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Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!
Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!
Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!
Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Chefarzt Dr. Holl 1815: Nie wieder ohne dich!
Notärztin Andrea Bergen 1294: Was niemand von ihr wusste
Dr. Stefan Frank 2248: Endlich frei!
Dr. Karsten Fabian 191: Dr. Fabian und der Wunderheiler
Der Notarzt 297: Im Rausch einer Partynacht
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 602
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben
Für die Originalausgaben:
Copyright © 2014/2016/2017 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2023 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Covermotiv: © Ground Picture / Shutterstock
ISBN: 978-3-7517-4659-5
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Chefarzt Dr. Holl 1815
Nie wieder ohne dich!
Die Notärztin 1294
Was niemand von ihr wusste
Dr. Stefan Frank 2248
Endlich frei!
Dr. Karsten Fabian - Folge 191
Die wichtigsten Bewohner Altenhagens
Dr. Fabian und der Wunderheiler
Der Notarzt 297
Im Rausch einer Partynacht
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Contents
Nie wieder ohne dich!
Dramatischer Rettungseinsatz nach einem Herzstillstand
Von Katrin Kastell
Weil die Auswurffunktion des alten Toasters mal wieder klemmt, nimmt Hanna ein Messer und stochert damit im Gerät herum. Wenn ich das nächste Mal in die Stadt fahre, kaufe ich endlich eine neuen, nimmt sie sich vor – als sie einen heftigen Stromschlag bekommt. Für ein paar Augenblicke fürchtet sie, ohnmächtig zu werden. Der Schmerz in der Brust ist unerträglich. Mit beiden Händen klammert sie sich an der Arbeitsplatte fest und atmet heftig.
Tatsächlich lassen die Schmerzen allmählich nach, die Panik weicht. Nur ein kleiner Stromschlag, denkt sie, den stecke ich weg. Alles ist gut …
Doch beim festlichen Abendessen mit Gästen fällt Hanna plötzlich das Sprechen schwer. Sie beginnt zu lallen, als wenn sie zu viel getrunken hätte, und sackt im nächsten Moment bewusstlos zusammen …
„Liebste Hanna, willst du mich heiraten?“
Die Hände von Dr. Richard Lenz umfassten fest, aber zärtlich die Schultern seiner Angebeteten. Er hätte sich auch niedergekniet, aber wegen des nicht eben sauberen Betonbodens schonte er lieber seine neue cremefarbene Sommerhose.
Noch bevor sich ihr schöner Mund zu einer Antwort öffnete, forschte er in ihren meerblauen Augen ungeduldig nach dem Ja, das ihm die bevorstehende Trennung ein wenig erträglicher machen würde.
Das Paar stand auf dem Bahnsteig des Münchener Ostbahnhofs. Hannas Zug ging in wenigen Minuten. Schon längst hatte er sie fragen wollen, ob sie sich vorstellen könne, mit ihm zu leben. Doch wegen der vielen Überstunden in der Klinik hatte sich kaum eine gute Gelegenheit ergeben. Jetzt musste es sein, denn bald war sie für eine Weile weg.
„Heiraten?“ Hanna sprach die drei Silben so verwundert aus, als sei das für sie ein völlig unbekanntes Fremdwort, dessen Bedeutung sie erst noch herausfinden musste.
„Ich möchte, dass du meine Frau wirst“, wandelte Richard seine Worte ab. „Ja, und ich möchte deine Zustimmung, bevor du fährst. Damit ich mich freuen kann. Wenn du wiederkommst, werden wir unsere Verlobung zünftig feiern. Ach Schatz, du wirst mir fehlen.“
„Du mir auch, aber ich habe keine andere Wahl. Und außerdem ist Wasserburg nicht das Ende der Welt.“
„Stimmt, aber zum täglichen Pendeln ist es doch ein bisschen zu weit“, stellte er fest. „Also, was ist? Du hast immer noch nicht Ja gesagt.“
Hanna atmete etwas schneller. Ihr Lächeln wirkte ratlos.
„Du meinst also, wir sollten heiraten? So richtig offiziell mit Standesamt und Kirche?“
„Aber ja, ich will mein Leben mit dir verbringen. Nur mit dir, denn wie du weißt, liebe ich dich von ganzem Herzen.“
„Ich liebe dich auch“, sagte sie und streichelte seine rechte Wange mit den Fingerspitzen. „Aber müssen wir deswegen gleich heiraten? Wir sind doch auch ohne Trauschein glücklich miteinander …“
„Genau darum möchte dich zur Frau, zur rechtmäßigen Ehefrau …“
„Aber die Ehe kann auch ein Glückskiller sein.“ Hanna schob sich ein wenig von ihm weg und betrachtete ihn kritisch. „Hast du daran gedacht? Immer mehr Paare lassen sich wieder scheiden. Vielen bekommt die Ehe einfach nicht.“
„Bei uns wird das anders sein.“ Richard kniff die Brauen zusammen. Wie selbstverständlich war er davon ausgegangen, dass Hanna über seinen Antrag vor Freude in die Luft springen würde, bildlich gesprochen. Und nun tat sie so, als sähe sie sich mit einer unangenehmen Überraschung konfrontiert.
Er war etwas verwirrt.
„Willst du mich denn nicht?“
„Natürlich will ich dich. Du bist meine große Liebe. Wir haben uns gesucht und gefunden. Wir stehen füreinander ein. Gerade deswegen müssen wir doch nicht heiraten. Die Ehe ist etwas Altmodisches und darum eigentlich überflüssig. Ich dachte immer, du siehst das wie ich. Und jetzt plötzlich kommt dein verrückter Vorschlag …“ Sie lächelte unsicher. „Wir müssen das ja nicht übers Knie brechen.“
„Übers Knie brechen?“, wiederholte er. Seine Stirnfalten wurden tiefer und zahlreicher. „Aber davon kann ja nun keine Rede sein. Wir sind jetzt über zwei Jahre zusammen. Darum will ich wissen, ob du dir vorstellen kannst, ganz lange mit mir zu leben.“ Er räusperte sich. „Für immer“, fügte er dann fast ein wenig grimmig hinzu.
„Aber das tun wir doch schon – oder so gut wie. Wenn wir eine größere Wohnung gefunden haben, ziehen wir zusammen. Wir werden schon noch genug Gelegenheit finden, übers Heiraten zu reden.“
„Ja, klar“, sagte er. „Ich will aber nicht nur darüber reden, sondern es tun.“
Richard bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen. Er hatte ja nur ein kleines, glückliches Ja hören wollen, aber offensichtlich waren Zeit und Ort ausgesprochen schlecht gewählt.
„ Bitte einsteigen!“ , dröhnte es mahnend aus dem Lautsprecher. „ Vorsicht bei der Abfahrt!“
Hanna stand schon auf der ersten Stufe des Einstiegs. Er reichte ihr den Rollkoffer.
„Und jetzt?“
Sie beugte sich hastig vor und drückte ihm einen schnellen Kuss auf den Mund.
„Mach dir keine Sorgen, ich werde in Gedanken immer bei dir sein. Und wir haben noch Zeit genug, über alles nachzudenken. Wenn du wieder ein paar Tage frei hast, besuchst du mich. Wasserburg ist eine charmante, kleine Stadt, auch zum Wohnen. Ich möchte dir dort alles zeigen. Es wird dir gefallen.“
Was meinte sie denn damit? In seinem Kopf formierte sich ein großes Fragezeichen.
„Grüß deine Tante unbekannterweise von mir. Und denk über meinen Vorschlag nach.“
„Mach ich …“
Die Tür schloss sich. Hanna hob die Hand, winkte und warf ihm so lange Luftküsse zu, bis sie außer Sicht war.
Einigermaßen betreten schaute Richard der sich langsam aus dem Bahnhof schiebenden Regionalbahn nach. Er ärgerte sich über sich selbst. Warum musste er unbedingt im letzten Augenblick vor der Abfahrt ein so wichtiges Thema anschneiden, noch dazu in dieser wenig romantischen Umgebung? Er fühlte sich blamiert. Aber nun war es passiert. Er hatte es versaut.
Selbst schuld, sagte eine spöttische Stimme in seinem Kopf.
Aber eine andere beruhigte ihn. Sie wird schon Ja sagen. Jede Frau freut sich über einen Heiratsantrag. Auch Hanna ist da keine Ausnahme. Oder doch?
Seine Hand umfasste das kleine Kästchen in seiner Jackentasche. Es enthielt ein mit Brillanten besetztes Herz an einem schmalen Gold-Collier, eine erhebliche Ausgabe für sein Budget, aber die war es ihm wert gewesen. Nun hatte er vor lauter Verstimmung vergessen, es ihr zu geben.
Er hatte den Abschied romantisch gestalten wollen, aber alles, auch wirklich alles war schiefgegangen. Am besten nicht mehr daran denken, sagte er sich.
Aber das war leichter gedacht als getan.
***
Eine gute halbe Stunde später traf Dr. Richard Lenz wieder in der Berling-Klinik ein. Schwester Kirstin winkte ihm schon im Näherkommen zu.
„Da bist du ja endlich!“, sagte sie. „Wo warst du denn? Doktor Holl hat nach dir gefragt.“
„Ich habe doch gesagt, dass ich meine Verlobte zum Bahnhof bringe …“
„Deine Verlobte?“ Kirstin, eine attraktive Frau mit feuerroten Haaren, die immer aussah, als ginge sie gerade auf eine Party, musterte ihn anzüglich. „Seit wann bist du denn verlobt?“
„Seit gerade eben“, erwiderte er eine Spur zu bissig. Und im Weggehen musste er noch eine spitze Bemerkung loswerden. „Im Übrigen wüsste ich nicht, was dich das angeht.“
Ihm war klar, dass Kirstin sich für unwiderstehlich hielt. Zugegeben, sie war ein Hingucker, aber sein Herz gehörte nun mal einer anderen.
