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Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!
Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!
Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!
Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Chefarzt Dr. Holl 1828: Die geheime Operation
Notärztin Andrea Bergen 1307: Wir passen auf dich auf
Dr. Stefan Frank 2261: Dr. Frank und die Ausreißerin
Dr. Karsten Fabian 204: Die Geliebte am Krankenbett
Der Notarzt 310: Der schlimmste Einsatz seines Lebens
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 556
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben
Für die Originalausgaben:
Copyright © 2016/2018 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Für diese Ausgabe:
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Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Covermotiv: © NDAB Creativity / Shutterstock
ISBN: 978-3-7517-6477-3
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https://www.luebbe.de
https://www.lesejury.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Chefarzt Dr. Holl 1828
Die geheime Operation
Die Notärztin 1307
Wir passen auf dich auf
Dr. Stefan Frank 2261
Dr. Frank und die Ausreißerin
Dr. Karsten Fabian - Folge 204
Die wichtigsten Bewohner Altenhagens
Die Geliebte am Krankenbett
Der Notarzt 310
Der schlimmste Einsatz seines Lebens
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Contents
Die geheime Operation
Während des Nachtdienstes soll er einen Mörder retten
Von Katrin Kastell
Als die OP-Schwester Maria Schöneberger mitten in der Nacht einen Anruf von ihrem Exfreund bekommt, ahnt sie gleich, dass etwas Schlimmes passiert sein muss. Paul ist kein Mensch, der mitten in der Nacht anruft, wenn es keinen triftigen Grund dafür gibt. Mit klopfendem Herzen lauscht sie seiner verwaschenen Stimme, die unzusammenhängende Worte stammelt.
„Was ist los? Wo bist du? Was ist mit dir?“, fragt sie alarmiert.
Als sie endlich herausfindet, wo er sich aufhält, macht sich Maria sofort auf den Weg zu ihm. Doch als sie Paul findet, stockt ihr der Atem. Sein Hemd und seine Jacke sind blutgetränkt!
Als OP-Schwester erkennt sie, dass er sofort behandelt werden muss – andernfalls wird er verbluten! Doch Paul bittet sie eindringlich, keinen Krankenwagen zu rufen. Er weiß, dass er des Mordes verdächtigt wird, und wenn die Polizei ihn findet, wird er garantiert hinter Gittern landen und dort nie wieder herauskommen.
Maria kämpft mit sich. Wenn sie nichts tut, wird Paul sterben. Wenn sie Hilfe ruft, wird er womöglich ins Gefängnis gesteckt. Sie weiß nur einen Ausweg: Sie wird ihren Exfreund in die Berling-Klinik bringen. Dort muss ihn der zuständige Chirurg versorgen, ohne seine Identität preiszugeben …
„Und was mache ich, wenn sie mich nicht will?“ Paul Rabe hielt das schwarze Ringkästchen in der Hand und sah den Verlobungsring an, als ob er ihn nicht bereits seit sechs Monaten mit sich herumtragen würde.
„Soll ich ganz ehrlich sein, Paul?“, fragte sein Partner und Kollege, Manuel Peiper, gereizt.
Es war kurz nach drei Uhr, und die Polizeibeamten des Drogendezernates München saßen seit Stunden zusammen in ihrem Dienstwagen und behielten ein Lagerhaus im Auge. Laut eines Informanten sollte in dieser Nacht noch ein größerer Drogendeal über die Bühne gehen, aber bisher war alles ruhig geblieben.
„Das ist dir absolut egal, und ich gehe dir auf die Nerven mit meinem Geschwätz. Richtig?“
„Richtig!“, stöhnte Manuel. „Frag sie, und bring es endlich hinter dich, oder ich beantrage meine Versetzung in den Innendienst! Seit einem halben Jahr haben wir nur noch ein Thema: Machst du Maria nun einen Antrag, oder nicht? Ich kann es nicht mehr hören! Frag sie! Tust du es nicht bald, dann nehme ich diesen elenden Ring und frage sie selbst! Ich war schließlich schon zweimal verheiratet und habe Erfahrung. Da kommt es auf eine dritte Scheidung auch nicht mehr an.“
„Maria will mich und würde dich nie nehmen“, kam es sofort zurück. „Außerdem weiß sie, dass du ein alter Casanova bist und keinerlei Respekt vor Frauen hast. Du kannst nicht treu sein, und so einen kann sie nicht brauchen.“
„Immer diese Komplimente! Du machst mich ganz verlegen“, erwiderte Manuel ironisch. „Warum machst du den Antrag eigentlich nicht mir? Wir verbringen doch ohnehin den Hauptteil unserer Zeit zusammen, und du wirst niemanden finden, der dich besser kennt und versteht als ich. Ich bin dein Schicksal.“
„Ha! Bin ich des Wahnsinns? Bei deinen Schulden? Du würdest Ja sagen, den Ring nehmen und ihn im nächsten Pfandhaus versetzen. Nein danke! Mit Maria möchte ich den Rest meines Lebens verbringen. Sie ist ein wunderbarer Mensch und die Frau, mit der ich alt werden möchte.“
„Dann sag es ihr! Spring endlich ins kalte Wasser! Ich organisiere dir eine Junggesellenparty vom Feinsten. Unter den Stripperinnen in der Szene ist schon ein Wettstreit entbrannt, welche dich an deinem letzten freien Tag beglücken darf.“
„Untersteh dich!“, wehrte Paul nur halb im Scherz ab. Er kannte seinen Partner gut und arbeitete seit sechs Jahren eng mit ihm zusammen. Manuel war es zuzutrauen, dass er den Bogen überspannte. Seine Scherze waren berühmt-berüchtigt.
„Lass dich überraschen, mein Guter!“ Manuel grinste wölfisch. „Wenn du so dumm bist, deine Freiheit freiwillig aufzugeben, soll zumindest der Abschied legendär sein. Du musst doch etwas haben, an das du dich erinnern kannst, wenn du brav sein musst und nicht mehr darfst.“
„Du verstehst das nicht. Du warst noch nie wirklich verliebt und bist noch nie einer Frau wie Maria begegnet. Sie ist …“
„Nein!“, unterbrach ihn sein Partner resolut. „Nein! Nein! Nein! Nicht das ganze Lied von vorne! Du hast vollkommen recht! Ich verstehe das sowieso nicht, habe keine Ahnung, was verliebt sein so alles in einem ehemals vernünftigen und brauchbaren Mann anrichten kann. Ich habe keine Ahnung! Und weißt du was? Ich lege keinen Wert darauf, eine Ahnung davon zu bekommen. Könnten wir jetzt das Thema wechseln? Wie hat Bayern München gestern gespielt?“
„Gewonnen, glaube ich, wie immer.“ Paul interessierte sich im Moment kein bisschen für Fußball. In seinem Kopf war nur Raum für das Abendessen mit Maria, das für den anderen Abend geplant war. Maria, die als OP-Schwester in der Berling-Klinik in München arbeitete, hatte genau wie er an diesem Wochenende keinen Dienst.
Ein gemeinsames freies Wochenende war eine günstige Gelegenheit, die sich selten ergab. Paul hatte sie zu ihrem Lieblingsitaliener eingeladen.
Mario, der Wirt des Restaurants, war eingeweiht und hatte Paul gute Tipps gegeben, was alles zu einem richtigen Heiratsantrag gehörte, von dem Frauen träumten. Einiges davon kam Paul zwar etwas übertrieben vor, aber er war froh über die Unterstützung und hatte alles tapfer abgenickt.
„Es ist doch nur, dass es so ein großer Schritt ist, und wenn sie Nein sagt, dann habe ich meine Chance vertan. Ich meine, vielleicht sollte ich noch warten, damit …“
„Gott sei Dank!“, stöhnte Manuel, als ein Lastwagen angefahren kam, vor dem Lagerhaus hielt und irgendjemandem in der Halle ein Zeichen mit der Lichthupe gab. „Es geht los.“
Die Beamten gaben ihren Kollegen Bescheid. Es wurde ein großer Einsatz, der allen Beteiligten keinen Ruhm brachte. In dem Lastwagen fand sich nur verdorbener Fisch, der bestialisch stank. Es war offensichtlich ein höhnischer Gruß an die Polizei, die gezwungen war, den Fisch gründlich zu untersuchen.
„Die haben genau gewusst, dass wir auf sie warten. Verdammt! Das war der dritte Einsatz in zwei Monaten, von dem sie irgendwie Wind bekommen haben. Ich begreife das nicht!“, schimpfte Paul wütend, der sich schwor, nie wieder in seinem Leben Fisch zu essen. Ihm war übel von dem Gestank und der Demütigung.
„War es derselbe Informant?“, fragte Manuel gelassen. Irgendwann hatte er damit aufgehört, sich über solche Niederlagen zu ärgern und sie persönlich zu nehmen. Recht und Ordnung hatten gegen das organisierte Verbrechen ohnehin keine Chance. Es war ein Scheingefecht, und die Polizei hatte von Anfang an verloren.
