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Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!
Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!
Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!
Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Chefarzt Dr. Holl 1827: Dr. Holl und die verletzte Seele
Notärztin Andrea Bergen 1306: Burnout - plötzlich bricht die Welt zusammen
Dr. Stefan Frank 2260: Alexandra in Gefahr
Dr. Karsten Fabian 203: Altenhagen - Tor zum 7. Himmel
Der Notarzt 309: Gefrorene Tränen
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 601
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben
Für die Originalausgaben:
Copyright © 2016/2018 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Für diese Ausgabe:
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Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Covermotiv: © wavebreakmedia / Shutterstock
ISBN: 978-3-7517-6476-6
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https://www.luebbe.de
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Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Chefarzt Dr. Holl 1827
Dr. Holl und die verletzte Seele
Die Notärztin 1306
Burnout – plötzlich bricht die Welt zusammen
Dr. Stefan Frank 2260
Alexandra in Gefahr
Dr. Karsten Fabian - Folge 203
Die wichtigsten Bewohner Altenhagens
Altenhagen – Tor zum 7. Himmel
Der Notarzt 309
Gefrorene Tränen
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Contents
Dr. Holl und die verletzte Seele
Die Schatten der Vergangenheit bedrohen ihr Glück
Von Katrin Kastell
Zornig bläst sich die hübsche Dana Baumann eine Locke aus der Stirn. Oh, dieser Kotzbrocken!, denkt sie wenig damenhaft. Tag für Tag lässt Dr. Martin Kramer sie spüren, dass er der erfahrenere Mediziner von ihnen beiden ist. Und doch muss Dana zugeben, dass sie sich trotz aller Unfreundlichkeiten seinerseits auf seltsame Weise zu dem gut aussehenden Neurologen hingezogen fühlt …
Dana kann nicht ahnen, dass Martins Kälte nur eine verzweifelte Schutzmaßnahme ist. In Wahrheit hat er sich Hals über Kopf in die junge Ärztin verliebt. Aber seit vielen Jahren hält er alle Gefühle eisern hinter einer hohen Mauer verborgen – wie die Erinnerungen an den kleinen einsamen Jungen, der er einst gewesen ist.
Nein, Martin Kramer scheint das Trauma seiner Kindheit einfach nicht überwinden zu können! Wird es für ihn nie Liebe und Glück geben können?
Auf dem Tablett befanden sich eine Semmel mit Leberkäs, ein Erdbeerjoghurt und ein großer Milchkaffee. Vorsichtig bahnte sich die dunkelhaarige Frau im weißen Kittel einen Weg zwischen den schwatzenden und essenden Kollegen auf Dr. Kramer zu, der im Gegensatz zu allen anderen allein am Tisch saß.
„Ist hier noch frei?“, fragte sie lächelnd.
„Das sehen Sie doch“, kam postwendend die knurrige Antwort zurück. Der Blick aus den stahlblauen Augen war voller Ironie. Dana Baumann ärgerte sich. Sie wollte ja nur höflich sein und fand seine Worte höchst unpassend.
„Entschuldigung, ich wollte nicht stören.“ Immer noch stand sie unschlüssig neben dem Stuhl und schaute sich suchend nach einem anderen Platz um. Nicht, weil sie eingeschüchtert war, sondern weil sie fürchtete, dass ihr neben diesem bärbeißigen Kollegen der Appetit verging.
„Nun setzen Sie sich schon, um Himmels willen! Sie stören nicht. Und beißen tu ich auch nicht. Wollte ohnehin gerade gehen.“ Er warf einen kurzen Blick auf ihren Imbiss. „Na, dann wünsche ich mal guten Appetit“, sagte er und verdrehte in gespielter Entrüstung die Augen. „Dass Ihnen so was schmeckt … gesund ist das nicht. Sollten Sie als Ärztin eigentlich wissen.“
„Danke, dass Sie sich um meine Ernährung sorgen, aber das ist nicht nötig.“ Sie lächelte ihn offen an. „Warum sind Sie so giftig? Hab ich Ihnen was getan?“
Sie sah ihm an, dass ihm eine heftige Erwiderung auf der Zunge lag, doch er beherrschte sich und schlug einen sachlichen Ton an.
„Ich erwarte Sie in einer halben Stunde im Arztzimmer. Bis dahin werden Sie diesen Fraß ja wohl verputzt haben.“
Bevor sie noch etwas sagen konnte, stand er hastig auf und eilte davon. Ohne sich umzuschauen oder gar jemanden zu grüßen, bahnte er sich seinen Weg zum Ausgang der Kantine.
Danas Blicke folgten dem Arzt, dessen Dominanz spürbar wurde, sobald er einen Raum betrat. Aber leider war er nur ein gut aussehendes, arrogantes Scheusal, von Charme keine Spur. Er schnauzte die Pflegekräfte an, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot, und gab sich ansonsten ruppig und unnahbar.
Was mochte wohl Chefarzt Dr. Holl von den weniger angenehmen Seiten seines hochqualifizierten Oberarztes halten? Dana hätte es gern gewusst.
Als junge Ärztin hatte sie natürlich nicht viele Möglichkeiten, sich beim Chef über Dr. Kramer zu beschweren. Freundlichkeit konnte man nicht einfordern. Und rein fachlich stand der Oberarzt völlig unangefochten da.
Also tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass sie immerhin viel von ihm lernen konnte. Sie musste einfach versuchen, den Kotzbrocken in ihm auszublenden.
Mach eine Faust in der Tasche, pflegte Tante Ingrid immer zu sagen. Und diesen Rat befolgte Dana oft. In einigen Jahren würde sie selbst eine gute Neurologin sein und das hochmütige Gebaren Dr. Kramers längst vergessen haben – oder nur noch darüber lachen.
Nachdem die Semmel gut im Magen gelandet war, schickte sie noch das Joghurt hinterher und spülte mit Kaffee nach.
Sie verließ die Kantine und begegnete auf dem Weg zur Neurologie dem Kollegen Jordan, den sie viel sympathischer fand als ihren direkten Vorgesetzten.
„Gehen Sie mal gleich zum Oberarzt“, sagte Dr. Jan Jordan. „Er hat schon nach Ihnen suchen lassen.“
Merkwürdig, dachte Dana. Der Kollege Kramer muss doch wissen, dass ich noch in der Kantine war. Oder hatte er das schon wieder vergessen?
Als sie ihm gegenüberstand, wollte sie ihm sagen, dass auch eine junge Ärztin wie sie hin und wieder mal etwas essen musste. Doch Martin Kramer ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. Als sie an die Tür seines Büros klopfte und eintrat, kam er ihr gleich entgegen, als wollte er ihr den weiteren Zutritt verwehren.
„Ah, Frau Doktor Baumann! Wir haben einen Neuzugang, ein achtundvierzigjähriger Patient, zeigt etliche Symptome, die eine Parkinson-Krankheit vermuten lassen. Was muss ich tun, um eine sichere Diagnose zu bekommen?“
Aha, er wollte sie also prüfen. Vielleicht aus Rache, weil sie es gewagt hatte, sich an seinen Tisch zu setzen?
Dana reagierte zu ihrer eigenen Überraschung emotionslos und präzise.
„Wenn schon vor dem fünfzigsten Lebensjahr die typischen Krankheitszeichen wie die Beeinträchtigung der Motorik, vielleicht auch Persönlichkeitsveränderungen, Ermüdbarkeit und Ungeschicklichkeit auftreten, sollte auf jeden Fall der Kupferhaushalt überprüft werden, um Parkinson gegen die Wilson-Krankheit abzugrenzen.“
Er betrachtete sie sekundenlang mit schmalen Lippen und deutlichem Argwohn in den Augen. Als könnte sie von irgendwoher heimlich Informationen empfangen haben. Informationen, die außerhalb seiner Kontrollmöglichkeiten lagen.
„Geraten oder gewusst?“, hakte er nach.
„Gewusst natürlich“, erwiderte sie mit vorgerecktem Kinn. „So was kann man nicht erraten. Meine Doktorarbeit befasst sich unter anderem mit den Proteinen, die beim Krankheitsverlauf der Multiplen Sklerose beteiligt sind.“
„Sehr interessant“, musste Martin Kramer widerwillig zugeben. Seine Augen schienen sie zu durchbohren. „Und? Wie haben Sie abgeschlossen?“
„Noch gar nicht. Die Arbeit wurde angenommen, aber das Rigorosum steht noch aus.“
„Sind Sie schon nervös?“
Diese Frage ging Dana zu weit. Warum wollte er das alles wissen? Sie kam sich vor wie bei einem Kreuzverhör. Doch dann hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung zustimmen. „Ja, ein bisschen schon. Aber ich werde mich gut vorbereiten.“
„Wenn Sie so weit sind, können Sie mir schon mal die Ergebnisse vortragen und dann auch den fachlichen Zusammenhang erläutern. Ich sage Ihnen dann, ob Sie sich gut und flüssig ausdrücken und ob die medizinischen Zusammenhänge klar sind. Aber erwarten Sie nicht, dass Sie von mir Schmeicheleien hören. Ich bin ein harter Kritiker.“
„Daran zweifle ich keine Sekunde.“ Dana hob eine Augenbraue. „Ihr Charme ist mir bekannt.“
Sie wusste nicht so recht, ob sie dieses Angebot annehmen oder ablehnen sollte. Eigentlich verspürte sie wenig Lust, mit dem unfreundlichen Oberarzt mehr Zeit als nötig zu verbringen. Andererseits konnte er ihr sicher wertvolle Tipps für die mündliche Prüfung geben.
Dr. Kramer wurde ungeduldig.