Ob Kirstin auch so ablehnend reagiert hätte? Oder würde sie bei einem Heiratsantrag gleich zugreifen? Wahrscheinlich käme es ihr auch auf die materiellen Möglichkeiten des Kandidaten an. Zwar wusste er das nicht so genau, glaubte es aber aus einigen ihrer Bemerkungen herausgehört zu haben.
Dr. Holl sprach gerade mit seiner Sekretärin Moni Wolfram, als Richard das Vorzimmer betrat.
„Ich hatte mir einen halben Tag freigenommen“, sagte er, nachdem er die beiden gegrüßt hatte. „Das war mit dem Kollegen Falk so abgesprochen. Gab es ein Problem? Meine Überstunden …“
„Schon gut.“ Dr. Holl winkte ab, um dem Kollegen Lenz weitere Erklärungen zu ersparen. „Das, was ich mit Ihnen besprechen wollte, hat auch Zeit bis morgen. Aber was machen Sie dann überhaupt hier, wenn Sie doch dabei sind, Ihre Überstunden abzufeiern?“
„Die Macht der Gewohnheit. Ich habe meine Verlobte zum Zug gebracht und bin nun Strohwitwer. Niemand wartet auf mich. Da dachte ich, ich schau noch mal in der Klinik vorbei.“
„Kommen Sie doch mit zu mir nach Hause“, schlug Stefan Holl spontan vor. „Ich wollte gerade aufbrechen. Wir essen eine Kleinigkeit im Garten. Und Sie lernen meine Familie kennen.“
„Ja gern“, erwiderte Stefans junger Kollege, erfreut darüber, dass er den Rest des Tages nicht allein verbringen musste.
„Gute Entscheidung“, mischte sich jetzt Moni Wolfram gut gelaunt ein. „Bei unserem verehrten Chef steht eine Super-Köchin am Herd. Sie werden Ihre Zusage nicht bereuen.“
„Ich denke, heute an diesem warmen Tag wird es eher kalte Platten geben“, vermutete Dr. Holl. „Genaues weiß ich allerdings nicht. Also dann, auf in den Feierabend. Sind Sie mit dem Auto da?“
„Nein, das ist heute in der Werkstatt.“
„Dann kommen Sie. Meins steht auf dem Parkplatz.“
Sie kamen erstaunlich gut durch den städtischen Verkehr. Zwanzig Minuten später bog der Chefarzt auf die Zufahrt seines Grundstücks ein.
Und dann endlich lernte Richard die ganze Familie kennen. Dr. Holls charmante Frau Julia begrüßte ihn herzlich. Die Zwillinge Marc und Dani, zwei junge Erwachsene, hießen ihn mit einem flotten „hey“ willkommen. Der mittlere Sohn Chris lächelte schräg und sagte Hallo.
Die Jüngste, ein aufgeschlossenes Mädchen, das er auf zehn oder elf Jahre schätzte, nahm ihn gleich bei der Hand, um mit ihm eine kurze Gartenführung zu unternehmen.
Juju deutete auf den Swimmingpool.
„Möchten Sie mal reinspringen?“
„Danke für dein Angebot, aber ich bin wasserscheu.“
Juju schaute neugierig zu ihm hoch.
„Aber schwimmen können Sie schon, oder?“
„Eher wie eine bleierne Ente“, erwiderte Richard todernst.
„Sie machen sich lustig über mich“, stellte Juju lässig fest.
„Entschuldige, meine Ausrede war dumm.“
„Macht nichts, ich habe Sie durchschaut“, gab Juju schlagfertig zurück.
„So ein Bad wäre wirklich eine angenehme Abkühlung, aber natürlich möchte ich euch keine Umstände machen.“
„Wir können essen!“, rief Mutter Julia nach den beiden. „Der Tisch ist gedeckt.“
„Na, dann wollen wir mal. Darf ich bitten?“ Richard reichte Juju die Hand, und beide kamen schnellen Schrittes dem Ruf der Hausherrin nach.
Es gab verschiedene Salate, eine beachtliche Käseplatte und frisches Brot.
„Greifen Sie zu, lieber Kollege“, forderte Stefan Holl seinen Mitarbeiter auf.
„Noch mal vielen Dank für die Einladung“, sagte Richard. Jetzt erst merkte er, wie hungrig er war. Dennoch nahm er sich nur dezente Portionen. Schließlich wollte er nicht für einen Vielfraß gehalten werden.
„Haben Sie auch Kinder?“, erkundigte sich Juju zwischen zwei Bissen.
„Noch nicht, aber irgendwann später sicher“, teilte er ihr mit.
„Das Kinderkriegen sollte man nicht auf die lange Bank schieben“, erklärte die Elfjährige den Anwesenden. „Wenn die Frauen älter sind, spielt ganz oft die Natur nicht mehr mit.“
„Unser kluges Kind.“ Julia verdrehte die Augen. „Wo hast du denn das schon wieder gelesen?“
„In Papas Zeitschrift“, gab Juju bereitwillig Auskunft. „Stimmt das etwa nicht?“
„Völlig richtig, Schatz.“ Stefan zwinkerte seiner Jüngsten zu. „Aber ich glaube, Herr Doktor Lenz weiß das auch. Er ist ja Arzt.“
Doch die Holl-Tochter ließ sich von ihrer Befragung nicht abhalten.
„Sind Sie schon verheiratet?“, wollte sie wissen.
„Noch nicht, aber bald wird es so weit sein.“
„Und was macht Ihre Freundin?“
„Jetzt ist es aber genug“, mahnte Julia Holl leise. „Sei nicht so neugierig. Du fragst unserem Gast ja Löcher in den Bauch.“
„Aber das macht doch nichts“, beschwichtigte Richard sie und wandte sich wieder dem Kind zu. „Sie ist Lehrerin.“
„An welcher Schule?“
„An der Europäischen Schule. Sie unterrichtet Deutsch und Philosophie.“
„An unserer Schule!“, rief Juju aus. „Wie heißt sie denn?“
„Hanna Brunner.“
„Die kenne ich!“
„Hast du etwa Unterricht bei ihr?“, wollte Julia wissen.
„Nein, sie unterrichtet die höheren Klassen, aber irgendwann bekommen wir sie sicher auch.“ Juju legte den Kopf auf die linke Seite. „Und Sie wollen heiraten?“
Fast hätte Dr. Lenz dem Drang nachgegeben, auch noch von seinem Reinfall auf dem Bahnsteig zu erzählen, doch er sah davon ab, dieser liebenswürdigen Familie, die er gerade erst kennengelernt hatte, seine Enttäuschung aufzutischen. Damit musste er schon alleine fertig werden.
„Ja, das wollen wir“, sagte er betont munter. „Wir müssen nur noch einen passenden Termin finden.“
„Noch in den Sommerferien?“, hakte Juju nach.
„Vermutlich nicht. Das wird wohl etwas knapp werden, aber bis zu den Herbstferien sollte es schon klappen.“
Er erfuhr noch, dass die Holls bald einige Tage in Rottach am Tegernsee verbringen wollten. Einen genauen Termin gab es noch nicht, denn bis Mitte September waren noch Schulferien. Man wollte sich dort mit Dr. Holls Schwester und deren Familie treffen.
Nach dem Essen zogen sich die Kinder so nach und nach zurück. Richard genoss die Gastfreundschaft der Holls. Sein Chef hatte eine Flasche Wein geöffnet. Man unterhielt sich angeregt. Hin und wieder zirpten die Grillen. Es war ein rundum angenehmer Abend. Fast hatte er seine Niederlage im Ostbahnhof schon vergessen.
Als er wie zufällig auf seine Uhr schaute, erschrak er.
„So spät schon! Ich bin viel zu lange geblieben.“
Die Dame des Hauses beruhigte ihn.
„Aber nein!“, sagte sie. „Sie waren mir willkommen. Und ich würde mich freuen, wenn wir wieder mal zusammenkämen.“
Richard bedankte sich für das Essen und die Zeit, die er mit Dr. Holl und seiner Frau verbracht hatte.
„Ich weiß, dass Sie auch Ärztin sind“, sagte er beim Abschied. „Hätten Sie nicht Lust, wieder einzusteigen?“
„In der Tat spiele ich immer öfter mit diesem Gedanken“, antwortete Julia. „Die Kinder werden immer selbstständiger. Aber ein wenig Zeit lasse ich mir noch.“
Dr. Lenz bedankte sich noch einmal.
„Es war ein wunderbarer Abend. Ich habe mich bei Ihnen sehr wohlgefühlt.“
Mit einem Taxi ließ er sich nach Hause bringen. Und unterwegs dachte er, dass er sich auch so eine Familie wünschte. Es mussten ja nicht gleich vier Kinder sein, aber zwei wären schon ganz in seinem Sinne.
Ob Hanna noch mal über alles nachdachte, um dann seinen Antrag gnädig anzunehmen? Er hoffte es von ganzem Herzen.
***
„Ich habe nicht mehr lange zu leben“, sagte Adelheid Brunner, wobei sie sich bemühte, sich in einer Tonlage zu äußern, die ihrer Ansicht nach einer Grabesstimme gleichkam.
Ihre Nichte wollte gerade den Tisch abräumen, doch nun setzte sie sich wieder hin.
„Was redest du denn da?“ Hanna griff nach Adelheids Hand und strich beruhigend über die dünne Haut, durch die viele blaue Adern schimmerten.