„Soweit ich weiß, nicht. Die zwei vorherigen Informanten wurden abgezogen, damit ihnen nichts passiert. Es konnte nicht garantiert werden, dass sie nicht aufgeflogen sind. Da läuft gerade etwas ganz Seltsames, das kann ich dir sagen!“, orakelte Paul vieldeutig.
„Was soll da schon laufen? Wir sind doch meistens zu spät und bekommen eine lange Nase gezeigt. Die verdienen besser, sind besser organisiert und kennen keine Skrupel. Daran müsstest du allmählich gewöhnt sein, oder?“ Mit den Jahren war Manuel sarkastisch geworden. Er war Anfang fünfzig, fünfzehn Jahre älter als Paul, und hatte mehr Dienstjahre auf dem Rücken als alle anderen im Revier.
Er glaubte an keine Wunder mehr. Die Zustände wurden nicht besser, die Drogen, gegen die sie kämpften, wechselten nur die Namen. Einige wurden sogar gesellschaftsfähig. Kaum jemanden interessierte es, wie viele junge Menschen sich damit ihr Gehirn zerstörten, die irgendwann als Dauerpatienten in psychiatrischen Kliniken endeten und wie Zombies leer vor sich hin stierten und sabberten. Niemand sah genau genug hin.
„Woher wissen die, wann wir zuschlagen? Es muss irgendwo ein Leck geben. Aber wer weiß Bescheid und …“
„Paul, du und deine Theorien! Ich will jetzt nur noch heim und unter die Dusche. Bis Montagmorgen kann mir alles gestohlen bleiben.“ Manuel gähnte.
„Und den Schreibkram überlässt du mir. Verstehe ich das richtig?“, brummte Paul, der es nicht ausstehen konnte, wenn Manuel ihn ausnutzte.
„Du machst das so gut, und wenn du arbeitest, kannst du nicht schlaflos im Bett liegen und deinen Antrag proben. Sieh es ein, ich bin ein wahrer Freund und tue dir einen Gefallen.“
„Hau schon ab, du wahrer Freund! Viele Freunde von deiner Sorte kann sich kein Mensch leisten.“
Sie waren zurück zum Revier gefahren, und Manuel stieg in seinen Privatwagen und fuhr davon. Paul gönnte sich auf dem Revier eine Dusche und zog sich um. Kleider zum Wechseln hatte er immer in seinem Schrank. Trotzdem wurde er den Fischgeruch nicht los. Er hing ihm in der Nase.
Natürlich hatte der Frühdienst längst von der Pleite und dem bösen Scherz der Drogenmafia erfahren. Die Kollegen konnten sich kleine Sticheleien nicht verkneifen, als sie nach und nach ins Revier kamen, um ihren Dienst anzutreten.
„Was ist das nur für ein Duft? Es riecht nach Meer und Meeresbewohnern. Ist da jemandem etwa ein großer Fisch durch die Lappen gegangen?“, fragte einer lachend und schnupperte demonstrativ in Pauls Richtung.
„Haha! Witzig, Kollege! Wirklich witzig! Danke!“, schnaubte Paul zornig. Er war übermüdet und frustriert, und von seinem Humor war nicht mehr viel übrig.
Die anderen lachten munter weiter und ließen sich von seiner schlechten Laune nicht abhalten. Jeder von ihnen kannte die Frustration, mit der er rang. Lachen war die beste Medizin.
„Um fünf Uhr wurde eine Heroinabhängige von der Putzfrau tot in einer Toilette eines der Klubs gefunden. Überdosis. Ihre Identität konnte noch nicht festgestellt werden. Sie wird gerade in die Pathologie gebracht. Kennt sie einer von euch?“, rief eine Kollegin in die Runde.
Paul wollte gerade gehen, aber dann warf er doch noch rasch einen Blick auf ihren Monitor, wo ein Bild der Toten zu sehen war. Bestürzt blieb er stehen. Er musste an das junge Mädchen denken, das so gerne gelacht hatte und noch vor einem Jahr eine strahlende Abiturientin gewesen war und vor Lebensfreude gesprüht hatte.
„Kennst du sie?“ Seiner Kollegin fiel auf, wie betroffen er war.
„Ja, ihrer Familie gehört das Haus, in dem ich wohne. Sie haben im Erdgeschoss einen exquisiten Antiquitätenladen und bewohnen selbst den ersten Stock. Das Mädchen heißt Lisa Treibel. Lisa ist neunzehn. Nach dem Abitur ist etwas passiert, das sie komplett aus der Bahn geworfen hat“, gab Paul nach außen sachlich weiter, was er wusste.
„Hast du eine Ahnung, was das gewesen sein könnte?“
„Ich schätze, es war der Klassiker, und sie war schlicht und ergreifend unglücklich verliebt. Auf jeden Fall ist sie in die falschen Kreise abgerutscht und hat eine steile Drogenkarriere hingelegt – Meth, Heroin. Es war ein freier Fall.“
„Schlimm!“
„Ja. Ihren Eltern blieb keine andere Wahl, als sie irgendwann vor die Tür zu setzen. Sie haben ihr klar gesagt, dass sie ihre Sucht nicht unterstützen, aber jederzeit für sie da sein werden, wenn sie sich zu einem Entzug entschließt. Wir haben häufiger geredet. Sie wissen, dass ich Drogenfahnder bin“, sagte Paul und verfluchte sich für sein Pflichtbewusstsein.
Die Treibels waren nette Leute. Es gab nichts Schlimmeres, als ein Kind zu verlieren. Lisa hatten sie im vergangenen Jahr etappenweise verloren, obwohl sie alles getan hatten, um dem Mädchen wieder auf die Beine zu helfen. Trotz allem hatten sie die Hoffnung nie aufgegeben und verzweifelt auf den Moment gewartet, an dem ihre Tochter zur Besinnung kommen würde. Nun mussten sie von ihrem Kind Abschied nehmen.
„Die Treibels kennen mich seit vielen Jahren. Ich habe Lisa aufwachsen sehen und habe eine gute Verbindung zur Familie. Es ist das Beste, wenn ich dabei bin, wenn die Eltern informiert werden“, übernahm Paul die schwierige Aufgabe freiwillig, um die sich jeder gerne drückte.
„Danke, Paul! Nach der Nacht, die du hinter dir hast, weiß ich das zu schätzen“, bedankte sich seine Kollegin.
Etwas später fuhren sie zusammen zu der Familie. Als Paul kurz nach neun Uhr endlich in seinem Bett lag, fühlte er sich uralt und erschöpft. Er bekam das Bild der Mutter nicht aus dem Kopf, die bei der schrecklichen Nachricht schluchzend in sich zusammengesackt war, während der Vater wie erstarrt dagestanden und die Form gewahrt hatte, wo es keinen Trost und keine Hoffnung mehr gab.
Es war der Gedanke an Maria, der Paul aus diesem düsteren Bilderkarussell befreite. Ihr lachendes Gesicht schenkte ihm Frieden. Sollte er ihr am Abend tatsächlich seinen Antrag machen oder es noch einmal verschieben? Über diesen Überlegungen schlief er ein.
***
„Du siehst aus wie zehn Tage Regenwetter, und dabei ist es deine letzte Nacht, und du hast das Wochenende frei. Sollen wir tauschen?“, bot der Chirurg, Dr. Thomas Gruner, Maria Schöneberger an. Er arbeitete sehr gerne mit der kompetenten und erfahrenen OP-Schwester zusammen, und mit den Jahren waren sie Freunde geworden und unternahmen häufiger auch privat etwas zusammen.
„Könntest du deinen Bereitschaftsdienst an mich abtreten, wäre ich gleich dabei!“, seufzte Maria. „Ich hätte doch Medizin studieren und Chirurgin werden sollen, wie es meine Mutter immer wollte. Tja, zu spät! Ausnahmsweise herrscht für dieses Wochenende keinerlei Mangel an OP-Personal. Ich werde wohl oder übel freimachen müssen.“
„Du Arme! Das Leben kann eine Last sein“, spottete Thomas.
Es war kurz nach Mitternacht. Auf dem OP-Tisch lag eine Frau von Mitte vierzig, die als Notfall mit schweren Bauchschmerzen und hohem Fieber in die Notaufnahme der Berling-Klinik eingeliefert worden war. Sie hatte einen Blinddarmdurchbruch, und der Bauchraum war bereits entzündet. Der Chirurg hatte den Blinddarm entfernt und ließ den Bereich gründlich spülen und desinfizieren.
„Sonst strahlst du immer, wenn du uns alle einmal für ein paar Tage nicht sehen musst. Hat es mit Paul zu tun?“, wollte Thomas wissen.
„Wie kommst du darauf?“ Maria war überrascht. Mit der grünen OP-Haube und dem Mundschutz vor dem Gesicht ließ sich nichts in der Miene ihres Gegenübers lesen. Das war manchmal irritierend.
„Wenn Männer lieber arbeiten wollen, als nach Hause zu gehen, dann liegt es in der Regel an den Frauen, die sie zu Hause erwarten“, meinte Thomas trocken. „Ich gehe einmal davon aus, im umgekehrten Fall ist das nicht anders.“
„Paul und ich wohnen nicht zusammen. Auf mich wartet meine urgemütliche, kleine Wohnung, in der niemand etwas von mir will, was ich nicht will. Herrlich! Ich liebe meine Freiheit und mein Leben und mag es, genau wie es ist!“, erklärte Maria mit Inbrunst.