„Denken Sie darüber nach. Und geben Sie mir Bescheid, wenn Sie sich entschieden haben.“
„Danke für die Anregung. Ich werde sicher darauf zurück …“
Er wandte sich schon ab, bevor sie ihren Satz beendet hatte. Dana verließ wortlos den Raum.
Sie fühlte sich ein wenig frustriert, aber beim Rundgang durch die Krankenzimmer verflog diese Empfindung rasch wieder. Dennoch fragte sie sich, was Dr. Kramer eigentlich von ihr gewollt hatte. Die an sie gestellte Frage hätte er sich selbst beantworten können.
Um sechzehn Uhr fand sie sich zur allgemeinen Besprechung bei Dr. Holl ein. Dr. Kramer nahm nicht teil, wie sie gleich beim Eintreten feststellte.
Einerseits empfand sie Erleichterung. Andererseits mochte sie seine fundierten Fachkommentare. Die Kollegen Andrea Kellberg, Jan Jordan, Michael Wolfram, Peter Donat und Jochen Hansen saßen schon um den ovalen Konferenztisch. Mit allen kam Dana gut aus.
Während die Ärzte über die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten der drei neuen Krebspatienten diskutierten, spürte sie immer wieder die Blicke von Jochen Hansen. Allerdings war sie sich nicht ganz sicher, was sie bedeuteten. War es eher ein Zufall, dass er sie anschaute – oder hatte er doch ein besonderes Interesse an ihr?
Sie mochte ihn, weil sie sich auf Augenhöhe begegneten, denn Jochen Hansen verfügte ebenso wie sie erst über wenig Berufserfahrung. Gelegentlich sprachen sie über ihre Erlebnisse in der Klinik und schütteten sich auch gegenseitig das Herz aus, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlten. Aber mehr als einen Kollegen sah sie in ihm nicht.
Nach der Besprechung nahm er sie kurz zur Seite und schlug ein gemeinsames Abendessen vor. Dana hatte keine Einwände. Ihre Tante, mit der sie zusammenlebte, forderte sie ohnehin ständig auf, mehr auszugehen und sich mit jungen Leuten zu treffen.
Aber das war leichter gesagt als getan, denn Dana mochte keine laute Geselligkeit. Bei größeren Menschenansammlungen, wie sie in Discos oder Klubs zu finden waren, fühlte sie sich nicht zugehörig, ja sogar verloren.
„Ich möchte dich gern einladen“, sagte Joachim, um von vornherein zu klären, wer die Rechnung bezahlt, doch damit war Dana nicht einverstanden.
„Kommt nicht infrage“, widersprach Dana. „Jeder zahlt seins. Sonst …“
„Okay, okay“, meinte er lachend. „Akzeptiert. Ganz, wie du willst. Aber es hätte mir schon Freude gemacht.“
***
Chefarzt Dr. Holl kam an diesem Abend später als sonst nach Hause. Seine Frau Julia begrüßte ihn mit einem Kuss und nahm ihm die Tasche ab.
„Eine überraschend schnelle Geburt“, erklärte Stefan, ein hochgewachsener ansehnlicher Mann, der stets offen und herzlich auf die Menschen zuging. „Der kleine Bub hat es ziemlich eilig gehabt, auf die Welt zu kommen. Er wollte seinen Geburtstermin nicht mehr abwarten. Aber die Natur ist nun mal unberechenbar. Mutter und Kind sind wohlauf, und so konnte ich nach getaner Arbeit ruhigen Gewissens Feierabend machen.“
„Hast du Hunger?“, erkundigte sich Julia Holl, eine Kinderärztin, die ihren Beruf jedoch nicht mehr ausübte.
„Und wie!“ Stefan seufzte auf. „Ich hoffe, ihr habt mir was übriggelassen. Mein Magen hängt schon ganz tief.“
„Ich mache dir den Auflauf warm. Gemüse, Kartoffeln und Hühnerfleisch.“
Obwohl Julia schon mit den Kindern gemeinsam gegessen hatte, leistete sie mit einem Glas Johannisbeersaft ihrem Mann am Tisch Gesellschaft.
Trotz seines leeren Magens aß Stefan langsam und bedächtig. Er genoss die Mahlzeit, die Cäcilie, die langjährige Wirtschafterin der Familie, zubereitet hatte.
„Ich habe heute erst erfahren, dass unser Oberarzt Kramer nicht weit von uns entfernt wohnt. Das brachte mich auf die Idee, ihn mal zu uns einzuladen.“
„Von mir aus gern. Wo wohnt er denn?“
„Zwei Querstraßen weiter in der Schubertallee. Dort steht eine große Villa in einem noch größeren Grundstück.“
Julia nickte. „Das Haus kenne ich. Ich glaube, ein Amtsrichter wohnte dort mit seiner Familie.“
„Genau. Und Doktor Martin Kramer ist der einzige Sohn, wenn ich das richtig verstanden habe. Andere Geschwister außer ihm gibt es anscheinend nicht. Vor ein paar Tagen kamen wir ins Gespräch …“ Stefan brach ab. „Er ist ein wenig seltsam“, meinte er. „Ziemlich verschlossen, ist aber ein hervorragender Diagnostiker.“
Stefan schob den letzten Bissen in den Mund.
„Was meinst du mit seltsam?“
„Na ja, man findet keinen Zugang zu ihm. Die Zusammenarbeit mit ihm ist ausgesprochen gut, aber manchmal frage ich mich, was mit ihm los ist. Ich habe ihn noch nie lächeln gesehen.“
„Vielleicht hat er private Probleme“, mutmaßte Julia.
„Möglich. Jedenfalls wollte ich dich mit dieser kurzen Beschreibung vorwarnen. Wollen wir ihn trotzdem einladen?“
„Aber ja. Er wird bei uns schon auftauen“, erwiderte Julia selbstbewusst. „Er soll uns herzlich willkommen sein.“
***
Vor der Schubertallee 2 öffnete sich das elektronische Tor, das den privaten von dem öffentlichen Grund trennte. Ein silbergrauer Wagen fuhr bis vor das Garagentor. Martin Kramer stieg aus, öffnete den Kofferraum, hob zwei gefüllte Tüten heraus und trug sie zur breiten Eingangstür des Hauses.
Er fluchte leise, als er – wie so oft – den Schlüssel nicht sofort fand, und ärgerte sich zum tausendsten Mal über seine Zerstreutheit. Wo war er bloß wieder mit seinen Gedanken? Weder in der linken noch in der rechten Tasche seiner Lederjacke fand er das, was er suchte. Also noch einmal zum Auto zurück. Der Schlüssel lag im Seitenfach der Fahrertür. Das hätte er sich eigentlich denken können.
Nun schloss er auf. Bevor er eintrat, lauschte er kurz, doch aus dem Inneren des Hauses schlug ihm, wie immer, nur hohle Stille entgegen. Wie konnte die Stille nur so laut und aufdringlich sein?
Alles wie jeden Tag, dachte er in einem Anflug von Resignation, als er die Einkäufe einräumte. Viel Raum und wenig Leben. Eine Villa mit acht großen Zimmern, in denen sich ein einzelner Mensch verlief. Manche der Räume hatte er schon seit Wochen nicht mehr betreten, noch nicht einmal zum Lüften.
Natürlich wäre es das Beste, die Immobilie zu verkaufen, doch er scheute den Umzug und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten. Damals, als er mit siebzehn die Eltern verließ, um sein Medizinstudium in Berlin zu beginnen, hätte er selbst nicht gedacht, dass er eines Tages wieder zurückkehren und sogar hier wohnen würde.
Vor zwei Jahren waren seine Eltern durch einen Lawinen-Unfall ums Leben gekommen. Und nun musste er, ob er wollte oder nicht, sich um sein Erbe kümmern. Es gab viel zu regeln, da musste er an Ort und Stelle sein.
Als ihm dann noch an der Berling-Klinik die gut dotierte Stelle eines Oberarztes angeboten wurde, sagte er zu und zog in das Haus, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte.
Nach dem Einzug allerdings erschwerten ihm noch viele Geister der Vergangenheit den Aufenthalt. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt und war gelassener geworden. Die Immobilie besaß einen erheblichen Wert. Irgendwann würde er es schaffen, sie zu verkaufen, und nach einem für ihn passenden Apartment suchen.
Martin öffnete die Kühlschranktür und betrachtete die Lebensmittel, die er erst vor wenigen Minuten hineingelegt hatte. Schließlich entschied er sich für ein Rührei und ein paar Tomaten.
Unwillkürlich musste er an die Leberkäs-Semmel auf Dana Baumanns Tablett denken. Warum hatte er so überheblich reagiert? Dana Baumann konnte doch essen, was sie wollte, das ging ihn ja wirklich nichts an.
Nachmittags hatte er in ihre Personalakte geschaut und auf diese Weise erfahren, dass sie fünfundzwanzig war. Auf ihn wirkte sie wie eine Abiturientin. Eigentlich mochte er sie, doch es würde ihm niemals einfallen, ihr das zu zeigen oder gar zu sagen.
Er verrührte die beiden Eier, schnitt die Tomaten auf, die er mit frischen Basilikumblättern belegte und mit etwas Bio-Olivenöl beträufelte. Das Rührei war schnell zubereitet. Er ließ es kurz stocken und schob es dann von der Pfanne auf den Teller mit den Tomaten. Zum Essen trank er meistens Wasser, aber heute gönnte er sich ein Glas Weißwein.
Das leise Klirren des Bestecks beim Kontakt mit dem Porzellan war das einzige Geräusch, das seine Mahlzeit begleitete. Er hätte das Radio einschalten oder sich eine CD aus der Sammlung des Vaters einlegen können, aber er verzichtete auf Musik, die ja doch nicht zu seiner Stimmung passte.