Eines Tages würde sie auch so alt sein, wenn sie achtzig Jahre überhaupt schaffte. So vieles konnte dazwischenkommen und das Leben abrupt verkürzen, ein Unfall, eine schwere Krankheit und der unglückliche Umstand, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.
„Ich spüre es einfach.“ Adelheid griff sich ans Herz.
„Du bist doch nicht krank“, widersprach Hanna, die schon ahnte, worauf die Bemerkung ihrer Tante zielte.
„Aber müde, sehr müde sogar. Ich möchte dich häufiger um mich haben. Und darum bitte ich dich, bis zu meinem Lebensende bei mir zu bleiben. Es wird ein überschaubarer Zeitraum sein.“ Sie seufzte.
„Du weißt genau, dass das nicht geht. Eine Versetzung nach Wasserburg wird nur genehmigt, wenn es hier an den Schulen Bedarf für mich und meine Fächer gibt. Und das ist nicht der Fall.“
„Dann lass dich einfach beurlauben.“ Die alte Dame ließ sich nicht beirren. „Als Lehrerin kannst du ein Sabbatjahr nehmen. Ich habe mich informiert.“
„Wovon soll ich leben, wenn ich mich freistellen lasse? Liebste Tante, ein Sabbatjahr muss lange im Voraus geplant werden.“
„Das nötige Geld bekommst du von mir“, erklärte Adelheid resolut. „Mach dir deswegen keine Sorgen. Du kannst deine Wohnung in München kündigen und hier bei mir wohnen. Das Haus ist groß genug. Richte dir so viele Zimmer her, wie du willst. Sie werden ja ohnehin nicht genutzt.“
Adelheid hatte das Haus vor zehn Jahren einer gründlichen Renovierung unterzogen. Es verfügte über sieben Zimmer, eine Küche, zwei Bäder und eine überdachte Terrasse, dahinter lag noch ein großer Garten mit alten Obstbäumen. Auch wenn die Grundstückspreise in Wasserburg nicht so hoch waren wie in München, so stellte die Immobilie dennoch einen ordentlichen Wert dar.
Hanna sollte alles erben. Sie war die einzige Tochter von Adelheids jüngerer Schwester Selma. Tante Adelheid selbst war nie verheiratet gewesen und auch kinderlos geblieben. Ihre ganze Liebe galt immer nur ihrer Nichte Hanna. Daran hatte sich bis heute nichts geändert.
„Du hättest längst verkaufen können. So ein großes Haus macht ja auch viel Arbeit. Und es verursacht ständig Kosten. Warum tust du dir das an?“
„Und wo soll ich dann wohnen?“
„In einer Senioren-Residenz, zum Beispiel.“
„Du willst mich also abschieben!“, murrte Adelheid, wohl wissend, dass es Hanna nicht ernst meinte. „Man weiß doch, wie es in solchen Heimen zugeht.“
„Eine Senioren-Residenz ist kein Heim, sondern eher ein betreutes Wohnen. Jeder hat seinen eigenen Bereich, aber im Bedarfsfall ist Hilfe schnell zur Stelle.“
„Ich möchte in dem Haus bleiben, in dem so viele Erinnerungen stecken. Und in dem ich mein ganzes Leben verbracht habe. Du weißt doch, alte Bäume soll man nicht verpflanzen. Nach meinem Tod wird das Haus dir gehören. Und dazu noch ein ordentliches Aktienpaket. Wenn du alles verkaufst, hast du für immer ausgesorgt. Du könntest sogar deine Stelle als Lehrerin aufgeben. Schon gut, schon gut, ich weiß, dass du das nicht tun wirst. Aber bei diesen rosigen Aussichten kannst du dich doch mal ein bisschen um deine alte Tante kümmern. Länger als ein Jahr werde ich es ohnehin nicht mehr machen.“
„Nimm dir ein Beispiel an der englischen Queen, sie ist neunzig geworden. Das kannst du auch schaffen“, warf Hanna mit gewollter Leichtigkeit ein.
„Einundneunzig“, korrigierte Adelheid sie trocken. „Aber sie hat wohl auch die besten Ärzte des ganzen Landes.“
„Und du nicht? Ich finde, Doktor Obermüller kümmert sich sehr gut um dich. Er kommt ins Haus, wenn du mal krank bist, und du kannst ihn jederzeit anrufen.“
„Ich sehe schon, du scheinst nicht viel von meinem Vorschlag zu halten, aber jetzt bist du erst mal da“, sagte Adelheid seufzend. „Das freut mich. Wir werden noch genug Gelegenheit haben, über alles zu reden.“ Sie machte eine Pause und betrachtete ihre Nichte eingehend. „Hast du immer noch den Freund … wie hieß er doch gleich?“
„Richard“, half Hanna aus.
„War er nicht Arzt?“
„Ist er immer noch. Er hat mir übrigens kurz vor der Abfahrt einen Heiratsantrag gemacht.“
„Ach, wirklich?“
„Er hat wohl vergessen, dass ich vom Heiraten nichts halte.“
Adelheid schwieg eine Weile, um ihre aufblitzenden Gedanken zu sortieren.
„Warum hast du ihn mir bis jetzt vorenthalten? Dann hätte ich ihn mal unter die Lupe genommen und dir ehrlich meine Meinung gesagt. Ein Arzt ist nicht schlecht. Wenn ich mir das so überlege … Doktor Obermüller ist achtundsechzig. Er wird seinen Beruf nicht mehr ewig ausüben. Ich glaube mich sogar zu erinnern, dass er sich schon nach einem Nachfolger umschaut. Das wäre doch vielleicht was für deinen Freund. Dann hätte ich euch beide hier bei mir. Und einen Arzt gleich in der Familie.“
„Jetzt geht die Fantasie aber schon ziemlich rasant mit dir durch, liebe Tante. Ich habe dir doch gerade erklärt, dass ich nicht heiraten werde.“
„Ihr könnt ja auch unverheiratet hier wohnen, dagegen habe ich überhaupt nichts einzuwenden. Im Übrigen glaube ich nicht, dass sich ein Mädchen in deinem Alter schon festlegen sollte. Es kann so viel passieren. Und wenn Richard der Richtige ist, wirst du auch später noch Ja sagen, ganz sicher. Aber gut, lassen wir das Thema.“ Jedenfalls vorerst, sagte ihr Blick.
„Ich werde jetzt schnell die Küche aufräumen …“
„Du musst hier nichts tun, liebes Kind. Morgen kommt die Walli zum Saubermachen.“
„Trotzdem bringe ich das Geschirr jetzt in die Küche. Und anschließend machen wir einen Spaziergang am Inn entlang. Was hältst du davon?“
„Ob meine alten Knochen das noch schaffen?“, meinte Adelheid Brunner reichlich kokett. „Und wird das Wetter denn mitspielen? Es soll starke Gewitter geben.“
Hanna warf einen Blick aus dem Fenster zum Himmel hinauf.
„Es sieht nicht danach aus“, stellte sie fest. „Ganz im Gegenteil. Kaum ein Wölkchen.“
„Dann haben sich die Wetterfrösche mal wieder geirrt“, meinte Adelheid zufrieden und erhob sich etwas schwerfällig. Doch als sie eine Weile auf den Füßen stand, fühlte sie sich fit genug für einen Spaziergang mit ihrer schönen Nichte.
***
„Hallo, mein Schatz, wie geht es dir so ohne mich?“
„Du fehlst mir“, sagte Hanna ehrlich. „Und es tut mir leid, wenn ich dich enttäuscht habe. Aber ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich mich für die Ehe nicht eigne.“
„Aber leben willst du schon mit mir?“, erkundigte sich Richard.
„Ja, natürlich, wie kannst du nur fragen? Wir werden glücklich sein.“
„Und eine Heiratsurkunde soll uns daran hindern?“
„Nein, eigentlich ist es egal. Andererseits … wenn es egal ist, können wir es genauso gut lassen. Wozu eine Hochzeit? Das kostet Zeit und Geld, das wir für andere Dinge ausgeben können. Wir müssen Leute einladen und darauf achten, ihnen alles recht zu machen. Hinter unserem Rücken werden sie dann über das Essen und die Getränke meckern. Lange Rede, kurzer Sinn, das, was zwei Menschen miteinander verbindet, haben wir auch ohne Standesamt.“
„Aber als verheiratetes Paar gibt es einige Vorteile, steuerliche zum Beispiel.“ Noch gab Richard sich nicht geschlagen. Steter Tropfen höhlt den Stein. „Und was ist, wenn wir ein Kind bekommen?“
„Dann können wir immer noch heiraten. Ach Richard, es wird sich alles finden. Darüber müssen wir uns jetzt noch nicht den Kopf zerbrechen.“
Richard seufzte. Er merkte schon, dass ein erneutes Gespräch über dieses Thema jetzt zu nichts führte. Also gab er es für den Augenblick auf, sie umzustimmen.
Hanna wollte nun wissen, wie er den gestrigen Abend verbracht hatte.
„Mein Chefarzt war so freundlich, mich zu sich einzuladen. Da habe ich seine tolle Familie kennengelernt. Vier Kinder haben die Holls. Bei denen geht es turbulent und herzlich zu. Ich habe mich sehr wohlgefühlt. Aber erzähl mal, wie geht es deiner Tante?“, wechselte er das Thema.
„Sie behauptet, bald zu sterben. Ich habe schon mit ihrem Hausarzt telefoniert. Der findet, dass sie noch ganz gut beisammen ist.“ Hanna hielt kurz inne und überlegte, ob sie weiterreden sollte, doch dann gefiel es ihr, ihn ein wenig zu reizen. „Sie möchte, dass ich für eine Weile bei ihr bleibe.“
„Was soll das heißen?“, fuhr Richard auf.
