, meine Dame. Kommt sofort.“

Etwas später, als sie gegessen hatte, beim Abräumen, erkundigte er sich: „Sind Sie mit ihrer Familie auf Lanzarote?“

„Nein, ich bin allein“, antwortete Ingrid schnell. Dann zögernd: „Na ja, eigentlich müsste mein Freund da sein.“

„Ihr Freund hat sie heute nicht begleitet“, stellte Fernando fest. „Ich habe ihn auch noch nie hier gesehen…“

Fernando blickte hinüber zur Theke, wo Ilona eben mit einem Paar beschäftigt war, welches sich die verschiedenen Tapas erklären ließ. Die Wirtin verschwand kurz nach hinten zu den Schaltern für die Beleuchtung, war aber gleich wieder zurück. Ansonsten war das Lokal leer. Die untergehende Sonne warf die letzten Strahlen durch die offene Tür. Auf dem großen Platz davor flanierten die letzten Touristen, zückten ihre Handykameras, fotografierten und bestaunten den rotgoldenen Sonnenuntergang. Es war die Stille vor dem abendlichen Ausgang zum Essen und zum Vergnügen. Der spanischen Sitte gehorchend, ließen sich alle viel Zeit und dinierten eher spät. Zuckend erwachte eine Neonlampe über dem Eingang, konnte aber die friedliche Abendstimmung nicht verderben.

Fernando konnte sich also ein kleines Schwätzchen durchaus erlauben. „Woher kommen Sie denn?“, begann er unverfänglich.

„Ich bin Deutsche, komme aber aus der Schweiz“, sagte Ingrid.

„Die Schweiz“, wiederholte Fernando. „Ein schönes Land. Ist ihr Freund auch von da?“

„Ja, er ist sogar Schweizer… und sollte eigentlich hier bei mir sein“, verriet Ingrid zögernd.

Fernando beugte sich interessiert vor. „Aber warum ist er denn nicht hier? Eine schöne Frau wie Sie lässt man doch nicht…“

„Ach, ich weiß auch nicht“, unterbrach Ingrid. „Warum setzen Sie sich nicht zu mir?“

„Ist eigentlich nicht gestattet“, entschuldigte Fernando. „Kellner sollen sich nicht zu den Gästen setzen. – Aber es ist ja niemand da.“

Er rückte den Stuhl und betrachtete sein Gegenüber nachdenklich. Tatsächlich, ihre Augen sprachen von unbewältigten Sorgen. Sie schien zu warten.

„Ihr Freund hat Sie verlassen?“, riet er.

„Nein, das hat er nicht!“ Sie schrie es beinahe. „Entschuldigen Sie, ich weiß im Moment einfach nicht wo mir der Kopf steht. – Er ist einfach nicht gekommen.“

„Wie? Nicht gekommen?“

„Wir hatten ausgemacht, dass er ein paar Tage nach mir fliegen sollte, aber er ist nie angekommen.“ Sie rang um Fassung und senkte den Kopf. „Aber was erzähle ich Ihnen da…“, flüsterte sie.

Fernando rückte etwas näher, so dass Ingrid unwillkürlich aufschaute. Er fragte ruhig: „Wann war das denn?“

„Kurz vor Weihnachten“, antwortete sie. „Wir wollten eigentlich die Festtage auf der Finca feiern.“

Er schüttelte den Kopf. „Aber hat er denn nicht angerufen und seine Verspätung erklärt. So etwas kommt doch öfter mal vor.“

„Sein Handy ist ausgeschaltet. – Was glauben Sie, wie viele Male ich versucht habe ihn zu erreichen. Er ist wie vom Erdboden verschwunden. – Ich sollte zurückreisen…“

„Das sind jetzt bereits vier Wochen her“, sinnierte Fernando. „Ja, vielleicht wäre das am besten.“ Dann überlegte er: „Haben Sie denn bei der Fluggesellschaft nachgefragt?“

„Natürlich, aber die wollen keine Angaben über Passagiere machen. Sie berufen sich auf den Datenschutz. – Ich gab nicht auf, flehte, weinte und verlor schließlich die Nerven. – Zu Hause bei den Eltern kam ich auch nicht weiter. Die kümmern sich kaum um ihren Sohn und wissen nicht was er treibt. Er könne tun und lassen was ihm gefalle. Es ist scheußlich wie Eltern so herzlos sein können. Er ist einfach verschwunden.“

