Die besten Ärzte - Sammelband 60 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 60 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1825: Wenn Tränen auf rote Rosen fallen
Notärztin Andrea Bergen 1304: Ein Sommer voller Glück und Liebe
Dr. Stefan Frank 2258: Zeig aller Welt, wie schön du bist!
Dr. Karsten Fabian 201: Das schönste Paar vom Heidedorf
Der Notarzt 307: Stummer Schrei nach Liebe


Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 587

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Katrin Kastell Isabelle Winter Stefan Frank Ina Ritter Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 60

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2016/2017 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © michaeljung / Shutterstock

ISBN: 978-3-7517-6443-8

https://www.bastei.de

https://www.sinclair.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Die besten Ärzte - Sammelband 60

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Chefarzt Dr. Holl 1825

Wenn Tränen auf rote Rosen fallen

Die Notärztin 1304

Ein Sommer voller Glück und Liebe

Dr. Stefan Frank 2258

Zeig aller Welt, wie schön du bist!

Dr. Karsten Fabian - Folge 201

Die wichtigsten Bewohner Altenhagens

Das schönste Paar vom Heidedorf

Der Notarzt 307

Stummer Schrei nach Liebe

Guide

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Contents

Wenn Tränen auf rote Rosen fallen

Dr. Holl und das Schicksal einer verlassenen Braut

Von Katrin Kastell

Ihr Lachen ist wie ein Sonnenstrahl an einem dunklen Regentag, denkt Dr. Stefan Holl, als er Franziska Conradi begrüßt. Das Leuchten in ihren Augen verrät, wie glücklich sie ist!

Und wirklich – Franzi, wie die junge Frau von all ihren Freunden genannt wird, ist unendlich glücklich und verliebt. Von Dr. Holl möchte sie nun wissen, ob sie schwanger ist.

„Ein Baby wäre die Krönung unseres Glücks“, verrät sie dem Arzt. „Daniel, mein zukünftiger Mann, und ich wünschen uns eine große Familie.“

Dr. Holl hört sich die schwärmerischen Worte mit einem leichten Schmunzeln an, doch das Lachen vergeht dem Arzt, nachdem er Franziska untersucht hat. Seine Diagnose wird alle Hoffnungen der jungen Frau mit einem Schlag zerstören …

Dr. Stefan Holl schaute auf die Uhr. Er fühlte sich heute nicht besonders fit, das lag wahrscheinlich an der Hitze. Es war zwar erst Ende Mai, und doch herrschten schon hochsommerliche Temperaturen.

„Na, Annchen, schwitzen Sie heute auch so?“

„Nur unter der Zunge, Herr Doktor“, antwortete die beste Kraft des Chefarztes und lachte. Schwester Annegret legte ihm eine Karteikarte auf den Schreibtisch. „Das ist die letzte Patientin, dann können Sie endlich Mittag machen.“

„Das ist ja schon ein kleiner Lichtblick.“ Stefan Holl seufzte, als er an den Nachmittag dachte. Vielleicht musste er sogar bis zu den frühen Abendstunden in der Klinik bleiben, denn zwei schwierige Geburten standen noch an, bei denen er dabei sein wollte.

Schwester Annegret kannte die Angewohnheiten ihres Chefs und wusste, dass er zunächst einen Blick auf die Karteikarte warf. Sie ließ ihn stets ein paar Minuten Zeit, bevor sie die Patientin zu ihm schickte.

Dr. Holl stutzte, als er den Namen auf der Karteikarte las: Franziska Conradi . Sein Freund Hubert hatte eine Tochter namens Franziska.

Erfreut stand er auf, als tatsächlich Franziska ins Sprechzimmer kam.

„Das nenne ich eine gelungene Überraschung“, sagte er und drückte ihre Hand. „Franzi, du wirst immer hübscher.“

„Und du bist und bleibst ein Charmeur, Stefan“, erwiderte sie. Früher hatte sie Onkel Stefan zu ihm gesagt, doch das hatte er sich schon vor ein paar Jahren verbeten.