„Ich soll bei ihr wohnen und sie betreuen, damit sie sich nicht so allein fühlt.“
„Und dein Job?“, fragte er nach einem bedeutungsvollen Schweigen.
„Nun ja, den könnte ich ruhen lassen, meint sie, sogar für ein ganzes Jahr. Sie hat sich genau erkundigt.“
„Aber dann verdienst du nichts“, gab Richard zu bedenken.
„Das würde keine Rolle spielen. Tante Adelheid hat Geld genug. Sie will mir über die Runden helfen. Im großen Haus kann ich mietfrei wohnen und mich ganz nach meinem Geschmack einrichten.“
Gespannt wartete Hanna auf seine Reaktion, doch es kam nichts.
„Bist du noch da?“ Sie hörte ihn tief atmen.
„Dann hast du dort sozusagen paradiesische Zustände.“ Richard gab sich kaum Mühe, seine Ironie zu verbergen. „Glückwunsch, kann ich da nur sagen.“
„Deinen Sarkasmus kannst du dir sparen“, wies sie ihn zurecht.
Wieder blieb es eine Weile still.
„Warum erzählst du mir das? Willst du mich traurig machen? Und welche Rolle hast du mir zugedacht, wenn du dortbleibst? Bin ich dir überhaupt noch wichtig?“
„Ich habe dir nur erzählt, was sie mir vorgeschlagen hat.“
„Aber du klingst, als wärst du schon so gut wie einverstanden. Willst du wirklich in Wasserburg bleiben?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Warum tischst du mir das dann auf?“
„Meine Güte, hast du eine schlechte Laune heute“, stellte Hanna fest. „Oder bist du immer noch gekränkt wegen meiner Absage?“
„Hör zu, Hanna, ich habe jetzt keine Lust mehr, darüber zu reden. Darum machen wir jetzt besser Schluss und telefonieren später wieder, okay?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, brach er das Gespräch ab.
Hanna legte das Telefon betroffen weg. War sie zu weit gegangen? Hatte sie seine Eitelkeit zu sehr verletzt? Eigentlich hatte sie ihn gar nicht kränken wollen. Sie liebte ihn doch. Ein Wort hatte das andere ergeben, wie das manchmal so passierte in einem Gespräch, wenn es vorher Spannungen gegeben hatte.
Sofort war sie bereit, ihm das heute noch zu sagen, und rief ihn zurück, doch Richard hatte seine Telefon auf Sprachbox geschaltet. Schade. Dann würde sie es morgen wieder versuchen. Er konnte ja nicht ewig böse sein.
***
Die jungen Kollegen Lenz und Jordan begleiteten Chefarzt Dr. Holl bei seiner Visite. Fast alle Patienten befanden sich auf dem Wege der Besserung, wenn auch in unterschiedlichem Tempo. Ein Mann im mittleren Alter mit einem Herzinfarkt machte den Ärzten noch Sorgen. Immer wieder kam es zu Herzrhythmusstörungen.
Bevor Dr. Holl in sein Büro zurückging, besprach er sich noch mit den Kollegen.
„Was halten Sie davon, wenn wir Herrn Baumgart so bald wie möglich mit der Niedrig-Energie-Defibrillation behandeln? Das könnte sein Herz wieder in die richtige Spur bringen.“
„Das wollte ich auch schon vorschlagen“, sagte Dr. Richard Lenz. „Stufenweise schwache Impulse sind weniger belastend als ein einzelner starker Stromstoß.“
Er warf Jan Jordan einen fragenden Blick zu.
„Was meinen Sie dazu?“
„Ich habe keine Einwände. Mit dieser Methode werden wir nichts falsch machen“, erwiderte der Arzt.
„Gut, dann setzen wir die Behandlung für Mittwoch acht Uhr an“, legte Dr. Holl fest.
„Acht Uhr passt für mich nicht. Zu dieser Zeit stehe ich mit Doktor Falk im OP“, sagte Jan entschuldigend. „Tut mir leid.“
„Ich werde pünktlich da sein“, versicherte Richard Lenz.
Die Ärzte trennten sich. Bald war Mittagszeit. Richard verspürte ein gewaltiges Loch im Magen. Er musste unbedingt etwas essen, zumal das Frühstück schon ausgefallen war. Er hatte verschlafen, was ihm selten passierte. Fast immer wachte er morgens zu der Zeit auf, die er sich abends vornahm. Heute Morgen hatte seine innere Uhr nicht funktioniert. Lag es an den vielen negativen Gedanken, die ihn zurzeit plagten?
In der Cafeteria holte er sich eine Leberkäs-Semmel, die er mit einer Apfelschorle hastig hinunterspülte. Danach fühlte er sich etwas besser.
Für den Nachmittag war Dr. Lenz zu zwei Operationen eingeteilt, einer Gallenblasen-Entfernung und einem Leistenbruch. Nach den Eingriffen, die beide unkompliziert verliefen, ging er ins Stationszimmer.
„Ist noch Kaffee da?“, erkundigte er sich mit einem freundlichen Lächeln.
Kirstin nickte ihm beschwingt zu.
„Sogar gerade frisch gemacht. Bedien dich.“
„Sehr nett, danke.“ Er griff sich eine von den sauberen Tassen und goss sich ein.
„Was machst du heute nach dem Dienst?“, fragte sie mit einem seelenvollen Augenaufschlag.
„Weiß noch nicht. Irgendwo was essen, vielleicht einen Schoppen trinken. Und dann schlafen gehen.“
„Ein paar von uns gehen in den Biergarten am Wiener Platz. Komm doch mit.“
„Biergarten? Hm. Klingt gut.“ Richard überlegte kurz. „Ja, okay.“
Da er aus dem Norden kam, hatte er sich mit der bayrischen Biergarten-Kultur noch nicht so ganz angefreundet. Er ließ sich Kirstins Vorschlag durch den Kopf gehen und kam zu dem Ergebnis, dass es angenehm sein müsste, bei diesen milden Temperaturen draußen zu sitzen, sich ein Bier schmecken zu lassen und dazu was zu essen. Zumal er sonst nichts vorhatte und zu Hause nur einen leeren Kühlschrank vorfinden würde.
Außerdem bestand die Chance, dass er in der Gesellschaft der anderen seinen Unmut wegen Hanna wenigstens für ein paar Stunden vergaß.
Was war mit seiner Liebsten bloß los? Er verstand ihr Verhalten immer weniger. Erst gab sie ihm einen Korb und dann dachte sie noch laut darüber nach, ob sie nicht ihren Wohnsitz nach Wasserburg verlegen sollte.
Dass sie ihn plötzlich nicht mehr liebte, glaubte er nicht. Aber Gefühle konnten ja auch nach und nach abflauen und zu Gewohnheiten werden. Und irgendwann stellte ein Paar fest, dass ihm die Liebe abhandengekommen war. Nein, dachte er energisch. Nein und nochmals nein. Das ist bei uns nicht so. Wir gehören zusammen.
„Am Wiener Platz ist der schönste Biergarten von München. Es wird dir gefallen“, zwitscherte Kirstin und riss ihn aus seinen Überlegungen. „Es wird lustig werden.“
„Wie gesagt, ich bin dabei.“ Die düstere Aussicht, den schönen Abend mit trüben Gedanken in seinen vier Wänden zu verbringen, gab den Ausschlag. „Wann soll es denn losgehen?“
***
Schon um acht Uhr ging es ziemlich hoch her an ihrem Tisch. Jan Jordan war dabei, ebenso der Kollege Hansen, einige Pfleger und außer Kirstin noch Alma, die heftig mit Jan flirtete. Die medizinisch-technische Assistentin war erst vor Kurzem an die Berling-Klinik gekommen und wusste noch nicht, dass Jan Jordan jede Frau, die ihm gefiel, mit sehr viel Charme so lange anbaggerte, bis sie ihm freiwillig in die Arme fiel.
Zu vorgerückter Stunde stieß noch Benno Langer zu ihnen. Der HNO-Arzt verfügte über eine Belegabteilung in der Berling-Klinik. Richard und Benno waren außerdem Mitglied im selben Tennisklub.
Als Richard den Kollegen sah, bekam er gleich ein schlechtes Gewissen, weil er schon etliche Trainingsstunden aus Zeitgründen versäumt hatte.
Benno sprach ihn auch gleich darauf an.
„Menschenskind, nimm dir doch die Zeit für ein bisschen Sport“, sagte er. „Oder lebst du nur noch für deinen Beruf? Und vergiss nicht, bald steht unser Ausflug nach Kroatien an. Fünf Tage an der Adria. Das wird super. Du kommst doch mit?“
„Klar fahre ich mit“, bestätigte Richard. Eigentlich hatte er wenig Lust, aber er hatte sich schon angemeldet. Sein Flug und sein Zimmer waren bereits reserviert.
Die Runde im Biergarten wurde im weiteren Verlauf des Abends immer ausgelassener. Witze wurden erzählt, zwischendurch sogar ein paar Lieder angestimmt. Man lachte und schäkerte, der Geräuschpegel stieg. Auch Richard alberte herum und gab ein paar Scherze zum Besten.
Was er sich von diesem Abend erhofft hatte, trat tatsächlich ein. Er verspürte keinen Groll mehr auf Hanna. Sein Ärger war verflogen. Nach vier Stunden lustigem Beisammensein verließen alle reichlich beschwipst das Gartenlokal.
Kirstin hängte sich gleich bei ihm ein.
„Huch, mir ist schon ganz schwindelig“, kicherte sie. „Du musst mich festhalten, sonst falle ich um.“
„Tu ich ja“, versprach Richard mit einem schrägen Grinsen. Mit einer ordentlichen Maß Bier oder zwei war das Leben schon viel leichter zu ertragen.