„So einfach verschwindet ein erwachsener Mann nicht. Er wird seine Gründe haben. Meist tauchen solche Vermisste plötzlich wieder auf.“

Ingrid blickte zweifelnd auf. „Sie sprechen wie einer von der Polizei. Die vertrösten uns doch mit solchen Worten, obwohl sie keine Ahnung haben was passiert sein könnte. Die wollen sich einfach die Arbeit vom Leibe halten.“

„Waren Sie denn schon bei der Polizei?“

„Nein, noch nicht. Außerdem weiß ich auch nicht wo ich mich hinwenden sollte.“

Fernando zögerte. „Da könnte ich ihnen vielleicht behilflich sein. – Aber vorher würde ich doch nochmals versuchen festzustellen, ob ihr Freund auch wirklich auf Lanzarote ist. Vielleicht ist er einfach irgendwo in Deutschland hängen geblieben.“

„In der Schweiz“, korrigierte Ingrid sofort.

„Ach natürlich“, sagte Fernando. „Trotzdem, er könnte überhaupt nicht hier sein. Das muss man zuerst feststellen. Ich könnte da vielleicht behilflich sein.“

„Sie?“

Jetzt lachte Fernando, wurde aber sofort wieder ernst. „Ja, könnte ich. – Ich war vorhin nicht ganz ehrlich, als ich mich vorstellte. Mein Name ist Comisario José Fernando Romero. Ich war bei der Policía Nacional, jetzt aber im Ruhestand.“

Erschrocken richtete sich Ingrid auf. „Polizei!“

„Beruhigen Sie sich“, mahnte Fernando. „Ich bin nicht mehr im Dienst und habe auch keine polizeilichen Befugnisse mehr. – Dennoch, ich habe da ein paar Freunde…“

„Nein, nein“, wehrte sich Ingrid sofort. „ich möchte keinen Wirbel auslösen. Christian wird sich irgendwann wieder melden.“

Fernando sah, wie sich Ilona hinter der Theke zu schaffen machte und Blicke zu ihnen hinüber warf. Als er aufschaute, schüttelte sie fast unmerklich den Kopf, wie wenn sie ihm signalisieren wollte, er solle sich doch bitte nicht einmischen. Sie kannte ihn nur zu gut und wusste, wenn er einmal etwas aufgegriffen hatte, dann ließ er sich nicht beirren und verbiss sich darin, bis alles gelöst war. Seit er im El Rondó arbeitete, war hier etwas Ordnung eingekehrt. Oft waren die Gäste unausstehlich, was sich dann auf das Personal auswirkte, so dass es herging wie in einem aufgescheuchten Fliegenschwarm. Neben ihr selber stand hinter der Theke noch ihre Nichte, welche sich so ein Taschengeld verdienen wollte. Mit siebzehn war diese aber noch jung und unerfahren, so dass sie sich schnell von der Hektik der Kellner anstecken ließ, Bier verschüttete oder Teller fallen ließ. Dann musste Ilona mit aller Kraft selber die Bestellungen heranschaffen. Das dauerte glücklicherweise manchmal nur eine Stunde oder so, aber danach war sie fix und fertig, so dass sie oft daran dachte, diese Plackerei endlich aufzugeben. Don Fernando hatte mit seiner unerschütterlichen ruhigen Art Ordnung ins Lokal gebracht. Er scheute sich auch nicht, einmal einen nervösen Mitarbeiter zur Ruhe zu mahnen, und die Kunden schienen ob seiner seriösen Gelassenheit auch merklich gemäßigter und geduldiger zu werden. Der Mann gefiel ihr, sehr sogar, aber nach der Katastrophe ihrer Ehe war sie vorsichtig und abwartend geworden. Ein Ex-Polizist, das fehlte ihr gerade noch. So einer war doch dauernd in Probleme verwickelt, und das brauchte sie nun wirklich nicht. Trotzdem verfolgte sie immer wieder verstohlen seine Gestalt. Träumen war doch erlaubt. Sie schruppte die freie Fläche der Theke erneut und erneut.

