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Im Buch "Die bekanntesten Sagen aus dem Ostharz" werden 21 weit verbreitete Geschichten aus Ballenstedt, Gernrode, Quedlinburg, Thale, Blankenburg, Halberstadt & Wernigerode dargestellt und auf ihren Sinngehalt hin untersucht. Das in den Sagen zutage tretende Wissen unserer Ahnen, mystische Kraftplätze, magische Zeiten & die Weisheit ihrer Rituale betreffend, erstaunt zutiefst. Die Herangehensweise, eine Sage aus den im Buch vorgestellten Betrachtungswinkeln (Sachinformation, Ahnung, Gefühl & der spirituellen Essenz) zu untersuchen, ist bisher einmalig und auch auf alle Regionen außerhalb des Harzes einfach übertragbar.
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Seitenzahl: 117
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Das Gastmahl des Gero
Der Heilige Teich
Der Mägdesprung
Die Sage der Rosstrappe
Die Walpurgisnacht
Hexe Watelinde
Der Siebenbrüderfelsen
Quedel, das Hündchen
Recht steht über Adelstiteln
Der Neinstedter Schicksalsstein
Der Halberstädter Lügenstein
Die Teufelsmühle
Die blaue Blume
Von der Schäfereiche Suderodes
Vom Auszug der Zwerge
Die Zwerge vom Meiseberg
Die Schicksalsbecher vom Falkenstein
Von der Teufelsmauer
Am Gegenstein
Der Kuhstall an den Drei Zinnen
Die entführte Jungfer vom Regenstein
„Weshalb noch ein Harzer Sagenbuch?“, fragt sich manch ein Leser vielleicht. Tatsächlich habe ich selbst lange Zeit als Sagen-Fan und Harz-Liebender davon Abstand genommen, ein Büchlein zu den bekanntesten Sagen zu veröffentlichen. Dennoch halten Sie dieses Buch in den Händen und sind nun sicherlich interessiert, inwieweit es sich von anderen Veröffentlichungen abhebt?
Nun, mir genügt es nicht die Geschichten zu erzählen – nein! Mich begeistert es, ihre Hintergründe zu erforschen: Was genau will uns eine Sage berichten? Was ist ihr wahrer Kern bzw. ihr tieferer Sinn?
Um diese Arbeit systematisch anzugehen, entwickelte ich ein Raster (siehe unten), das uns behilflich sein kann, einer Überlieferung auf den Grund zu gehen.
S
Sache
Gemeint ist die Sachinformation der Sage: Welche Personen handeln wie, wo & wann? So belanglos, wie diese Informationen oft scheinen, sind sie nicht!
A
Ahnung
Welche moralische Lehre der Ahnen steckt in der Sage? Welcher Lebensweg führt zum Glück & welches Verhalten birgt Leid?
G
Gefühl
Welche Herzens- bzw. Heilsbotschaften verstecken sich hinter den Geschichten? Was spricht mich persönlich an und was berührt mein Herz?
E
Essenz
Zuletzt, liegt in vielen Sagen ein spiritueller Kern verborgen. Unsere Vorfahren hatten einen starken Bezug zum Übernatürlichen/Göttlichen. Welche Handlungsanweisung für das Hier- & Jetzt erfahre ich aus dem Wortlaut der Sage? Wie wirkt der sagenhafte Ort auf mich? Was weckt er in mir?
Eine Sage kann demnach aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachtet werden, wobei gesagt werden muss, dass sich die wenigsten Menschen Mühe geben, eine Sache wirklich durchschauen zu wollen. So oft hörte ich z.B. Touristen an der Rosstrappe sagen: „Von wo ist die Prinzessin gleich gesprungen? – Von dort drüben? – Ach das ist doch viel zu weit, solche Sagen sind doch Unsinn!“
Das Wissen, dass sie auf einem vorchristlichen Kultplatz unserer Ahnen stehen, der tausende Jahre lang als heilig galt, entgeht ihnen leider. Auch das erhabene Gefühl, auf einer Anlage (Winzenburg, Homburg und die Bodetal-Wälle) zu stehen, die eine der größten und bedeutsamsten ihrer Art in Europa war, bleibt ihnen verschlossen. Mir scheint es fast so, als würden wir trotz allem uns zur Verfügung stehenden Wissen, trotz der angehäuften Güter, trotz der vielen, faden Bekanntschaften und Beziehungen und der prächtig gefeierten Geburtstags- und Weihnachtsfeste, blind, leer und unerfüllt bleiben. In eben dieser Sinnleere, können uns Sagen als „Hohe Lehrgeschichten“ helfen, unseren Alltag mit Substanz zu füllen und ein erfülltes Leben zu führen. Die Prinzessin Brunhilde vom Rosstrapp gab Zeugnis dafür, aber später mehr davon! ;-)
Wir waren dabei, dass uns Sagen berühren können, wenn wir sie aus unterschiedlichen Betrachtungswinkeln auf uns wirken lassen: Die „normale“ SACHINFO liegt oft auf der Hand, ist in jedem touristisch-geschichtlichem Reiseführer der Region abgedruckt, weshalb ich sie in diesem, speziellen Buch vernachlässige. Die AHNUNG, also die moralische Botschaft, welche die Ahnen gläsern in einer Geschichte verpackten, die oft auf leisen Sohlen daherkommt, ist für mich schon interessanter. Und genau hier wird es spannend: Manche Geschichte berührt mich nicht nur, sie packt mich, zieht mich magisch an und auch der sagenhafte Ort hüllt mich in einen sonderlichen Bann.