„Was machen wir jetzt?“, fragte sie neckisch. „Die Nacht ist noch lang.“
„Nach Hause gehen und schlafen. Ich muss morgen früh fit sein.“
„Och nein …“, maulte Kirstin. „Ich will noch nicht heim. Außerdem schon gar nicht so allein auf der Straße …“ Sie bekam einen Schluckauf.
Die anderen verabschiedeten sich und riefen einander allerlei Ratschläge wie „bleibt sauber“ und „schön brav sein“ nach.
Richard wandte sich noch einmal um und winkte. Ein Taxi näherte sich. Er hielt es an, stieg mit Kirstin hinten ein und nannte dem Fahrer seine Adresse.
„Du bekommst noch einen Kaffee bei mir, damit du wieder halbwegs nüchtern wirst. Und dann fährst du heim“, ordnete er grinsend an.
Sie hatte den Kopf auf seine Schulter gelegt und nickte gleich ein. Dr. Lenz war klar, dass sie viel zu viel getrunken hatte. In diesem hilflosen Zustand konnte er sie nicht wegschicken. Womöglich fiel sie ohne schützende Begleitung noch irgendwelchen üblen Typen in die Hände. Dafür wollte er nicht verantwortlich sein.
Vor seinem Haus angekommen, zahlte er den Fahrer und zog Kirstin mit sanfter Gewalt aus dem Fahrzeug. Er hätte sie auch gleich mit dem Wagen weiterschicken können, aber sie war im Augenblick nicht einmal mehr in der Lage, ihm die Straße zu nennen, in der sie wohnte.
Da er selbst auch nicht mehr ganz nüchtern war, dauerte es eine kleine Ewigkeit, bis sie seine Wohnung erreichten. Er führte sie zum Sofa, auf das sie sich sofort fallen ließ. Richard ging in die Küche, um eine Kapsel Kaffee in die Maschine zu geben.
Als er wiederkam, schnarchte Kirstin leise mit leicht geöffnetem Mund. Und da es ihm nicht gelang, sie aufzuwecken, ließ er sie einfach liegen. Er musste jetzt sofort ins Bett, wenn er morgen zum Termin mit dem Chefarzt pünktlich sein wollte.
Kurz verschwand er noch kurz im Bad, dann löschte er das Licht und taumelte ins Schlafzimmer. Der Kaffee in der Tasse wurde kalt.
***
Schon um sechs Uhr morgens geisterte Tante Adelheid durch das Haus, wie Hanna mit einem verschlafenen Blick auf die Nachttischuhr feststellte. Seufzend drehte sie sich auf die andere Seite. Um diese Zeit stand sie noch nicht auf.
Als sie das nächste Mal die Augen aufschlug, war es kurz vor acht.
Die ersten Gedanken stellten sich ein. Was sollte sie heute tun? Auf jeden Fall mit Adelheid wieder spazieren gehen, einen ersten Rundgang durch die malerische Innenstadt von Wasserburg machen und vielleicht ein paar Einkäufe erledigen.
Schließlich gab sie sich einen Ruck und richtete sich auf. Eine Viertelstunde später ging sie hinunter ins Erdgeschoss. In der Küche werkelte bereits Walli Huber, eine Frau in den Sechzigern. Seit zwei Jahrzehnten erledigte sie hier den Haushalt. Und offensichtlich kam sie mit Adelheid, die manchmal schwierig sein konnte, immer noch bestens zurecht.
Hanna begrüßte die Frau, die gerade das Frühstück zubereitete.
„O Hanna, wie schön, dass Sie da sind. Da freut sich die Frau Brunner sicherlich sehr. Sie spricht so oft von Ihnen.“
„Sie können mich ruhig weiterhin duzen“, schlug Hanna vor.
„Nein, das geht jetzt nimmer“, wehrte Walli ab. „Sie sind jetzt eine junge Dame. Setzen Sie sich auf die Terrasse. Ich bringe gleich das Frühstück.“
Hanna blieb noch Zeit für einen kleinen Rundgang durch den Garten, der ihr als kleines Mädchen oft wie eine geheime Zauberwelt vorgekommen war. Was aber möglicherweise auch an ihrer großen Fantasie lag.
Walli kam mit einem großen Tablett, auf dem sich Brot, Kaffee, Wurst, Käse, ein gekochtes Ei, Saft und Milch befanden.
„Das soll alles für mich sein?“ Hanna schüttelte amüsiert den Kopf. „So viel kann ich morgens nicht essen. Eine Semmel und ein bisschen Konfitüre reichen mir. Wo ist denn meine Tante?“
„Sie hat ihren Haferbrei mit Milch schon gegessen und sich noch mal für eine Stunde hingelegt.“
Hanna setzte sich an den Tisch und griff sich eine Scheibe Toast, die sie dünn mit Butter bestrich.
„Und bitte lassen Sie morgen Wurst und Käse im Kühlschrank.“
„Auch kein Ei?“
„Auch kein Ei“, lehnte Hanna dankend ab. „Seien Sie unbesorgt, wenn ich Hunger habe, weiß ich mir schon zu helfen.“
Walli schaute ein bisschen beleidigt drein, sodass Hanna sich genötigt fühlte, eine weitere Erklärung abzugeben.
„Das ist wirklich sehr fürsorglich gedacht von Ihnen, Walli, aber ich esse morgens kaum etwas.“
Walli ließ nicht durchblicken, was sie davon hielt, aber sie lud wortlos die unerwünschten Sachen wieder auf das Tablett und verschwand im Inneren des Hauses.
Nach einer Scheibe Toast und ein paar Löffeln Joghurt war Hanna schon gestärkt genug, um erneut ein Gespräch mit Richard zu wagen, aber er meldete sich nicht. Wahrscheinlich war er schon in der Klinik oder befand sich sogar im OP. Also musste sie sich gedulden.
Gegen zehn kam Adelheid auf die Terrasse.
„Guten Morgen, mein Kind“, sagte sie etwas grämlich.
„Guten Morgen, liebste aller Tanten. Hattest du eine gute Nacht?“
„Eher eine miserable“, entgegnete Adelheid und nahm in einem Korbsessel Platz. „Unser Gespräch ist mir ständig im Kopf rumgegangen.“
„Warum machst du dir so viele Gedanken?“, schalt Hanna liebevoll. „Nächtliche Grübeleien bringen überhaupt nichts, sie halten nur vom Schlafen ab. Probleme werden so nicht gelöst.“
„Wenn du erst mal in meinem Alter bist, siehst du die Dinge anders“, entgegnete Adelheid mit einem übertriebenen Seufzer. „Wenn man jung ist, nimmt man alles viel leichter.“
„Also, das stimmt so nun auch wieder nicht. Ich glaube eher, dass man die Dinge gelassener sieht, je älter man wird.“
Jetzt belebte ein kleines Lächeln das faltige Gesicht.
„Ich bin jedenfalls froh, dass du da bist. Da geht es mir gleich viel besser.“
„Rede dir bloß nicht ein, krank zu sein. Ich finde, du bist in einer guten Verfassung.“
„Deinen Optimismus möchte ich haben.“ Adelheid nahm einen tiefen Atemzug. „Leider ist meine Situation weniger gut, als du glaubst. Meine innere Stimme sagt mir, dass ich nicht mehr viel Zeit habe. Darum gibt es noch viel zu klären.“
„Darüber reden wir noch“, stimmte Hanna zu. „Aber jetzt mal was anderes. Ist der alte Mercedes noch da? Oder hast du ihn endlich verkauft?“
„Das gute Stück werde ich niemals verkaufen. Der Wagen ist immer noch fahrbereit und einiges wert. Sagt Doktor Strauch. Er hat ihn neulich wieder mal ausprobiert.“
„Wer ist Doktor Strauch?“
„Mein Anwalt und Vermögensverwalter, ein tüchtiger und sehr interessanter Mann.“
Hanna kräuselte die Stirn. Den Namen hatte sie noch nie gehört.
„Seit wann?“
„Schon seit einigen Jahren. Ich bin sehr zufrieden mit ihm. Du wirst ihn übrigens bald kennenlernen. Ich möchte euch miteinander bekannt machen. Er wird dir gefallen.“
„Du willst uns aber nicht verkuppeln, oder?“ Hanna grinste. „Wie du weißt, bin ich schon vergeben.“
Adelheid ließ die Frage unbeantwortet.
„Was das Auto betrifft, du kannst es benutzen, wann immer du willst.“
Hanna lächelte vage. Eigentlich hätte sie jetzt erklären müssen, dass sie noch immer nicht dazu gekommen war, ihren Führerschein zu machen.
Irgendwie kam immer etwas dazwischen. Nur ein paar Fahrstunden hatte sie bis jetzt absolviert. Jetzt war wieder eine Pause entstanden. Und zu all den Verzögerungen kam auch noch ihre heimliche Angst vor dem Verkehr auf den Straßen. Sie fürchtete, beim Fahren nervös zu sein, falsch zu reagieren und dann vielleicht einen Unfall zu verursachen.
„Wir sollten demnächst mal nach München fahren. Und zwar in die Berling-Klinik“, schlug Hanna vor. „Damit ich endlich weiß, ob ich mir Sorgen um dich machen muss. Dann nehmen wir aber lieber die Bahn, denn in München gibt es kaum Parkplätze.“
„Aber ich werde von meinem Hausarzt gut versorgt“, warf Adelheid überrascht ein. „Was soll ich also in einer Münchener Klinik?“
„Dort stehen die mondernsten Untersuchungsgeräte zur Verfügung. Die spüren einfach alles auf. Doktor Obermüller hat so was nicht.“
„Ich weiß nicht einmal, ob ich so genau wissen will, was sich in meinem Körperinneren abspielt“, wandte Adelheid ein.