Nachdem er gegessen und den Teller in die Spülmaschine gestellt hatte, setzte er sich an den Computer und las online in einigen medizinischen Fachzeitschriften, die er abonniert hatte. Plötzlich hörte er ein ungewöhnliches Geräusch. Es klang wie das Jammern eines Kindes. Unwillig erhob er sich, um nachzuschauen. Vor der breiten gläsernen Terrassentür saß eine Katze und miaute kläglich.
Martin betrachtete sie eine Weile mit gemischten Gefühlen und wandte sich wieder ab. Doch das Maunzen hielt an und wurde sogar noch eindringlicher. Ein äußerst hartnäckiges Tier, dachte er. Ob alle Katzen so waren?
Nach einer Weile ging er erneut zur Tür und machte sie auf.
„Warum schreist du so? Ich habe nichts für dich“, erklärte er, breitete die Arme aus und hob die Schultern hoch. „Absolut nichts. Du bist hier unerwünscht.“
Das Fellbündel erhob sich und machte zu seinem Entsetzen einen Schritt auf ihn zu. Er versuchte, es wegzuscheuchen, was ihm aber nicht gelang. Erst jetzt sah er, dass es sich um ein äußerst junges Tier handelte. Wo war die Mutter?
In Gedanken ging er seine Lebensmittelvorräte durch. Das Einzige, was er ihr anbieten konnte, war ein Eigelb mit Milch verquirlt. Allerdings wusste er nicht, ob kleine Katzen so was vertrugen.
Ohne eine Antwort auf seine Frage zu haben, machte er sich gleich ans Werk. Wenig später stellte er dem Kätzchen einen Teller auf die Terrasse. Gierig begann es zu trinken.
„Das ist eine einmalige Angelegenheit. Mehr bekommst du nicht. Ich bin ohnehin fast nie zu Hause. Am besten suchst du dir also einen anderen Menschen, den du anbetteln kannst. Bei mir zieht so was nicht …“ Er hielt inne. Wie kam er überhaupt dazu, mit dem Tier zu reden, als wäre es ein Mensch? Wenn das jemand hörte! Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie albern er sich benahm.
Martin ging ins Haus zurück und schloss die Glastür, blieb aber dahinter stehen, um die Katze zu beobachten. Schnell war der Teller ausgeschleckt. Nun fing die Samtpfote mit einer gründlichen Hygiene an, wobei sie sich geschmeidig verbog, um auch wirklich alle Körperstellen in die Reinigung einzubeziehen. Als sie fertig war, warf sie ihm noch einen fragenden Blick zu, dann stolzierte sie davon.
Martin verbrachte den Rest des Abends mit einem Film, der ihn jedoch bald langweilte. Er genehmigte sich noch ein zweites Glas Wein, dann beschloss er, ins Bett zu gehen.
Doch statt des Schlafs kamen unliebsame Gedanken, die ihn so schnell nicht wieder verließen. Ob Dana Baumann sein verstecktes Nachhilfe-Angebot annehmen würde? Hatte sie das überhaupt nötig? Machte sie sich über ihn lustig, weil sie glaubte, ihm ginge es um etwas ganz anderes?
Ruhelos wälzte er sich von einer Seite auf die andere. Wo mochte die Katze die Nacht verbringen? Hoffentlich mit der Jagd auf Mäuse. Dann würde sie morgen nicht mehr hungrig sein und ihn nicht erneut belästigen. Er machte sich selten Sorgen um andere Menschen. Und um ein Tier schon gar nicht. Warum war das jetzt plötzlich anders?
***
„Was ist los mit dir?“, erkundigte sich Dana, während sie ihre Tante prüfend betrachtete.
„Was soll schon sein? Hör auf, mich mit diesen ärztlichen Blicken zu taxieren, als wäre ich dein Studienobjekt! Mir geht es gut. Ich bin putzmunter.“
Dana lächelte, schnitt die Semmel auf und bestrich sie mit Butter und Beerengelee. Was würde wohl Ernährungsapostel Kramer dazu sagen? Weißes Mehl, tierisches Fett und mehr Zucker als Früchte im Gelee.
„Ich finde, du bist etwas blass“, meinte Dana. „Du solltest deine täglichen Spaziergänge wiederaufnehmen. Vielleicht sollten wir uns doch einen Hund zulegen.“
„Um Himmels willen, nein!“, rief Ingrid aus. „Ich mag keine geregelten Tagesabläufe. Und die braucht so ein Hund.“
„War ja auch nur ein Scherz“, gab Dana zu und tätschelte die Hand der Tante.
Nach dem sehr frühen Tod ihrer Eltern war sie bei Ingrid Baumann aufgewachsen, der Schwester ihres Vaters. Mehr als zehn Jahre Gemeinsamkeit hatten sie zusammengeschweißt. Dana liebte ihre Tante. Und Ingrid sah in Dana die Tochter, die ihr versagt geblieben war.
„Wie war’s denn gestern, dein Rendezvous?“, erkundigte sich Ingrid betont beiläufig. In Wirklichkeit brannte ihr diese Frage schon einige Zeit auf der Zunge, doch auf keinen Fall sollte ihre Nichte sie für neugierig halten.
„Rendezvous hat so einen romantischen Beiklang“, meinte Dana. „Ich habe mich mit einem Kollegen getroffen. Wir haben ein bisschen geplaudert. Das war alles.“
„Ist er sympathisch?“
„Ja, ganz nett“, gab Dana zurück, während sie überlegte, ob sie sich noch eine zweite Semmel gönnen sollte. Die innere Stimme, die fürs Kalorienzählen zuständig war, sagte deutlich Nein. Also ließ sie es. „Ich muss los“, sagte sie.
„Wirst du ihn wiedersehen?“
„Wen?“
„Na, deinen Kollegen.“
„Selbstverständlich.“ Dana schaute auf die Uhr. „In weniger als einer halben Stunde. Gib dir keine Mühe, Ingrid! Er ist nicht der Mann meines Lebens.“
„Eine junge Frau wie du …“
„Ja, ich weiß!“ Dana hob abwehrend beide Hände. „Die sollte romantisch gestimmt sein und immer die Augen offenhalten, falls das Schicksal den Märchenprinzen vorbeischickt, mit dem sie dann glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben kann. Ich habe zurzeit andere Interessen. Dass ich meine Doktorarbeit gut abschließe, am liebsten noch mit summa cum laude , dass ich viele und gute Erfahrungen in der Berling-Klinik sammeln kann und bald schon mit meiner Facharztausbildung beginne. Nach einem passenden Mann kann ich später immer noch Ausschau halten.“
„Ich war in deinem Alter wahnsinnig verliebt“, seufzte Ingrid in seliger Erinnerung. „Ach, war das schön! Nein, nicht nur das , sondern vor allem der .“
„Ich weiß. Er hieß Jakob, war der schönste junge Mann weit und breit und so charmant, dass ihm alle Herzen auf direktem Wege zuflogen.“
Schon oft hatte sie die Geschichte von Jakob, dem Einzigen, Unwiderstehlichen und Auserwählten, gehört. Leider besaß Ingrid kein Bild von ihm, aber wenn sie von ihm sprach, leuchteten ihre Augen von innen her. Das Feuer war wohl auch nach einigen Jahrzehnten noch nicht erloschen.
„Ich hätte damals gleich Ja sagen und mir keine Bedenkzeit erbitten sollen“, meinte Ingrid. „Dann hätte ich ihn gekriegt.“
„Manche Einsicht kommt zu spät“, erwiderte Dana und begann, den Tisch abzuräumen.
„Lass nur, das ist doch meine Aufgabe. Sieh zu, dass du pünktlich zum Dienstantritt in der Klinik bist!“
Dana schaute auf die Uhr. Es war noch Zeit genug.
„Soll ich was zum Essen mitbringen? Wir können uns auch am Abend was vom Italiener oder Chinesen bringen lassen.“
„Heute bleibt die Küche kalt, wir lassen uns was bringen“, entschied Ingrid.
„Gut, dann bin ich mal weg.“ Dana gab ihrer Tante noch einen Abschiedskuss, schlüpfte in die Daunenjacke und warf sich die breite Tasche über die Schulter. „Mach dir einen schönen Tag, Ingrid! Und wenn was ist, rufst du mich einfach an.“
„Was soll denn sein?“, fragte Ingrid verwundert.
„Ich mein ja nur.“
Ingrid hörte die Wohnungstür zuklappen. Eine Weile blieb sie noch auf ihrem Stuhl sitzen, dann machte sie sich ein wenig in der Küche zu schaffen, fühlte sich aber bald so geschwächt, dass sie sich ein wenig ausruhen musste. Sie verspürte Schmerzen im Nacken und im Rücken, manchmal auch in den Beinen oder Armen.
Schon seit einiger Zeit fühlte sie sich nicht besonders wohl, hätte das aber niemals vor Dana zugegeben. Immerhin war sie erst dreiundfünfzig, eigentlich immer noch eine Frau im besten Alter.
Dennoch überfiel sie oftmals eine unerklärliche Müdigkeit, und manchmal glitt sie auch in depressive Zustände ab, aus denen sie nur schwer wieder herausfand. Natürlich hätte sie längst mit Dana darüber sprechen sollen, aber Ingrid hoffte, dass all diese Wehwehchen von selbst wieder auf dem Weg verschwanden, auf dem sie gekommen waren.
Wahrscheinlich war es auch einfach nur das Älterwerden, das sie mehr beschwerte, als sie sich eingestehen mochte. In den nächsten Tagen würde sie einfach mal wieder ihren Hausarzt aufsuchen und sich bestätigen lassen, dass mit ihr alles in Ordnung war. Dana brauchte davon gar nichts zu erfahren.