„Und warum zieht es dich dann dazu, in einem unbehaglichen, anonymen Bereitschaftszimmer zu nächtigen, meine Liebe?“, ließ Thomas nicht locker. „Ist deine geliebte Freiheit in Gefahr? Das wird ja immer spannender. Sprich, hat Paul dir endlich seinen Antrag gemacht?“, spekulierte er.
„Du weißt also auch davon? Alle wissen davon und wünschen ihm Glück. Denkt vielleicht auch einmal einer an mich? Hallo?! Ich habe ein entscheidendes Wörtlein mitzureden“, ereiferte sich Maria, die sich von Feinden umzingelt fühlte.
Paul hatte mit seiner freundlichen, warmherzigen Art nicht nur ihr Herz, sondern ihr ganzes soziales Umfeld erobert.
Ihre Eltern mochten ihn und luden ihn jedes Mal extra mit ein, wenn Maria sie besuchte. Ihr Freundeskreis fragte nach ihm, wenn er bei einem Treffen nicht dabei war. Überall hatte er sich integriert und wurde geschätzt. Alle gingen davon aus, dass Maria mit ihm zusammenbleiben würde.
„Paul hat mir nichts gesagt, aber der arme Tropf kämpft seit Monaten darum, den rechten Moment zu finden. Er ist langsam von Begriff, sonst müsste ihm allmählich klar sein, dass es für so etwas keinen richtigen Moment gibt. Man muss springen. Basta!“
„Was habt ihr nur alle mit dieser dummen Springerei und diesem Gerede von klaren Entscheidungen, die getroffen werden müssen?! Können zwei Menschen nicht einfach nur eine schöne Zeit zusammen genießen, ohne dass jemand verletzt wird? Muss alles immer irgendwo hinführen?“, schimpfte Maria.
„Oh, da habe ich anscheinend den Nagel auf den Kopf getroffen“, stellte Thomas fest. Er war seit sieben Jahren verheiratet, und auch wenn es gerade nicht gut um seine Ehe stand, hoffte er, dass seine Frau und er es schafften zusammenzubleiben.
„Hast du!“, gab Maria zu. „Ich denke, morgen Abend wird es ernst. Er hat mich zum Italiener eingeladen und klang so seltsam, viel zu weihevoll für eine normale Einladung. Ich mag ihn. Ich mag ihn sogar sehr, Thomas.“
„Wo liegt dann das Problem? Und komm mir bloß nicht mit deiner Freiheit! Ich habe dich schon zu oft über Kinder reden hören. Du möchtest eine Familie.“
Maria blieb eine Weile still. Thomas hatte recht, sie wollte Kinder und einen Mann und alles, was dazugehörte. Sie wollte Ostereier verstecken, Kindergartenaufführungen planen und Weihnachtsbäume heimlich schmücken. Sie wollte einen Partner an ihrer Seite wissen an den guten und den nicht so guten Tagen. Das alles wünschte sie sich.
Warum nur konnte sie sich das nicht mit Paul vorstellen, obwohl sie ihn liebte? Er war ein redlicher, guter Mann, hatte Humor, Charme und ähnliche Träume wie sie. Sie schienen wunderbar zusammenzupassen, und sie fühlte sich in seiner Gesellschaft einfach nur zu Hause und wohl, und doch glaubte sie nicht, dass er der Richtige für sie war.
„Er erzählt mir kaum etwas von seinem Berufsalltag. Manchmal ein wenig, und schon das entsetzt mich. Was er jeden Tag an Elend sieht und an krimineller Energie mitbekommt, kann ich mir gar nicht vorstellen. Thomas, ich freue mich immer, wenn er nach seinem Dienst kurz anruft – nicht nur, weil es schön ist, seine Stimme zu hören und mit ihm ein wenig zu plaudern“, sagte sie dann mehr zu sich selbst als zu dem Chirurgen.
Zum ersten Mal gestand Maria sich selbst schonungslos ein, warum sie bei aller Liebe eine gewisse Distanz zu Paul wahrte.
„Ich freue mich, weil ich insgeheim auf diesen Anruf warte, damit ich sicher sein kann, dass es ihm gut geht und nichts Schlimmes passiert ist. Bei dem, was er tut, kann ihm jeden Tag etwas passieren. Das ist kein Leben für mich. Ich mag ihn sehr, aber ich möchte nicht immerzu Angst um ihn haben müssen.“
Jetzt kehrten Marias Gedanken zu der Patientin zurück.
„Diese Patientin hatte manchmal ein Zwicken im Bauch, bei dem sie sich nicht viel gedacht hat. Es wurde schlimmer. Mit ein paar Schmerztabletten über den Tag verteilt ließ es sich aushalten, und sie hatte viel zu tun und keine Zeit, zum Arzt zu gehen wegen ein bisschen Bauchweh“, sagte sie nachdenklich.
Thomas war nicht in der Notaufnahme gewesen, als die Patientin eingeliefert worden war, und doch wusste er nur zu genau, was in etwa sie seinem Kollegen dort gesagt hatte. Es war immer dasselbe. Die Patienten warteten zu lange, und manchmal kostete sie das ihr Leben.
„Schlagen die Antibiotika an und hat sie eine gute Immunabwehr, wird sie sich erholen und genesen. Falls nicht, wird sie bald wieder hier liegen, und wir werden alles tun, um ihr Leben zu retten, aber ob wir es schaffen …“, deutete er den möglichen negativen Ausgang an.
Maria öffnete den Mund, um ihn zu unterbrechen, aber Thomas sprach schnell weiter.
„Im Leben gibt es keine Sicherheit, und es endet immer mit dem Tod. Heiratest du einen Finanzbeamten, der jeden Tag pünktlich um dieselbe Zeit aus dem Finanzamt nach Hause kommt, kann er von der Straßenbahn überfahren werden oder einen Herzschlag erleiden auf dem Klo. Jede Begegnung mit unseren Lieben kann die letzte sein.“
Der Chirurg betrachtete seine Kollegin mit ernster Miene.
„Maria, wir arbeiten seit Jahren zusammen im OP und haben immer wieder mit dem Tod zu tun – dem überraschenden, auf den man sich nicht vorbereiten kann, und dem, der auf sich warten lässt. Der Tod gewinnt am Ende immer.“
„Das ist nicht dasselbe!“, widersprach sie heftig. „Natürlich kann jedem von uns etwas passieren, und das Leben ist grundsätzlich unberechenbar. Das weiß ich wohl. Aber nicht jeder von uns riskiert jeden Tag sein Leben, sobald er sich auf den Weg zur Arbeit macht. Stirbt ein lieber Mensch durch einen Unfall, ist das schlimm, aber man rechnet nicht ständig damit und lebt nicht in der permanenten Angst davor.“
„Menschen wie Paul werden gebraucht. Willst du ihm seinen Beruf zum Vorwurf machen? Sabine wirft mir regelmäßig vor, dass ich das Operieren mehr liebe als sie und ihr zu wenig Zeit widme. Ich wünschte, ich könnte ihr mehr Zeit widmen, aber ich bin nun einmal Chirurg. Das war ich auch schon, als sie mich geheiratet hat, nur dass sie es mir damals noch nicht vorgeworfen hat, aber das ist eine andere Geschichte. Entschuldige!“
„Paul und ich sind jetzt seit einem guten Jahr zusammen, und es war eine wirklich schöne Zeit. Warum kann er es nicht dabei belassen? Warum will er unbedingt mehr?“, klagte Maria.
„Irgendwann müsst ihr klären, ob ihr zusammenbleibt oder nicht. Du bist einunddreißig und willst Kinder. Er ist bereit, eine Familie zu gründen, und wünscht sich, dass dieser neue Lebensabschnitt beginnt. Wie lange möchtest du die Entscheidung denn vor dir und ihm herschieben? Fair ist das nicht, vor allem nicht, wenn du im Grunde längst weißt, dass deine Antwort Nein sein wird.“
„Warum trittst du eigentlich für ihn ein und nicht für mich? Mich kennst du länger“, brummelte Maria, die nur zu genau wusste, dass es kein Aufschieben mehr gab. Sie wollte Paul nicht verlieren, aber da sie ihm nicht geben konnte, was er sich wünschte, stand der Abschied bevor, den sie fürchtete.
Die Paare waren einige Male zusammen ausgegangen, und es waren immer heitere, schöne Abende gewesen. Maria mochte Thomas’ Frau, wenn sie auch keine Freundinnen werden würden. Sabine Gruner drehte sich in ihren Gedanken meist um sich und um das, was sie wollte und brauchte. Für den Beruf ihres Mannes hatte sie keinerlei Verständnis, wenn sie es auch gerne Fremden gegenüber betonte, dass ihr Mann nicht nur Arzt, sondern Chirurg war.
„Ich mag Paul. Er passt zu dir, und er wird dir nie deine Arbeitszeiten vorwerfen, weil seine eigenen mindestens genauso schlimm sind. Unterschätze nicht den Vorteil, den das für eine stabile, friedliche Beziehung haben kann“, antwortete Thomas mit seiner gewohnten, leichten Ironie.
