Die besten Ärzte - Sammelband 73 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 73 E-Book

Katrin Kastell

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1838: Die Ärzte gaben ihr kein Jahr
Notärztin Andrea Bergen 1317: Glück auf der Kinderstation
Dr. Stefan Frank 2271: Glück im Unglück
Der Notarzt 320: Die Kraft der wahren Liebe


Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 256 Taschenbuchseiten.
Jetzt herunterladen und sofort sparen und lesen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 483

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Katrin Kastell Marina Anders Stefan Frank Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 73

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2014/2017/2018 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © PeopleImages.com - Yuri A / Shutterstock

ISBN: 978-3-7517-7997-5

https://www.bastei.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Die besten Ärzte - Sammelband 73

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Chefarzt Dr. Holl 1838

Die Ärzte gaben ihr kein Jahr

Die Notärztin 1317

Glück auf der Kinderstation

Dr. Stefan Frank 2271

Glück im Unglück

Der Notarzt 320

Die Kraft der wahren Liebe

Guide

Start Reading

Contents

Die Ärzte gaben ihr kein Jahr

Dr. Holl und eine Patientin zwischen Hoffen und Bangen

Von Katrin Kastell

Larissa Falkenstein ist fünfunddreißig, als Dr. Stefan Holl bei ihr einen Knoten in der Brust diagnostiziert. Es handelt sich um einen bereits sehr großen und sehr aggressiven Tumor. Die Überlebenschancen stehen denkbar schlecht.

Nach dem ersten Schock lässt Larissa ihr Leben vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Seit dem Tod ihres Vaters vor achtzehn Jahren opfert sie sich für ihre Familie auf. Ihr jüngerer Bruder macht sich auf ihre Kosten ein schönes Leben, und ihre Mutter reagiert auf jeden Versuch Larissas, aus den Zwängen auszubrechen, mit theatralischen Zusammenbrüchen.

Die Krebserkrankung ist für die junge Frau wie ein Weckruf, und sie wirft ihr altes Leben kurzerhand über Bord. Wenn Larissa auch nicht mehr lange zu leben hat, so will sie zumindest in der Gewissheit sterben, noch in letzter Minute das Ruder herumgerissen und ein selbstbestimmtes Leben geführt zu haben …

„Larissa, bin ich froh, dass du endlich da bist! Mir geht es gar nicht gut heute. Nein, ich muss zu Doktor Schröder! Am besten fahren wir gleich! Mein Herz explodiert gleich, und ich glaube nicht, dass ich den morgigen Tag noch erlebe“, begrüßte Magdalena Falkenstein ihre Tochter, die gerade von der Schule kam, und stand fertig gerichtet und mit ihrer Handtasche unter dem Arm an der Eingangstür.

„Mama, hast du in der Praxis angerufen und dir einen Termin geben lassen?“ Larissa Falkenstein versuchte, nicht gar zu genervt zu klingen.

Sie war Grundschullehrerin. Ein anstrengender Tag lag hinter ihr, und sie hatte sich auf eine Tasse Kaffee gefreut, die sie in Gedanken bereits strich. Wenn ihre Mutter in diesem Zustand war, dann wollte sie unbedingt zu einem Arzt. Sie würde nicht nachgeben.

„Diese Sprechstundenhilfe versteht doch überhaupt nichts!“, schimpfte ihre Mutter. „Ich bin ein Notfall, und dafür muss es immer einen Termin geben. Da rufe ich nicht mehr an!“ Magdalena Falkenstein war erst vierundfünfzig Jahre alt, aber sie sah deutlich älter aus und hatte das Krank- und Gebrechlichsein nach dem überraschenden Tod ihres Mannes vor fünfzehn Jahren zur Kunst erhoben.

„Mama, Doktor Schröder erklärt dir doch jedes Mal, dass …“ Der Arzt war überaus genervt und versuchte, seine Patientin dazu zu bewegen, nicht drei- und manchmal sogar viermal in der Woche unangemeldet in seiner Praxis aufzutauchen.

„Es geht mir schlecht, sehr schlecht. Und wenn ich Stunden in diesem Wartezimmer leide, ich brauche einen Arzt. Gott, warum regst du mich auch noch zusätzlich auf, Larissa? Würde ich jetzt meinen Blutdruck messen, dann würde das Gerät wieder blinken und mich warnen. Niemand sieht, wie es mir geht! Ich werde noch sterben, nur weil keiner meinen Zustand ernst nimmt und mir hilft – nicht einmal meine eigene Tochter.“

„Wir fahren zum Arzt, Mama!“, unterbrach Larissa die vertraute Litanei und führte sie zu ihrem Wagen, der am Straßenrand parkte.

Magdalena Falkenstein war leidend und beobachtete immerzu ängstlich ihren Körper. An diesem Tag klopfte ihr Herz viel zu schnell, und sie hatte das Gefühl, es wolle ihr aus der Brust springen. Sie wusste einfach, dass sie kurz vor einem Infarkt stand. Schon als sie im Wartezimmer des Arztes saß, fühlte sie sich etwas besser.

Nach über drei Stunden kamen Mutter und Tochter wieder nach Hause. Magdalena war beruhigt. Sie hatte ein Rezept für eine bunte Pille mehr, die sie wie all die anderen Pillen bereitwillig und gerne schlucken würde. Larissa brachte ihre Mutter nach oben, dann musste sie wieder los zur Apotheke.

Es wäre weniger umständlich und zeitraubend gewesen, gleich vom Arzt aus zur Apotheke zu fahren, aber ihre Mutter hatte mehr als deutlich gemacht, dass sie unmöglich auch nur fünf Minuten im Auto warten konnte. Larissa hatte wie immer nachgegeben, um keine weitere Krise auszulösen.

Als sie wieder aus dem Haus kam, öffnete sich ein Fenster im Untergeschoss des Reihenhauses in einem ruhigen Vorort von München, das die Familie bewohnte. Ihr jüngerer Bruder Mario streckte den Kopf aus seinem Schlafzimmer. In den Semesterferien schlief er gerne lange und manchmal auch den ganzen Tag.

„Wann ist das Essen fertig, Lissi? Ich war schon oben vorhin, aber der Kühlschrank ist ziemlich leer“, rief er ihr vorwurfsvoll nach. Er war sechsundzwanzig, studierte noch und lebte in der kleinen Einliegerwohnung.

„Holst du schnell Mamas Tabletten von der Apotheke, Mario? Dann kann ich rüber zum Supermarkt fahren und einkaufen und …“

„Ich muss lernen. Dann essen wir eben später!“ Sein Kopf verschwand augenblicklich aus dem Fenster, tauchte aber gleich noch einmal auf. „Bringst du mir eine Tafel Schokolade vom Einkaufen mit?!“ Weg war er wieder.

„Danke für deine Hilfe, kleiner Bruder!“, murmelte Larissa müde vor sich hin, aber sie war es nicht anders gewohnt.

Mit zweiunddreißig Jahren lebte sie noch immer in ihrem Mädchenzimmer bei ihrer Mutter. Sie hatte nach dem Studium ein paarmal damit geliebäugelt, sich eine eigene Wohnung in München zu suchen, aber der angeschlagene Gesundheitszustand ihrer Mutter und die Verantwortung für ihren jüngeren Bruder hatten sie am Ende doch immer davon abgehalten. Es wäre ihr wie Fahnenflucht erschienen. Die beiden kamen alleine nicht klar.

Nach dem Tod ihres Mannes Reinhardt vor fünfzehn Jahren hatte Magdalene Falkenstein einen psychischen Zusammenbruch erlitten und sich nie wieder ganz davon erholt. Seitdem war sie äußerst anfällig, ängstlich und nervlich kaum belastbar. Jede Aufregung führte zu rasendem Puls, schweißnasser Stirn und Panikattacken. Wohl fühlte sie sich eigentlich nur beim Arzt.

Larissa war siebzehn gewesen, als ihr Vater überraschend an einem Herzinfarkt gestorben war. Da ihre Mutter komplett ausgefallen war, hatte das junge Mädchen es übernommen, nach ihren drei Geschwistern zu sehen. Sie hatte von da an den Haushalt der Familie geführt und war seitdem die Ansprechpartnerin für alle Sorgen und Nöte. Daran hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt nichts geändert.

Alexander war zwei Jahre älter als Larissa. Mit zwanzig hatte er sich etwas Eigenes gesucht und kam nur selten zu Besuch. Er hatte im Gegensatz zu ihr den Absprung geschafft und sich konsequent aus dem Drama seiner Mutter herausgezogen.