Nachdem sie diesen Entschluss gefasst hatte, ging Ingrid das bisschen Küchenarbeit leichter von der Hand. Später holte sie noch die Zeitung aus dem Briefkasten und machte es sich auf dem Sofa bequem.
Später am Tag hielt sie den Besuch beim Hausarzt schon wieder für überflüssig und schob ihn in die Zukunft. Es ging ihr prima. Und das freute sie so sehr, dass sie eine Bekannte anrief und sich mit ihr zu Kaffee und Kuchen verabredete.
***
Dana bemerkte ihn erst, als er seine Tasse abstellte. Er fragte nicht, ob er sich zu ihr setzen dürfe. Er nahm einfach Platz. Ob die Penne mit Gorgonzolasauce vor seinen Augen Gnade finden?, überlegte Dana halb belustigt, halb verärgert.
Martin Kramer sagte nichts, sondern schenkte ihr nur ein Nicken. Vorsichtig nippte er an seinem Tee.
„Haben Sie über mein Angebot nachgedacht?“, erkundigte er sich dann.
Sie sah ihm furchtlos in die Augen.
„Nein“, erwiderte sie. „Dazu bin ich noch nicht gekommen. Aber ich werde Ihnen noch Bescheid geben.“
„Sie haben nicht mehr allzu viel Zeit“, versuchte er, den Druck zu erhöhen. „Darum sollten sie die Chance, die ich Ihnen biete, unverzüglich nutzen.“
Dana schwieg. Sie verspürte wenig Lust, sich plötzlich immerzu vor Dr. Kramer rechtfertigen zu müssen. Wieso mischte er sich überhaupt derart penetrant in ihre Angelegenheiten ein?
Martin betrachtete sinnend die goldgelbe Farbe seines Tees, der immer noch zu heiß zum schnellen Trinken war.
„Kennen Sie sich mit Tieren aus?“, fuhr er sie unvermittelt an.
Dana schüttelte den Kopf. „Wie Sie sich hoffentlich erinnern, habe ich nicht Veterinär-, sondern Humanmedizin studiert.“
Ihre Abfuhr schien ihn nicht zu beeindrucken.
„Hätte ja sein können, dass sie Erfahrungen mit Haustieren haben. Hund, Katze …“
„Als Kind hatte ich einen Hund, der seltsamerweise Tiger hieß.“
Dana musste schlucken. Ohne Vorwarnung und mit voller Wucht kamen verschüttete Emotionen wieder hoch. Tiger hatte auch im Wagen der Eltern gewesen, als ein Geisterfahrer den Tod von drei Menschen und dem Hund verursacht hatte.
„Dann wissen Sie vielleicht auch, wie man mit einer Katze umgeht.“
„Haben Sie eine Katze?“, fragte Dana überrascht. Dass Dr. Kramer mit einem solchen Schmeicheltier Umgang pflegte, hätte sie nicht erwartet.
„Um Himmels willen, nein!“ Abwehrend hob er die Hände. „Seit ein paar Tagen streift eine durch meinen Garten. Ich mag Katzen nicht. Sie übertragen Krankheiten und sind voller Ungeziefer. Ich … ich wollte nur wissen, was sie normalerweise so fressen.“
„Mäuse“, antwortete Dana knapp.
„Und was sonst noch?“
„Dosen- oder Trockenfutter. Und natürlich sind sie auch Leckereien nicht abgeneigt. Fisch, zartes Fleisch, Sahne. Katzen sind Feinschmecker. Das ist ja allgemein bekannt. So, jetzt muss ich aber los. Ich darf bei einer Herz-OP dabei sein.“
„Na dann, viel Vergnügen!“
Martin Kramer wirkte gekränkt. Gerade so, als wäre er eifersüchtig, weil ihr die Gesellschaft der anderen Kollegen offensichtlich wichtiger war als seine.
***
Ziemlich spät machte er an diesem Abend Schluss, aber auf dem Heimweg gab es einen Supermarkt, der bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet hatte. Dort kaufte er öfters ein, doch bis er die Tierfutterregale fand, brauchte er eine Weile. Noch nie hatte er sich solche Produkte angesehen und sie schon gar nicht in die Hand genommen.
Unglaublich, was es alles für verwöhnte Miezen gab! Menüs mit Forelle, Leber bis hin zu Hühnchen in feiner Sauce, sogar als spezielles Angebot für Jungtiere. Was sollte er nehmen? Die Auswahl fiel ihm schwer. War es überhaupt klug, der Katze etwas anzubieten? Denn wenn sie einmal wusste, dass bei ihm was zu holen war, würde sie wiederkommen. Und dann hätte er sie am Hals.
Abrupt stellte er die kleinen Dosen mit Forelle und Hühnchen wieder ins Regal zurück und schob den Einkaufswagen in Richtung Kasse. Bevor er sie erreichte, machte er jedoch kehrt und seine schon getroffene Entscheidung wieder rückgängig.
Es war schon dunkel, als er zu Hause eintraf. Während er in der Küche wieder Rührei mit Tomaten zubereitete, dachte er an Dana Baumann. Was würde sie wohl zu seiner extrem einseitigen Ernährung sagen? Eigentlich aß er fast täglich das Gleiche. Eier in irgendeiner Form, dazu einen Salat. Nicht besonders abwechslungsreich, aber schnell hergerichtet.
Er wollte sich gerade an den Küchentisch setzen, als das wohlbekannte Maunzen zu ihm drang. Die Katze saß draußen und begrüßte ihn erfreut, als er die Glastür aufschob.
„Guten Abend“, sagte er. „Was ist mit den Mäusen? Wie ich gehört habe, sollte das deine Hauptnahrung sein.“
Das Tier trippelte näher und strich ihm schnurrend um die Beine. Ein paar Sekunden lang stand er wie erstarrt. Die weiche Berührung löste die unterschiedlichsten Empfindungen in ihm aus.
„Also gut“, sagte er, nachdem er sich wieder gefangen hatte. „Heute gibt es eine Abendmahlzeit, aber daraus lassen wir keine Gewohnheit werden, verstanden? Zu deinen Gunsten gehe ich mal davon aus, dass du wegen deiner Jugend im Jagen noch nicht sehr erfolgreich bist.“ Er machte eine Pause und widerstand der Regung, sich zu bücken und das Tier zu streicheln. „Wahrscheinlich hast du Flöhe“, mutmaßte er. „Oder warum kratzt du dich so oft? Warte hier!“
Als hätte die Katze ihn verstanden, setzte sie sich auf ihre Hinterpfoten und schaute ihm nach. Ins Haus kam sie nicht.
In der Küche suchte er nach einem Teller, der schon einen Schaden hatte, fand aber nur gutes Geschirr. Er leerte eine der beiden kleinen Dosen zur Hälfte und trug den Teller hinaus auf die Terrasse.
„So, Madame, so fein hast du sicher noch nie gespeist.“
Sofort machte sich die Samtpfote über die Mahlzeit her. Sie schien hungrig zu sein. Im Nu war der Teller wieder leer. Sie leckte sich ausgiebig das Mäulchen und gab noch ein paar auffordernde Laute von sich, sodass er sich genötigt sah, die Dose aus der Küche zu holen und auch den Rest noch auf den Teller zu geben.
Während er das tat, rieb sie den Kopf an seiner Hand und schnurrte wohlig.
„Nun lass es mal gut sein!“, knurrte er, ging schnell ins Haus zurück und schloss die Tür. Aber er beobachtete sie so lange, bis sie auch die zweite Portion vertilgt hatte und sogar ein Bröckchen liegen ließ.
Dann sprang sie auf einen der Stühle aus witterungsfestem, englischem Holz, begann ihre Putzorgie und rollte sich anschließend zu einem kleinen Nickerchen ein.
„Na so was! Jetzt richtet sie sich hier noch gemütlich ein“, brummte Martin in einem Anflug von Empörung und ging in die Küche zurück. Morgen würde er sie wegscheuchen. Er setzte sich an den Tisch. Sein Rührei war inzwischen kalt geworden.
***
Während der Herz-OP, bei der dem Patienten eine künstliche Herzklappe mithilfe eines Katheters eingesetzt worden war, hatte sie nur zwei kleine Handreichungen tun dürfen. Trotzdem hatte sie sich als Mitglied dieses OP-Teams gefühlt, das aus den Ärzten Dr. Holl, Dr. Falk, Dr. Wolfram und Dr. Kellberg bestand.
Gleich am Abend berichtete Dana der Tante mit roten Wangen von diesem Eingriff, der unter mikroskopischen Bedingungen durchgeführt worden war.
„Vielleicht sollte ich doch besser den Facharzt in Chirurgie machen“, meinte die junge Ärztin unschlüssig. Eigentlich dachte sie, ihre Entscheidung schon getroffen zu haben, doch jetzt fühlte sie sich wieder unsicher.
„Schlaf ein paar Nächte darüber“, schlug Ingrid vor. „Dein Herz wird dir dann schon sagen, was es für richtig hält.“
„Glaubst du wirklich, dass solche Dinge vom Herzen entschieden werden? Ist es nicht viel mehr der Kopf, der …“
„Das Herz trifft alle wichtigen Entscheidungen, die immer richtig sind. Das Herz irrt sich nie. In unserer Kultur wird dem Verstand viel zu viel Bedeutung beigemessen. Der irrt sich viel zu oft.“
Dana seufzte nur ganz leise. Das war sie also wieder gewesen, Ingrids esoterische Ader. Sie hatte sogar mal einen Schamanen-Kurs besucht und schwärmte heute noch davon.