Ingrid trank den letzten Schluck des Weines und schüttelte den Kopf. „Herr Fernando“, sagte sie. „Vielen Dank für ihre Anteilnahme, aber ich denke, ich muss selber sehen…“

„Einfach Fernando“, unterbrach er sie. „Wie heißt denn ihr Freund mit vollem Namen?“

„Christian Sonderegger.“

„Sonderegger, was für ein ungewöhnlicher Name“, wunderte sich Fernando. Da ist auf Lanzarote wohl kein Anderer, der so heißt. – Müsste eigentlich leicht zu finden sein.“

Ingrid wollte gehen, antwortete aber dennoch: „Ach wo, der Name ist in der Ostschweiz häufig zu hören. Da gibt’s ganze Dörfer, da heißen alle so.“

„Interessant“, entgegnete Fernando. „Ich sehe, Sie wollen gehen. Ich hoffe, sie wiederzusehen. Es war mir ein Vergnügen…“

Kapitel 4

Nach Feierabend, seine Schicht endete um acht Uhr, fuhr Fernando nicht direkt nach Hause. Ohne wirklich zu wissen was er da wollte, lenkte er seinen alten Skoda vom Parkplatz am Hafen in Richtung Biosfera, dem bekannten Einkaufszentrum von Puerto del Carmen. Wie immer erschien ihm der Ausdruck Biosfera für ein Shopping-Center maßlos übertrieben. Es mutete geradezu überheblich an, die paar Geschäfte, diverse Cafés und einen McDonald mit dem gesamten Lebensraum der Erde zu vergleichen. Immerhin war der Ort, seit der Entstehung vor sechszehn Jahren, so etwas wie das Zentrum des Ortes geworden. Sogar für die Autobusse wurde dies zur wichtigsten Haltestelle von Puerto del Carmen.

Während der kurzen Fahrt schweiften seine Gedanken weit ab, so dass er beinahe einen Radfahrer übersehen hätte. Er machte einen Schwenker und grinste entschuldigend in dessen Richtung. Warum machte er sich nicht einfach auf den Weg nach Hause? Tías wäre direkt weiter gerade aus, und nach ein paar Kilometern würde er bei Tante Amara durch die Türe treten und später sein Abendessen bekommen. Musste er sich jetzt tatsächlich einmischen, er, der er doch seit ein paar Monaten pensioniert war und damit dem unsteten Leben eines Polizisten entflohen war? Aber war nicht gerade das das Problem? Seit der Pensionierung hing er herum wie ein abgenützter Besen. Es war eigentlich kein Zufall, dass er als Kellner im El Rondó anfing. Seine planlosen Ausflüge hatten ihn bald einmal zum Hafenlokal gebracht, wo er sich dann zu den alten Männern auf die Bank gesellte. Bald aber merkte er, dass ihn deren Gespräche langweilten, denn sie handelten immer nur über außergewöhnliche Fischfänge, ausgiebige Feiern, Essen, Trinken und natürlich über Frauen. Die alten Lüstlinge, dachte er, was für ein Leben, da zu sitzen, Zigaretten zu rauchen und den leicht bekleideten Touristinnen nachzuglotzen. Was die Letzteren natürlich schamlos provozierten, denn die unförmigsten Weiber zeigten wackelnde Busen und gigantische Pobacken. Unverständlich, wie sich Urlauber, wenn sie ihre Heimat hinter sich ließen, schamlos verhielten, ohne zu bedenken, dass das Gastland eine katholische Kultur hatte, wo Sittlichkeit gepflegt wurde. Ja, die alten Männer waren nicht die Einzigen, die darüber hinwegsahen. Das Tourismusgeschäft lief, und Geld rechtfertigte natürlich alles.

Fernando setzte sich bald einmal drinnen im El Rondó an die Theke und trank sein einsames Bier. Die schwarz gekleidete Frau gegenüber entpuppte sich als die Geschäftsführerin. Ihre besonnene speditive Art, wie sie ihre Arbeit erledigte, war ihm bald aufgefallen. Sie ordnete die bereitgestellten Tapas unter der Glashaube, zapfte dann und wann ein Bier oder bediente die Kasse. Freundlich erkundigte sie sich nach seinem Woher und Wohin und ob er vielleicht noch ein Bier möchte. Sie gefiel ihm. Ein Wort gab das Andere und seine Anstellung als Aushilfskellner war bald beschlossene Sache.