„Bei deinem Anblick geht einem das Herz auf.“ Er trat einen Schritt zurück. „Lass dich anschauen!“

Ein gutes Jahr war vergangen, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Vielleicht täuschte er sich, doch er hatte den Eindruck, dass Franzi reifer, fraulicher geworden war.

Ihr Haar zeigte einen warmen Goldton, und das dunkle Grün der Augen war tief und geheimnisvoll wie der Schatten des Waldes. Sie ist nicht mehr ganz so dünn wie früher, ging es ihm durch den Kopf, und das war in seinen Augen gut so.

„Zufrieden?“ Franzi lachte und zeigte Zähne, ebenmäßig wie Perlen.

„Der Mann, der dich einmal bekommt, ist zu beneiden“, sagte er, schob eine Hand leicht unter ihren Arm und führte sie zum Sessel am Schreibtisch. „Bitte, nimm Platz. Ich bin neugierig, was dich zu mir führt.“

„Nichts Schlimmes, Stefan, ich glaube, ich bin schwanger“, antwortete sie und errötete leicht.

„Glauben heißt nichts wissen“, entgegnete er lakonisch. „Willst du mir vielleicht sagen, dass du keinen Test gemacht hast? Das ist bei den jungen Frauen heutzutage doch selbstverständlich.“

„Doch, habe ich, aber er war negativ.“

„Und trotzdem glaubst du, schwanger zu sein?“ Er ließ sich nieder und verschränkte die Finger. „Die Tests aus den Apotheken sind normalerweise sehr zuverlässig. Jedenfalls habe ich noch nichts Gegenteiliges gehört.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht, was los war. Vielleicht habe ich ja was falsch gemacht. Jedenfalls bin ich mit der Periode schon zwei Wochen über die Zeit, und das ist bei mir ungewöhnlich.“ Sie stellt eine kleine Flasche auf den Tisch. „Den Urin habe ich mitgebracht. Du wirst ihn sicher untersuchen.“

„Nicht nur das, ich möchte auch dich gründlich checken“, sagte er und zog die Karteikarte heran. „Aber zuerst brauche ich ein paar Auskünfte, denn eine vernünftige Anamnese ist unerlässlich.“

„Muss das sein? Ich … ich mag diesen Stuhl nicht. Er ist in meinen Augen das reinste Folterinstrument. Genügt es denn nicht, wenn du …“

„Bitte, Franzi, wenn du schon zu mir kommst, dann möchte ich dich auch gründlich untersuchen“, unterbrach er sie sachlich. „Ich weiß, es ist für Frauen nicht angenehm, doch ich versichere dir, ich bin so behutsam wie möglich. So, du bringst Schwester Annegret den Urin. Sie wird dir Blut abnehmen, denn die Werte müssen im Labor bestimmt werden. Und dann zeigt sie dir die Umkleidekabine.“

Seufzend ließ Franzi ihn allein. Natürlich wusste sie, dass eine gründliche Untersuchung nicht zu umgehen war. Sie musste in den sauren Apfel beißen.

Schwester Annegret, die bei jeder Untersuchung anwesend war, lachte und scherzte mit Franziska Conradi, denn die erfahrene Schwester spürte, wie verkrampft die junge Frau war.

Dr. Holl untersuchte die Tochter seines Freundes gründlich und erstellte einen Tastbefund. Er führte auch eine Ultraschalluntersuchung durch, obwohl er fast sicher war, dass auf dem Monitor noch nichts zu erkennen war. Wenn Franzis Angaben zutrafen, so war die Leibesfrucht erst einige Millimeter groß.

„So, du kannst dich wieder anziehen“, meinte er aufmunternd, als er sich dem Waschbecken zuwandte.

„Das war schon alles?“ Sie klang erleichtert. „Ich habe es mir schlimmer vorgestellt.“

„Unser Herr Doktor ist für seine sanften Hände bekannt, Frau Conradi“, sagte Schwester Annegret. „Sie wollten es ja nicht glauben“

„Ich nehme alles zurück.“ Franzi lachte und ergriff gern die Hand der Schwester, die ihr vom Stuhl half.