„Was wollen wir heute essen?“
„Mach irgendwas, mir ist es egal. Ich bin nicht hungrig.“
„Das sagst du jetzt ziemlich oft“, stellte Dana mit gerunzelten Brauen fest. „Mangelnder Appetit ist kein gutes Zeichen.“
„Auf diese Weise habe ich ein paar lästige Kilo verloren.“
Dana schüttelte abweisend den Kopf.
„In deinem Alter solltest du wirklich keine Hungerkuren mehr machen.“
„In meinem Alter? Was soll das heißen?
„Dass du eine Figur hast, die nicht den Hauch einer Diät braucht. Du bist gut so, wie du bist.“
„Danke für das Kompliment, mein Kind.“
Dana sah, dass die Tante noch etwas sagen wollte. „Was ist los mit dir?“
„Ich war bei meinem Hausarzt, weil … irgendwie fühlte ich mich nicht wohl. Wir haben lange miteinander geredet. Ich habe ihm von meiner ständigen Müdigkeit erzählt. Und von den Doppelbildlern.“
„Doppelbilder?“, wiederholte Dana mit gekrauster Stirn. „Davon hast du mir nichts erzählt.“
„Doktor Weinberg hat mich lange untersucht. Er ist ja noch einer von der alten Garde, der sich viel Zeit für seine Patienten nimmt. Ich musste stehen, laufen, Arme und Beine bewegen, mit den Händen greifen und zeigen. Er hat Reflexe geprüft und die Spannung der Muskeln. Und mit einer Taschenlampe hat er mir in die Augen geleuchtet.“
Dana bekam eine Ahnung. „Er hat einen neurologischen Status gemacht“, stellte sie fest.
„Kann sein“, erwiderte Ingrid langsam nickend. „Jedenfalls hat er mir dringend empfohlen, mich zusätzlich in einer Klinik untersuchen zu lassen, damit dort bestimmte Krankheiten ausgeschlossen werden können. Wie zum Beispiel Multiple Sklerose oder Parkinson.“
Der Schreck fuhr Dana so scharf in die Glieder, dass sie zusammenzuckte.
„Ich werde mit Doktor Weinberg reden“, sagte sie. „Und gleich morgen lasse ich dir in der Klinik ein Bett reservieren.“
„Meinst du wirklich, dass dies nötig ist?“ Ingrid Baumann schaute ihre Nichte zweifelnd an. „Vielleicht brauche ich bloß mal ein paar Tage komplette Ruhe. Dann wird es mir schon wieder besser gehen.“
„Liebste Tante“, sagte Dana. So begann sie immer, wenn sie vollkommen anderer Meinung war. „Dr. Weinberg ist ein sehr erfahrener Arzt. Der macht einen solchen Vorschlag nicht leichtfertig. Und darum wirst du seinen Rat befolgen. Damit wir auf der sicheren Seite sind.“
Ingrid nickte missmutig. „Wenn du meinst. Du bist die Ärztin in der Familie.“
„In der Berling-Klinik gibt es einen hervorragenden Neurologen. Oberarzt Doktor Kramer. Bei ihm bist du in den besten Händen.“
„Ist er nett?“
„Sehr sogar“, erwiderte Dana und schämte sich dieser Lüge nicht. Schließlich konnte sie ihrer Tante ja nicht sagen, dass Martin Kramer der unbeliebteste unter allen Kollegen war – nach dem Motto: fachlich hervorragend, menschlich eine totale Niete.
„Also gut, Kind, wie du meinst“, sagte Ingrid jetzt entschlossen. „Bringen wir es hinter uns! Melde mich bitte an!“
***
„Haben Sie einen Moment Zeit?“ Stefan gab dem Kollegen Kramer einen Wink.
Martin bleib stehen. „Selbstverständlich“, sagte er.
„Neulich sprach ich mit meiner Frau über Sie und dass Sie in der Schubertallee wohnen, ganz bei uns in der Nähe. Und da dachten wir, Sie zu uns einzuladen – wenn Sie Lust und Zeit haben.“
Die Gedanken in Martins Kopf überschlugen sich. Das Interesse, das Dr. Holl ihm entgegenbrachte, ehrte ihn. Andererseits wusste er, wie schwer es ihm fiel, mit anderen Menschen auch nur eine leichte Konversation zu führen. Aber wurde es nicht allmählich Zeit für ihn, sich wieder mit ein paar gesellschaftlichen Gepflogenheiten vertraut zu machen?
„Ich komme gern“, hörte er sich sagen. Vielleicht war diese Entscheidung vorschnell, aber länger konnte er den Chefarzt nicht auf eine Antwort warten lassen.
„Das freut mich“, erwiderte Stefan zufrieden. „Ich werde meiner Frau Bericht erstatten. Und dann machen wir einen Tag aus. Einverstanden?“
„Gute Idee.“ Martins winziges Lächeln war kaum sichtbar.
Stefan hob noch einmal grüßend die Hand und machte sich auf den Heimweg. Heute führte Jujus Klasse ein Theaterstück auf. Sie spielte zwar nicht die Haupt-, aber eine wichtige Nebenrolle und war schon ganz aufgeregt.
Von der Klinik aus fuhr er gleich zur Schule. Julia war hoffentlich schon in der Aula. Sie wollte ihm einen Platz freihalten. Zum Glück, denn der Saal war schon bis auf den letzten Platz besetzt. Der Hausmeister und einige der Lehrer trugen noch weitere Stühle herein, aber dann gab es nur noch Stehplätze.
Stefan blickte sich suchend um. Julia hatte ihn schon erspäht und winkte ihm aufgeregt. Wenig später nahm er erleichtert neben ihr Platz.
„Wir sind Jujus Rolle noch mal durchgegangen. Eigentlich müsste alles gut gehen.“
„Das will ich doch hoffen“, meinte Stefan und schmunzelte. „Sie will doch Schauspielerin werden. Dann muss sie auch in der Lage sein, den Text zu behalten.“
„Ich weiß nicht, ob das mit der Schauspielerin noch aktuell ist“, gab Julia zu bedenken. „Auf der Herfahrt wollte sie nur noch Taxifahrerin werden.“
„Wie bitte? Wie kommt sie denn darauf?“
„Weil die Taxis ihrer Ansicht nach viel schneller fahren als andere Autos – und ich ihr definitiv zu langsam war. Dabei habe ich mich nur konsequent an die vorgeschriebenen Geschwindigkeiten gehalten.“
Das Licht im Saal wurde schwächer. Ein dreimaliges Klingeln ertönte. Ruhe kehrte ein. Dann trat Juju Holl auf die Bühne und sprach einen ziemlich langen Prolog so fehlerfrei, dass die Brust des Vaters schwoll vor Stolz.
Erst in der Pause vor dem letzten Akt erzählte er Julia, dass er die Einladung an Dr. Kramer schon übermittelt hatte. „Jetzt müssen wir nur noch einen passenden Termin finden.“
„Wie wär’s am kommendem Samstag?“
„Ich werd’s weitergeben“, versprach der Chefarzt. Und dann wurde es auch schon wieder Zeit, ihre Plätze einzunehmen, um dem letzten Akt des Stückes zu folgen.
***
Martin überlegte im Supermarkt nicht lange, sondern lud etliche Dosen Katzenfutter in seinen Wagen, ohne sie zu zählen. An der Kasse kam er sich beim Einpacken schon reichlich albern vor. Was mochte die Kassiererin wohl denken, die eine Dose nach der anderen über den Scanner zog?
Einen Moment lang war er versucht, der Frau eine Erklärung abzugeben. Dass er selbst kein Haustier habe, sondern nur für die Nachbarin einkaufe, die mit Grippe zu Bett lag. Gerade noch rechtzeitig erkannte er, dass er sich damit lächerlich machte. Er brauchte sich doch nicht vor der Supermarkt-Angestellten zu rechtfertigen! Der war es komplett egal, was und für wen er einkaufte.
Während er seine Heimfahrt fortsetzte, kam er zu der Erkenntnis, ein Weichei zu sein. So nannte man wohl jemanden, der sich von einer raffinierten Katze zum Narren machen ließ. Aber wenn die heute eingekauften Vorräte vertilgt waren, musste endgültig Schluss sein mit dieser Fütterung.
Heute stand für ihn selbst ein Nudelgericht auf dem Speiseplan. Danas Pasta neulich hatten ihn dazu angeregt. Während er die Dosen geräuschvoll in den Schrank stellte, ertappte er sich dabei, wie er mit einem Ohr in Richtung Terrasse lauschte. Nichts.
Madame Samtpfote schien heute Verspätung zu haben. Dann konnte er sich ja zunächst in aller Ruhe um seine eigene Mahlzeit kümmern.
Er setzte Salzwasser auf. Während er darauf wartete, dass es zu kochen begann, versuchte er abzuschätzen, wie viele Nudeln er für eine Portion brauchte. Als das Wasser sprudelte, schüttete er die Hälfte des Pakets in den Topf.
Dann ließ er den Gorgonzola schmelzen, gab etwas Sahne hinzu und verrührte alles zu einer geschmeidigen Creme. War das jetzt gesund? Oder ernährungsmäßig doch eher abzulehnen? Er beschloss, sich einfach mal keine Gedanken darüber zu machen, gönnte sich aus der noch offenen Flasche Weißwein im Kühlschrank wieder ein Glas und begann, in aller Ruhe zu essen.
Es schmeckte ihm, aber er hatte viel zu viele Nudeln gekocht. Vielleicht ließen sie sich morgen und in den kommenden Tagen für andere Gerichte verwenden.