„Ich kann Mamas ewiges Gejammer nicht mehr hören. Das zieht mich runter, Lissi“, hatte er damals zu seiner Schwester gesagt. „Ich an deiner Stelle würde auch abhauen! Die Frau überlebt uns alle und bringt jeden ins Grab, der sich auf sie einlässt. Sie ist wie eine Zecke und saugt Lebensenergie und Lebensfreude ab.“

„So redet man nicht über seine Mutter, Alex! Mama hat Schlimmes erlitten und …“

„Amen! Deine Sache, Lissi, aber andere Frauen verlieren auch ihre Männer und lassen sich nicht derart gehen“, hatte er das Gespräch abgebrochen. Inzwischen hatte er eine Frau und eine kleine Tochter. Bis auf Ostern und Weihnachten ließ er sich mit seiner Familie nicht im Haus seiner Mutter sehen.

Larissa dagegen war die Patentante seiner Tochter und in seiner Familie immer willkommen. Für seine Schwester war es wie Urlaub vom Familienjoch, wenn sie mit ihrem Patenkind loszog und etwas unternahm. Leider fand sie viel zu selten Zeit dafür. Ihre Mutter war programmfüllend.

Und dann gab es noch jemanden, den Larissa über alles liebte und der ihr wichtig war. Ihre Schwester Bettina war in einem Pflegeheim für Wachkomapatienten untergebracht. Bettina war vier Jahre jünger als Larissa, und die Schwestern hatten immer eine besonders enge Beziehung gehabt.

Das Unglück war direkt nach dem Abitur des jungen Mädchens geschehen. Bettina hatte mit ihren Kurskameraden in einem Club ihr Einser-Abitur gefeiert. Vermutlich hatte sie ausnahmsweise auch ein oder zwei Pillen genommen, die bei den meisten ihrer Mitabiturienten üblicherweise zu einem guten Wochenende gehört hatten. Ihr Körper war das nicht gewohnt gewesen, und dazu kam, dass ihr jemand noch etwas in ihr Getränk getan haben musste.

Genau hatte es die Polizei nie ermitteln können, aber an dem Abend waren mehrere Mädchen mit Krämpfen zusammengebrochen. Die anderen hatten überlebt und sich erholt, aber für Bettina war jede Hilfe zu spät gekommen. Die chemischen Stoffe hatten ihre Gehirnchemie derart angegriffen und zerstört, dass sie seitdem nicht mehr das Bewusstsein erlangt hatte. Sie dämmerte im Koma vor sich hin.

Tagsüber waren ihre Augen in der Regel offen, und Larissa war sicher, dass ihre Schwester mehr mitbekam, als die Ärzte glaubten. Sie sprach ganz normal mit ihr und besuchte sie drei- oder viermal in der Woche. Ansonsten bekam Bettina nur noch hin und wieder von Alexander Besuch, der es allerdings mehr für Larissa tat.

„Ihr Gehirn ist tot. Das ist nicht mehr unsere wissbegierige, lebensoffene Bettina. Die ist vollkommen sinnlos an ein paar Pillen zu viel gestorben, bevor ihr Leben überhaupt angefangen hat. Die Frau in dem Bett ist nur noch eine leere Hülle, ein Körper, der nicht sterben kann.“ So sah es Alexander, aber einmal im Monat hielt er Bettinas Hand – für Larissa.

„Und warum kann ich dann spüren, dass sie sich freut, wenn sie uns sieht? Sie weiß, wenn einer von uns da ist. Das sagen auch die Pflegerinnen“, hielt Larissa dagegen.

„Du siehst die Welt immer, wie du sie sehen möchtest, Lissi. Ich kenne keinen lieberen Menschen als dich, Schwesterherz, aber ganz ehrlich, ich kenne auch keinen dümmeren.“

Alexander warnte seine Schwester immer wieder, dass sie besser auf sich aufpassen und auch einmal an sich selbst denken sollte. Er fand, dass seine Mutter und sein Bruder Larissas Gutmütigkeit übel missbrauchten, aber mehr als warnen konnte er sie nicht.

„Du bist immer so streng, Alex! Sie brauchen einfach jemanden, und wir sind doch eine Familie. Da ist man füreinander da.“

„Wirklich? Und wer ist für dich da, Lissi? Wer ist für Bettina da – außer dir?“, konterte er dann regelmäßig.

Darauf konnte sie nicht antworten, denn sie hätte lügen müssen, und das wollte sie nicht.

„Ich ertrage es nicht, mein Kind so zu sehen! Nein, ich habe schon genug gelitten. Das schaffe ich nicht auch noch! Larissa, du musst nach Bettina sehen! Ich kann das nicht“, hatte Magdalena Falkenstein geschluchzt, nachdem sie ihre jüngere Tochter einmal kurz nach dem Vorfall besucht hatte.

Seit diesem Besuch war sie nie wieder bei Bettina gewesen, und sie fragte auch nicht nach ihr. Zuerst hatte Larissa noch über ihre Schwester gesprochen, aber inzwischen hatte sie akzeptiert, dass ihre Mutter Bettina aus ihrem Gedächtnis getilgt hatte und nichts über sie hören wollte.

„Bettina hat keinerlei Einfühlungsvermögen, keine Rücksichtnahme. Nichts davon!“, hatte Magdalena nur voller Selbstmitleid geklagt, wenn Larissa über ihre Schwester gesprochen hatte. „Das hätte sie mir nach Papas Tod nicht antun dürfen! So etwas tut man seiner Mutter nicht an!“

Larissa schenkte es sich, ihrer Mutter zu erklären, dass Bettina nicht absichtlich und willentlich in einem Pflegeheim lag. Magdalene hätte es ohnehin nicht verstanden. Es gab wenig, worüber sie sich mit ihr unterhalten konnte neben dem Gesundheitszustand ihrer Mutter, der allerdings ein unerschöpfliches Gesprächsthema war.

Die junge Frau holte das Medikament aus der Apotheke, ging einkaufen und kochte ein Abendessen für ihre Familie. Als sie zusammen gegessen hatten, ging Mario wieder hinunter, und Larissa kümmerte sich um das Geschirr und die Küche. Dann brachte sie ihre Mutter zu Bett, die sich meist früh hinlegte und vom Bett aus noch ein paar Stunden fernsah.

Es war nach neunzehn Uhr, als Larissa endlich dazu kam, ihre Schulmappe auszuräumen und sich an die Unterrichtsvorbereitung für den nächsten Tag zu setzen. Sie arbeitete bis einundzwanzig Uhr, dann las sie noch ein wenig und schlief mit dem Buch auf der Nase im Sessel ein.

Um dreiundzwanzig Uhr schaffte sie es, aufzustehen und ins Bett zu gehen. So sah in der Regel ihr Alltag aus, und sie kannte es nicht anders. Der andere Tag begann mit einer morgendlichen Freistunde, die sie wie jede Woche bei Bettina verbrachte, und als sie am Mittag nach Hause kam, hatte ihre Mutter Programm für sie.

***

„Frau Falkenstein, das ist mein Onkel!“ Die siebenjährige Anna strahlte vor Stolz über das ganze Gesicht. Nach dem Unterricht wurde das Mädchen für gewöhnlich immer von seiner hochschwangeren Mutter abgeholt. Den Onkel hatte Larissa noch nie gesehen. Er musste Ende dreißig sein, war ausgesprochen gut aussehend und hatte ein nettes Lachen. Sie fand ihn auf Anhieb sympathisch.

„Er ist klasse! Mama sagt, er braucht ganz schnell eine Frau, sonst wird er nämlich schrullig, und dann will ihn keine mehr. Wollen Sie ihn haben?“, bot das kleine Mädchen großzügig an.

„Sie bietet mich nur Frauen an, die sie mag“, meinte Paul Skutin mit einem schrägen Grinsen. „Das ist eine Ehre, auch wenn ich offensichtlich auf dem Weg zum schrulligen Sonderling bin. Es hilft alles nichts, nach Meinung der Damen meiner Familie bin ich auf jeden Fall ein Schnäppchen und gehe zum halben Preis über den Tisch, weil mein Verfallsdatum bald abläuft. Verstehen Sie das?“

„Nein! Überhaupt nicht!“, beteuerte Larissa lachend, und das Kind kicherte ausgelassen.

„Danke! So ein Selbstbewusstsein ist eine zerbrechliche Geschichte, und meine Psyche ist schrecklich sensibel.“

„Immer wieder gerne! Allerdings kann ich Ihnen Anna eigentlich nicht so einfach mitgeben“, wurde Larissa ernst. „Da das Kind Sie eindeutig kennt und Ihnen sichtlich vertraut, mache ich eine Ausnahme, Herr Skutin. Ihre Schwägerin hätte mir kurz Bescheid geben müssen, dass ein mir Unbekannter Anna abholt.“

„Entschuldigen Sie, dass wir Ihnen Umstände machen!“, reagierte er verständnisvoll. „Anna hier bekommt gerade eine kleine Schwester. Die Wehen haben bei meiner Schwägerin eingesetzt, und mein Bruder ist mit ihr auf dem Weg in den Kreissaal.“

„Mama hat mir versprochen, dass sie an meinem Geburtstag noch da ist und dass sie Vanessa vorher nicht rauslässt!“, brummte Anna mürrisch und wurde schlagartig traurig, als sie den Grund hörte, warum ihr Onkel sie abholen kam. Sie griff nach seiner Hand und wollte ihn mit sich zu seinem Wagen ziehen.