Während Franzi sich ankleidete, untersuchte Dr. Holl den Urin der Patientin in der Zentrifuge. Der Chefarzt strahlte, als er ins Sprechzimmer kam.

„Herzlichen Glückwunsch, Franzi, bald wird der gute Hubert Großvater!“ Dr. Holl setzte sich zu ihr. „Wer ist denn der glückliche Vater? Kenne ich ihn?“

„Sagt dir der Name Oppermann etwas?“ Sie lächelte spitzbübisch. „Er hat entfernt auch etwas mit Medizin zu tun.“

Dr. Holl runzelte die Stirn. „Auf Anhieb fällt mir nur die Präzisionsoptik Oppermann ein. Ich glaube, die stellen unter anderem hochwertige Mikroskope her. Oder bringe ich da etwas durcheinander?“

„Nein, nein, du liegst goldrichtig.“ Franzi strahlte. „Daniel Oppermann und ich sind seit einem guten halben Jahr liiert.“

„Und er hat dir schon einen Antrag gemacht?“

„Igitt, Stefan, bist du altmodisch!“

„Wieso? Ist ein Heiratsantrag uncool?“ Er lächelte verschmitzt. „Sorry, manchmal vergesse ich, dass ich schon ein paar Jährchen auf dem Buckel habe.“

„Die man dir nicht ansieht“, schmeichelte sie. „Ich finde, du siehst umwerfend aus, Stefan. Leider stehe ich nicht auf reife Herren, sonst hätte Julia eine nicht zu unterschätzende Konkurrentin.“

Der Chefarzt wurde ernst. „Mal ehrlich, Franzi: Wird er dich heiraten?“

„Er liebt mich“, antwortete sie und runzelte die Stirn. Die eindringliche Frage des Klinikchefs verunsicherte sie. Bis heute hatte sie sich noch keine Gedanken über eine feste Bindung gemacht, doch wenn sie ehrlich war, so musste sie sich eingestehen, dass sie eine Hochzeit für selbstverständlich gehalten hatte.

Franzi begegnete Dr. Holls fragendem Blick und zuckte mit den Schultern.

„Und wenn er mich nicht will, dann kann ich immer nach Hause kommen, Papa nimmt mich mit offenen Armen auf.“

Dr. Holl lächelte verhalten. Es klang trotzig und so, als müsse Franzi sich selbst überzeugen.

„Ich wollte dich nicht verunsichern, Franzi, und ich freue mich, dass du nicht sofort an eine Abtreibung denkst.“

„Ich bitte dich, Stefan, so etwas kommt für mich überhaupt nicht infrage.“ Empört schaute sie ihn an. „Und zwar nicht aus religiösen Gründen. Weißt du, ich kann Frauen ja noch verstehen, wenn sie in Not sind und nicht wissen, wie sie ein Kind großziehen sollen. Aber ich habe doch gar keine Veranlassung dazu. Ich habe einen Vater, der absolut hinter mir steht, zu dem ich jederzeit kommen kann.“

Dr. Holl nickte. O ja, Hubert Conradi war ein geradliniger Mensch, einer, auf den man sich stets verlassen konnte. Insgeheim bezweifelte der Chefarzt jedoch, ob der bekannte Architekt es hinnehmen würde, dass ein Mann seine Tochter verschmähte. Doch das stand auf einem anderen Blatt.

„Tja, Franzi, dann sehen wir uns in drei oder vier Wochen wieder“, sagte er und stand auf. „Die regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen sind unerlässlich, denn sie dienen dir und dem Kind. Schwester Annegret gibt dir noch den Mutterpass, den du immer bei dir tragen musst, denn auf ihm sind alle wichtigen Daten vermerkt. Solltest du – was ich nicht hoffen will – einen Unfall haben oder aus anderen Gründen ärztliche Hilfe benötigen, so hast du stets alle wichtigen Daten zur Hand.“ Dr. Holl begleitete die schöne Patientin zur Tür. „Grüße deinen Vater von mir. Ich denke, du wirst ihn schon sehr bald einweihen, oder?“