„Ist es gerade wieder so angespannt zwischen Sabine und dir?“, wechselte Maria das Thema, und für die restliche Zeit, bis sie sich in ihre Bereitschaftszimmer zurückziehen konnten, diskutierten sie Thomas’ Eheprobleme, für die es letztendlich keine Lösung gab.
Falls seine Frau sich nicht allmählich mit seinem Beruf arrangierte, war es besser, wenn sie sich trennten, aber das wollten beide nicht.
***
Paul spürte gleich, dass es nicht der richtige Tag war, aber er konnte das Antragsprogramm, nachdem es einmal angerollt war, nicht mehr stoppen. Mario hatte sich mit wahrer Begeisterung ins Zeug gestürzt und ließ nichts aus.
Der reservierte Tisch war mit roten Rosenblättern bestreut. Kerzen brannten in Herzform. Ein Geiger spielte von der Vorspeise an, und Paul fühlte sich von dem älteren Musiker, der ständig um den Tisch herumging, während er Liebesschnulzen geigte, geradezu belästigt. Wie eine lästige Fliege hätte er ihn gerne weggescheucht, aber das brachte er nicht fertig, und so litt er.
Maria wirkte niedergeschlagen und war nicht so heiter und offen, wie er sie kannte. Sie hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen und schien mit Grauen auf den nächsten Streich zu warten, der da kam. Rosen, Herzchen und Geiger ließen keinen Zweifel, in welche Richtung diese peinliche und peinvolle Inszenierung ging, und von Vorfreude oder Erwartung merkte er nichts bei ihr. Eigentlich war das Antwort genug.
„Das Essen ist gut“, lobte Paul schwerfällig und brach das lastende Schweigen, das sonst nie zwischen ihnen herrschte.
„Ja, die Antipasti sind hier einfach genial“, stimmte Maria ihm zu, und dann war es wieder still zwischen ihnen.
„Es tut mir leid!“, entschuldigte sich Paul nach ein paar Minuten verlegen, als er die Anspannung nicht mehr ertrug. Sie hatten den Hauptgang überstanden, und das Dessert würde gleich gebracht werden. Er musste diese verfahrene Situation irgendwie retten, damit nicht alles noch in einer endgültigen Katastrophe endete. Ehrlichkeit war die letzte Waffe, die ihm blieb.
„Ich wollte alles perfekt machen, und jetzt komme ich mir nur noch lächerlich vor. Es ist einfach viel zu viel.“
Maria sah in seine Jammermiene und musste plötzlich lachen.
„Viel, viel zu viel, und das Eigentliche hast du im Eifer des Gefechtes völlig vergessen. Wenn ich die ganze Inszenierung richtig deute, fehlt noch etwas.“
„Das kommt mit dem Dessert und ist in deinem Eisbecher versteckt. Mario fand das romantisch, und ich kenne mich da doch nicht so gut aus und dachte …“ Paul lächelte hilflos und zuckte die Achseln.
„Ich kenne mich da, ehrlich gesagt, auch nicht so gut aus, und ich glaube, ich bin nicht der romantische Typ“, gestand Maria. „Paul, ich hatte Angst, dass du mir diese Frage stellst, weil ich dir nicht die Antwort geben kann, die du dir erhoffst.“
Der letzte Glanz in seinen Augen erlosch. Er war ihr dankbar, dass sie ihn ausbremste, bevor er die alles entscheidende Frage hatte stellen können. Nach Marios Anweisung hätte er es auf Knien getan, und ihre Ablehnung wäre dann noch unerträglicher gewesen – falls das überhaupt möglich war.
„Ich dachte, du … Ich meine, ich empfinde sehr tief für dich und dachte, du … Das ist nicht wichtig. Ich habe mich getäuscht, und das alles tut mir unendlich leid!“, stammelte er.
„Idiot!“, unterbrach sie ihn streng. „Du hast dich nicht getäuscht, auch ich empfinde etwas für dich und … Ich habe mich in dich verliebt, Paul, aber das macht es nur schlimmer. Es liegt nicht an dir. Du bist ein toller Mann, und ich fühle mich geborgen bei dir, aber ich komme mit deinem Beruf nicht klar.“
Maria hielt es für das Beste, das heikle Thema jetzt offen anzusprechen.
„Ich könnte in der Verliebtheit jetzt so tun, als ob es mir nichts ausmachte, und mir einreden, dass ich mich daran gewöhnen werde, aber das wäre naiv. Du setzt dein Leben jeden Tag ein Stück weit aufs Spiel, wenn du in deinen Dienstwagen steigst. Und ich möchte keine Angst um dich haben und versuche, meine Gefühle zu ignorieren, aber sie sind da. Ich bin dafür nicht geschaffen. Du brauchst eine Frau, die stärkere Nerven hat als ich, die gelassener ist. Verstehst du das?“
Bittend sah sie ihn an, denn das Letzte, was sie wollte, war, ihm Kummer zu bereiten, und doch konnte sie seinen Antrag nicht annehmen. Sie wollte nicht irgendwann zu einer Frau wie Sabine Gruner werden, die ihrem Mann mit ihren Vorwürfen das Leben schwer machte, obwohl sie im Vorfeld hätte wissen müssen, auf was für ein Leben sie sich mit einem Chirurgen als Ehemann einließ.
„Mein Beruf?“ Paul sah sie fassungslos an. „Ich kann doch auf mich aufpassen und …“
„… Manuel ist dein Schutzengel und lässt nicht zu, dass dir etwas passiert. Ich weiß. In der Welt, mit der du in Kontakt kommst, gibt es so viel Gewalt, Erpressung und Schmutz. Menschlichkeit ist darin kaum zu finden oder Erbarmen. Du redest nicht darüber. Fast jede Nacht, wenn du bei mir schläfst, hast du Albträume.“
„Das wusste ich nicht. Es tut mir leid!“, sagte er leise.
„Darum geht es doch nicht, Paul. Ich möchte einen Mann, der mir von den Dingen erzählen kann, die er tagsüber erlebt, mit dem ich mich austauschen kann, ohne dass er mich beständig schonen muss. Zwischen deiner und meiner Welt klafft ein Abgrund, über den sich nicht so leicht eine Brücke schlagen lässt. Ich wünschte, ich wäre anders, aber etwas in mir sehnt sich nach einem Hauch von heiler Welt“, fuhr Maria traurig fort.
Noch immer zutiefst enttäuscht schaute Paul sie an, ohne sie zu unterbrechen.
„Im OP bekomme ich selbst so einiges mit, was im Leben passieren kann. Zu Hause möchte ich mich einkuscheln dürfen. Und dazu kommt, dass ich mir Kinder wünsche. Du hast das Zeug zu einem wundervollen Vater, Paul. Ich sehe das, aber so gerne ich dich auch habe, bist du kein Mann, mit dem ich mein Leben verbringen könnte.“
Ohne es überhaupt zu bemerken, hatte Paul den Geiger mit einer Handbewegung verscheucht. Der Musiker packte beleidigt sein Instrument zusammen und ging davon.
Jetzt kam Mario mit einer künstlerisch verzierten Eisbombe aus der Küche, auf der zwei Schwäne thronten, die schnäbelten. Als er Pauls und Marias Blicken begegnete, zog er sich dezent wieder damit zurück.
„Ich wünschte, ich hätte nicht gefragt und wir könnten weitermachen wie bisher!“, sagte Paul traurig.
„Ich auch!“
Sie sahen sich bedauernd an.
„Jetzt brauche ich erst einmal etwas Abstand, um meine Wunden zu lecken und na ja … Ich brauche Zeit für mich, um wieder in meinem Leben anzukommen, wie es ist. Es war schön, von einer Familie zu träumen und allem, was damit so zusammenhängt – heimkommen nach dem Dienst. All solche Dinge eben“, gestand Paul.
In Marias Augen schimmerten Tränen, aber sie verstand ihn gut. Sie konnten nicht einfach so tun, als ob sich nichts zwischen ihnen verändert hätte. Beide sehnten sie sich nach mehr, und da sie es nicht beieinander finden konnten, war es am besten, wenn sie sich zumindest für eine Weile nicht mehr sahen, so weh ihr der Gedanke auch tat.
„Können wir Freunde sein – irgendwann?“, wollte er wissen und sah ihr bittend in die Augen.
„Paul, wir sind Freunde, unabhängig von allem sind wir Freunde, und das werden wir auch immer sein!“, beteuerte sie.
Sie lächelten sich an. Wie immer fuhr Paul Maria nach Hause, aber er kam nicht wie sonst noch mit hoch zu ihr und blieb über Nacht. Sie gaben sich zum Abschied auch keinen Kuss, obwohl sie sich beide danach sehnten, dem anderen noch einmal ganz nahe zu sein. Die Angst war zu groß.
„Mach es gut! Man hört voneinander!“, sagte Paul, als Maria ausstieg.