„Spatz, deine Schwester ist so ein ungeduldiger Zappelphilipp wie du und hat es eilig, auf die Welt zu kommen. Ihr versteht euch bestimmt spitze und trampelt eurer Mama zu zweit auf den Nerven herum“, scherzte Paul Skutin liebevoll, aber er heiterte seine Nichte damit nicht auf.

„Ich mag keine Schwester haben! Wozu brauchen Mama und Papa noch jemanden? Bin ich nicht genug? Das ist gemein!“, beschwerte sich die Kleine. „Du hast noch gar kein Kind. Kannst du sie nicht nehmen?“, kam ihr eine blendende Idee.

„Ich fürchte, deine Mama wird sie mir nicht geben, Spatz. Warte es doch erst einmal ab! Vielleicht ist es gar nicht so übel, eine kleine Schwester zu haben. Wenn dir langweilig ist, kannst du sie immer an den Zöpfen ziehen“, schlug ihr Onkel vor.

„Babys haben keine Zöpfe. Die sehen aus wie Opa Schmiedinger, der neben uns wohnt, und haben gar keine Haare auf dem Kopf. Und die machen noch in die Hosen, stinken und brüllen tun sie auch die ganze Zeit. Babys sind so was von langweilig! Das hat mir Marie erzählt. Die hat jetzt einen kleinen Bruder, und das findet sie gar nicht, gar nicht, gar nicht schön. Sie hat ihrer Mama gesagt, dass sie ihn zurückgeben soll, aber die hat gesagt, dass das nicht geht.“

„Nein, das geht wirklich nicht, Anna“, mischte sich Larissa ein. „Ich habe gleich drei Geschwister – zwei Brüder und eine Schwester. Und weißt du was, ich finde es klasse, dass es sie gibt. Mit Geschwistern kann man ganz viel Spaß haben. Lass deiner Schwester ein wenig Zeit, älter zu werden, und dann wirst du schon sehen!“

„Ehrlich? Nicht gelogen?“, versicherte sich das Kind misstrauisch.

„Ich lüge dich doch nicht an, Anna! Geschwister haben ist schön. Mit meiner Schwester Bettina habe ich mir früher ein Zimmer geteilt, und abends, wenn wir schlafen sollten, haben wir immer noch lange geflüstert und uns Geschichten erzählt. Das fehlt mir sehr. Es war schön, jemanden zum Reden zu haben.“

„Und warum erzählen Sie ihr heute keine Geschichten mehr?“, wollte die Kleine neugierig wissen.

„Ihr Bett steht jetzt an einem ganz anderen Ort, und sie hat ein Zimmer für sich alleine. Manchmal besuche ich sie dort, aber da sie sehr müde ist, wecke ich sie nicht auf“, antwortete Larissa.

„Meine Schwester hat jetzt schon ein eigenes Zimmer, und das ist viel schöner als meins und liegt genau neben Mamas und Papas Schlafzimmer. Mama hat ihr Tapeten an die Wand geklebt, die ich rausgesucht habe. Mir hat sie keine neuen Tapeten an die Wand geklebt.“

Aus jedem Wort der Kleinen sprach ihre Eifersucht.

„Mama redet ständig über Vanessa. Und sie erzählt mir, was Vanessa gerade in ihrem Bauch macht, solche Sachen, und immer findet sie das ganz toll. Wenn ich nach ihr trete, findet sie das nie toll und schimpft. Ich will so gerne auch wieder in ihrem Bauch sein!“

Paul Skutin hatte das Gespräch aufmerksam verfolgt und schmunzelte. Er kannte seine Nichte recht gut. Anna ließ sich nicht so schnell etwas einreden. Sie hatte es genossen, die alleinige Prinzessin ihrer Eltern zu sein, und wollte ihren Thron nicht teilen. Die Umstellung würde nicht leicht für das Kind werden.

„Es war nett, Sie einmal persönlich kennenzulernen, Frau Falkenstein“, verabschiedete er sich mit einem festen Handschlag von Larissa. „Anna schwärmt immerzu von Ihnen und hat behauptet, dass Sie die schönste und klügste Lehrerin hat. Ich hatte da aus eigener Erfahrung einige Zweifel, aber meine Nichte hat nicht übertrieben.“

„Und das können Sie jetzt schon beurteilen? Dann sind Sie leicht zu überzeugen. Trotzdem danke für die Blumen!“, scherzte Larissa und ging auf sein Flirten ein. Sie sah Onkel und Nichte nach, wie sie einträchtig davonschlenderten und empfand plötzlich eine seltsame Traurigkeit.

Zweiunddreißig war sie nun, und angesichts des Zustandes ihrer Mutter und der Tatsache, dass ihr Bruder weiter an der Uni bleiben wollte, sah sie sich in den kommenden Jahren gebunden. Für sie würde es wohl kaum eine eigene Familie geben. Damit musste sie sich abfinden. Wolle sie die beiden nicht im Stich lassen, gab es für solche Träume keinen Raum.

Es gehörte Zeit dazu, einen passenden Partner zu finden und eine Beziehung zu pflegen. Zeit war bei ihr auch ohne Partner und nennenswertes Privatleben Mangelware. Beruf und Familie ließen ihr so gut wie keine Luft. Manche Träume musste man rechtzeitig begraben, damit man nicht zu sehr darunter litt, dass sie nicht in Erfüllung gingen.

Wie immer mittwochs fuhr sie direkt von der Schule zu Bettina und blieb zwei Stunden bei ihr. Ihre Schwester war an diesem Mittag sehr unruhig. Sie saß im Rollstuhl, als Larissa kam, gab aber spitze Klagelaute von sich, bis eine Pflegerin sie zurück in ihr Bett legte. Dort beruhigte sie sich rasch und schien zufrieden.

„Das Sitzen ist anstrengend für sie, aber es ist wichtig, dass wir sie trotzdem täglich für ein paar Stunden aus dem Bett holen“, rechtfertigte sich die Pflegerin, die neu im Team war und Larissa noch kaum kannte. „So lässt sich am sichersten vermeiden, dass sie sich wund liegt.“

„Ich weiß!“, beruhigte Larissa sie. Als sie wieder alleine mit Bettina war, nahm sie ihre Hand und streichelte sie liebevoll.

„Hallo, Betty, stell dir vor, ich habe vorhin einen netten Mann kennengelernt, der kein Vater einer meiner Schülerinnen ist und auch keiner von Mamas Ärzten! Tja, es geschehen noch Zeichen und Wunder! Aber ich fürchte, ich werde ihn nie wiedersehen. Deine große Schwester wird als alte Jungfer enden. Hättest du das gedacht?“

Sie lachte heiter, und wie immer sehnte sich etwas in ihr danach, dass Bettina antwortete und wie früher war. Im Mundwinkel ihrer Schwester, die mit leerem Blick aus dem Fenster sah, das hinter Larissas Rücken war, sammelte sich etwas Speichel und floss in einem feinen Faden über ihr Kinn. Larissa nahm ein Tuch und wischte es ab.

„Ich komme übermorgen wieder! Mach es gut!“ Mit einem Kuss auf beide Wangen verabschiedete sich Larissa und ging, als es an der Zeit war. Ihre Mutter und Mario erwarteten, dass in einer guten Stunde etwas zu essen auf dem Tisch stand.

***

Zwei Wochen nach diesem Besuch bei ihrer Schwester erlebte Larissa eine üble Überraschung, als sie nach der Schule zu Bettina fahren wollte. Ihr Auto sprang nicht an. Es gab keinen Mucks von sich. Da es erst vor Kurzem für viel Geld generalüberholt worden war, fluchte sie verärgert vor sich hin, dann rief sie in ihrer Werkstatt an.

„Frau Falkenstein, es muss etwas mit der Elektronik sein. Da kann ich hier gar nichts machen. Ich muss den Wagen in die Werkstatt bringen und durchsehen“, sagte ihr Automechaniker, der nach einer halben Stunde kam und einen sachverständigen Blick unter die Motorhaube warf, bevor er sie mit sanftem Knall wieder zufallen ließ.

„Wie lange wird das dauern?“ Sie rechnete mit ein paar Stunden und strich schweren Herzens den Besuch bei Bettina.

„Wir kommen gerade nicht mehr hinterher vor Arbeit. Tut mir leid. Frühestens am Montag können Sie Ihren Wagen holen“, meinte der Automechaniker gelassen. „Aber nageln Sie mich nicht darauf fest! Es kann auch Dienstag werden.“

„Wir haben heute Mittwoch!“ Ungläubig sah sie ihn an. Wie sollte sie über sechs Tage ohne ihr Auto zurechtkommen? Ihre Mutter fuhr schon lange nicht mehr selbst und hatte kein eigenes Fahrzeug. Mario lieh sich hin und wieder Larissas Wagen und machte lieber über zwei bis drei Monate Urlaub in Thailand in seinen Semesterferien, als sich ein eigenes Auto anzuschaffen.