„Darauf kannst du dich verlassen, Stefan, und ich freue mich jetzt schon auf sein Gesicht.“ Franzi kicherte. „Ich bin mir nicht sicher, ob er schon Großvater sein will. Jedenfalls nicht, wenn er bei irgendwelchen Festen der Mittelpunkt der Damenwelt ist.“

„Ich bin sicher, er wird mich anrufen“, sagte Dr. Holl. In seinen Augen lag ein vergnügtes Funkeln. „Dann werde ich ihm schon sagen, wie schön es ist, seinen Enkel auf den Knien zu wiegen. Grüße ihn von mir.“

„Es wird mir ein Vergnügen sein.“ Franzi stellte sich auf die Zehenspitzen und gab dem Arzt einen Kuss auf die Wange. „Bis bald, Stefan.“

***

Niemand, der ihn nicht kannte, vermutete, dass Wilhelm Oppermann in knapp zwei Jahren schon sechzig wurde. Bill, wie seine Freunde ihn nannten, war durchtrainiert bis in die Zehenspitzen und fit wie ein Turnschuh. Sein Körper war nahtlos braun, denn im Souterrain seiner Villa befand sich neben dem Swimmingpool und der Sauna auch ein Solarium. Wilhelms Credo war: Eine gesunde Bräune signalisiert Erfolg.

Seine Frau Ute betrachtete ihn oft mit gemischten Gefühlen. Obwohl sie drei Jahre jünger war, kämpfte sie schon seit Jahren gegen die Spuren des Alterns und trug sich schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken, beim Schönheitschirurgen ein paar Korrekturen vornehmen zu lassen.

War Ute Oppermann mit Freundinnen allein, behauptete sie gern und oft, dass das Schicksal ungerecht sei, indem es Männer im Alter interessanter erscheinen ließ. Falten und weiße Haare zeugten bei ihnen von Lebenserfahrung und Weisheit, während es bei Frauen nur hieß, sie seien eben alt.

An dieser Meinung konnte auch Utes beste Freundin Mona Faller nichts ändern. Mona war ein paar Jährchen älter und eine sehr erfolgreiche Anwältin. Sie ließ es jeden wissen, der es hören wollte: Ihre Falten waren die Wege ihres Lebens, und sie hatte nicht die Absicht, daran etwas zu ändern.

All das ging Ute durch den Sinn, als sie mit ihrem Mann telefonierte, der ihr mitteilte, dass sie heute Abend nicht auf ihn warten solle, da er mit Geschäftsfreunden unterwegs sei.

Wilhelm Oppermann legte bedächtig den Hörer auf. Grübelnd schaute er aus dem Fenster. Wie leicht ihm die Lügen über die Lippen gingen! Und je länger sein Verhältnis mit Betty dauerte, desto tiefer geriet er in den Strudel der Leidenschaft, desto häufiger benutzte er Ausreden, um die Abende nicht mit seiner Frau verbringen zu müssen.

Wilhelm saß in seinem elegant möblierten Büro in der obersten Etage des Verwaltungsgebäudes. Es war später Nachmittag, und Betty Beilheim, seine Sekretärin und Geliebte, hatte das Haus schon vor zwei Stunden verlassen, um sich auf seinen Besuch vorzubereiten.

Wilhelm wollte die leidenschaftlichen Stunden mit ihr nicht mehr missen. Ja, manchmal hegte er sogar den Verdacht, danach süchtig zu sein.

Es gab nur einen Wermutstropfen in dieser Beziehung: Bettys mehr oder minder versteckte Anspielungen auf eine Scheidung. Oh, sie verstand es ausgezeichnet, ihre Forderungen geschickt zu verpacken. Sie sprach von Liebe und einem gemeinsamen Leben. Vor allem aber wollte sie ein Kind von ihm. Das wäre für sie – wenn er ihr glauben durfte – die Krönung ihrer Liebe.

Der Chef der Oppermann-Werke verließ das Büro, und als er wenig später zum Parkplatz ging, folgte ihm so manch bewundernder Blick aus Frauenaugen. Selbst blutjunge Mitarbeiterinnen, die kaum einen Blick für ältere Semester hatten, versuchten die Aufmerksamkeit des großen dunkelhaarigen Mannes auf sich zu ziehen.