Fernando lenkte seinen Wagen um den Kreisel, eine kurze Steigung hinauf und hundert Meter weiter, zur Zentrale der Guardia Civil. Das Tor stand weit offen, und er parkte problemlos auf dem kleinen Platz hinter dem massiven Zaun. Obwohl ein paar Beamte im Eingang standen, hielt ihn niemand auf. Man schien Comisario Fernando zu kennen. Dieser war sich durchaus bewusst, dass er als ehemaliger Beamter der Policía Nacional eigentlich beim falschen Polizeikorps eindrang. Er wusste aber auch, dass der Zoll- und Grenzschutz zur Aufgabe der Guardia Civil gehörte und erhoffte sich damit eine rasche Abklärung. Der leitende Polizeidirektor, im Range eines Coronels, begrüßte ihn lautstark und bat ihn, auf dem gegenüberliegenden Stuhl Platz zu nehmen. Nachdem die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht waren, erkundigte sich Coronel Martinez, was Fernando, dessen Zusammenarbeit er immer sehr geschätzt habe, zu ihm geführt habe, und ob er helfen könne. Man sei ja schließlich für das eigene Land im Einsatz und versuche Recht und Ordnung zu erhalten. Solche Sprüche kannte Fernando schon, dieser Martinez war auch bekannt für seinen steifen Umgang. Aber versuchen konnte er es trotzdem.

„Coronel“, begann er deshalb, „ich hätte da eine kleine Bitte. Ein Fluggast wird seit Dezember erwartet, jetzt aber vermisst. Nun stellt sich natürlich die Frage ob der Mann überhaupt auf Lanzarote angekommen ist. Das müsste doch leicht herauszufinden sein. Er heißt Christian Sonderegger.“

„Wie bitte… Sondo…?“ entgegnete der Coronel.

„Sonderegger“, half Fernando. „Ein komischer Name, aber der Mann ist Schweizer.“

„Na ja, die haben fürchterliche Namen. – Aber wie kann ich da helfen?“

„Ich dachte, die Guardia Civil kontrolliert doch die Einreise. Es müsste doch möglich sein, einen Blick auf die Passagierlisten zu werfen“, erklärte Fernando.

Martinez zögerte. „Hm… so einfach geht das leider nicht. Liegt denn eine Anzeige oder Vermisstenmeldung vor?“

Der Mann wusste ganz genau, dass er hier nicht in offiziellem Auftrag erschienen war. Aber Fernando hoffte auf kollegiales Verständnis und entsprechende Hilfsbereitschaft. „Nein natürlich nicht“, antwortete er deshalb. „Ich bitte Sie rein persönlich um einen Gefallen.“

„Aber sicher, ich verstehe, wir wollen sehen was sich machen lässt. Machen Sie sich aber keine zu großen Hoffnungen, die Passagierlisten sind in den Händen der Fluggesellschaften und Sie wissen ja, wie viele Flugzeuge Lanzarote anfliegen. Die Guardia Civil versucht immer die Kontrolle über den Grenzverkehr zu behalten, aber Sie wissen auch, die Unterbesetzung im Corps lässt uns wenig Spielraum.“

Schöner konnte man eine Absage nicht formulieren, dachte Fernando. Der Kerl war nicht einmal Mann genug, einfach Nein zu sagen. Fernando verabschiedete sich kurz darauf und verließ das Gebäude mit steinerner Miene. Die Zusammenarbeit mit der Guardia Civil war schon seit er denken konnte problematisch. Die Kerle wähnten sich etwas Besseres, denn ihre Organisation war nicht nur der zivilen Polizeidirektion unterstellt, sondern vor allem auch dem Militär. Sie war deshalb bei der Bevölkerung auch mehr gefürchtet als die Policía Nacional. Es war ein Fehler von ihm bei denen anzufragen. Er musste selber einen Weg finden um seine Fragen zu beantworten. Ja, sollte er sich wirklich die Mühe machen? Das Verschwinden eines Touristen war doch nicht sein Problem.