„Ja, so ist das nun einmal. Also dann, Frau Falkenstein! Mein Kollege holt das Auto später ab. Geben Sie mir einfach den Schlüssel mit und rufen Sie am Montagmittag einmal an!“ Der Automechaniker hatte es eilig, wieder zurück zu seiner Werkstatt zu kommen, stieg in seinen Lieferwagen und fuhr davon.

Erst als er nicht mehr zu sehen war, fiel Larissa ein, dass sie ihn um einen Ersatzwagen hätte bitten können. Da er so fluchtartig davongefahren war, zweifelte sie daran, dass er noch einen zur Verfügung hatte. Sie war auf sich gestellt. Für die Arztbesuche mit ihrer Mutter würde sie auf Taxis zurückgreifen müssen. Zur Schule kam sie mit dem Stadtbus, wenn sie auch mindestens zweimal umsteigen und früh aus dem Haus musste.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie noch etwas Zeit hatte, bevor sie zu Hause erwartet wurde. Kurz entschlossen rief sie sich ein Taxi, um doch noch zu Bettina zu fahren. In den kommenden Tagen würde die Zeit dazu kaum reichen, und sie wollte ihre Schwester ungern länger unbesucht lassen, als es unbedingt sein musste.

Das Taxi kam innerhalb von zehn Minuten und hupte, wie sie es mit der Zentrale vereinbart hatte. Larissa hatte sich im leeren Lehrerzimmer auf den Schreck einen Kaffee gegönnt und das Fenster zur Straße geöffnet, um das Hupen zu hören. Sie beeilte sich, zu dem Fahrer hinauszukommen.

„Entschuldigen Sie! Ich brauchte dringend einen Schluck Kaffee und …“ Sie verstummte überrascht, als ihr der Fahrer, der ihr die Autotür aufhielt, das Gesicht zuwandte und sie ihn erkannte. „Herr Skutin? Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie Taxifahrer sind.“

„Frau Falkenstein, woher hätten Sie das auch wissen sollen?“, fragte er amüsiert. „Ich hoffe, Sie hätten mich dennoch gerufen! Ich muss nämlich gestehen, dass ich in den vergangenen zwei Wochen gar nicht so selten an Sie gedacht habe“, flirtete er munter los.

„Tatsächlich?“ Larissa war es nicht gewohnt, die Aufmerksamkeit von Männern auf sich zu ziehen. Sie war eine schöne Frau, durchaus attraktiv, aber Männern gegenüber in der Regel zurückhaltend und etwas abweisend. Sein unbefangenes Flirten freute sie, und sie ging spielerisch darauf ein, ohne es sonderlich ernst zu nehmen.

„Dass Sie dazu bei den Hochzeitsvorbereitungen noch Zeit gefunden haben!“, neckte sie ihn im Gegenzug, ohne zuzugeben, dass auch sie mehr als einmal an ihn gedacht hatte.

Irritiert sah er sie an.

„Hochzeit? Ich müsste die Dame eigentlich kennen, bei der ich das Vergnügen habe, ihr Bräutigam zu sein, aber …?“

„Schämen Sie sich!“, scherzte sie lachend. „Anna hat mir mitgeteilt, dass ihr Papa und ihr Opa und die Oma und die Mama und sowieso alle Erwachsenen nur noch Augen für die kahle Plage in der Wiege haben. Sie sind der einzige vernünftige Mensch in ihrer Familie, findet sie.“

„Das sage ich doch schon immer, aber keiner glaubt mir“, stimmte Paul seiner Nichte schmunzelnd zu.

„Daher hat sie beschlossen, Sie nun doch nicht an mich abzutreten und selbst in den heiligen Stand der Ehe mit Ihnen zu treten. Sie plant ein großes Fest, bei dem sich ihre Mama die Augen ausweint und ihren Fehler furchtbar bedauert. Gestern hat sie mir ein Bild von einer herrlich bunten Hochzeitstorte gemalt, und das Strichweiblein daneben stand in einem Tränenmeer. Sie meint es absolut ernst.“

„Für einen schrulligen, alternden Onkel habe ich eine ziemlich junge und heißblütige Verehrerin. Sie macht mir jeden Tag einen Antrag und glaubt mir kein Wort, wenn ich sie auf einen jungen Prinzen vertröste, der dereinst in ihr Leben galoppieren wird. Der Altersunterschied kann sie nicht bremsen.“ Paul Skutin lachte herzhaft, aber der Kummer seiner Nichte war ihm nicht gleichgültig.

„Die kleine Prinzessin tut mir leid. Alle geben sich Mühe, ihr weiterhin zu huldigen, aber so ein Baby ist einfach eine harte Konkurrenz“, sagte er mit echtem Mitgefühl.

„Anna wird sich ihren Hofstaat schon nach und nach zurückerobern. Sie ist klug“, prophezeite Larissa. „Und Eifersucht unter Geschwistern gehört dazu. Das wird werden! Wir haben es alle überlebt.“

„Wohin darf ich Sie denn bringen, Frau Falkenstein?“, fragte Paul, als sie sich neben ihn auf den Vordersitz gesetzt hatte.

Larissa nannte ihm die Adresse des speziellen Pflegeheims für Komapatienten, in dem Bettina untergebracht war. Aufmerksam sah er sie an.

„Ich fahre häufiger Angehörige dorthin. Es ist schwer, wenn ein lieber Mensch noch da ist und doch unerreichbar weit weg“, sagte er anteilnehmend.

„Das ist es!“, stimmte Larissa ihm zu. „Meine Schwester war achtzehn und hatte gerade ihr Abitur gemacht. Sie war voller Pläne und Lebensfreude. Bevor sie ihr Medizinstudium beginnen wollte, hatte sie vor, für ein Jahr mit dem Rucksack um die Welt zu ziehen. Das Flugticket war gekauft, der Rucksack gepackt.“

Bei der Erinnerung an die freudige Reisestimmung wurden ihre Augen feucht.

„Ich wollte sie zwei Tage danach zum Flughafen bringen. Zehn Jahre liegt das nun zurück, und sie wird wohl nie wieder zu sich kommen und lachen und Pläne schmieden. Sosehr ich mir auch ein Wunder wünsche, wäre es für Bettina inzwischen eher grausam, zu sich zu kommen. Sie hat zehn Jahre verloren. Das ist eine lange Zeit.“ Larissa hatte es noch nie so klar ausgesprochen.

„Was ist passiert?“

„Sie wollte an dem Abend noch einmal mit ihren Mitabiturienten feiern, und die jungen Leute sind in einen Club gegangen. Bettina hat eine Überdosis abbekommen. Jemand hat an diesem Abend mehreren jungen Frauen etwas ins Getränk getan, ohne dass sie es bemerkten. Tja, Bettina war sonst immer so vorsichtig und hat dieses Zeug nie angerührt, das ihre Freunde fast jedes Wochenende schluckten. An dem Abend hat sie nicht aufgepasst, und das hat genügt.“

„Es tut mir sehr leid!“

„Und mir erst! Sie war meine beste Freundin und Vertraute. Ganz werde ich mich nie daran gewöhnen, dass ich ihr zwar nach wie vor alles erzählen kann, aber keine Antworten mehr bekomme.“

Ein paar Minuten fuhren sie schweigend weiter.

„Übrigens habe ich wirklich oft an Sie gedacht und mir den Kopf zermartert, wie ich Sie am besten wiedersehen und zum Essen einladen kann. Wären Sie nicht zufällig die Lehrerin meiner Nichte, hätte ich Sie längst angerufen. Ihr kaputtes Auto ist ein Geschenk der Götter, das ich hiermit in aller Form nutze. Darf ich Sie am Samstagabend zum Essen einladen?“

„Mein Auto macht Zicken, aber ich bin immer noch die Lehrerin Ihrer Nichte“, wandte Larissa verschmitzt ein. Irgendwie freute sie sich über die unerwartete Einladung, und zugleich war ihr klar, dass so etwas eigentlich nichts in ihrem Leben verloren hatte. Ein freier Samstagabend – sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich diesen Luxus das letzte Mal gegönnt hatte.

„Stört Sie das?“, konterte er.

„Eigentlich nicht.“ Larissa rang mit sich. Es ging doch nur um einen schönen Abend mit einem netten Mann. Durfte sie sich nicht auch einmal etwas gönnen und sich zur Abwechslung einmal nicht wie eine mumifizierte Mutter Theresa, sondern wie eine junge Frau fühlen?

„Gut! Ich könnte Sie gegen neunzehn Uhr zu Hause abholen. Was meinen Sie dazu? Habe ich Chancen, oder bin ich zu schrullig, und Anna wird die Einzige bleiben, die mir verfällt?“

Samstags verbrachte Larissa die Abende meist mit ihrer Mutter vor dem Fernseher. Wenn sie das Haus geputzt und alles erledigt hatte, war sie ohnehin müde und ging früh zu Bett.