Hier werden GEFÜHLE in mir wach, Erinnerungen steigen in mir auf und ich ahne; dieser Ort hat etwas mit mir und meiner Lebensgeschichte zu tun. Wenn ich es schaffe, mich dem nicht zu verschließen und mich all dem hinzugeben, was geschehen möchte, dann werde ich oft überrascht werden. Vielleicht wallt Angst in mir auf, oder ich fühle mich wie Hape Kerkeling auf seinem Jakobsweg, der schreibt: „Ich habe gehört, jeder weint mindestens einmal auf seinem Weg, … doch aber bitte nicht schon am ersten Tag!“ - Natürlich ist Traurigkeit nicht das Maß aller Dinge, aber wie wertvoll war ein Tag, wenn er uns nicht berührt hat? Herausragend finde ich die Erkenntnis darum, dass die meisten Sagen eine spirituelle ESSENZ beinhalten. Sie erzählen also davon, wie es mir gelingt, Gott nah zu kommen. Diese vier „Betrachtungswinkel“ ermöglichen es mir, in der Sage mehr zu sehen als eine belanglose Erzählung.
Damit wir nicht aneinander vorbeireden oder -denken, möchte ich betonen, dass immer wieder (wie eben) von Gott oder vom Teufel die Rede sein wird. Hier sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ich diese Begrifflichkeiten vielschichtig verwende. Mir geht es also nicht nur um den „Herrn im Himmel“, den das Christentum propagiert. Manch ein Leser betet zu einem anderen, höchsten Prinzip. Vielleicht heißt ihr Gott Allah, Krishna, Buddha oder schlichtweg „Liebe“?! Wenn ich von Gott spreche, meine ich das höchste Prinzip, das in uns und um uns ist, dem wir uns zuwenden können und, dass nach Vollkommenheit strebt.
Wichtig zu verstehen ist, dass meine Ideen zum Sinn einer Sage auch wirklich nur Ideen, also Vorschläge sind. Vielleicht entblättern sich die Sagen vor Ihnen noch auf ganz andere Art und Weise mit größerer Tiefe – es gibt hier kein entweder-oder, kein richtig oder falsch. In dieser Sinn- und Bedeutungssuche kann das Gegenteil der Wahrheit auch wahr sein! Alles, was in diesem Büchlein geschrieben steht, ist also lediglich ein Versuch, dem Sinn der Sagen auf die Schliche zu kommen.
Ich freue mich von Herzen, dass sie mich bei diesem Abenteuer – einen Funken Wahrheit einer Sage ans Tageslicht zu bringen – ein paar Berge und Täler durch unseren Harz begleiten wollen! Und vielleicht finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser beim Erarbeiten dieses kleinen Werkes noch einen ganz anderen Zugang zu den Geschichten unserer Ahnen. Dann bitte, lassen Sie mich daran teilhaben – ich freue mich und verbleibe gleichsam als Lehrender und Lernender mit harz‘lichen Grüßen!
Ihr
Blutrot ging die Sonne an jenem Abend unter, als der Slawenfürst Tugimar mit seinem gerade heimgekehrten Sohn auf dem höchsten Turme der hölzernen Wallburg zu Stecklenberg stand, um ihm zu eröffnen, welch wichtiges Ereignis dieser Nacht bevorstehen würde: „Mein Sohn, ein ganzes Jahr ist es her, dass wir uns zuletzt in den Armen gehalten und so ist heute gleich doppelter Grund zur Freude! Wir ziehen noch diese Nacht zu Geros Burg, aber stell‘ dir vor, nicht zum Kampfe, zum Gastmahl!“ „Ein Gastmahl bei Gero? Weiser Vater, Gero war uns niemals wohl gesonnen! Erschlugst du nicht seinen Bruder in der Schlacht? Mein Blut gefriert, allein beim Gedanken daran, ungeschützt auf seiner Feste zu sein.“ „Schutz ist nicht mehr vonnöten, wenn der Bund des Brüder-Friedens im Harzer Gau bald liegt! 29 Fürsten werden mit uns reiten, feiern und lachen. Mein Sohn mach dich bereit!“ „Mein Vater, bedenke ...!“ „Still Sohn, es ist beschlossen. Wir reiten!“, sprach Tugimar mit eiserner Miene die keine Widerrede duldete.