Tías liegt etwa zweihundert Meter höher als Puerto del Carmen. Die Straße dort hinauf führt vorbei am Golfplatz und an kargen landwirtschaftlich genutzten Feldern. Dass auf der regenarmen Insel das Wasser für das Vergnügen einiger Reichen verschwendet, und nicht für die dringend benötigten Kulturen benutzt wurde, verstand Fernando immer noch nicht. Aber auch das lag doch nicht in seiner Verantwortung. Er war im wohlverdienten Ruhestand.

Die Fahrt dauerte keine zwanzig Minuten, aber das Verlangen nach einer Zigarette peinigte ihn gewaltig. Dieser verfluchte Coronel hatte ihn mehr erschüttert, als er sich eingestehen wollte. Der Kerl hatte ihm unmissverständlich vor Augen geführt, dass er tatsächlich endgültig abgeschrieben war. Er gehörte zu den Alten, denen man höflich, freundlich und bemitleidend ihren Platz zuwies. Gerade mal als Kellner war er noch zu gebrauchen, mehr lag da nicht drin. Obwohl das eigentlich verboten war, fischte er sich während der Fahrt umständlich eine Zigarette hervor und betätigte den Anzünder an der Konsole. Es war dunkel und kaum Verkehr, was soll’s. Er war Polizist und sich selber anzeigen war wohl das Blödeste was man sich vorstellen konnte. Polizist. Warum klammerte er sich ständig an diesen Namen? Comisario. War das nicht einfach ein Beruf wie jeder andere? Mensch, lass los, du machst dich selber verrückt. Du bist pensioniert, erfreue dich doch deiner Freiheit und genieße den Lebensabend. Ja, war er denn jetzt alt? – Lebensabend, das tönt so als wäre man kurz vor dem Tod. Der Gedanke an das Lebensende erfüllte ihn erneut mit Nachdenklichkeit. Seit dem Tod seiner Frau lebte er mit seinem Sohn Pablo bei Tante Amara. Na ja, eigentlich war das eher sein Männerhaushalt, denn das Haus gehört natürlich ihm, Fernando. Da aber die alleinstehende Amara, die Mutter seiner verstorbenen Frau, seit längerem bei ihnen lebte, war es trotz ihres Alters nur logisch, dass sie den Haushalt übernahm und für die beiden Männer kochte. Sie nannten sie liebevoll Tía Amara, obwohl sie eigentlich ja die Großmutter und nicht die Tante von Pablo war. Sein Sohn vergötterte die alte Frau. Er hatte ja auch die meiste Zeit seines Lebens mit ihr zusammen verbracht und wurde von ihr, als einziger Enkel, wie konnte es anders sein, entsprechend verwöhnt. Heute war Pablo aber der Kindheit entwachsen. Er hatte mit zweiundzwanzig sein Studium abgebrochen und arbeitete seitdem in der Ferretería auf der anderen Seite von Tías, dort wo die Straße Richtung San Bartolomé hinführt. Die Arbeit in diesem Eisenwarengeschäft war unregelmäßig und scheinbar nicht besonders erfüllend. Fernando fragte sich manchmal, wie lange Pablo das noch durchziehen, und wann er vielleicht eine eigene Familie gründen und wegziehen wollte. Dann würde es in seinem Haus noch einsamer werden. Er vermisste seine Frau in so einem Moment ganz besonders. Schmerzhaft wurde ihm bewusst, dass wenn er heute durch die Türe ins Wohnzimmer kommen würde, ihn außer Tía Amara, niemand empfangen würde. Sein Sohn war meist irgendwo unterwegs, so dass Amara öfters klagte, dass der Junge nichts Richtiges zu Essen bekomme. Er blieb immer öfter den Mahlzeiten fern.

Es war nun schon mehr als zehn Jahre her, seit dem Tod seiner geliebten Maria. Viele Monate verbrachte sie im Krankenhaus in Arrecife, wo sie dann nach langem Leiden den Kampf gegen den Krebs verlor. Das war eine Zeit in der er selber einen unbarmherzigen Kampf focht, zwischen den Anforderungen seines Berufes und dem Bedürfnis, an der Seite von Maria zu sein.