„Bitte! Was kann ich tun, um Sie zu locken? Ich möchte Sie wirklich sehr gerne näher kennenlernen.“

„Am Samstag gegen neunzehn Uhr!“, nahm Larissa die Einladung spontan an.

***

„Und was ist das für ein Mann?“, fragte Magdalena Falkenstein zum zehnten Mal nörgelnd, als sich ihre Tochter am Samstag richtete. „Was ist, wenn ich einen Anfall bekomme? Hast du daran gedacht?“, wartete sie die Antwort, die sie ohnehin nicht interessierte, erst gar nicht ab. Allein die Tatsache, dass Larissa sie alleine ließ, war unerhört.

„Mama, Mario ist im Haus und kann den Notarzt für dich rufen, falls du ihn brauchst. Zum Glück hast du heute einen erstaunlich guten Tag. Ich bin sicher, du merkst kaum, dass ich nicht da bin“, meinte ihre Tochter betont heiter, ohne sich von der Weltuntergangsstimmung ihrer Mutter beeindrucken zu lassen.

„Natürlich merke ich das! Du weißt, wie ungern ich allein bin. Ich finde es rücksichtslos von dir. Wirklich, Larissa, die ganze Woche bist du nicht da, und da musst du nicht auch noch am Wochenende fortgehen“, beschwerte sich Magdalena, die es nicht gewohnt war, einmal ohne ihr Kind auskommen zu müssen, und sich entsetzlich vernachlässigt fühlte.

„Mama, ich arbeite unter der Woche oder bin bei Bettina. Hin und wieder brauche sogar ich etwas Freude und Entspannung“, antwortete Larissa gereizt und wurde zunehmend ungeduldig. Obwohl sie mit dieser Reaktion gerechnet hatte, machte es sie irgendwie traurig. Hätte ihre Mutter ihr nicht einfach einen schönen Abend wünschen und sich für sie freuen können, dass sie einmal unter Leute kam?

„Willst du damit sagen, ich halte dich davon ab, dich zu entspannen?“, empörte sich ihre Mutter. „Als ob ich viel von dir erwarten würde! Mein Gott, das ist doch unglaublich! Da …“

„Mama, spar dir den Atem! Ich gehe heute Abend aus“, beendete Larissa die Diskussion, schloss die Badezimmertür resolut hinter sich und ließ ihre empörte Mutter auf dem Flur stehen. Mit der Freude, die sie seit Mittwoch empfunden hatte, war es allerdings vorbei.

Kritisch beäugte sie sich im Spiegel. Sollte sie etwas Schminke auftragen? Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie sich das letzte Mal für ein Date mit einem Mann gerichtet hatte. Schließlich betonte sie ihre Augen dezent und wählte ein hübsches, nicht zu elegantes Sommerkleid.

Sie sah nett aus, aber nicht wie eine Frau, die sich voll ins Zeug gelegt hatte, um zu gefallen. Das schien ihr für ein erstes Date genau richtig. Ein erstes Date – was waren das denn für Töne? Wollte sie denn, dass es zu einem zweiten Date kam?

Larissa empfand etwas wie Trotz. Sie war doch auch jemand und hatte das Recht, einmal an sich zu denken, oder? Das Verhalten ihrer Mutter verletzte sie und führte dazu, dass sie entgegengesetzt zu dem reagierte, was ihre Mutter damit erreichen wollte.

„Ich bekomme ganz schwer Luft“, klagte ihre Mutter, als Larissa aus dem Badezimmer kam und schnappte dramatisch nach Atem.

„Dann nimmst du am besten dein Asthmaspray und gehst früh zu Bett“, riet Larissa ihr freundlich und konnte genau vorhersagen, wie ihr Abend verlaufen würde. Ihre Mutter würde ihr höchstens eine Stunde gönnen, bevor der Anruf käme, der sie nach Hause beorderte.

Normalerweise akzeptierte sie die unzähligen Notfälle, die zum Alltag mit ihrer Mutter gehörten, und rannte immer sofort los und umsorgte sie wieder, wie es von ihr erwartet wurde. An diesem Abend lehnte sich das erste Mal etwas in ihr dagegen auf. Larissa ging kurz hinunter zu ihrem Bruder, der Freunde zu sich eingeladen hatte und dabei war, eine Feuerschale auf seiner kleinen Terrasse anzumachen.

„Mario, siehst du immer einmal wieder hoch zu Mama?“, bat sie ihn.

„Lissi, ich habe Besuch“, erwiderte er ablehnend. „Wenn Mama etwas will, ruft sie bei dir an, und du kommst mit fliegenden Fahnen heimgefahren und rettest sie. So macht ihr das doch immer, und …“

„Diesmal wird sie nicht bei mir anrufen, sondern bei dir, Bruderherz“, unterbrach ihn Larissa.

„Warum sollte sie?“ Mario fühlte sich sicher. Seine Mutter war auf Larissa fixiert, und ihm behagte das durchaus.

„Weil ich ihr sage, dass mein Akku vom Handy leer ist und ich kein Telefon dabeihabe.“

„Du kannst ja ein Biest sein!“ Anerkennend hob ihr Bruder eine Braue. So kannte er sie gar nicht.

„Ich will einfach nur einen freien Abend, Mario. Heute bist du einmal an der Reihe. Kann ich mich auf dich verlassen?“

„Klar, geh ruhig! Ich übernehme die Wacht an der mütterlichen Dramafront“, spottete er. „Du weißt aber schon, sie wird mit Sicherheit den Notarzt brauchen und notfalls sogar sterben, um dir zu beweisen, wie rücksichtslos du bist? Rücksichtslos, Lissi! Rücksichtslos! Schande über dich!“

„Ich weiß, aber da sie glaubt, ich habe kein Handy dabei, könnte es gut gehen. Unter Umständen beruhigt sie sich und schmollt vor sich hin.“

Mario lachte. In der Regel beobachtete er Mutter und Schwester von außen und war froh, dass sie ihn so gut wie nie hineinzogen. Darauf hatte er keinerlei Lust. Es war praktisch, sich von Larissa versorgen zu lassen. Auf diese Weise konnte er sich auf sein Studium konzentrieren und Geld sparen.

Wäre Larissa nicht gewesen, hätte er sich ein Zimmer in einem Studentenheim gesucht. Die Erwartungen seiner Mutter und ihr grenzenloses Selbstmitleid nervten ihn nur. Im Grunde verstand er nicht, warum Larissa sich derart gängeln lies. Seiner Ansicht nach musste man seiner Mutter wie einem unerzogenen Kind Grenzen setzen.

„Meine Schwester – das Biest –, daran muss ich mich erst noch gewöhnen. Aber Lissi, wenn sie einen Aufstand probt, rufe ich dich. Ich kann es nicht ausstehen, wenn sie den sterbenden Schwan in fünf Akten gibt. Damit komme ich nicht klar“, warnte er sie.

„Wunderbar! Ich finde das jedes Mal wieder toll, einfach großartig, und kann nicht ohne sein“, erwiderte Larissa bissig.

„Du gehst zumindest jedes Mal wieder darauf ein, ohne dich zu beschweren.“ Mario zuckte nur die Achseln. Solange seine Mutter keine Probleme machte an diesem Abend, half er gerne, aber zu mehr war er nicht bereit. Das war das Aufgabengebiet seiner Schwester, fand er, denn schließlich machte sie es seit Jahren und hatte Erfahrung.

„Mama, ich kann mein Handy nicht mitnehmen. Der Akku ist leer. Wie gut, dass Mario zu Hause ist!“ Mit diesen Worten beeilte sich Larissa, aus dem Haus zu kommen. Zum Glück wartete Paul Skutin schon im Wagen vor der Tür, wie sie ihn gebeten hatte.

„Fahren Sie ganz schnell los!“, bat sie ihn, als sie rasch einstieg und die Haustür im Blick behielt.

„Vor welchem Drachen sind Sie denn auf der Flucht?“, fragte er überrascht. Hatte sie etwa einen eifersüchtigen Freund? Solche Geschichten mochte er ganz und gar nicht. Wenn es einen anderen Mann gab, konnte sie gleich wieder aussteigen. Auf so etwas ließ er sich nicht ein, und daher fuhr er nicht an, sondern sah genau wie sie zur Tür.

„Meine Mutter speit zwar kein Feuer, aber wenn Sie nicht auf der Stelle in die Pedale treten, dann kommt sie aus dieser Tür und bricht vermutlich mitten auf der Straße mit einem wahrlich spektakulären Asthmaanfall zusammen. Falls ihr das geling, bevor wir dort um die Ecke sind, muss ich aussteigen, den Notarzt rufen, und sie hat gewonnen.“

Paul fragte nicht mehr lange und gab Gas. Er war sich nicht sicher, ob es sich um einen Scherz handelte, aber dann sah er gerade noch im Rückspiegel, wie eine Frau aus dem Haus taumelte.