„Du auch!“
***
Lisa Treibels Beerdigung war ein furchtbar trauriges Ereignis. Völlig in ihrer Trauer verloren, standen die Eltern am Grab. Der Vater wirkte unnahbar und kalt in seinem Kummer. Die Mutter schluchzte bitterlich und konnte sich kaum auf den Beinen halten, aber ihr Mann stand unbeteiligt neben ihr und stützte sie nicht.
Lisas ganze Kursstufe vom Gymnasium war gekommen, und die jungen Leute standen zutiefst betroffen an ihrem Grab und konnten nicht fassen, dass eine von ihnen nicht mehr da war. Sie standen doch noch ganz am Anfang, planten ihre Karrieren und träumten ihre Träume. Der Tod stand nicht auf ihrem Programm, und doch war die Erste von ihnen gegangen.
„Lisa war immer so vernünftig! Sie war immer gegen Drogen und irgendwelche Experimente“, hörte Paul eines der jungen Mädchen ungläubig sagen. „Sie hat ganz selten einmal eine Pille eingeworfen und mochte es nicht einmal sonderlich. Warum ausgerechnet sie? Ich begreife das nicht.“
Andere wirkten eher wütend und sauer als traurig. Sie nahmen Lisa übel, dass sie es nicht geschafft hatte, und wussten nicht, wohin mit ihren Gefühlen. Paul hatte schon an zu vielen solcher Beerdigungen teilgenommen. Sie waren ein regelmäßig wiederkehrender Bestandteil der Welt, in der Maria nicht mit ihm leben wollte. Es tat weh.
Abseits von der großen Trauergemeinde stand ein junger Mann hinter einem Baum und sah zum Grab herüber. Paul erkannte auf einen Blick, dass es ein Heroinabhängiger war. Die Drogen hatten ihn ausgezehrt. Er war hager, seine Gesichtsfarbe gelblich blass. Man sah ihm an, dass sein Körper an einer Grenze war und nicht mehr lange durchhalten würde, was er ihm mit dem Gift antat, das er schluckte und spritzte.
Obwohl Paul den vielleicht Zwanzig- oder Einundzwanzigjährigen nie in Lisas Gesellschaft gesehen hatte, war ihm klar, dass die jungen Leute zusammen gewesen sein mussten. Lisa hatte nie jemanden mitgebracht, wenn sie zu ihren Eltern gekommen war und um Geld für Drogen gebettelt hatte, aber sie hatte mehrfach erwähnt, dass es da jemanden gab, bei dem sie wohnte.
„War es das wert? War das den kurzen Kick wert, den das Zeug euch verschafft, bevor es euch umbringt?“
Unauffällig hatte sich Paul von der Trauergemeinde entfernt, einen Bogen geschlagen und sich unbemerkt hinter den Jungen gestellt.
„Hast du sie auf das Zeug gebracht?“, fragte er eisig.
Der Junge fuhr erschrocken zu ihm herum. Seine Wangen waren von Tränen feucht, und der Schmerz in seiner Miene sprach Bände. Lisa war ihm nicht gleichgültig gewesen.
„Sie sind der Drogenfahnder, oder? Lisa hat mir von Ihnen erzählt“, sagte er, als er sich etwas gefangen und den ersten Schreck überwunden hatte. „Lisa und ich haben uns kennengelernt, als sie schon abhängig war. Wir wollten aufhören. Wir wollten uns das Zeug nie wieder spritzen“, beteuerte er mit Tränen in der Stimme.
„Tatsächlich?“, bemerkte Paul spöttisch, der das schon oft gehört hatte.
„Ich lüge Sie nicht an! An dem Abend war ich bei Freunden, die mir Hilfe angeboten hatten. Sie sind mit mir in die Schule gegangen, und als sie mich so gesehen haben, waren sie sauer und … Ihr Vater leitet eine große Klinik, und sie haben gesagt, dass ich mich melden soll, wenn ich ernsthaft aufhören möchte“, erzählte der Junge.
Paul unterbrach ihn nun nicht mehr und ließ ihn reden.
„Bei ihnen war ich und habe mit ihrem Vater gesprochen wegen eines Platzes in einer Entzugseinrichtung. Lisa habe ich davor noch zum Haus ihrer Eltern gebracht. Anschließend wollten wir uns wieder bei mir treffen und über unsere Möglichkeiten reden, aber sie ist nicht gekommen.“ Er verstummte, weil Tränen seine Stimme erstickten.
Ob es vielleicht doch stimmte, was der Junge da erzählte, fragte Paul sich nun.
„Ich dachte, ihre Eltern hätten sie nicht mehr gehen lassen und gleich in eine Klinik gebracht. Ich dachte, es wäre alles gut und … Wir wollten doch aufhören und ganz neu zusammen anfangen. Wir wollten studieren und etwas aus unserem Leben machen und … Wir haben uns geliebt und …“
„Was hat der Vater deiner Freunde gesagt?“, erkundigte Paul sich in nüchternem Ton.
„Er wollte mich in der Berling-Klinik aufnehmen, mich gründlich durchchecken lassen und dafür sorgen, dass ich direkt von der Klinik aus in den Entzug komme. Doktor Holl war klasse. Er war streng und hat mir nichts vorgemacht. Es hat ihm und seiner Frau überhaupt nicht gefallen, dass Marc und Dani noch Kontakt zu mir haben. Und doch war er bereit, mir zu helfen.“
Über Maria, die in der Berling-Klinik arbeitete, hatte Paul an einem Abend auch Bekanntschaft mit Stefan und Julia Holl gemacht. Dr. Stefan Holl leitete die Berling-Klinik. Maria und er waren bei dem Klinikleiter und seiner Familie zusammen mit der halben Klinikbelegschaft zu einer fröhlichen und bunten Gartenparty eingeladen gewesen, die jedes Jahr einmal stattfand.
Zusammen mit Kollegen und Freunden von Maria hatten sie bei den Holls einen ausgelassenen Abend verbracht. Dabei hatte Paul auch die Zwillinge der Holls, Marc und Dani, kennengelernt, die wie der Junge etwa zwanzig Jahre alt sein mussten. Offenbar sagte er die Wahrheit.
„Wie heißt du?“
„Patrick Steger. Lisa und ich wollten aufhören, das müssen Sie mir glauben, und ich verstehe nicht, wie sie an das Zeug gekommen ist. Sie hatte kein Geld, und ich habe sie doch zu ihren Eltern gebracht. Wir wollten aufhören! Ich hätte warten müssen, bis sie im Haus ist. Ich hätte warten müssen!“, warf er sich vor und krümmte sich vor Kummer.
„Warum bist du hier und nicht in der Berling-Klinik?“, fragte Paul provozierend, ohne auf seine Selbstvorwürfe einzugehen.
„Lisa und ich …“
„Lisa ist tot und wird nicht wieder lebendig. Du lebst. Ehre sie, indem zumindest du etwas aus deinem Leben machst! Du bist auf Entzug“, stellte Paul fest, dem auffiel, wie sehr die Hände des Jungen zitterten, und er sah auch, dass Schweißperlen auf seiner Stirn standen.
Patrick nickte.
„Allein kommst du da nicht raus, und ein kalter Entzug ist lebensgefährlich. Willst du clean werden und mit den Drogen aufhören?“
„Ja!“
„Dann bringe ich dich jetzt auf der Stelle in die Berling-Klinik!“, entschied Paul. Die Beerdigung war fast vorüber, und er wollte nicht, dass die trauernden Eltern auf den Jungen stießen.
Patrick folgte ihm zu seinem Wagen und stieg schweigend ein. Er weinte nicht mehr, aber die Traurigkeit, die von ihm ausging, war unermesslich tief.
„Sie hatte keinen Cent in der Tasche. Jemand hat ihr das Zeug gegeben, obwohl sie nicht bezahlen konnte“, sagte er, als Paul vor der Notaufnahme der Klinik parkte. „Das tun die nur, wenn sie verhindern wollen, dass man loskommt. Lisa hätte es geschafft. Sie war stark. Die haben ihr einen Freischuss geschenkt und sie damit umgebracht.“
„Sie hätte sich den Schuss nicht setzen müssen, Patrick. Und bevor sie ihr diesen Freischuss schenken konnten, muss sie zu einem Dealer gegangen sein und ihn angefleht haben, ihr etwas zu geben. Schiebe die Verantwortung nicht komplett von Lisa weg.“
„Warum hat der Dealer sie nicht weggejagt wie sonst, wenn wir kein Geld hatten? Warum hat er ihr ausgerechnet an diesem Abend etwas gegeben? Wir hatten angefangen, die Dosis zu reduzieren, weil wir dachten, wir könnten es ohne Hilfe schaffen. Wir waren dumm. Lisa konnte nicht mehr einschätzen, wie viel sie verträgt.“
„Das ist schlimm und sehr traurig, aber trotz allem hat sie die Spritze selbst aufgezogen. Wenn du davon loskommen willst, darfst du nie vergessen, dass es bei dir liegt. Der Drang, sich das Zeug zu besorgen und sich eine Nadel zu setzen, wird bleiben, vielleicht für immer. Ob du es tust oder dir Hilfe suchst und widerstehst, das liegt jedes Mal wieder allein bei dir. Der nächste Dealer wird immer gleich ums Eck zu finden sein. Es liegt bei dir!“
„Ich weiß“, sagte der Junge leise und verstummte.