Noch immer kein Maunzen. Martin stellte den Teller in die Spüle, ging durch das große Wohnzimmer zur Terrassentür und schaltete die Außenbeleuchtung ein, damit er besser sehen konnte. Wo blieb sie nur?
Nicht, dass sie ihm fehlte, aber er hätte nun doch gern den Grund für ihre Undankbarkeit gewusst. Da lud er im Supermarkt all die Leckereien ein, die ein Katzenherz höherschlagen ließen, und sie strafte ihn dafür mit Abwesenheit!
Martin schob sich den Sessel vor die Glastür. Das Terrassenlicht ließ er brennen. Von diesem Beobachtungsposten aus konnte er sogar sehen, ob sich irgendwo sonst im Garten etwas bewegte.
Nachdem er über eine Stunde vergeblich auf sie gewartet hatte, trat er noch einmal hinaus in die Nacht. Die Sterne waren von dunklen Wolken verdeckt. Es sollte Regen geben, vielleicht sogar noch mal Schnee.
„Hallo, Katze!“ rief er leise. „Bist du da? Wenn du noch was haben willst, musst du jetzt kommen. Ich gehe nämlich gleich schlafen.“
Sie kam nicht. Nachdem er seine Abendtoilette beendet hatte, legte er sich frustriert ins Bett. Jetzt bloß nicht mehr an diese Streunerin denken!, befahl er sich. Doch damit erreichte er nur das Gegenteil.
Seine Gedanken kreisten um diese schwarz-weiße Katze. Und plötzlich kamen aus der Vergangenheit ein paar Bilder, die er aber absolut nicht sehen wollte.
Was früher war, lag hinter einer haushohen Mauer verborgen und sollte dort auch für alle Zeiten bleiben. Er hatte es zu einem angesehenen Beruf gebracht und allen längst gezeigt, dass er Großes darin leistete. Er war ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, die solche Menschen wie ihn dringend brauchte. Man respektierte und schätzte ihn.
Er war zufrieden mit seinem Leben. Nur die Frage nach dem Glück stellte er sich nie. Seiner Meinung nach machten die Menschen viel zu viel Aufhebens um dieses Gefühl, von dem man ohnehin nie wusste, wie lange es blieb.
***
Dana fasste sich ein Herz, richtete die Schultern grade und klopfte kurz, bevor sie eintrat.
„Guten Tag, Doktor Kramer.“
„Frau Baumann, was führt Sie zu mir?“ Der Oberarzt betrachtete sie prüfend.
Dana kam sich vor, als stünde sie vor einem gestrengen Lehrer. Er bot ihr keinen Stuhl an, doch sie setzte sich einfach.
„Geht es um Ihre Doktorarbeit?“
„Nein, um eine Patientin“, erwiderte sie. „Dreiundfünfzig Jahre alt, bisher eine unauffällige Anamnese. Der Hausarzt hat bei ihr den neurologischen Status durchgeführt und eine genaue Untersuchung auf Multiple Sklerose angeregt.“
„Und?“
„Diese Patientin ist meine Tante. Und da Sie der Neurologe sind, werden Sie sie bald untersuchen. Sie kommt übermorgen.“
Dr. Kramer lehnte sich zurück.
„Wollen Sie mit diesem Gespräch eine Sonderbehandlung für Ihre Verwandte einfordern?“
Dana schoss die Röte ins Gesicht. Fast hätte sie ihm eine patzige Antwort gegeben, doch sie dachte an Ingrid und beherrschte sich.
„Natürlich nicht. Ich möchte Sie nur bitten, den Behandlungsverlauf mit mir zu besprechen. Meine Tante hat mich aufgezogen. Wir stehen uns sehr nahe.“
Das alles ging ihn eigentlich nichts an, aber vielleicht rührten ihn diese Worte – falls ihn überhaupt irgendetwas rührte.
„Ich werde tun, was ich kann, Frau Baumann. Wie ist der Name Ihrer Tante?“
„Ingrid Baumann.“
„Gibt es noch einen Ehemann oder Lebenspartner?“
„Nein, sie war nie verheiratet. Ich war damals ein schwieriges Kind. Vielleicht hat sie darum auf eine Partnerschaft verzichtet.“
„Sie waren ein schwieriges Kind?“ Dr. Kramer wiederholte diese Frage fast genüsslich. „Das sieht man Ihnen heute gar nicht mehr an. Darf ich fragen, warum Sie …“
„Ich habe meine Eltern sehr früh verloren. Und dann noch beide auf einmal. Das kann ein zehnjähriges Mädchen schon aus dem Gleichgewicht bringen. Finden Sie nicht?“
Zu Danas Erstaunen veränderte sich Dr. Kramers Gesichtsausdruck, aber deuten konnte sie ihn nicht. War es Mitleid oder nur ein gesteigertes Interesse?
Nach einer halben Sekunde kehrte seine überheblich-spöttische Miene zurück – und Dana empfand fast so etwas wie Erleichterung. Dieses Gesicht war ihr bestens bekannt. Damit konnte sie umgehen.
„Inzwischen ist ja viel Zeit vergangen“, meinte er. „Gut, ich werde mir Ihre Tante genau anschauen. Und wenn wir die ersten Resultate haben, werde ich Sie informieren.“
„Danke, Doktor Kramer.“ Dana erhob sich.
„Einen Moment noch“, hielt er sie zurück. „Was unternimmt man gegen Flöhe?“
„Flöhe?“, wiederholte sie erstaunt.
„Flöhe bei Haustieren“, bestätigte er ungehalten. „Sie hatten doch mal einen Hund namens Tiger. Da müssten Sie doch wissen, was man gegen Ungeziefer im Fell tut.“
„Man geht zum Tierarzt“, erwiderte Dana trocken. „Bei dieser Gelegenheit kann man sein Haustier auch gleich entwurmen lassen.“ Sie neigte den Kopf zur rechten Schulter. „Ist sie wiedergekommen, die Katze?“
„Sie hält sich manchmal auf meiner Terrasse auf. Allerdings sehe ich das nicht gern“, fügte er noch rasch hinzu.
„Wem gehört sie denn?“
„Keine Ahnung. Vielleicht niemandem. Sie ist noch sehr jung.“
„Ist sie mager, oder wirkt sie gut genährt?“
„Ich kann das nicht beurteilen“, versetzte Martin knapp. „Wenn sie kommt, stelle ich ihr Futter hin, und sie frisst es gern.“
„Dann haben Sie das Tier also schon ins Herz geschlossen“, stellte Dana fest.
„Wie kommen Sie denn darauf? Die Katze ist mir vollkommen gleichgültig. Aber man ist ja kein Unmensch.“
„Sie müssen ihr einen Namen geben.“
Martin bemühte sich um ein verächtliches Lächeln, doch so ganz gelang es ihm nicht. „Soll ich ihr vielleicht noch einen Korb mit einem Samtkissen auf die Terrasse stellen?“
„Warum nicht? Katzen mögen es warm und weich. Und wenn sie dann noch einen Menschen haben, der ihnen die Wohnzimmertür öffnet und sie eintreten lässt, sind sie glücklich.“
„Ich habe nicht die Absicht, eine Katze glücklich zu machen“, lautete seine schroffe Antwort. Martin verstand nicht, warum ihm das Gespräch plötzlich so an die Nieren ging. Und dass Dana jetzt schon wieder die Türklinke in der Hand hatte, ärgerte ihn. Warum war sie immer auf dem Sprung?
Wieder erinnerte er sie an ihre Doktorarbeit, doch sie winkte ab. „Ich bin sehr froh, dass Sie sich meine Tante genau anschauen werden, Herr Doktor Kramer.“
„Wie immer tun wir hier in der Berling-Klinik alles für unsere Patienten.“
„Danke“, sagte die junge Ärztin. Bevor sie verschwand, schaute sie noch einmal zurück. „Minette“, sagte sie.
„Wie bitte?“
„Minette ist doch ein schöner Name für eine Katze, vorausgesetzt, es ist ein weibliches Tier.“ In einem Anflug von Verschwörung zwinkerte sie ihm zu. „Finden Sie nicht?“
***
Draußen stieß sie fast mit Jochen Hansen zusammen. Sie begrüßte ihn mit einem lockeren „Hallo!“.
„Schön, dich zu sehen“, sagte Jochen. „Was machst du am Wochenende?“
„Bis jetzt noch nichts. Warum fragst du?“
„Ich bin zu einer Party eingeladen und soll auf jeden Fall noch jemanden mitbringen. Ich … ich dachte sofort an dich. Hättest du Lust?“
Dana tat so, als blättere sie im Geist ihren Terminkalender durch.
„Am Samstag ginge es“, meinte sie gedehnt, obwohl wie immer nichts geplant war. „Könnte schon sein. Lass uns heute Mittag in der Kantine darüber reden. So gegen eins?“
„Einverstanden.“ Der junge Arzt nickte erfreut.
Eine halbe Stunde später befand sich Dana im Gefolge der Visite, die von Martin Kramer angeführt wurde. Und wieder einmal staunte sie über seine Wandlung. Er ließ sich alle Zeit der Welt, wenn er einfühlsam mit den Patienten sprach, Fragen stellte und den Antworten geduldig zuhörte.
Eine multiple Persönlichkeit vielleicht? Dana stand neben Martin, als er mit einem Patienten scherzte. Ja, wirklich scherzte. Seine blauen Augen waren wie von Samt überzogen, seine Gesten vermittelten Verständnis.