„Können Sie unter diesen Umständen gehen? Wenn Ihre Mutter krank ist und Sie braucht, dann …“ Er wusste nicht recht, was er denken sollte.

„Meine Mutter ist ungern allein und kann sich leicht in etwas hineinsteigern. Sie müssen mich für herzlos halten. Das bin ich nicht. Mein Bruder ist da. Vermutlich wird sich meine Mutter beruhigen, sobald ihr klar ist, dass sie mich nicht mehr erreichen kann heute Abend. Falls sie tatsächlich Hilfe braucht, ruft mein Bruder mich an“, erklärte Larissa ein wenig verlegen.

Sie wollte sich lieber nicht vorstellen, wie das auf ihn wirken musste und was er jetzt von ihr dachte. In Nachhinein spielte es doch eine Rolle, dass er ein Verwandter einer Schülerin war. Auf die Gerüchteküche konnte sie gut verzichten. In der Schule wusste man so gut wie nichts über ihr Privatleben, schon weil sie im Prinzip eigentlich keines hatte.

„Ist das jedes Mal so, wenn Sie etwas für sich unternehmen wollen?“, fragte er erschüttert, und Larissa spürte, dass er keine falschen Schlüsse zog, und atmete erleichtert auf.

„Ich mache das eigentlich nicht, um ihr und mir die Nerven zu sparen“, gestand sie.

Paul Skutin musterte sie prüfend und war sich durchaus bewusst, was ihre Antwort bedeutete. Sie lebte mit und für ihre Mutter und hatte im Prinzip kein eigenes Leben. Das war bitter. Was mochte in dieser Familie geschehen sein? Ihm lag eine entsprechende Frage auf der Zunge, aber er schluckte sie hinunter.

Für diese Frau war es Alltag, ihr Leben voll und ganz auf die Bedürfnisse ihrer offensichtlich tyrannischen und hypochondrischen Mutter einzustellen. Wenn sie einmal floh und etwas für sich tun wollte, dann sollte es auch ein heiterer, schöner Abend werden.

Er wollte nicht, dass sie ausgerechnet über ihre Mutter mit ihm reden musste, wenn sie es sich einmal gönnte, der mütterlichen Kontrolle zu entfliehen. Der Abend war ihre Auszeit.

***

Paul hatte einen Tisch in einem in München sehr beliebten Chinarestaurant reserviert und plauderte während der Fahrt mit Larissa über die Vorzüge der chinesischen Küche, ohne weiter auf den Vorfall mit ihrer Mutter einzugehen. Es war keine unangenehme Stimmung im Wagen, aber entspannt waren sie beide nicht. Magdalena Falkenstein saß auf dem Rücksitz und dominierte, auch wenn sie kein Thema war.

Larissa und Paul hatten sich auf den gemeinsamen Abend gefreut, aber der eigentümliche Einstieg machte sie befangen. Paul fand sie mehr als nur sympathisch und hatte sich schon gefragt, ob sie eine Frau sein könnte, mit der sich eine Familie aufbauen ließ. Sein Wunsch, sie näher kennenzulernen, basierte auf einem ernsten Interesse. Er war neununddreißig, und allmählich wurde es Zeit, nicht nur an die Arbeit zu denken und eine Familie zu gründen.

Larissa gefiel ihm, aber leider hatte er nicht die Zeit, um eine Beziehung zu einer Frau aufzubauen, die solche Probleme zu bewältigen hatte. Seine Taxiflotte umfasste zwanzig Wagen, und es bedeutete viel Arbeit, so ein Unternehmen zu leiten und sicher in die Zukunft zu führen. Fünfundvierzig Angestellte verließen sich auf ihn.

Irgendwann wünschte er sich eine Gefährtin an seiner Seite, aber das musste eine Frau sein, die sich behaupten konnte. Eine gute Seele, die sich ausbeuten ließ und sich nicht wehrte, das konnte nicht gut gehen. Man brauchte Nerven wie Drahtseile, um dem täglichen Stress gewachsen zu sein, und man musste beißen können, sonst kam man in seinem Leben nicht klar.

Obwohl Larissa einen selbstbewussten und gefestigten Eindruck auf ihn machte, sprach die Tatsache, dass sie noch zu Hause lebte und sich so von ihrer Mutter behandeln ließ, eine andere Sprache. Er hatte sich offensichtlich in ihr getäuscht. Sie musste selbst ihren Weg finden, sich von der Mutter zu lösen. Das konnte er ihr nicht abnehmen.

Larissa merkte natürlich, dass sich von seiner Seite her etwas verändert hatte. Es war angenehm, mit ihm zu plaudern, aber er war deutlich reservierter als zuvor. Es würde kein zweites Date geben, das stand von Beginn an fest. Ihre Mutter hatte gewonnen, und genau das machte sie wütend und ließ sie aufbegehren.

Bisher hatte sie doch alles freiwillig für ihre Mutter getan und nie geklagt, auch wenn sie einen hohen Preis dafür bezahlte. Sie hatte es gerne gemacht und sich gesagt, dass jemand ihren Vater vertreten musste, und da blieb nur sie. Der gnadenlose Egoismus ihrer Mutter machte ihr deutlich, in was für eine Sackgasse sie sich dabei manövriert hatte.

Wollte sie, dass der Rest ihres Lebens so aussah? War ihre Mutter mehr wert als sie und verdiente es, dass sie sich für ihr Wohlergehen opferte? Rebellische Gedanken und Gefühle jagten durch sie hindurch, während sie den Belanglosigkeiten lauschte, die Paul zum Thema machte, weil er das eigentliche Thema umgehen wollte, das zwischen ihnen stand.

Nach zehn Minuten am Tisch war es ihr genug. Das Restaurant war brechend voll, und der Kellner hatte noch keine Bestellung aufgenommen. Ideal dafür, den Abend abzubrechen, bevor er endgültig zu einer Katastrophe ausartete, an die sie nur mit Grauem denken würden. Das musste doch nicht sein!

„Herr Skutin, das haben wir uns beide anders vorgestellt. Wir müssen nicht zum Essen bleiben!“, bot sie ihm für ihn völlig unvermittelt an. Sie hatte keine Lust mehr, sich selbst etwas vorzumachen. Es war ein Fehler gewesen, die Einladung überhaupt anzunehmen.

Larissa war sich bewusst, dass ihre Rebellion zum Scheitern verurteilt war. Sie saß in ihrer Sackgasse fest, und es gab kein Entkommen. Wie sollte sie ihre Mutter alleinlassen können? Das Drama wollte sie sich nicht ausmalen. Nein, sie würde nie frei sein für ein eigenes, erfülltes Leben. Für sie gab es nur die wechselnden Schwächezustände ihrer Mutter.

„Ich habe es verdorben, und glauben Sie mir, das tut mir verdammt leid!“, fügte sie frustriert an.

„Unsinn! Sie haben überhaupt nichts verdorben!“, widersprach er. „Wir haben alle unsere Probleme!“

Larissa lachte leise auf. Sie fühlte sich lächerlich. Die Antwort bestätigte ihre Vermutungen. Sie nahm ihre Handtasche, stand auf und schickte sich an, das Lokal zu verlassen. Das hatte keinen Sinn, und bevor sie zwei, drei Stunden seine und ihre Zeit stahl, rief sie sich lieber ein Taxi und fuhr nach Hause.

„Bleiben Sie doch!“, bat er überrascht. „Was haben Sie denn?“

„Ich bin sauer. Nicht auf Sie – auf mich! Machen Sie sich keinen Kopf! Es war eine dumme Idee, mit Ihnen auszugehen.“

„Das war es ganz und gar nicht. Setzen Sie sich hin und lassen Sie uns reden!“, forderte er in dem Ton, in dem er seine Taxiflotte durch den Trubel der Stoßzeiten leitete.

Larissa setzte sich unwillkürlich und sah ihn verblüfft an.

„Wir hatten heute keinen guten Start“, stimmte er ihr zu. „Und ja, ich habe aller Wahrscheinlichkeit nach falsche Schlüsse gezogen und wusste nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll. Lassen Sie uns die Sache klären und dann entscheiden, was wir tun!“

„Was gibt es da zu klären? Es ist, wie es ist. Sie kennen mich nicht und haben sich vorhin ein Bild von mir und meinem Leben gemacht, dem ich nichts entgegensetzen kann. Pech gehabt! Vermutlich liegen Sie sogar richtig.“

Larissa war unwillig. Warum konnte er sie nicht gehen lassen? Was sollte das denn noch?

„Ist Ihre Mutter ernstlich erkrankt?“, wollte Paul wissen.