„Das glaube ich dir gern. Du hegst lieber Befürchtungen, für die es keine Grundlage gibt.“
„Sei nicht so frech!“, wies Adelheid ihre Nichte zurecht. „Du solltest etwas sanfter mit mir umgehen. Und vor allem vergiss nicht, was du deiner lieben Mutter auf dem Sterbebett versprochen hast. Nämlich für mich da zu sein.“
Adelheids Stimme wurde mit jedem weiteren Wort brüchiger.
„So wie ich als große Schwester immer für deine Mama da war. Ich hab sie großgezogen …“
„Ich weiß“, sagte Hanna gepresst.
Adelheid hatte nach dem gemeinsamen Unfalltod der Eltern bei ihrer achtzehn Jahre jüngeren Schwester Mutterstelle vertreten. Als Hannas Mutter dann von ihrem Freund schwanger wurde, war sie völlig mittellos, da der werdende Vater Selmas geerbtes Geld „für die Gründung einer Firma“, wie er sagte, komplett in den Sand gesetzt hatte.
Später flog dann auf, dass das viele Geld im Spielcasino gelandet war. Der nichtsnutzige Kerl entzog sich seiner Verantwortung, ließ die hochschwangere Selma im Stich und suchte das Weite.
Aber zum Glück war Adelheid da, die ihre Schwester wieder bei sich aufnahm und sich wie selbstverständlich um sie und das Kind kümmerte.
Selma hatte diesen Betrug nie verwunden. Und sie schämte sich Zeit ihres Lebens, dass sie zu naiv und vertrauensselig gewesen war, um die schlechte Gesinnung dieses Mannes zu durchschauen. Mit vierundvierzig Jahren starb sie an gebrochenem Herzen. Da war Hanna gerade neunzehn.
Fortan übernahm Tante Adelheid den Unterhalt für ihre Nichte, der sie auch großzügig das Lehrer-Studium finanzierte. Ihr eigenes Erbe setzte Adelheid gewinnbringend ein. Überhaupt konnte sie mit Geld viel besser umgehen als ihre Schwester.
Natürlich war Hanna sehr wohl bewusst, dass sie, obwohl elternlos, niemals Not gelitten hatte, sondern von Adelheid gut versorgt wurde. Ohne deren selbstlose Hilfe hätte sie das Studium, ganz auf sich allein gestellt, wohl kaum geschafft.
Adelheid eröffnete dann ein Haar- und Kosmetik-Studio, das bestens florierte und ihr zusätzlichen Gewinn einbrachte. Im Gegensatz zu ihrer Schwester war Adelheid als erfolgreiche Geschäftsfrau anerkannt. Und nun forderte sie von ihrer Nichte ein wenig Zuspruch ein. War das zu viel verlangt? Nein, fand Hanna, aber sie wollte sich auch nicht völlig vereinnahmen lassen.
„Mach dir keine Sorgen, Tante Adelheid“, sagte sie in einem Anflug von Zärtlichkeit für die Tante. „Ich bleibe erst mal bei dir. Aber den Trip nach München zur Berling-Klinik machen wir trotzdem. Erst wenn ich weiß, was dir fehlt, werde ich beruhigt sein.“
„Na gut, wenn du meinst.“ Adelheid zeigte sich versöhnlich.
„Und jetzt machen wir einen Spaziergang. In einer Viertelstunde?“
„Aber gern“, sagte Adelheid. Die Vorstellung, am Arm ihrer schönen Nichte durch die Stadt zu gehen, gefiel ihr.
***
Der Patient war schon auf die Defibrillation vorbereitet, als Dr. Holl und Dr. Lenz den Raum betraten.
„Wie geht es Ihnen?“, erkundigte sich Dr. Holl.
„Mir ist schon ein bisschen mulmig“, sagte Olaf Baumgart, ein Mann in den Fünfzigern. „Was, wenn das Herz nach dem Stromstoß nicht mehr in Gang kommt?“
„Es wird alles gut gehen“, sagte Richard, während er seitlich und vorn an der Brust die Elektroden aufsetzte, durch die dann die gezielten Stromschläge in Richtung Herz führten.
„Beim klassischen Defibrillator werden auf einen Schlag alle Zellen des Herzens lahmgelegt. Das können Sie sich wie bei einem Computer vorstellen, den man kurz aus- und wieder einschaltet.“
Dr. Holl erklärte dem Patienten ausführlich das genaue Vorgehen.
„Bei Ihnen werden wir die chaotischen Wellen im Herzen nicht mit einem Schlag, sondern langsam und schrittweise glätten. Aus diesem Gerät kommen nur schwache elektrische Signale. Sie reichen aus, um die Zellen anzuregen, wieder normale Wellen auszusenden, damit das Herz in seinem gewohnten Takt schlagen kann. Also, jetzt geht es los. Der erste Strom fließt. Danach machen wir eine kurze Pause, dann geht es wieder weiter.“
Der Patient ergab sich widerstandslos in die Situation. Das Beruhigungsmedikament tat seine Wirkung. Nach fünf schwachen Stromstößen schlug das Herz des Kranken wieder in einem gesunden Rhythmus.
„Jetzt ruhen Sie sich erst mal aus“, schlug Dr. Holl vor. „Wir schauen später wieder bei Ihnen vorbei. Schwester Kirstin bleibt noch eine Weile bei Ihnen.“
Im Hinausgehen wechselte Richard einen raschen Blick mit der Pflegerin, die ihm ein verheißungsvolles Lächeln schenkte. Ich muss beizeiten Klarheit schaffen, dachte er. Damit sie nicht auf dumme Gedanken kommt.
In der Nacht in seinem Apartment war nichts geschehen. Sie hatte zu viel getrunken. Und er war ja auch nicht mehr ganz nüchtern gewesen. Als er morgens zum Dienst ging, schlief sie noch. Er hatte ihr einen Zettel hingelegt mit der Bitte, die Wohnungstür einfach hinter sich zuzuziehen.
Seinem Wunsch war sie nachgekommen. Als er abends wieder nach Hause kam, fand er das benutzte Geschirr sauber vor. Die Decke, mit der sie auf dem Sofa geschlafen hatte, lag sorgfältig zusammengelegt auf der gepolsterten Armlehne.
An diesem Nachmittag traf er sie in der Cafeteria. Er gönnte sich gerade einen Espresso, als sie hereinkam und gleich auf ihn zusteuerte.
„Na, wie geht’s?“, fragte Kirstin. „Ich habe dir hoffentlich keine Unannehmlichkeiten gemacht. Jedenfalls noch mal danke, dass ich bei dir schlafen durfte. Ich hätte nicht so viel trinken sollen. Das nächste Mal werde ich besser aufpassen.“
„Gute Idee“, meinte Richard mit freundlichem Spott. „Man muss seine Grenzen kennen.“
„Du hast auch ordentlich gebechert“, stellte sie fest. „Aber Männer vertragen nun mal mehr als Frauen. Trotzdem, es war ein lustiger Abend. Sollten wir bald mal wiederholen, solange das Wetter noch gut ist. Am schönsten sind die Sommerabende im Biergarten. Findest du nicht auch?“
„Mal sehen“, erwiderte er ausweichend.
„Hat deine Verlobte dich vermisst?“
„Sie ist zurzeit gar nicht in München.“
Kaum hatte Richard die Worte ausgesprochen, hätte er sie gern wieder zurückgenommen. Diese Bemerkung war dumm von ihm. Kirstin musste nicht alles wissen.
Da er sie immer noch nicht so genau einschätzen konnte, sollte er mit solchen Hinweisen vorsichtiger sein. Schließlich wollte er nicht riskieren, dass sie plötzlich uneingeladen vor seiner Tür stand. Denn er hatte schon den Eindruck, dass sie mehr von ihm wollte als er von ihr. Aber vielleicht täuschte er sich auch.
„Ist sie verreist?“
Er nickte.
„Und warum lässt du sie allein fahren? Vergiss nicht, die Konkurrenz ist groß.“
„Mach dir keine Sorgen um mein Privatleben“, meine Richard. Seine Worte fielen schärfer aus als beabsichtigt. „Ich muss los. Mach’s gut, Kirstin.“
„Wir sehen uns noch!“, rief sie ihm nach.
***
Hanna erinnerte sich gern an die Wasserburger Zeit mit Mutter und Tante in dem Haus mit den vielen Zimmern, das auch für drei Personen noch zu groß war.
Adelheid hätte das gesamte untere Stockwerk vermieten können, aber sie wollte keine fremden Leute im Haus haben. Und auf die zusätzlichen Mieteinnahmen war sie ohnehin nicht angewiesen.
„Ich denke, die Räume sollen frei bleiben, sodass du dort wohnen kannst, wann immer du willst. Oder hast du nicht gern hier gelebt?“ Die alte Dame schaute ihre Nichte fragend an.
„Doch, natürlich.“ Hanna kehrte von ihrem Gedankenausflug zurück und beeilte sich, zustimmend zu nicken. Den größten Teil ihres bisherigen Lebens hatte sie hier in dieser so geschichtsträchtigen wie malerischen Stadt verbracht, die rundum vom Inn umschlossen wurde. Manchmal dachte sie voller Sehnsucht an diese unbeschwerten Jahre, die niemals wiederkehren würden.
Tante und Nichte spazierten über den Marienplatz am historischen Rathaus vorbei, dessen Anblick Hanna immer noch erfreute.