„Sie sind auf einem guten Weg, Herr Keller. Das freut mich.“
Der Patient schien entzückt vom Besuch des Oberarztes. Dankbar griff er mit beiden Händen nach Martins Hand und hielt sie lange fest. Wer jetzt erwartet hätte, der Oberarzt wäre sofort zurückgeschreckt, sah sich getäuscht. Martin legte sogar noch seine linke Hand dazu, sodass jetzt vier Hände miteinander verbunden waren.
„Ende der Woche können Sie nach Hause“, sagte Dr. Kramer. „Ihr Hausarzt wird die weitere Behandlung übernehmen. Ich werde mich noch mit ihm in Verbindung setzen.“
Nach der Visite wurden die neuesten Befunde der Patienten im kleinen Kreis noch ausführlich besprochen. Dr. Kramer erhöhte und verringerte die Medikamentendosen, ordnete neue Therapiemaßnahmen an und gab Ratschläge zur Vorsorge für diejenigen, die kurz vor ihrer Entlassung standen.
Dana unterdrückte einen Seufzer. Der Mann war und blieb ihr ein Rätsel. Im Kollegenkreis ließ er niemanden an sich herankommen, aber als Arzt fand er sofort Zugang zu den ihm anvertrauten Menschen – und die zu ihm.
Kurz nach halb eins betrat Dana die Kantine. An der Selbstbedienungstheke hielt sie sich nicht lange mit Überlegungen auf, was sie nehmen sollte. Eine Käsesemmel, ein Joghurt, einen Kaffee – damit würde sie bis zum Abend über die Runden kommen.
Jochen Hansen war schon da. Er winkte ihr vorsichtshalber noch zu, obwohl sie ihn schon gesehen hatte. Erst als sie das Tablett abgesetzt hatte, sah sie hinter Jochen den Oberarzt sitzen, dessen kühle Miene sie fast frösteln ließ. Die ironischen, direkt auf sie gerichteten Blicke wirkten wie ein Störfeuer.
Unter diesen Umständen war ihr eine lockere Unterhaltung mit Jochen kaum möglich. Sie fühlte sich beobachtet, schlimmer noch: kontrolliert. Was fiel dem Oberarzt ein, sie auf eine Weise zu verunsichern, die sie ihm nicht einmal vorhalten konnte?
Ich habe Sie angesehen? Liebe Frau Baumann, bilden sich da nicht etwas ein? Tatsächlich habe ich Sie nicht einmal bemerkt.
So etwas in dieser Art würde sie bei einer Beschwerde dann zu hören bekommen.
„Du hast mir gar nicht zugehört!“, sagte Jochen vorwurfsvoll.
„Entschuldige bitte!“ Zum Zeichen ihrer Reue berührte sie den Kollegen am Arm und hoffte, dass diese Geste dem Oberarzt nicht entgehen würde.
„Ich war in Gedanken bei Ingrid“, log Dana, doch ihr Schuldbewusstsein hielt sich in Grenzen. „Sie wird ab morgen hier in der Klinik untersucht, und ich mache mir natürlich Sorgen.“
„Das tut mir leid.“ Jochen hielt die Hand fest, die sich wieder zurückziehen wollte. Er wusste bereits, dass Dana mit ihrer Tante zusammenlebte.
„Oberarzt Doktor Kramer wird die neurologische Untersuchung vornehmen und hoffentlich bald wissen, ob krankhafte Abweichungen vom Normalbefund vorliegen. Meine Tante klagt in der letzten Zeit über rasche Ermüdung und ein Nachlassen der Kräfte. Und da sie immer eine temperamentvolle Person war, sind das beunruhigende Zeichen.“
Dana rührte in ihrem Joghurt und schwieg. Als sie das nächste Mal aufschaute, war Martin Kramer verschwunden. Nun fühlte sie sich wieder freier. Sie verabredete mit Jochen einen Treffpunkt für Samstag, neunzehn Uhr.
„Wir fahren mit der U-Bahn zur Party.“
Dana war sofort einverstanden. Sie besaß zwar einen kleinen Flitzer, mit dem sie auch in enge Parklücken kam, aber für solche Unternehmungen benutzte sie ihn nie.
„Ich freu mich schon sehr“, sagte der junge Kollege mit einem verdächtigen Leuchten in den Augen.
Hoffentlich macht er sich keine Hoffnungen auf mehr, dachte Dana, denn dazu war sie nicht bereit. Jochen Hansen war ein sympathischer Kollege. Mit ihm gab es keine Komplikationen. Aber er war auch niemand, zu dem sich Dana hingezogen fühlte. Freundschaft unter Kollegen, so lautete nach ihrem Verständnis die passende Bezeichnung für ihre Beziehung. Hoffentlich sah Jochen das genauso! Wenn nicht, würde sie ein klares Wort mit ihm reden müssen.
***
Am Samstag kaufte Martin einen üppigen Blumenstrauß für die Frau des Chefarztes. Er freute sich, Julia Holl kennenzulernen, und wollte sich nach Kräften bemühen, ein angenehmer Gast zu sein. Ob ihm das gelingen würde, konnte er jetzt allerdings noch nicht einschätzen.
Nachdem er die Blumen im Kofferraum verstaut hatte, fiel ihm zu seinem Ärger wieder die Katze ein. Natürlich hatte sie sich wieder eingefunden, mit gutem Appetit fast eine ganze Dose verputzt und sich leider auch übermäßig viel gekratzt. Das missfiel ihm.
Seine Gefühle waren schon seinen Gedanken voraus, als er sich statt im Auto vor einem Zoo-Fachgeschäft im Einkaufszentrum wiederfand und die Auslage betrachtete.
So ein Tragekorb wäre in zweifacher Hinsicht praktisch. Er konnte ihn auf die Terrasse stellen, wenn die Katze sich dort mal länger aufhalten sollte. Gleichzeitig diente er als Transportbehältnis, falls er jemals die Absicht hegte, Minette tierärztlich untersuchen zu lassen.
Hatte er sie gerade im Stillen Minette genannt? Ohne sich eine Antwort auf diese Frage zu geben, betrat er den Laden. Die freundliche Verkäuferin beriet ihn gern, und als er wieder zum Auto zurückkehrte, hatte er alles dabei, was eine Katze so brauchte.
Erst auf dem Heimweg wurde ihm so nach und nach sein verrücktes Tun bewusst. Wollte er wirklich, dass dieses Tier sich bei ihm häuslich einrichtete?
Aber nun war es zu spät. Sollte Minette doch ihren Korb bekommen. Wenn er ihr noch eine Decke hineinlegte, würde sie es wärmer haben, denn die Nächte waren noch sehr kalt. Noch hatte der Frühling nicht begonnen.
Martin fragte sich überhaupt, wo sie schlief. Ob es vielleicht doch Menschen gab, zu denen sie gehörte? Zu Hause angekommen, trug er die Einkäufe ins Haus, stellte den Korb auf die Terrasse – und sah Minette auf einem der Stühle liegen. Sofort sprang sie auf ihn zu und begrüßte ihn mit sanftem Maunzen.
„Schmeichlerin!“, sagte er halb gerührt, halb spöttisch. „Du willst ja nur, dass ich dir den Napf fülle. Gut, sollst du haben.“
Inzwischen hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, ihr beim Essen zuzuschauen. Wie sie sich anschließend genießerisch das Mäulchen leckte, fand er zu schön.
Und wieder überfiel ihn ein kurzer Erinnerungsblitz, der ihm einen weinenden Jungen zeigte. Doch bevor er näher hinschauen konnte, war das Bild schon wieder verschwunden. Mit einem Achselzucken ging er darüber hinweg. Was sollte es auch bringen, sich jetzt nach so langer Zeit mit der Vergangenheit zu befassen?
Im Laden für Tierbedarf hatte er noch ein festes Geschirr gekauft, zwei zusammenhängende Näpfe aus Edelstahl. „In einem sollte immer frisches Wasser sein, in den anderen kommt das Futter“, hatte die Verkäuferin ihm aufgetragen.
Minette ging um den Korb herum, aber noch nicht hinein.
Für Martin war es nun höchste Zeit, sich für den Besuch bei den Holls fertig zu machen. Lange Zeit stand er vor dem Kleiderschrank und wusste nicht, was er anziehen sollte. Wieder einmal wurde ihm deutlich bewusst, dass er wie ein Eremit lebte. War es nicht Zeit, diese Lebensphase zu beenden? Immer häufiger stellte er sich diese Frage, fand aber keine Antwort. Schließlich konnte er seinen Charakter nicht einfach gegen einen neuen austauschen.
Nachdem er sich klargemacht hatte, dass es sich um eine Einladung unter Kollegen handelte, entschied er sich für eine helle Hose, ein blau-rot gestreiftes Hemd ohne Krawatte und ein Jackett. Ein letzter Blick in den Spiegel signalisierte ihm, dass er durchaus so gehen konnte.
Kinn und Wangen waren glatt rasiert, die Haare vielleicht schon wieder eine Spur zu lang, aber die Frisur stand ihm gut.
Ihm war durchaus bewusst, dass er ein attraktiver Mann war. Dennoch währten seine Beziehungen zu Frauen immer nur kurz. Wenn sie nach mehr Nähe verlangten oder gar von Zusammenleben sprachen, zog er sich umgehend zurück.
Er selbst hatte sich längst damit abgefunden, niemals ein guter Lebenspartner oder Ehemann zu sein. Es tat ihm auch leid, die jeweilige Frau zu enttäuschen, aber ihm blieb keine andere Wahl. Ein einsamer Wolf ging keine Bindungen ein.
Zum Haus der Holls ging Martin zu Fuß. In sieben Minuten erreichte er sein Ziel und wurde so herzlich von Stefan und seiner Frau empfangen, dass er sich sofort entspannte.