„Bist du stark? Wirst du es schaffen?“ Paul sah ihm fest in die Augen, als sie vor der Tür der Notaufnahme standen. Wenn der Junge nicht an sich glaubte, dann hatte er kaum eine Chance. So leicht es war, von Heroin körperlich abhängig zu werden, so schwer war der körperliche und seelische Entzug.
„Für Lisa!“, sagte Patrick.
„Und wirst du es auch für Patrick schaffen?“
Es blieb lange still.
„Ich weiß nicht, ob er es wert ist, für ihn zu kämpfen, aber für Lisa werde ich kämpfen“, sagte Patrick schließlich.
Ehrlichkeit war ein erster Schritt und ein guter Anfang. Paul wünschte dem Jungen alles Gute. Er hatte schon einige Abhängige so weit gebracht, einen Entzug zu machen. Viele hatten abgebrochen, und einige von ihnen waren inzwischen tot. Eine Handvoll Menschen hatten es aber auch geschafft und lebten ihr Leben.
An manchen Tagen war es schwer, die Hoffnung aufrechtzuerhalten und daran zu glauben, dass seine Arbeit sinnvoll war. Es gab Tage, an denen er überlegte, sich eine völlig neue Existenz aufzubauen. Vor allem seit Maria seinen Antrag abgelehnt hatte, ging ihm das immer wieder durch den Kopf, und doch hielt ihn etwas zurück.
Vielleicht gehörte Patrick zu denen, die den Entzug nicht schafften, aber vielleicht auch nicht. Vielleicht machte genau dieser Tag einen entscheidenden Unterschied im Leben dieses jungen Menschen und brachte ihn so weit, die Sucht zu besiegen und an sich zu glauben.
In der Notaufnahme rief man Dr. Holl an, und der Klinikleiter kam tatsächlich persönlich, um Patrick aufzunehmen und noch einmal mit ihm zu sprechen. Paul übergab dem Arzt die Verantwortung, verabschiedete sich und wandte sich zum Gehen.
„Danke! Darf ich Sie einmal anrufen?“, rief Patrick ihm nach.
„Gerne!“, antwortete Paul, dann ging er, ohne sich umzudrehen. Der Junge musste die Kraft in sich selbst finden, den Drogen zu widerstehen, so schwer das auch war. Dabei konnte ihm keiner helfen.
***
Sechs Monate waren verstrichen. Ganz langsam gelang es Paul, an Maria zu denken, ohne dass es wehtat. Er vermisste sie, aber daran hatte er sich gewöhnt. Noch fehlte ihm der Mut, sich wieder bei ihr zu melden. Seit dem misslungenen Antrag hatte er sie weder gesehen noch gesprochen.
Ihm lag an ihrer Freundschaft, und er wollte gerne wieder Kontakt zu ihr haben, aber noch hielt ihn die Furcht zurück, seine Gefühle nicht im Griff zu haben. Nach einem halben Jahr hatte sie sicher einen neuen Freund, und er wünschte ihr, dass es ihr gut ging und sie ihr Leben genoss.
Paul wünschte es ihr von Herzen. Er war sich nur nicht ganz sicher, ob er so weit war, sie im Arm eines anderen Mannes zu sehen. Manchmal nahm er das Telefon zur Hand und wollte ihre Nummer wählen, aber dann tat er es doch nicht. Es war zu früh, und er ahnte, dass es unter Umständen immer zu früh sein würde, bis es zu spät war.
Sein Leben verlief wieder in den gewohnten Bahnen. Er arbeitete viel, kam er heim, war der Kühlschrank leer, und wenn er Hunger hatte, bestellte er sich eine Pizza. In seiner Wohnung herrschte karge Sauberkeit. Gemütlichkeit gab es bei ihm nicht, und es verlangte ihn auch nicht mehr danach.
Paul war ein attraktiver Mann, und Frauen signalisierten ihm immer einmal wieder, dass er Chancen bei ihnen haben könnte, aber er achtete nicht darauf. Maria war etwas Besonderes gewesen. Sie hatte ihn vom ersten Moment an fasziniert und würde das immer tun. Die meisten Frauen langweilten ihn rasch.
Er hätte nicht sagen können, ob er mit seinem Leben nun zufrieden oder unzufrieden war. Maria fehlte mit ihrem Lachen, ihrem Spott und ihrer erfrischend bodenständigen Art. Er hätte seine Zeit gerne mit ihr verbracht und etwas ganz Neues und ganz anderes gemeinsam mit ihr aufgebaut. Das wäre schön gewesen. Da es nicht möglich war, richtete er sich in dem ein, was er kannte.
Patrick Steger hatte sich in den ersten Monaten ein paarmal bei ihm gemeldet. Der junge Mann kam nicht mit seiner Trauer zurecht. Er kämpfte sich durch den Entzug und hatte bisher keinen Rückfall. Das war eine beachtliche Leistung. Lisas Verlust konnte er allerdings nicht verkraften, und damit war er nicht allein.
Lisas Mutter verbrachte jeden Tag Stunden auf dem Friedhof und richtete das Grab der Tochter. Sie hatte sich völlig in ihrer Trauer verloren und nahm kaum noch etwas von dem wahr, was um sie her geschah. Ihr Mann war schweigsam geworden und zog sich mehr und mehr in sich zurück.
Früher war es ihm spielend gelungen, seine Kunden für die Antiquitäten zu begeistern, die er anbot. Das war ihm leichtgefallen, weil er große Freude an den alten Gegenständen hatte und über ein großes Wissen verfügte. Inzwischen interessierte ihn der ganze Plunder nicht mehr, wie er es nannte.
Er wusste nicht mehr, für was oder wen er im Laden stand. Lisa war sein einziges Kind gewesen. Das Licht in seiner Frau war erloschen. Sie konnte sich über nichts mehr freuen und wusste nicht mehr, wie man lachte. Er sah absolut keinen Sinn mehr darin, das Geschäft noch weiterzuführen.
Sein Leben war vorbei, auch wenn seine Frau und er weiterhin morgens aufstanden und sich abends wieder nebeneinander ins Bett legten, als ob es noch eine Bedeutung hätte, was sie taten. Jeden Morgen zwang er sich, dieses Spiel mitzuspielen, weil man es eben spielen musste, bis man sterben durfte.
„Ich würde alles verkaufen, aber was dann?“, sagte er einmal zu Paul, als sie sich vor dem Laden auf dem Bürgersteig unterhielten. „Was sollen wir dann machen? Es ändert nichts. Irgendwie müssen wir eben weitermachen.“ Müde hatte er mit den Achseln gezuckt und war anschließend in seinen Laden gegangen.
Paul hatte Trauer und Verlust noch nie so nahe miterlebt. Er war erschüttert und bereit, alles zu tun, damit ein junges Mädchen wie Lisa nicht mehr derart sinnlos sterben musste. Es bestärkte ihn darin, weiter gegen die Drogenmafia vorzugehen, so gut es ging.
Es war ein Samstagabend, an dem er bei einer aufgewärmten Pizza und einem Dosenbier vor dem Fernseher saß, als es bei ihm klingelte. Er hatte keine Freunde, die überraschend hätten vorbeikommen können, und seine Eltern lebten im Bayrischen Wald und meldeten Besuche Wochen vorher an in der Hoffnung, ihn dann vielleicht zumindest für einen Abend zu sehen.
Lustlos ging er zur Gegensprechanlage und rechnete damit, dass jemand um Einlass bat, der nicht ins Haus gehörte, und hoffte, dass er dumm genug war, ihn hereinzulassen.
„Herr Rabe, darf ich kurz hochkommen? Bitte!“, drängte eine bekannte Stimme.
„Patrick?“
„Bitte, Herr Rabe, ich darf hier nicht so lange stehen, das ist nicht gut!“, drängte der junge Mann.
Paul drückte auf den Türöffner und hatte ein ungutes Gefühl. Vor zwei Monaten hatte er das letzte Mal mit Patrick gesprochen. Da war der junge Mann gerade aus der Klinik entlassen worden und hatte ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft von Studenten gefunden. Er hatte vorgehabt, ein Studium zu beginnen.
„Patrick, was ist passiert?“, fragte Paul alarmiert, als der Junge vor ihm stand. Er wirkte gehetzt und unruhig. Nahm er wieder Drogen?
„Ich weiß, wie ich aussehe, aber ich bin noch clean, Herr Rabe. Sehen Sie!“ Patrick streckte Paul seine Arme entgegen, an denen keine frischen Einstiche zu entdecken waren. „Sie können meinen ganzen Körper untersuchen. Ich habe das Zeug noch nicht genommen, und wenn es sich vermeiden lässt, tue ich es auch nicht“, versprach er.
„Warum sollte es sich nicht vermeiden lassen? Es liegt an dir, ob du …“, begann Paul zu dozieren, aber Patrick hörte ihm nicht zu und winkte ungeduldig ab.