Warum beschäftigte ihn gerade jetzt dieser schmerzhafte, schon Jahre zurückliegende, Verlust derart? Als er in die kleine Calle Drago einbog und vor seinem Haus anhielt, kurbelte er das Seitenfenster herunter, warf den Zigarettenrest zu Boden und atmete tief die frische Luft. Im Gegensatz zu den Straßenzügen unten in Puerto del Carmen, wo es oft unschön nach Abwasser stank, war es hier oben angenehm frisch. Manchmal zu frisch und richtig kalt, korrigierte er sich und stieß die Wagentür auf. Das weiß getünchte Haus hob sich in der Dunkelheit deutlich vom Himmel ab. Hinter dem Gartentor lagen die mit schwarzen Lapilli beschichteten Beete, wo allerlei Kakteen, Geranien und unbekannte Büsche wucherten. Es waren nur ein paar wenige Schritte bis zur Tür. Das Fenster daneben war hell beleuchtet und verriet, dass Tante Amara auf ihn wartete.

Am nächsten Morgen verlor Fernando keine Zeit. Seine Schicht im El Rondó begann um zwei Uhr. Sohn Pablo war schon weg. Dieser war am Vorabend kurz nach zehn Uhr nach Hause gekommen, hatte mit seinem Vater noch ein Glas Wein getrunken und war dann frühzeitig in sein Zimmer verschwunden. Er hatte etwas von wichtigen Auslieferungen erzählt, welche früh morgens erledigt werden müssten. Na ja, die alte Geschichte, nichts konnte schnell genug gehen, und man musste immer selber für alles sorgen. Fernando schüttelte den Kopf. Wurden die Menschen denn nicht vernünftiger? – Und er? Warum hetzte er mit hoher Geschwindigkeit den Berg hinunter, Richtung Arrecife?

Kaum zu glauben, die kleine Insel Lanzarote hatte sogar ein paar Kilometer Autobahn. Über diese fuhr Fernando mit Höchstgeschwindigkeit. Kurz bevor er die Hauptstadt erreichte, nahm er die Ausfahrt zum Flughafen. Er stellte sein Auto auf den Besucherparkplatz und betrat kurz danach die Ankunftshalle. Noch waren wenige Flugzeuge gelandet, und die Halle war praktisch leer. Das kam Fernando entgegen, denn in der darauf folgenden Hektik, wenn die Ankünfte im Dreiminutentakt erfolgten, waren seine Aussichten auf ein vertrauliches Gespräch mit Gregor gering. Gregor war ein vor vielen Jahren zugewanderter Serbe und arbeitete in der Abteilung „Lost and Found“, dem Fundbüro. Fernando vermisste ja kein Gepäckstück, aber er wusste ganz genau, dass an dieser Stelle die Passagierlisten einzusehen waren. Gregor war da und grinste dem Comisario fröhlich entgegen.

„Ola, Comisario!“, begrüßte er Fernando. „So früh schon an der Arbeit?“

Ha, früh, dachte Fernando. Es war schon kurz vor zehn. „Gregor, du alter Gauner!“, konterte er und verschwieg seinen Ruhestand wohlwissend. „Ich brauche deine Hilfe.“

„Na dann, kommen Sie herein“, beeilte sich der Mann und öffnete die Türe neben dem Schalter. „Was kann ein einfacher Gepäckträger für die gestrenge Polizei tun?“

„Die Polizei ist doch dein Freund…“

„Ja, ja, ich weiß schon, und helfen soll jetzt ich. – Wo brennt’s denn?“

„Die Passagierlisten der letzten dreißig Tage…“, begann Fernando.

„Die bekommen Sie doch ganz offiziell von der Flughafenbehörde“, wunderte sich Gregor.

„Das schon“, gestand Fernando, „aber es ist etwas kompliziert. Ich möchte, dass du einen Blick in deinen Computer wirfst und mir einen Namen suchst.“

„Comisario, das darf ich doch nicht…“, wand sich der Mann.

„Doch, doch, das geht schon.“

„Wie denn, ich werde meinen Job verlieren, wenn das raus kommt.“

„Es wird schon niemand erfahren“, beruhigte Fernando.