Kurze Zeit später ritten einunddreißig Slawenfürsten durch den dichten Wald. Nur das Huf-Getrappel war zu vernehmen und als der Tross vor der Elfenwiese innehielt, um von den Wesen der altheiligen Stätte den Segen zum Überqueren zu erbitten, da war es totenstill. Dichter Nebel zog gespenstisch über den herbstnassen Boden und keinem der Männer war wohl zumute, nur hätte niemand von ihnen in Worte kleiden können, was ihre Seelen umschlich. Bevor der Gedanke, heimzukehren in Tugimar Wurzeln schlagen konnte, rief er „Weiter!“ und die Schar folgte ergeben.
Kurz vor Geros Burg, ritt Tugimar neben seinem Sohne her, schaute ihm tief ins Herz und der Blick verriet, dass sie ähnlich fühlten. „Sohn, was die Nacht auch bringt, es kommt, wie es soll!“
Das Burgtor Geronisroths stand weit geöffnet und die Wachen schritten bereitwillig aus dem Weg, als der Tross über die Zugbrücke trabte. Selbst Markgraf Gero, Kaiser Ottos bester Mann, kam in den Burghof geschritten, um seine edlen Gäste würdig zu begrüßen. Wie Brüder nahm er Jeden in die Arme. „Endlich ist der Tag gekommen, da in unserem Gau die viel zu lange Nacht dem Lichte weichen muss! Seid willkommen.“, sprach Gero herzlich. Wie er aber die Slawenfürsten besah, stockte seine Rede. Kurzschwerter sah er und Dolche am Rocke. „Ihr kommt unter Waffen zum Gastmahl? Wie soll ich‘s deuten Tugimar?“, fragte er schroff. „Reine Vorsicht in den düsteren Tälern Gero!“, beschwichtigte der den Markgrafen und richtete das Wort an seine Getreuen „Meine Slawenbrüder, lasst all Rüstzeug bei den Rossen. Gero hat sicher eignes Besteck den Braten zu zerlegen“
So war es dann auch und was war das für ein Fest? Selbst die Pferde in den Ställen wurden aufs Vortrefflichste mit frischem Klee, bestem Hafer und gutem Wasser versorgt. Die Tafel der Ritter und Fürsten aber, war aufs Edelste gedeckt. In silbernen Töpfen war Gebratenes und Gesottenes. In goldenen Krügen war kostbarer Wein in solcher Menge angerichtet, dass mehrere Tage und Nächte lang gefeiert hätte werden können. Die Slawen langten tüchtig zu und bald erfüllte ein freudvoller und beherzter Gesang den Raum, den nur spärlicher Fackelschein beleuchtete. Alles lachte und tanzte gar mit manch prallem Weibe auf den Tischen. Aber wirklich alles?
Nein, Tugimars Sohn sprach dem Wein nur mäßig zu und blickte besorgt in die Runde. Geros Mannen schienen sehr an sich zu halten, während seine slawischen Mitstreiter schon mehr unter den Tischen zu liegen schienen als das sie daran saßen. „Vater, denkst du nicht, es ist Zeit heimzukehren?“, fragte er und deutete in die Runde. Tugimar begriff sofort. Zu zweit gingen sie zu Gero, sich gebührend zu verabschieden, als dieser ihm ins Wort fiel: „Es ist nicht Zeit zu gehen, sondern RICHTIG ZU FEIERN!“
Seine Worte hallten durch den Saal und sofort kippte die Stimmung: Der Gesang ebbte ab und wildes Kampfgeschrei hob an. Geros Mannen schlugen ihre Mäntel zur Seite, ließen Kurzschwerter aufblitzen; auch die Türen zum Saal sprangen auf, bewaffnete Sachsenkrieger stürmten in den Raum … es war ein bitterer aber kurzer Kampf. Die Slawenfürsten wehrten sich nach besten Kräften, kämpften mit Kerzenleuchtern, Weinkrügen, nur mit halber Sinneskraft, gegen blanke Schwerter, Lanzen und gegen ein Geschwirr von Armbrustpfeilen.
Nach wenigen Minuten lag der Saal in Trümmern und schwamm in rotem Saft. Tugimars letzter Blick galt seinem Sohn, dem der rettende Sprung aus dem Burgfenster gelang. Geros Mannen feierten ausgelassen einen großen Sieg. Sie ertranken ihr Gewissen im Wein, sangen vom Ruhm und ihr hohnvolles Lachen erstickte die Stille der Blutnacht um Geronisroth.