„Das ist keine einfache Frage, auf die Ihnen vermutlich keiner der zahlreichen Ärzte meiner Mutter eine klare Antwort geben kann. Ihr Körper ist geschwächt, soviel steht fest. Sie spielt die Schwächezustände nicht, aber rein körperlich gibt es keine eindeutige Ursache. Man könnte sagen, es ist ihre Seele, die mit dem Leben nicht klarkommt, aber das macht es nicht harmloser oder besser.“

„Seit wann leben Sie damit, dass der Gesundheitszustand Ihrer Mutter über Sie bestimmt?“

„Ich war siebzehn, als mein Vater starb, und habe die Aufgabe von ihm übernommen. Als er noch lebte, war meine Mutter nicht immerzu krank, aber sie musste sich um nichts kümmern und trug keinerlei Verantwortung. Mein Vater hat sie auf Händen getragen und alles von ihr ferngehalten“, erzählte Larissa und begann, sich etwas zu entspannen. Es tat gut, ausnahmsweise einmal über sich selbst zu reden.

„Vier Kinder großzuziehen ist keine Kleinigkeit“, wandte Paul ein, der zwei Brüder hatte und wusste, wie hart seine Mutter gearbeitet hatte, um ihre Jungen groß zu bekommen.

„Natürlich nicht, aber meine Mutter war eher das fünfte Kind, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie war nie selbstständig, stand nie auf eigenen Beinen. Mama stammt aus dem, was man in München eine gute Familie nennt. Ihre Eltern sind kurz vor meinem Vater bei einem Unfall gestorben. Das war der erste schicksalhafte Einbruch in ihre heile Welt. Es war schlimm, aber Papa hat sie aufgefangen – irgendwie.“

„Ihr Vater musste einiges stemmen.“

Larissa nickte und dachte mit einem liebevollen Lächeln an ihren Vater. Er war ein warmherziger, verständnisvoller Mann gewesen, von dem sie nie ein lautes Wort gehört hatte. Wie sehr er ihr nach all den Jahren noch fehlte, wurde ihr gerade bewusst. Es war seltsam, aber für ihre eigenen Gefühle nahm sie sich in der Regel kaum Zeit. Die Gefühle ihrer Mutter waren raumfüllend.

„Mama hat ein Vermögen und Anteile an unterschiedlichen soliden Firmen geerbt. Davon lebt sie. Arbeiten musste sie nie. Sie hat mit achtzehn geheiratet und ihr erstes Kind mit zwanzig bekommen.“

„Und wie kam sie mit dem Tod Ihres Vaters klar?“

„Gar nicht! Sie hat sich fallen lassen, und ich bin leider nicht mein Vater. Ich habe für meine Geschwister gesorgt und alles geregelt, aber wirklich auffangen konnte ich meine Mutter nicht. Sie hat die Trauer nicht überwunden. Ich manage die Familie für sie, mehr kann ich nicht tun.“

„Dann haben Sie mit siebzehn die volle Verantwortung für Ihre drei Geschwister und Ihre Mutter übernommen?“, fragte er beeindruckt. Das war keine schwache Frau, die ihm da gegenübersaß, und auch keine gute Seele, die keine Ahnung hatte, wie man ICH WILL buchstabierte. Das Leben verlangte dieser Frau viel ab, und sie gab ihr Bestes, ohne zu klagen.

„Was hätte ich denn tun sollen? Mein großer Bruder hat mit sechsundzwanzig den Absprung geschafft und lebt sein eigenes Leben. Das ist gut für ihn. Wie es um Bettina, meine kleine Schwester, steht, wissen Sie. Und Mario, mein jüngerer Bruder, studiert noch.“ Sie zuckte in ihr Schicksal ergeben die Achseln.

„Und wer kümmert sich um Sie und ist für Sie da, wenn Ihnen einmal alles zu viel wird?“

Larissa lachte nur und antwortete nicht. Solche Anwandlungen konnte sie sich schlicht und ergreifend nicht leisten.

„Lassen Sie uns bestellen! Ich habe Hunger, und der Kellner bekommt noch Migräne wegen uns. Es ist ganz schön anstrengend, immerzu unauffällig in eine Richtung zu schielen.“

„Der Arme! Da müssen wir ihn erlösen!“, stimmte Larissa lächelnd zu. Die Atmosphäre zwischen ihnen hatte sich vollkommen verändert, und sie fühlte sich wohl und blieb gerne.

Der Kellner hatte inzwischen schon zweimal nach ihnen gesehen und ihnen ihre Getränke gebracht. Nun winkte Paul ihn her, und sie bestellten das Essen. Es wurde doch noch ein äußerst angenehmer und schöner Abend. Sie plauderten über vieles und bemerkten, dass es recht viele Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gab.

„Das müssen wir unbedingt bald wiederholen!“, sagte Paul, als er Larissa kurz vor Mitternacht vor ihrer Haustür absetzte.

„Ja, das finde ich auch!“, stimmte sie zu, und sie lächelten sich an.

***

Drei Tage lang zeigte Magdalena Falkenstein ihrer Tochter die kalte Schulter. Sie war zutiefst gekränkt und erwartete eine Entschuldigung. Als Larissa keine Anstalten machte, ihr Verhalten zu bereuen, verstand ihre Mutter die Welt nicht mehr. Was war nur los?

„Du musst mir keinen Tee ans Bett bringen! Dir ist es doch egal, wie es mir geht!“, stichelte sie anfangs überzeugt, wie immer ihr Ziel zu erreichen und selbstlos umsorgt zu werden.

„Mama, mir ist es nicht egal, wie es dir geht. Wenn du keinen Tee möchtest, ist das okay. Ruf einfach, falls du noch etwas brauchst!“, reagierte Larissa gelassen und ging an ihren Schreibtisch, anstatt alles zu tun, um sich mit ihrer Mutter zu versöhnen.

Der Samstagabend mit Paul hatte ihr deutlich gemacht, dass sie etwas ändern musste. Alles konnte und wollte sie ihrer Mutter nicht mehr durchgehen lassen. Auch wenn Magdalena es nicht verstand, war sie doch eine erwachsene Frau, und Larissa war ihre Tochter und nicht ihr Kindermädchen.

„Hast du dein Auto von der Werkstatt bekommen?“ Paul rief schon am Montagmittag wieder an, und als er hörte, dass die Werkstatt bis Dienstagmittag brauchte, weil ein Ersatzteil nicht vorher geliefert werden konnte, brachte er Larissa nach der Schule zu Bettina.

„Ruf an, wenn du so weit bist, dann hole ich dich wieder ab und bring dich schnell heim!“

„Kein Taxi? Hast du heute frei?“, fragte Larissa, die sich wunderte, warum er nicht mit dem Taxi gekommen war. Eigentlich hatte sie ihm die Fahrt wie jeder andere Kunde auch bezahlen wollen.

„Nein. Ich fahre selten selbst. Wenn einer meiner Fahrer ausfällt, dann übernehme ich und genieße es, einmal wieder an der Front zu sein. Meist kümmere ich mich aber um alles andere und bin in der Zentrale.“

„Einer deiner Fahrer?“ Larissa begriff, dass sie etwas nicht mitbekommen hatte.

„Ich habe eine kleine Flotte von zwanzig Taxis, die für mich unterwegs sind. Früher bin ich natürlich selbst gefahren. Schließlich habe ich mit einem Taxi angefangen. Irgendwann hat mir die Zeit dafür nicht mehr gereicht. Das Organisatorische ist zu viel geworden“, erklärte er bescheiden.

„Kannst du denn so einfach weg? Ich kann doch mit dem Bus …“, wollte Larissa ablehnen.

„Kommt überhaupt nicht infrage! Du müsstest dreimal umsteigen und wärst ewig unterwegs. Mir ist es ein Vergnügen, wenn ich ein wenig Zeit mit dir verbringen kann.“ Er duldete keinen Widerspruch und brachte sie nach dem Besuch bei ihrer Schwester auch wieder nach Hause.

Am Dienstag ließ Paul sich nicht davon abbringen, sie morgens zur Schule zu fahren. Zeit mit ihr war ihm kostbar, denn er hatte verstanden, wie schwer es für sie war, sich extra für ihn frei zu machen.

„Du verwöhnst mich, und ist dir klar, wie schnell man sich daran gewöhnen kann, verwöhnt zu werden? Am Ende erschaffst du eine Tyrannin“, warnte Larissa ihn im Scherz. Es tat unendlich gut, dass es das erste Mal einen Menschen gab, der sich um sie kümmerte.

„Hm. Ich könnte mich auch daran gewöhnen, dich jeden Tag zu sehen. Eigentlich schade, dass dein Auto repariert ist!“, beklagte er sich, als sie sich an der Schule verabschiedeten. „Was meinst du, können wir am Sonntag zusammen einen Ausflug an den Tegernsee machen? Ich habe dort ein kleines Boot liegen, und bei dem Wetter ist es herrlich, auf den See hinauszufahren.“

„In einer Woche habe ich Sommerferien, dann bin ich unter der Woche zu Hause, und es ist nicht so schlimm für meine Mutter, wenn ich einmal weggehe. Sie hat den vergangenen Samstag noch nicht verkraftet“, antwortete sie zögernd und hätte zu gerne einfach Ja gesagt.