„Herr Rabe, morgen kommt eine Lieferung Heroin mit dem Flugzeug rein. Sie wird dringend erwartet. Es herrscht Mangel, und die Vorsichtsmaßnahmen wurden gelockert, weil der Stoff auf der Straße gebraucht wird. Sie können das Zeug noch auf dem Flughafen abfangen und aus dem Verkehr ziehen. Können Sie es wie eine Routinekontrolle aussehen lassen. Geht das?“, unterbrach er ihn.
„Woher weißt du davon?“, fragte Paul misstrauisch. „Machst du gerade Unsinn? Patrick? Hast du angefangen zu dealen?“
„Nein! Es war Zufall. Ich war vor ein paar Wochen im Studentensekretariat, um mich zu immatrikulieren. Ich studiere Betriebswirtschaftslehre. Ein Student stand vor mir, den ich vom Sehen her kenne. Er ist der Sohn eines der ganz wichtigen Männer in der Drogenszene Münchens. Das ist doch unglaublich, oder?“, sagte er.
Der junge Mann schien sich selbst noch immer über dieses Zusammentreffen zu wundern.
„An so jemanden kommt man normal nie ran, und da stand er direkt vor mir. Wir haben uns unterhalten. Am anderen Tag war ich in der Villa seines Vaters. Es ist einfach passiert. Ich weiß, auf was es ankommt, wie man sich geben muss. Ich kann cool sein.“
„Bist du verrückt? Was du da treibst, ist lebensgefährlich, und wenn denen klar wird, dass du sie ausspionierst, dann kann dich niemand retten“, hielt Paul ihm vor.
„Ich weiß das, Herr Rabe. Bitte! Für Lisa! Bitte! Ich hätte sie viel früher dazu bringen müssen, mit dem Spritzen aufzuhören. Sie könnte noch leben, wenn ich schneller gewesen wäre. Sie würde noch leben, wenn ich vor dem Haus ihrer Eltern stehen geblieben wäre und gewartet hätte, bis sie drin ist. Für Lisa!“
„Lisa wird nicht wieder lebendig davon, wenn du stirbst!“, knurrte Paul.
„Ich kann nicht weitermachen, als ob es sie nie gegeben hätte. So eine Möglichkeit ergibt sich doch so gut wie nie, oder? Toni, der Sohn, betrachtet mich inzwischen als Freund, und sein Vater hält mich für einen cleveren Jungen, mit dem sich etwas anfangen lässt.“
„Tatsächlich? Und deshalb verrät er dir nach so kurzer Zeit, wann Drogen in die Stadt geschmuggelt werden? So dumm kannst du nicht sein!“
„Nein, natürlich nicht! Ich habe zufällig ein Telefonat mit angehört, und würde ich nicht wissen, mit wem ich es zu tun habe, wäre es harmlos gewesen. Niemand ahnt, dass ich Bescheid weiß, Herr Rabe. Toni fängt an, Andeutungen zu machen, und möchte mich rekrutieren. Ich nehme einmal an, dass er es im Auftrag seines Vaters tut.“
„Dann sage ihm, dass du von Drogen gründlich die Nase voll hast, und jage ihn zum Teufel! Patrick, du rutschst da in etwas hinein. Zieh die Notbremse und steige rechtzeitig aus!“, ermahnte Paul ihn.
„Herr Rabe, ich werde diesen Kontakt ausbauen und versuchen, an Informationen zu kommen, mit denen Sie diesem Mann das Handwerk legen können. Ob Sie es mir erlauben und mich unterstützen oder nicht. Ich werde weitermachen. Das bin ich Lisa schuldig.“
Paul versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen, aber Patrick blieb unbelehrbar. Er war fest entschlossen, als Informant für die Polizei tätig zu werden, und ließ sich davon nicht abbringen. Irgendwann gab Paul auf und warnte ihn vor den unterschiedlichsten Gefahren, die drohen konnten.
„Was ich tue, ist richtig!“, sagte Patrick, als er weit nach Mitternacht ging.
„Dumm ist es, Junge, sehr dumm!“
***
Es ging durch die Presse, dass die Polizei eine Drogenlieferung auf dem Münchner Flughafen sichergestellt hatte. Paul hatte niemanden über den Hinweis informiert, nicht einmal Manuel. Erst kurz vorher forderte er Suchhunde und mehrere Kollegen an, weil er rein zufällig etwas Verdächtigtes am Flughafen bemerkt hatte.
„Erzähl mir keinen Unsinn! Woher hast du davon gewusst? Wer ist dein Informant?“, wollte Manuel wissen, der ihm kein Wort glaubte.
„Informant? Ich habe keinen bestimmten Informanten. Ich habe etwas auf der Straße aufgeschnappt und die richtigen Schlussfolgerungen gezogen, das ist alles“, log Paul selbst seinen Partner an.
Manuel hätte auf Fragen ihres Vorgesetzten sein Wissen preisgeben müssen, und Paul wollte Patrick schützen um jeden Preis. Seiner Überzeugung nach gab es ein Informationsleck bei der Polizei. Anders konnte er sich all die gescheiterten Einsätze nicht erklären. Patricks Existenz blieb sein Geheimnis.
In den kommenden Monaten fand Paul hin und wieder einen nicht beschrifteten Briefumschlag in seiner Post, oder er bekam eine Nachricht auf sein Handy von einem Wegwerftelefon. Patricks Hinweise erwiesen sich immer als zutreffend, und der Polizei gelangen einige Zugriffe und Drogenfunde. Das Schicksal hatte sich gewendet.
Die Drogenbosse hatten keinen Grund mehr für böse Scherze wie den Lastwagen mit dem vergammelten Fisch. Sie hatten Einbußen in Millionenhöhe durch die Erfolge der Polizei, und auf der Straße wurde der Stoff knapp und teuer, weil es nicht mehr so einfach war, Nachschub in die Stadt zu bringen.
Paul freute sich über die Siege und darüber, dass die Polizei wieder im Spiel war, wenn es um die Sicherheit auf den Straßen Münchens ging. Aber er machte sich dennoch Sorgen um Patrick. Seit jenem nächtlichen Besuch hatte er den Jungen nicht mehr gesehen.
Einmal stand er ihm völlig unerwartet in einem Nachtklub gegenüber, in dem er Befragungen durchführte. Paul hätte Patrick kaum erkannt. Er trug teure Kleidung, Goldschmuck um den Hals, und die Uhr an seinem Handgelenk hätte ein gutes Auto finanzieren können. Offensichtlich war Patrick inzwischen in der Hierarchie aufgestiegen. Er gab sich arrogant und selbstbewusst, und Paul ließ sich nicht anmerken, dass er ihn kannte.
Auf dem Revier machte Paul sich keine Freunde damit, dass er seinen Informanten nicht nannte, dessen Existenz er kaum noch leugnen konnte. Seine Kollegen empfanden sein stures Schweigen als beleidigend. Es war ein klares Misstrauensvotum an ihre Reihen, und Paul wurde spürbar ausgegrenzt.
Trafen sich die anderen zum Kegeln oder tranken nach dem Dienst noch ein Bier, wurde er nicht mehr eingeladen. Manuel stand zwischen den Stühlen. Vor den Kollegen verteidigte er Paul. Und dabei war er von Paul mindestens so enttäuscht wie seine Kollegen.
„Vertraust du nicht einmal mehr mir, Partner?“, fragte er immer wieder gekränkt.
„Sei kein Idiot! Wir sind Partner und Freunde. Ich vertraue dir bedenkenlos mein Leben an“, antwortete Paul dann frustriert, aber er verriet ihm sein Geheimnis dennoch nicht, um Patrick zu schützen.
Paul hatte immer nur seine Arbeit gehabt und ansonsten ein recht einsames Leben geführt. Die Feindseligkeit seiner Kollegen machte die Einsamkeit schwer zu ertragen. Das war es auch, was ihn schließlich den Mut finden ließ, bei Maria anzurufen.
„Paul? Ist das schön! Ich wollte mich so oft bei dir melden, aber du hattest gesagt, dass du dich meldest, wenn du so weit bist. Gott, ist das schön!“, jubelte Maria in den Hörer. „Wie geht es dir?“
„Es ist schön, deine Stimme zu hören!“, sagte er, und ihm wurde warm ums Herz. Warum hatte er nur so lange gewartet? Sie waren Freunde, auch wenn es die gemeinsame Zukunft nicht geben würde, gab es vieles, was sie verband.
„Ja, mir geht es auch so. Es tut gut, dich zu hören. Was meinst du, sollen wir einmal zusammen etwas trinken gehen?“, fragte sie ihn spontan. „Ich würde mich freuen.“
„Sehr gerne! Ich würde mich auch freuen, dich wiederzusehen.“
Schon am anderen Abend trafen sie sich in einer gemütlichen Kneipe. Es gab so viel zu erzählen, und die alte Vertrautheit und Wärme war nach über zehn Monaten noch da, als ob sie sich am Tag zuvor erst voneinander verabschiedet hätten. Paul genoss jede Minute in ihrer Gesellschaft.
„Bist du wieder mit jemandem zusammen?“, fragte er ganz nebenbei, als er die Rechnung bezahlt hatte und ihr in den Mantel half. Sie hatte mit keinem Wort einen anderen Mann erwähnt, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass eine tolle Frau wie sie so lange alleine blieb.