Nach diesem "Gastmahl", verbündeten sich die Völker der Slawen und Wenden und überzogen den Harzer Gau wie die gesamte Ostgrenze des Sachsenreiches mit einem wüsten Krieg. Beide Söhne Geros ließen in den Schlachten ihr Leben.
Gero war sich sicher: Der liebe Gott selbst hatte ihn verlassen. Zwar waren die Aufstände mit Hilfe des Kaisers Otto niederschlagen worden, doch was war ein Leben wert, beladen mit dieser Schuld?
Um Buße zu tun, pilgerte er nach Rom und spendete all seine Habe der Kirche.
Nur einige SACHINFOs am Rande: Im Jahre 959 ließ Markgraf Gero aus Reue die Stiftskirche errichten und stattete sie reich mit Ländereien und den Reliquien des heiligen Cyriakus aus. Die Gebeine sollten Heil-Suchenden helfen, Trost zu finden, Sorgen und Ärger fallen zu lassen. Seine Schwiegertochter Hathui, die er als erste Äbtissin im Stift Gernrode einsetzte, sollte ein geregeltes Einkommen finden und Ahnengedenken halten. Sie führte auch tatsächlich ein frommes Leben in Gottes Namen, doch davon erzählt die Sage vom „Heiligen Teich“. Ganz allmählich wandelte sich dank ihres Wirkens der Ruf von einer Blutstätte hin zu einem wundersamen Ort tiefen Friedens.
Gero hatte die AHNUNG, dass es vollkommen gleich war, ob er in Hinsicht des 30fachen Slawenmordes weltlich Recht bekam. Er hätte sich vor Gott zu rechtfertigen. Was half es ihm denn, als Sieger des Kampfes hervorzugehen? Ihm wurde schmerzlich bewusst, dass er verloren hatte, was ihm wahrlich lieb und teuer war: Seine Söhne. Am Höhepunkt seiner Macht angelangt, blieb er doch einsam und leer und litt an gebrochenem Herzen. Diese Sage handelt also weniger von Gerechtigkeit, als von wahrer Reue und dem tiefen Wunsch wieder Frieden in sich zu finden. (rechtes Bild: Das Sühnekreuz an der St. Stephanus, Gernrode)
Wie wahrscheinlich jeder andere, kenne ich dieses GEFÜHL, erst zu bemerken, von welchem Reichtum ich umgeben war, nachdem ich alles einbüßte. Oftmals sind unsere Augen vor den kleinen, alltäglichen Wundern verschlossen. Wir suchen nach Macht, Reichtum, Ansehen; wollen immer höher und weiter; brauchen immer spektakulärere Events. Dabei vergessen wir allzu leicht den kleinen Moment mit unseren Lieben, obwohl er uns reich machen könnte. – Es ist wie zur Weihnacht: Die gute Stube ist reinlich, der Baum aufgestellt und geschmückt, alles strahlt und duftet und liebliche Klänge liegen in der Luft. Würden wir erkennen, dass nichts ewig ist, dass vielleicht heute der letzte gemeinsame Abend wäre, wir könnten die Magie der „Heiligen Nacht“ viel besser verstehen. Wir wüssten, die wahren Geschenke sind die Menschen, die hier bei uns und in unserem Herzen einen stillen, friedvollen Moment der Liebe verbringen. Ohne Reue könnten wir leben, weil wir den Zauber des Moments begreifen oder ergreifen, noch bevor er vergangen ist.
Die Reliquien, zumindest der Dorn aus der Dornkrone Christi, soll im Kirchenschiff, in der Nähe der Grablege Geros vergraben liegen. In einer anderen Sage heißt es, wer auf ihr steht und von Herzen um Buße bittet, verliert die Schuld von 40 Monden bzw. verjüngt sein Herz um 40 Monde – vielleicht ein Hinweis auf einen alten, belebenden Kraftplatz?
Wenn wir so wach, oder achtsam, in der St. Cyriakus stehen, können wir die ESSENZ der Sagen und die unvergängliche Schönheit der Dinge um uns herum gut begreifen. Mit ihrer Runeninschrift am Deckenportal, der ältesten Nachbildung des Heiligen Grabes Christi und der Grablege vom Markgrafen Gero, ist diese alte Kirche ein gutes Beispiel dafür. Wahrlich, sie besteht aus „versteinerten Psalmen ... - hier kann die Predigt zur Not wegfallen, weil die Steine predigen. Das Herz wird himmelan gerissen.“ (Wilhelm von Kügelgen 1861)