„Wenn es nach mir ginge, sollte sie sich besser daran gewöhnen, dass du öfter einmal unterwegs bist“, meinte er trocken.

Larissa dachte nach. Paul hatte recht. Wenn sie etwas ändern wollte, dann musste sie irgendwann damit anfangen.

„Ich komme sehr gerne mit!“, sprang sie über ihren Schatten.

Er strahlte.

„Am Sonntag? Einen Ausflug? Aber warum denn? Larissa, warum ist dir unser Leben nicht mehr genug? Wir hatten es doch so schön zusammen – du und ich!“ Magdalena kämpfte mit den Tränen. Sie war fassungslos, als ihre Tochter sie am Samstagabend darüber informierte, dass sie am nächsten Tag mit einem guten Freund etwas unternahm.

„Ich habe dich lieb, Mama, aber ich bin nicht Papa, und ich bin zweiunddreißig“, antwortete Larissa.

„Das mit diesem Mann …“ Magdalena schluckte. Sie hatte Angst, die Frage zu stellen. „Ist dir das ernst? Ich meine, glaubst du, dass es etwas Ernstes ist und dass ihr …“

„Mama, ich mag Paul. Er ist ein sympathischer Mann, und ich bin gerne in seiner Gesellschaft. Mehr lässt sich nach so kurzer Zeit nicht sagen. Das wird sich zeigen. Auf jeden Fall ist es schön, dass es ihn gibt, und ich genieße es.“

Magdalena sagte nichts darauf, aber ihr war, als ob man ihr den Boden unter den Füßen wegziehen wollte. Was sollte sie denn tun, wenn Larissa eigene Wege ging? Auf diesen Gedanken war sie bisher nie gekommen. Larissa war immer da gewesen, wenn sie jemanden brauchte, und sie hatte das für eine Selbstverständlichkeit genommen.

Schließlich musste doch jemand da sein, oder? Man konnte sie doch nicht einfach alleinlassen! Und wenn ihre Tochter tatsächlich einen Mann fand und wie Alexander das Haus verließ?

Sofort spürte Magdalena, wie sich ihre Bronchien verkrampften, und das Atmen fiel ihr schwerer. Ihr Herz jagte in der Brust. Panik – das war es, was sie empfand.

„Larissa, ich kann nicht ohne dich überleben. Du hältst hier alles aufrecht, und wenn du gehst, dann sterbe ich“, keuchte sie.

Beruhigend legte Larissa die Arme um ihre Mutter und hielt sie eine Weile. Die Atmung normalisierte sie zusehends, und der Panikanfall legte sich.

„Mama, ich lasse Mario und dich nicht im Stich, aber ich brauche etwas Raum für mich. Das ist alles. Du musst keine Angst haben!“

Das war leichter gesagt als getan. Magdalena beobachtete, wie Larissa am Samstagabend für sie und Mario vorkochte, damit sie sich nur etwas in die Mikrowelle schieben mussten. Ihre Tochter kümmerte sich wie gewohnt weiterhin um alles, und doch schien nichts mehr, wie es gewesen war.

Am Sonntagmorgen verabschiedete sich Magdalena ganz normal von ihrer Tochter. Sie setzte sie nicht unter Druck, flehte sie nicht an, zu Hause zu bleiben, obwohl sie es zu gerne getan hätte. Ihr war klar, dass sie nichts damit bewirkte, und etwas in ihr hatte ein schlechtes Gewissen.

Seit es diesen Mann gab, hatte Larissa etwas Lebhaftes und Blühendes. Er tat ihr sichtlich gut. Magdalena wollte sich für ihr Kind freuen und schämte sich, dass sie es nicht konnte. Das Leben hatte ihr so viel Leid gebracht, und nun sollte sie also auch noch ihren letzten Anker und Halt verlieren. Es war bitter, aber sie würde sich fügen müssen. Was hatte sie denn für eine Wahl?

„Viel Spaß!“, sagte sie, ehe Larissa mit ihrer Badetasche in der Hand das Haus verließ.

„Danke, Mama!“ Larissa freute sich von ganzem Herzen darüber, dass ihre Mutter ihr keine Szene machte. „Bis heute Abend!“

„Muss ich das Pedal durchtreten und die Reifen quietschen lassen?“, fragte Paul, als Larissa zu ihm in den Wagen stieg.

„Nein, und das ist für mich wie ein kleines Wunder.“ Larissa winkte noch einmal nach oben zum Fenster, wo ihre Mutter stand und zurückwinkte.

***

Der Tag am Tegernsee war wie ein Traum. Larissa und Paul lagen zusammen in der Sonne, plauderten, lachten, schwammen weit hinaus, und irgendwann nahmen sie das Boot und ließen sich in der Mitte des Sees treiben. Paul hatte etwas untertrieben. Er hatte nicht nur ein Ruderboot am See, sondern auch ein kleines Ferienhaus mit einem Bootssteg.

„Ist das idyllisch hier!“ Mit leuchtenden Augen sah Larissa sich um. Das Häuschen lag etwas zurückgesetzt in einer herrlich blühenden Sommerwiese. „Und das gehört dir? Aber so etwas muss doch unbezahlbar sein!“

„Das ist es auch!“, stimmte Paul ihr lachend zu. „Es gehört mir nicht alleine, sondern meiner ganzen Familie. Meine Brüder kommen auch öfter her. In den Sommerferien geht es hier munter zu. Da führen Anna und ihre zwei Cousinen das Kommando. Ich komme in den Ferien selten her.“

„Magst du keine Kinder?“, fragte Larissa erstaunt, weil sie gesehen hatte, wie großartig er mit Anna umgehen konnte.

„Doch! Natürlich! Manchmal komme ich zum Kaffee auf Besuch her und tobe mit der Rasselbande. Ich überlasse das Ferienhaus dann meinen Brüdern, weil sie zur Schulzeit in München gebunden sind und ich nicht. Irgendwann möchte ich sehr gerne eigene Kinder haben. Und du?“

„Ich wollte immer eine ganze Bande, aber na ja …“

„Was nicht ist, kann ja noch werden!“

Sie lächelten sich an, und Paul kehrte zum ursprünglichen Thema zurück. Für manches war es noch zu früh.

„Mein Großvater hat das Grundstück gekauft und das Häuschen selbst gebaut. Mein Vater wollte es immer einmal verkaufen, als sein Preis derart gestiegen war, aber er hat es nie übers Herz gebracht. Wir sind ihm alle dankbar dafür. Heute wäre so ein Urlaubsparadies für keinen von uns mehr erschwinglich.“

Paul hatte an alles gedacht. Im Haus gab es eine Kaffeemaschine, und er hatte Kuchen mitgebracht. Sie machten es sich in den Liegestühlen gemütlich und ließen es sich schmecken. Larissa rekelte sich zufrieden. So konnte man sich das Leben gefallen lassen. Sie war glücklich.

„Danke!“, sagte sie eindringlich.

„Ich danke dir“, antwortete er, und als er sich zu ihr beugte und sie zart auf die Lippen küsste, legte sie die Arme um ihn und zog ihn an sich.

Aus der zarten Liebkosung wurde ein leidenschaftlicher Kuss, und sie drängten sich aneinander. Paul war es, der sich nach einer Weile sanft löste.

„Daran könnte ich mich gewöhnen!“, seufzte er wohlig, ohne sie weiter zu berühren.

„Ich auch!“ Larissa schmiegte sich an ihn und küsste ihn ihrerseits. Ihre Hände fuhren über seinen Körper und ließen keinen Zweifel daran, was sie sich wünschte.

„Bist du dir sicher? Ich …“ Seine Stimme war rau von Begehren. Es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen, aber er wollte nicht, dass sie zu früh einen Schritt weitergingen und dadurch ihre Annäherung gefährdeten.

Paul hatte Zeit, denn er gedachte, den Rest seines Lebens mit dieser Frau zu gestalten. Sie war die Richtige, daran zweifelte er nicht mehr. Larissa faszinierte ihn, und zur Not war er bereit, sich auf den Zweikampf mit ihrer Mutter einzulassen.

„Ganz sicher!“, sagte Larissa und legte seine Hand an ihre Brust.

Sie liebten sich auf der Wiese, und als sie hinterher nackt in der Sonne lagen, kicherten sie vor Freude und Entspannung. Da klingelte Larissas Handy. Der Klingelton war wie eine eiskalte Dusche aus heiterem Himmel. Es war nicht Magdalena, sondern Mario, und in seiner Stimme schwangen Angst und Überforderung.

„Mama wird gerade in die Berling-Klinik gebracht. Der Rettungswagen fährt eben los“, informierte er seine Schwester. „Ich habe sie besinnungslos im Flur gefunden. Lissi, ich glaube, es ist ernst. Der Notarzt vermutet einen Kreislaufzusammenbruch oder vielleicht sogar einen Herzinfarkt. Lissi, kommst du? Bitte! Ich nehme dein Auto und folge ihr zur Klinik, aber ich weiß doch nicht, was …“