Dr. Holl bat seinen Gast, im großen Wohnzimmer Platz zu nehmen.
„Danke für die Einladung“, sagte Martin, als Julia mit den Blumen in einer großen Vase hinzukam und sie mitten auf den Tisch stellte.
„Ein sehr schöner Strauß, Doktor Kramer“, sagte sie lächelnd.
„Trinken wir ein Glas Champagner?“, fragte Dr. Holl. Seine Frau und sein Kollege waren einverstanden. Wenig später stießen sie miteinander an.
„Schön, dass wir uns endlich kennenlernen“, sagte Julia. „Sie wohnen in der großen Villa zwei Straßen weiter. Ich habe sie auch schon auf der Straße gesehen, wusste aber nicht, dass Sie der Oberarzt meines Mannes sind. Ich kann mich noch an Ihre Eltern erinnern.“
Um die gefährliche Klippe elegant zu umschiffen, nippte Martin erst mal an seinem Glas. „Durch mein Studium bin ich früh von zu Hause weg“, berichtete er und zählte seine beruflichen Stationen auf.
„Über Ihre Arbeit in den USA möchte ich mehr wissen“, bat Julia. Martin kam ihrer Aufforderung sofort nach. Hauptsache, er musste nichts über Vater und Mutter sagen.
Julia kündigte die Vorspeise an. Dr. Holl bat seinen Gast zum Esstisch und legte jedem ein Stück überbackene Lauchtorte auf. Man wünschte sich gegenseitig einen guten Appetit.
„Das schmeckt ganz hervorragend“, sagte Martin voller Anerkennung. „Haben Sie …“
„Nein, unsere Cäcilie bereitet alles vor, sodass ich die Speisen nur in den Backofen schieben muss.“
„Sie ist eine hervorragende Köchin“, lobte Martin.
„Ich gebe Ihr Lob gern weiter. Aber auch wir wissen natürlich, was wir an ihr haben“, erwiderte die Hausherrin.
„Wo sind denn Ihre Kinder?“, erkundigte sich Martin.
„Die Zwillinge sind übers Wochenende zum Skilaufen in Kufstein. Unser Sohn Chris ist noch bei einem Freund. Und Juju, die Jüngste, darf heute bei ihrer Freundin übernachten. Das findet sie immer ganz aufregend. Und Sie? Haben Sie auch Kinder?“
„Ich?“ Martin wirkte einen Augenblick ganz perplex.
„Nein“, sagte er schließlich und schüttelte dazu den Kopf. „Es gibt bisher auch noch keine Frau, mit der ich Kinder haben könnte.“
„Was nicht ist, kann ja noch werden“, meinte Julia schmunzelnd. „Sie sind ein attraktiver Mann, haben einen tollen Beruf, ein schönes Haus und vereinen all das, was man eine gute Partie nennt. Oder einen Traummann.“
Martin lächelte leicht verlegen, doch dann entspannte sich seine Miene, was ihm ein geradezu liebenswürdiges Aussehen verlieh. Stefan registrierte diese Wandlung mit Zufriedenheit, während Julia an diesem Ausdruck nichts Besonderes fand. Sie sah Dr. Kramer heute ja zum ersten Mal.
Das Essen verlief in einer angenehmen Atmosphäre. Julia stellte dem Kollegen ihres Mannes Fragen, die seinen medizinischen Fachbereich betrafen, und Martin gab gern Auskunft.
Er staunte selbst, wie wohl er sich mit dem Ehepaar Holl fühlte. Und zum ersten Mal seit langer Zeit wurde ihm schmerzlich bewusst, dass ihm womöglich etwas Wichtiges fehlte. Nämlich ein Mensch, der nicht nur das Leben mit ihm teilte, sondern ihm auch mal widersprach und einen anderen Standpunkt einnahm. Der so etwas wie ein Korrektiv für einen war, der zu Hause immer nur recht hatte.
Es war schon nach elf, als er aufbrach. „Nochmals danke für die Einladung. Ich hoffe, ich bin nicht zu lange geblieben. Aber es war ein so schöner Abend.“
„Wir werden das wiederholen“, sagte Julia zum Abschied. „Kommen Sie gut nach Hause!“
„Keine Sorge, es ist ja nicht weit.“
Stefan geleitete seinen Gast noch bis zum großen Tor, der das Grundstück begrenzte. „Eine gute Nacht!“, rief er Dr. Kramer nach.
„Ihnen auch!“ Martin hob noch einmal die Hand, dann marschierte er durch die sternenklare Nacht nach Hause. Eigentlich konnte er nun bald mal kommen, der Frühling.
***
Nach etlichen Tests und ausgiebigen Untersuchungen musste der Neurologe Martin Kramer seiner Patientin und deren Nichte eine niederschmetternde Diagnose verkünden. Chefarzt Dr. Holl hatte sich ebenfalls eingefunden, um der Patientin beizustehen.
Martin räusperte sich. „Es tut mir leid, aber alle Anzeichen sprechen für eine Multiple Sklerose.“ So knapp und abrupt hatte er das eigentlich nicht formulieren wollen, aber die erwartungsvoll auf ihn gerichteten Augenpaare verunsicherten ihn.
„Sind Sie sicher?“, fragte Dana schockiert.
Martin nickte stumm.
Dr. Holl sprang seinem Oberarzt bei. „Die Diagnose der MS ist deshalb so schwierig, weil die Symptome oft nur vorübergehend auftreten. Darum gehen wir bei der Festlegung umsichtig vor. Nach der Durchführung einer Magnetresonanztomografie haben wir noch eine Lumbalpunktion und eine elektrophysiologische Untersuchung vorgenommen. Der letzte Schub hier in der Klinik hat das Vorliegen einer MS noch bestätigt.“
„Ja, und nun?“, erkundigte sich Ingrid trocken. „Was habe ich noch zu erwarten vom Leben?“ Im Augenblick fühlte sie sich noch ruhig, weil sie das gesamte Ausmaß der Diagnose noch gar nicht ermessen konnte.
Jetzt ergriff Martin das Wort.
„Frau Baumann, lassen Sie sich durch die Diagnose nicht entmutigen“, bat er sanft. „Die MS kann in den verschiedensten Formen auftreten. Bei jedem verläuft die Krankheit anders. Es ist keineswegs gesagt, dass Sie Ihr normales Leben aufgeben müssen. Es wird ein paar Einschränkungen geben, und gewisse Symptome sind auch gut behandelbar.“
Dana hatte Tränen in den Augen. Ihr lagen so viele Fragen auf der Zunge, aber in Ingrids Gegenwart wollte sie sie nicht stellen, weil sie fürchtete, die Tante damit in Panik zu versetzen.
„Ich muss doch jetzt nicht hierbleiben?“ Ingrid schaute von einem Arzt zum anderen.
„Nein, Sie können nach Hause gehen. Der Verlauf der Krankheit lässt sich nicht vorhersagen. Sie kann ganz gleichmäßig fortschreiten. In den meisten Fällen kommt sie in Schüben, die wir mit entzündungshemmenden Medikamenten behandeln. Die MS muss auch nicht zwangsläufig schwer verlaufen.“
„Mit anderen Worten, die Erkenntnisse über diese Krankheit sind noch nicht gesichert“, fasste Ingrid zusammen.
„So ist es“, sagte Martin. „Aber seien Sie versichert, dass Sie sowohl hier bei uns als auch im nahe liegenden Therapiezentrum alle nur erdenklichen Hilfen bekommen. Schmerzbehandlung, Physio- und Ergotherapie und bei Bedarf auch psychologische Beratung. Und wann immer Sie etwas wissen wollen, sprechen Sie mich an. Ich antworte Ihnen nach bestem Wissen und Gewissen.“
„Danke, Doktor Kramer, danke, Doktor Holl“, sagte Ingrid bewegt.
„Bleiben Sie noch zwei Tage bei uns. Wir erstellen einen kompletten Therapieplan für Sie. Wichtig ist auch, dass Sie keine Osteoporose entwickeln. Darum ist Bewegung nach wie vor wichtig. Ebenso die Aufnahme von ausreichend viel Kalzium und Vitamin D.“
„Ich werde alles tun, was Sie mir auftragen“, versprach Ingrid. Sie streckte den Arm nach ihrer Nichte aus. Dana ergriff ihre Hand und nickte dazu. Wir zwei schaffen das schon, bedeutete diese Geste.
Am späten Nachmittag fand Dana Gelegenheit, mit Dr. Kramer unter vier Augen zu sprechen.
„Ich weiß, dass MS jetzt noch nicht heilbar ist, aber vielleicht in ein paar Jahren?“
Martin zog die Schultern hoch. „Das kann man leider nicht wissen. Nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen spielen bei der Krankheitsentstehung mehrere Faktoren eine Rolle. Man geht davon aus, dass einem fehlgesteuerten Immunsystem eine besondere Rolle zukommt. Aber wie das so ist in unserem Beruf, man glaubt, eine Spur gefunden zu haben, und muss sie dann doch wieder verwerfen. Geben Sie Ihrer Tante moralische Unterstützung!“
„Das werde ich selbstverständlich tun.“
Dana erinnerte sich an einzelne Gegebenheiten in den letzten Monaten, die schon auf den Ausbruch dieser Krankheit hingedeutet hatten. „Ich hätte aufmerksamer sein sollen“, fügte sie schuldbewusst hinzu. „Denn es gab schon Anzeichen für diese Krankheit.“
„Hören Sie auf, sich darüber den Kopf zu zerbrechen! Man kann den Ausbruch der Krankheit nicht hinauszögern, sondern nur versuchen, dem betroffenen Patienten das Leben so leicht wie möglich zu machen.“ Es entstand eine Pause.