„Ich kann nicht!“

„Doch das kannst du bestimmt, und den Job behältst du noch viele Jahre. – Wann hast du hier denn angefangen?“

Gregor wusste genau, dass seine Ankunft auf Lanzarote einer genaueren Prüfung nicht standhalten würde. Er wurde bleich und lenkte stotternd ein: „Also, wenn… die Polizei das wünscht… muss ich mich wohl fügen. Wen suchen Sie denn?“

„Einen Herrn Christian Sonderegger, Schweizer.“

„Wie? Ich muss das aufschreiben. Aus der Schweiz, ach so, Suiza.“

Fernando grinste. „Ganz richtig, Suizo. Der Mann sollte seit Anfang Dezember angekommen sein. Ich brauche das Datum und die Airline.“

Gregor blickte auf den Computer und zögerte. „Das wird eine Weile dauern, und ob die Daten des Dezembers noch vollständig vorhanden sind, weiß ich auch nicht.“

Fernando winkte ab. „Lass dir Zeit“, sagte er gutmütig, fügte aber dann hinzu: „Morgen vormittags will ich das Resultat. Du kannst mich jederzeit anrufen. Hier, meine Handy-Nummer, schreib‘ sie da dazu! Und noch etwas, das bleibt unter uns, wir verstehen uns doch.“

„Natürlich Señor Comisario, natürlich, ich werde Sie sofort benachrichtigen.“

Fernando drehte ihm den Rücken zu, verließ den Raum und durchquerte die Ankunftshalle mit langen Schritten. Er wich den jetzt aus aller Welt hereinströmenden Menschen aus und umrundete die in der Halle platzierten riesigen Lavabrocken. Die schwarzen Ungetüme sollten die ankommenden Touristen sofort auf Lanzarote, die bizarre Lavainsel, einstimmen. Sie wird auch als ‘Die schwarze Perle im Atlantik‘ bezeichnet.

Zufrieden machte sich Fernando auf den Rückweg, fuhr die untere Straße nach Puerto del Carmen hinein und war gerade noch rechtzeitig zum Schichtanfang im El Rondó.

Ilona empfing ihn mit einem Lächeln, was seine gute Stimmung nochmals steigerte.

„Hola, Fernando, Sie scheinen aber wirklich bester Laune“, sagte sie fröhlich.

„Señora Ilona, Sie zu sehen ist immer eine Freude“, antwortete er galant. „Ihr Lächeln…“

„Schmeichler“, unterbrach sie ihn schelmisch und beugte sich über die Theke. „Ein Polizist beabsichtigt doch immer etwas, wenn er so zuvorkommend beginnt. – Wen wollen Sie heute verhaften?“

„Na ja, Sie abzuführen wäre natürlich ein besonderes Vergnügen“, ging er auf das Geplänkel ein. „Wie wär’s denn mit einem Abendessen?“

„Langsam, langsam mein Lieber“, bremste sie. „Erst einmal nennen Sie mich nicht immer so formell Señora, einfach Ilona genügt durchaus.“

„Danke Señ… Ilona. Ilona, ich hätte da tatsächlich eine Bitte. „Sie wissen doch, die blonde Dame gestern, sie ist öfter hier. Haben sie schon mit ihr gesprochen?“

„Aha, jetzt kommt schon mal das Verhör!“

„Ach, Unsinn! Ich wäre einfach dankbar, wenn ich etwas mehr über die Frau erfahren könnte. Sie scheint in Schwierigkeiten zu sein.“

„Aua! Auch noch eine Rivalin! Mir schwimmt wohl bereits das Abendessen davon…“

„Nein, nein, du siehst das völlig falsch, Ilona. Sie könnte ja meine Tochter sein. Ich wollte nur wissen, ob du einmal mit ihr gesprochen hast und ob du zum Beispiel etwas über ihre Herkunft, Familie, Wohnort oder mehr erfahren hast. – So zwischen Frau und Frau.“