„Nein. Ich habe mich ein paarmal mit Männern getroffen, und es war nett, aber mehr auch nicht. Du hast Maßstäbe gesetzt, mein Guter. Bis ich einen Mann finde, der es damit aufnimmt, bin ich vermutlich alt und grau, und dann brauche ich das ganze Liebesgedöns auch nicht mehr. Schäm dich!“, meinte sie lachend.
Paul war total erleichtert, als er hörte, dass Maria noch solo war.
„Und du? Du bist doch bestimmt wieder in festen Händen? Zu viel kalte Pizza hält kein Mann aus“, neckte sie ihn nun, weil sie sich noch gut an seinen etwas einseitigen Speiseplan erinnerte, bevor sie meist für ihn mitgekocht hatte.
„Da kennst du mich aber schlecht! Ich habe mir eine Mikrowelle angeschafft, um die Pizza aufzuwärmen. Besonders delikat ist sie am dritten oder vierten Tag. Lecker! Und erst am fünften …“, scherzte er.
„Igitt! Pass auf, irgendwann bekommt sie Beine, und spätestens dann solltest du den Mülleimer in Betracht ziehen. Ich glaube, ich muss dich einmal wieder ordentlich bekochen, damit du etwas Gutes in den Magen bekommst.“
Plaudernd verließen sie das Lokal, und keiner von ihnen hatte Lust, sich vom anderen zu trennen. Unabhängig voneinander ging ihnen auf, wie einsam sie gewesen waren ohne den anderen, aber keiner von ihnen sprach es an. Es hatte keinen Sinn.
„Thomas und Sabine sind am Samstagabend bei mir zum Essen. Hast du Lust, auch zu kommen? Sie würden sich bestimmt freuen, dich zu sehen“, lud sie ihn ein. „Sabine ist schwanger, und die beiden können es kaum erwarten, Eltern zu werden“, erzählte sie von den gemeinsamen Freunden.
Paul zögerte. Er mochte Thomas Gruner. Mit seiner Frau konnte er zwar weniger anfangen, aber er fand sie auch nicht unangenehm. Am Samstag hatte er frei und nichts anderes vor. Er hätte zu gerne einfach zugesagt, aber er wusste nicht, ob es fair und richtig war.
Der gemeinsame Abend hatte ihm klargemacht, dass er Maria wohl immer lieben würde. Ihr natürliche Herzlichkeit und Wärme taten ihm gut, und sie war einfach die Frau, mit der er zusammen sein wollte. Sosehr er sich auch dagegen wehrte, fühlte er sich genau wie früher zu ihr hingezogen.
„Glaubst du, das ist eine gute Idee?“, fragte er gedehnt. Fingen sie wieder etwas miteinander an, nahm er Maria die Chance, sich doch noch in einen anderen Mann zu verlieben und ihren Traum von einer idyllischen Familie zu leben. Irgendwann würde sie ihm das vielleicht nicht verzeihen, denn so gerne er es auch gewesen wäre, für ihren Traum war er nicht der Richtige.
Maria sah ihn lange an. Wie vertraut ihr dieses Gesicht war! Noch nie hatte sie sich einem Menschen so nah und verbunden gefühlt wie Paul. Sie liebte diesen Mann, und doch war alles beim Alten. Ihr Leben mit ihm verbringen und in permanenter Angst um ihn leben, das konnte und wollte sie nicht.
War es unter diesen Umständen eine gute Idee, wenn sie wieder einen derart engen Kontakt pflegten? Alles, was sie damit erreichen konnten, war, dass sie sich noch tiefer verletzten. Die Wunde war so schon tief genug. Bedauernd lächelte sie ihn an.
„Du hast recht. Es ist besser, wenn wir uns nicht zu oft sehen. Können wir dennoch in Kontakt bleiben – mit längeren Abständen?“, bat sie. „So ganz ohne dich – das war nicht schön, gar nicht schön!“
„So ganz ohne dich war es auch nicht schön.“ Er umarmte sie freundschaftlich und zwang sich, sie freizugeben und einen Schritt zurückzutreten.
„Dann bis irgendwann?“
„Bis irgendwann!“
Traurig gingen sie zu ihren Autos und rangen mit sich, um nicht umzudrehen und sich dem anderen an den Hals zu werfen. Maria hätte alles dafür gegeben, anders zu empfinden, aber sie kannte sich. Paul war ein wunderbarer Mann und der Mann, den sie innig liebte, aber mit ihm leben, das konnte sie nicht, so leid es ihr tat.
***
Dani und Marc Holl hatten einen Streit. Es war Sommer, und die Semesterferien hatten begonnen. Sie saßen an einem Sonntagnachmittag auf der Terrasse in dem großen Garten der Villa der Familie und diskutierten heftig, ohne zu einem Kompromiss zu finden, wie es sonst ihre Art war.
Es ging um Patrick, den sie am Abend zuvor nach längerer Zeit wieder einmal in der Fußgängerzone gesehen hatten. Es war ein Schock für sie gewesen, ihn so und in dieser Gesellschaft zu sehen. Sie gingen absolut unterschiedlich mit dem Erlebten um, was bei ihnen so gut wie nie vorkam.
Die Zwillinge stritten selten. Jeder von ihnen ging seinen eigenen Weg, und doch unterstützten sie sich und waren immer füreinander da. Marc Holl setzte die Familientradition der Holls fort. Wie seine Eltern und sein Großvater, Dr. Walter Berling, der die Berling-Klinik gegründet hatte, studierte er Medizin.
Dani interessierte sich mehr für die Grundlagen des Lebens im Allgemeinen und hatte sich für ein Studium der Biologie entschieden. Die Fachgebiete hatten im Grundstudium einige Überschneidungen, und die Zwillinge wohnten nicht nur nach wie vor gemeinsam unter dem Dach ihrer Eltern, sondern trafen auch in der Uni regelmäßig zusammen.
Ihre meisten Freunde teilten sie sich, und auch Patrick war von der fünften Klasse im Gymnasium an ihr gemeinsamer Freund gewesen. In der Schulzeit hatten sie häufiger etwas mit ihm und anderen zusammen unternommen. Die Tatsache, dass er ins Drogenmilieu abgerutscht war, machte ihnen zu schaffen.
Wie hatte das passieren können? Hätte der Freundeskreis das nicht verhindern müssen? Warum waren sie nicht da gewesen, um ihn aufzufangen? Diese Fragen trieben sie um. Als Patrick an jenem Abend gekommen war und ihren Vater um Hilfe gebeten hatte, waren sie froh und erleichtert gewesen.
Sie hatten ihren Freund während des Entzuges und danach unterstützt. Als er beschlossen hatte, sich an der Uni für Betriebswirtschaftslehre einzuschreiben, hatten sie das zusammen mit ihm gefeiert. Dann war er von einem Tag auf den anderen abgetaucht und nicht mehr zu erreichen gewesen.
Auf ihre Meldungen hatte er nicht mehr reagiert, und sie hatten nicht gewusst, ob er sich nun tatsächlich für das Studium eingetragen hatte oder nicht. Heimlich hatten sie natürlich befürchtet, dass er wieder Drogen nahm, als sie nichts mehr von ihm gehört hatten. Ganz geglaubt hatten sie es trotz allem nicht.
Nach der Begegnung in der Stadt an diesem Morgen konnte es daran keinen Zweifel mehr geben. Sein Aussehen, sein Auftreten und seine neuen Freunde sprachen Bände. Das war nicht mehr der Patrick, den sie kannten. Dieser Patrick war kalt, berechnend und offensichtlich hart an der Grenze, ein Krimineller zu werden – falls er diese Grenze nicht bereits überschritten hatte.
„Du hättest nicht auf ihn zugehen und ihn umarmen sollen, Dani!“, warf Marc seiner Schwester seit der Begegnung vor. „Hast du denn die Typen nicht gesehen, mit denen er da unterwegs war? Der Muskelprotz neben ihm ist Rauswerfer in einem der ganz üblen Klubs. Ich habe ihn einmal in Aktion erlebt. Ich sage dir, da geht man gerne freiwillig!“
„Patrick ist unser Freund, und wenn ich ihn sehe, dann begrüße ich ihn und freue mich, egal, mit wem er unterwegs ist!“, verteidigte sich Dani. „Außerdem, was hattest du in diesem Klub verloren, Bruderherz?“
„Das ist eine andere Geschichte. So naiv bist du nicht, Schwesterherz!“ Marc ließ sich nicht vom Thema abbringen und ging über die Frage hinweg, die ihm nicht ganz angenehm war. „Du hast dich und auch ihn damit blamiert, und für was? Um zu demonstrieren, dass es uns auch noch gibt? Das sollte er wissen. Wir waren schließlich für ihn da, als es ihm dreckig ging.“
„Marc, aus dir spricht gekränkte Eitelkeit. Du bist sauer, weil er es nicht geschafft hat, und du hast so etwas wie Dankbarkeit von ihm erwartet, aber das ist doch dumm. Patrick ist drogenkrank. Es ist eine Krankheit“, forderte Dani Verständnis für ihren Freund.