Wie oft war sie als Kind durch die Laubengänge und die engen Gassen gestreift und hatte sich die Stadt mit ihren Mauern, Erkern und Zinnen wie im Märchen als Heimat schöner Burgfräuleins und tapferer Ritter vorgestellt.
Jetzt war ihr Lebensmittelpunkt in München – und so sollte es auch bleiben. Sie unterrichtete an einer angesehenen Schule. Und in der bayrischen Landeshauptstadt lebte und arbeitete der Mensch, den sie über alles liebte.
Auch wenn ihre Beziehung zurzeit etwas angespannt war, so änderte das nichts an ihren Gefühlen für Richard. Er würde schon wieder zur Vernunft kommen. Obwohl die Liebe mit Vernunft ja eigentlich nichts zu tun hatte …
„Gehen wir ins Café?“ Adelheid deutete auf die einladenden Tische und Stühle vor dem Lokal. „Dort gibt es sehr guten Kuchen. Natürlich lade ich dich ein.“
Wenige Sekunden später saßen sie auf den letzten freien Plätzen unter einem großen Sonnenschirm, von wo aus sie einen guten Blick auf den Platz und die gegenüberliegende gotische Hausfassade hatten. Die vorbeiflanierenden Menschen rundeten das bunte Bild ab.
„Unsere Stadt hat ein unvergleichliches Flair“, stellte Adelheid zufrieden fest und griff nach der Kuchenkarte. „Woanders könnte ich gar nicht leben. München stelle ich mir schrecklich vor.“
„München ist auch sehr schön“, widersprach Hanna. „Nur etwas größer. Man kann wahnsinnig viel unternehmen. Und auch die Umgebung mit den großen Wäldern ist einzigartig.“
Adelheid reagierte nicht auf diese Einwände, sondern vertiefte sich in das Kuchenangebot.
„Ich nehme Erdbeertorte mit Sahne.“
„Ich auch“, schloss sich ihre Nichte an. Dazu bestellten sie Cappuccino und Wasser.
Mit einem Mal empfand Hanna eine wohltuende innere Ruhe. Vielleicht war es sogar ganz gut, ihr Leben an Richards Seite einmal aus einer gewissen Distanz zu betrachten.
Und je länger sie darüber nachdachte, umso sicherer wurde sie, dass es nichts auf der Welt gab, was sie trennen könnte. Wenn ihm eine Heirat wirklich so wichtig war, dann würde sie ihm in Gottes Namen ihre Zusage geben. Aber das musste ja nicht sofort sein. Wenn er hingegen doch noch einsah, dass ihre Liebe keinen zusätzlichen Trauschein brauchte, sollte ihr das auch recht sein. Hanna war wieder guten Mutes.
Kaffee und Kuchen wurden gebracht.
„Lass es dir schmecken, mein Kind.“
„Hm, ganz hervorragend“, lobte Hanna die Torte, nachdem sie sie gekostet hatte.
„Sag ich doch.“ Adelheid freute sich sichtlich. „Und abends gehen wir zum Essen aus.“
„Dann würde es mich sehr freuen, wenn Sie meine Gäste wären“, tönte eine wohlklingende Stimme hinter ihnen. Ein großer, schlanker Mann trat unter den Sonnenschirm. Er trug einen eleganten Sommeranzug. Der Kragen seines hellblauen Hemdes war geöffnet. Seine Füße steckten in braunen Lederschuhen.
„Mein lieber Doktor!“, rief Adelheid erfreut. „Sie kommen gerade recht.“
Sie wandte sich an Hanna.
„Darf ich dir meinen Anwalt vorstellen? Doktor Strauch, das ist Hanna Brunner, meine Nichte aus München.“
Norbert Strauch verneigte sich vor den Damen und reichte erst der älteren, dann der jüngeren die Hand.
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, sagte er lächelnd und schaute Hanna wohlwollend an. „Ihre Tante hat mir schon viel von Ihnen erzählt.“
„Ach, wirklich?“ Er hatte einen angenehmen Händedruck, fand Hanna und musterte neugierig sein Gesicht. Mit den wachen grauen Augen wirkte es recht sympathisch.
„Darf ich mich für einen Moment zu Ihnen setzen?“
„Aber ich bitte Sie, wir würden uns über Ihre Gesellschaft freuen, nicht wahr, Hanna? Möchten Sie einen Kaffee?“
Geschmeichelt nahm der Anwalt Platz.
„Ich hörte, Sie sind ein echtes Wasserburger Kind“, begann er launig die Unterhaltung. „Dann kennen Sie sich hier ja bestens aus.“
„Ich denke schon“, gab Hanna lächelnd zurück. „Hier sind meine Wurzeln.“
Adelheid nickte entzückt. Das hörte sie gern.
„Hanna ist Lehrerin in München. Aber sie könnte sich auch hierher versetzen lassen, wenn sie nur wollte. Noch zögert sie.“
Obwohl es ihr ein wenig peinlich war, dass Tante Adelheid etwas in die Welt setzte, was noch gar nicht entschieden war, hielt Hanna ihren Widerspruch zurück. Erst später zu Hause würde sie die Tante bitten, vor anderen nicht solche Gerüchte in die Welt zu setzen.
Norbert Strauch ließ sich einen Orangensaft bringen. Er war ein guter Gesellschafter. Die beiden Frauen amüsierten sich über seine Geschichten aus dem Gerichtssaal.
„Dort kann man die Menschen aus nächster Nähe studieren und sowohl die lustigsten als auch die traurigsten Dinge erleben.“
Er leerte sein Glas, schaute auf die Uhr und erklärte dann, wieder ins Büro zu müssen.
„Heute Abend im ‚Goldenen Hirschen‘? Sieben Uhr?“
„Ja, das passt uns gut“, sagte Adelheid. Und als er gegangen war, warf sie ihrer Nichte einen verschwörerischen Blick zu. „Was hältst du von ihm?“
„Ein angenehmer Mann“, erwiderte Hanna. „Soweit ich das nach dem ersten Kennenlernen überhaupt beurteilen kann. Ob er ein guter Anwalt ist, musst du wissen.“
Die Tante schien etwas enttäuscht. Ein wenig enthusiastischer hätte sich ihre Nichte schon zeigen können.
„Vergiss nicht, liebe Tante, ich bin schon in festen Händen. Und wenn du Richard kennen würdest, käme dir gar nicht in den Sinn, mich mit einem anderen verkuppeln zu wollen.“
„Davon kann doch gar keine Rede sein“, wehrte Adelheid Hannas Kritik ab. „Doktor Strauch ist ein gebildeter und belesener Mann. Seine Gesellschaft macht einfach Freude.“
Als sie dann aufbrachen und bezahlen wollten, teilte die Serviererin mit, dass alles schon beglichen sei.
„So ist er“, meinte Adelheid schmunzelnd. „Immer für eine Überraschung gut.“
***
Nach dem Dienst fuhr Richard direkt nach Hause. Endlich kam er wieder mal dazu, in seiner Wohnung aufzuräumen. Er brachte den Müll weg und ein paar leere Flaschen, anschließend fuhr er mit dem Staubsauger über den Fußboden.
Als er in seinen Kühlschrank schaute, war er nicht sonderlich überrascht. Die gleiche Leere wie immer. Schon seit Tagen hatte er nichts mehr eingekauft. Was sollte er tun? Sich etwas bringen lassen oder ins Gasthaus an der Ecke gehen?
Er entschied sich für ein Thai-Gericht mit Huhn und Nudeln, das in zwanzig Minuten per Boten bei ihm eintreffen sollte.
Um sich die Wartezeit zu verkürzen, rief er Hanna an.
„Ach, du bist es!“, freute sie sich.
„Wen hast du denn erwartet?“
„Ich dachte, du bist immer noch eingeschnappt.“
„Kann schon sein, ich liebe dich trotzdem.“
„Wirklich? Ich liebe dich auch. Aber warum streiten wir uns dann?“
„Wir streiten uns doch gar nicht. Du bist nur manchmal bockig wie ein Kind.“
„Ach Richard, du fehlst mir.“ Hanna seufzte tief. „Gleich muss ich mit Tante Adelheid und ihrem Anwalt zum Essen gehen.“
„Ich hingegen werde gleich ganz allein am Tisch sitzen“, maulte Richard. „Ein Thai-Gericht befindet sich schon auf dem Weg zu mir. Aber niemand ist da, der es mit mir teilt. Ich vermisse dich auch.“
„Nächste Woche komme ich mit Adelheid in die Klinik. Ständig erzählt sie mir was von ihren Herzproblemen. Und das möchte ich jetzt geklärt haben. Machst du für uns einen Termin bei Doktor Holl?“
„Aber gern“, erklärte sich Richard sofort bereit. „Ich hoffe, du bleibst dann über Nacht.“
„Mal sehen, was sich da arrangieren lässt“, meinte Hanna. „Vielleicht könnt ihr sie zwei Tage in der Klinik behalten? Dann hätten wir genug Zeit für uns.“
„Dafür werde ich schon sorgen“, versprach Richard erfreut. Die Aussicht, seine geliebte Hanna wieder ganz nah bei sich zu haben, beflügelte ihn geradezu.
„Oh, da klingelt es. Mein Essen. Ich muss Schluss machen, rufe dich gleich wieder an.“
„Dann werden wir schon im Restaurant sein“, sagte Hanna. „Ich melde mich bei dir, wenn wir wieder zurück sind. Bis später. Und vergiss nicht, ich liebe dich.“
„Wie könnte ich das vergessen?“, entgegnete Richard und eilte zur Tür.