Ilona lehnte sich zurück. „Also, dann wird es jetzt ernst. Ja, wir haben schon miteinander gesprochen, aber viel hat sie nicht erzählt. Sie stammt aus Deutschland, lebt aber in der Schweiz. Sie ist hier auf Lanzarote seit Anfang Dezember, und wenn ich recht verstanden habe, wohnt sie auf einer Finca oberhalb von Conil.“

„Wo denn genau? Hast du eine Adresse?“

Ilona schüttelte den Kopf. „Wie denn? Ich bin doch nicht die Einwohnerkontrolle. Das ist doch eher dein Gebiet, mein lieber Comisario.“

„Ist ja schon gut“, beschwichtigte er. „Es hätte ja sein können, die Touristen ergötzen sich doch immer mit dem Thema, Woher und Wohin. – Oberhalb Conil, das müsste doch zu finden sein.“

„Dann mein Lieber, mach dich mal an die Arbeit. – Natürlich zuerst mal hier, dort drüben warten Gäste.“

Fernando grinste. Na ja, das war wohl der einfachere Teil, das mit den Hungrigen, das war ein leichtes Spiel, da ging’s um Seebarsch, Lachs, Garnelen oder Muscheln. Der besondere Weißwein von Lanzarote mundete den Fremden auch immer, und ein Café Solo rundete das Ganze zu aller Zufriedenheit ab.

Kapitel 5

Die Finca lag etwa zwei Kilometer nördlich von Conil auf einer kleinen Anhöhe in unmittelbarer Nähe der Ermita de la Magdalena. Die einzigartigen Trichter der Weinberge lagen weit angelegt, in langen Reihen, von den Abhängen der Montaña Tersa bis hinab ins berühmte Weintal ‘La Geria‘. Dort unten reihten sich die Bodegas entlang der Straße und warteten auf die Touristenbusse. Hier oben war Ruhe und ein atemberaubender Ausblick hinüber zu den Feuerbergen und zum Nationalpark Timanfaya.

Fernando fand das Anwesen schnell, denn hier in der ländlichen Gegend fiel eine fremde Besucherin sofort auf. Ein paar Fragen an einen Bauern auf einem Feld oberhalb Conil, brachten ihn in Richtung der Ermita, einem alten Gemäuer, das einmal eine Kirche gewesen war. Jetzt war diese aber verschlossen, und die Fassade hatte bessere Zeiten gesehen. Der Putz war abgebröckelt, und rundum hatten sich Flechten, Farne und Gestrüpp breitgemacht. Er stellte seinen Wagen in einem Feldweg ab. Die Bauten neben der Ermita waren kaum in besserem Zustand, schienen aber noch bewohnt. Von dort wies ihn eine alte Frau ein Stück weiter, zur Finca des Señor Vogt. Der sei aber seit längerem abwesend, und wenn da nicht bald etwas geschehe, würde das Gut bald verlottern. Es wäre die Zeit, die Reben zu schneiden, aber der faule Kerl, der dort gelegentlich arbeite und eigentlich zuständig wäre, würde keinen Finger rühren. Ja, die junge Frau, die vor ein paar Wochen gekommen sei, die sei wirklich zu bedauern. Sie wirke so verloren, und man frage sich schon, was sie hier überhaupt wolle und wie das weitergehen sollte.

Fernando bedankte sich und machte sich auf die letzten paar Meter. Plötzlich schoss ihm ein Hund entgegen. Konnten die denn ihre Köter nicht unter Kontrolle halten, fluchte er und bückte sich nach einem Stein. Er mochte es überhaupt nicht, wenn er angegriffen wurde. Das Tier verstand und blieb hecktisch bellend in ein paar Metern Abstand stehen.

„Na, sei schon ruhig, ich will doch nichts von dir!“, versuchte Fernando die aufgeregte Kreatur zu beschwichtigen. „Bleib wo du bist!“

Der Lärm schien niemanden zu alarmieren, nur die alte Frau weiter unten blickte in seine Richtung. Zwischen die Fronten geraten, versuchte es Fernando mit Angriff. Er schwitzte gewaltig, aber trat jetzt energisch auf das offene Tor zu, den Hund immer im Blickwinkel. Dieser wich zögernd zurück, wie wenn er sagen wollte, dass seine Pflicht erfüllt wäre und andere jetzt die Reihen schließen sollten.