Den restlichen Abend verbrachte er einigermaßen versöhnt und verspeiste seine scharfen Nudeln mit großem Appetit. Er war schon ganz gespannt darauf, Adelheid Brunner kennenzulernen. Bis jetzt hatte Hanna es vermieden, ihn mit ihrer Tante bekannt zu machen. Warum eigentlich?
Nun schien sie anderen Sinnes geworden zu sein. Und das freute ihn. In diesem Moment beschloss er, seinen Heiratsantrag zu wiederholen. Und zwar so oft, bis sie endlich Ja sagte.
***
Adelheid trug ein modisches Ensemble, ein locker fallendes Oberteil und einen wadenlangen Rock. Sie stand in ihrem Schlafzimmer vor dem Spiegel, als Hanna eintrat.
„Du siehst super aus“, sagte die Jüngere bewundernd. Unglaublich, dass Adelheid schon achtzig war. Eine schicke ältere Dame mit vollem weißem Haar, das ihr Gesicht wie ein Lichterkranz umgab. Ja, sie hatte viele Falten, aber jede Falte erzählte bekanntlich eine Geschichte und war daher interessant.
Hanna konnte nur hoffen, in diesem Alter auch noch so attraktiv auszusehen.
„Dein Doktor Strauch wird dich anhimmeln.“
„Ach, der bewacht nur mein Geld“, meinte Adelheid trocken. „Wichtig ist ihm seine Provision, die er mit meinen Investitionen verdient.“
„Du bist dir aber schon sicher, dass er seriös ist und alles richtig macht?“
„Hundertprozentig, mein Kind, mach dir keine Sorgen. Ich habe ihn überprüfen lassen. Er ist rechtschaffen, hochanständig und loyal.“
„Na, dann ist ja alles okay. Also gut, wir können gehen.“
Die beiden Frauen verließen das Haus und spazierten zu Fuß zum Restaurant. Draußen im Garten waren die Tische gedeckt. Noch war es hell. Norbert Strauch erwartete sie schon und kam ihnen entgegen, als er sie kommen sah.
Es wurde ein angenehmer Abend. Der Anwalt schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, die Damen aufs Beste zu unterhalten und immer wieder zum Lachen zu bringen.
Gegen zehn brachen sie auf. Dr. Strauch begleitete sie nach Hause. Offensichtlich hoffte er darauf, noch auf einen Kaffee hereingebeten zu werden, doch Adelheid verabschiedete ihn.
„Vielen Dank für Ihre Gesellschaft, lieber Doktor, aber wir gehen jetzt schlafen. In den nächsten Tagen telefonieren wir. Kommen Sie gut nach Hause.“
„Ich hab es ja nicht weit.“ Er verneigte sich. Und bevor er ging, schaute er tief in Hannas Augen. „Es war mir ein großes Vergnügen. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“
„Er war sehr beeindruckt von dir“, sagte Adelheid ein paar Minuten später zu ihrer Nichte, während sie sorgfältig die große Eingangstür verschloss. „Jetzt hast du einen Verehrer mehr.“
„Ich brauche aber keinen zusätzlichen Verehrer. Wenn du Richard erst kennst, wirst du mich verstehen.“
„Kommt er her?“ Neugierig schaute Adelheid auf.
„Nein, wir fahren in die Klinik. Dort gibt es eine Menge ausgezeichneter Ärzte, die dir ihre Aufwartung machen möchten.“
Mein Gott, wie rede ich denn?, dachte Hanna selbstironisch. Adelheids Ausdrucksweise wird doch nicht schon auf mich abfärben?
„Darüber reden wir noch“, erwiderte die alte Dame. Und es klang gar nicht mal so abweisend. „Übrigens, das hier ist mein Heim-Defibrillator. Den habe ich mir auf Anraten von Doktor Obermüller zugelegt. Die Walli weiß schon, wie man damit umgeht. Du musst dir morgen unbedingt die Gebrauchsanweisung durchlesen. Für den Fall des Falles …“
Hanna nickte nur. Sie war jetzt zu müde, um zu widersprechen.
„Schlaf gut, liebste Tante.“
„Du auch, mein Kind. Ich bin so froh, dass du bei mir bist. Komm, lass dich noch mal drücken.“
***
Am nächsten Tag brachte ein Bote Blumen für die Damen. Adelheid bekam einen bunten Sommerstrauß, Hanna rote Rosen.
Adelheid hob leicht die Augenbrauen.
„Da denke ich mir doch meinen Teil“, sagte sie.
„Das ist auch gut so“, konterte ihre Nichte. „Ich will nämlich nichts hören.“
Nachmittags kam ein Anruf von Richard.
„Könnt ihr am Mittwoch kommen? Ich habe mit Doktor Holl gesprochen. Er hätte dann Zeit.“
„Ich werde alles in die Wege leiten“, versprach Hanna.
„Ich freue mich schon jetzt auf dich!“, sagte Richard. „Und kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen.“
So überzeugend Hanna ihrer Tante die Fahrt nach München und die Untersuchung in der Klinik darstellte, so wenig war Adelheid nun davon angetan.
„Warum sollen wir uns die Fahrt antun? Ich fühle ich mich doch gar nicht krank.“
„Aber du redest doch ständig von deinem baldigen Ende“, hielt Hanna ihr vor. „Und deswegen will ich jetzt genau wissen, was wirklich mit dir los ist. Mach nicht so ein Theater. Wir unternehmen nur einen kleinen Ausflug nach München. Die Untersuchungen tun nicht weh. Doktor Holl ist ein hervorragender Arzt. Zu ihm kommen Patienten aus ganz Bayern. Und sollte er wirklich etwas finden, wird er uns auch gleich eine Therapie vorschlagen.“
„Also gut“, willigte Adelheid seufzend ein. „Aber dann nehmen wir das Auto.“
Hanna schüttelte den Kopf.
„Nein, mit der Bahn fahren wir viel stressfreier.“
Als es am Mittwochmorgen dann so weit war, zierte sich Adelheid noch ein wenig, doch schließlich fügte sie sich in ihr Schicksal. Außerdem war sie neugierig auf Hannas Freund. Pünktlich kamen sie in München an.
Vom Bahnhof aus nahmen sie ein Taxi direkt in die Berling-Klinik. Während Adelheids Untersuchung wollte Hanna in ihrem Apartment nach dem Rechten schauen. In ihrer Abwesenheit wurde es von einer befreundeten Nachbarin betreut.
Aber erst einmal nahm Richard die beiden Frauen in der Klinik in Empfang. Er schloss seine Hanna mit einem glücklichen Gesichtsausdruck in die Arme und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Schließlich gab er sie doch frei und begrüßte ihre Tante.
„Grüß Gott, Doktor Lenz“, sagte Adelheid, als er sich endlich ihr zuwandte. „Ich habe schon einiges von Ihnen gehört.“
„Hoffentlich nur Gutes. Bitte nennen Sie mich Richard. Ich bringe Sie gleich zu Doktor Holl. Er erwartet Sie schon.“
Adelheid freute sich sichtlich, dass ihr hier ein so charmanter Empfang bereitet wurde. Gemeinsam mit Richard begleitete Hanna ihre Tante zum Chefarzt, den sie bei dieser Gelegenheit auch gleich kennenlernte.
„Herzlich willkommen bei uns“, sagte Stefan Holl und gab erst Adelheid, dann Hanna die Hand. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Sie unterrichten also an der Europäischen Schule.“
„Woher wissen Sie das?“ Hanna schaute ihn erstaunt an.
„Meine jüngste Tochter geht dorthin und kennt Sie vom Sehen.“
„Die Welt ist klein“, bemerkte Hanna lachend.
Stefan wandte sich wieder an Adelheid und erklärte ihr die Vorgehensweise der Untersuchungen.
„Zunächst machen wir ein EKG, dann einen Herz-Ultraschall. Dabei werden die Herzklappen sichtbar. Außerdem werden Lungen und Atemvolumen getestet. Auch die Herzkranzgefäße werden wir untersuchen und eventuelle Verengungen aufspüren. Aber vorher berichten Sie mir ganz ausführlich, welche Beschwerden Sie haben, wie lange die schon andauern und welche Medikamente Sie nehmen, auch solche, die Sie ohne Rezept kaufen.“
„Ich erzähle Ihnen alles, was Sie wollen“, erwiderte Adelheid huldvoll.
Mein Gott, sie flirtet, dachte Hanna amüsiert.
Die Tante hatte keine Einwände, mit dem Chefarzt der Berling-Klinik allein zu sein. Hanna durfte gehen.
Richard hatte sich für heute freigenommen. Es war ein schöner Tag. Schon seit Langem zeigte sich der Sommer von seiner besten Seite. Es war warm, aber nicht unerträglich heiß. Und immer wehte eine angenehme Brise.
Sie spazierten zu Fuß zum Englischen Garten, um dort eine Kleinigkeit zu essen.
„Wie ist denn so das Leben mit deiner Tante?“, wollte Richard wissen.
„Im Großen und Ganzen erträglich. Man muss sie nehmen, wie sie ist. Dann gibt es keine Probleme.“
„Und wirst du wirklich bis zum Ende der Ferien in Wasserburg bleiben?“
Beim Gehen legte er einen Arm um sie. Es tat so gut, ihre Haut durch den dünnen Stoff zu spüren. Er konnte es kaum erwarten, endlich mit Hanna allein zu sein.
„Das ist noch nicht entschieden. Erst will ich wissen, ob sie wirklich was mit dem Herzen hat oder ob sie die Dinge nur unnötig dramatisiert. Sie redet davon, dass ihre Lebenszeit zu Ende geht und sperrt sich zugleich gegen eine genaue Untersuchung. Aber dann ist es mir schließlich doch gelungen, sie zu überreden.“