Wilhelm hatte für sein Umfeld kaum einen Blick. Er war in Eile, und wenig später rollte seine silbergraue Limousine vom Werksgelände.

Blumen waren bei Betty schon längst nicht mehr angesagt. Sie liebte Dinge, die von Dauer waren, und dazu zählte vor allem Schmuck.

Der Firmenchef lächelte still, als er die Hand in die Jackentasche versenkte und sich vergewisserte, dass er das längliche Etui auch nicht vergessen hatte.

Flüchtig dachte er an seine Frau und seufzte. Es war gut, dass Ute nicht wusste, wie viel Geld er schon in sein Verhältnis investiert hatte. Dabei gehörte der Schmuck noch zu den Kleinigkeiten. Eine hübsche Dreizimmerwohnung hatte Wilhelm seiner Geliebten geschenkt, und das schnittige gelbe Kabriolett war auch von ihm.

Wilhelm parkte nicht direkt vor dem Haus in der Rheinstraße, in der seine Sekretärin lebte. Er war ein vorsichtiger Mann, und er hatte Familie, auf die er Rücksicht nehmen musste.

„Noch“, knurrte er gepresst, als er zum Haus Nummer sieben spazierte. Irgendwann würde Betty sich nicht mehr mit Versprechungen zufriedengeben, irgendwann musste Wilhelm Oppermann sich entscheiden – für wen auch immer.

Natürlich besaß Wilhelm einen Schlüssel zur Wohnung, und als er die Diele betrat, krauste er leicht die Nase. Betty konnte es nicht lassen. Sie liebte Räucherstäbchen, und ganz besonders jene mit der Duftnote „Opium“.

Ihm war dieser Duft zu süß, zu schwer, doch er passte zu Betty. Sie war nicht Wilhelms erster Seitensprung, doch verglichen mit den anderen Frauen war Betty ein Vulkan. Wenn er sie in den Armen hielt, gab sie alles, verlangte aber auch das Letzte von ihm.

Manchmal fragte Wilhelm sich, ob diese Frau nur an das Eine denken konnte. Bettys Sinnlichkeit rief gemischte Gefühle in ihm wach. Es gefiel ihm, dass sie ihn begehrte, doch manchmal flößte ihm ihre Leidenschaft auch Angst ein. Angst, ihr eines Tages nicht mehr genügen zu können.

„Ich bin in der Küche, Bill!“

Es verschlug ihm fast den Atem, als er sie sah. Betty trug das flachsblonde Haar offen, und es reichte ihr fast bis zur Hüfte. Etwas Durchsichtiges hüllte ihren makellosen Körper ein, und das Eisblau passte gut zu ihren hellen Augen.

„Hast du Appetit mitgebracht?“ Sie schmiegte sich an ihn und schnurrte wie ein Kätzchen.

„O ja, ich habe noch nichts gegessen.“

„Diesen Appetit meinte ich nicht“, sagte sie und streichelte ihn auf eine Art, die ihm das Blut schneller durch die Adern trieb. „Komm“, raunte sie, nahm ihn bei der Hand und zog ihn ins Schlafzimmer. „Ich kann es kaum erwarten.“

Welcher Mann hörte das nicht gern! Wilhelm genoss es, dass sie ihm in wilder Gier die Kleider vom Leib riss.

Betty liebte es, die Initiative zu ergreifen, und sie verstand etwas von der Kunst der Liebe, so dass Wilhelm sich wie ein Instrument fühlte, das virtuos geführt wurde.

In Augenblicken wie diesem vergaß er alle Bedenken und ließ sich auf den Wogen der Leidenschaft hinwegtragen, um anschließend ermattet aufs rote Satinlaken zu sinken.

In Bettys hellen Augen lag so etwas wie Triumph, als sie ihn, auf einem Ellenbogen gestützt, zufrieden betrachtete.

„Bleib liegen, Schatz, ich bringe uns eine kleine Stärkung, denn ich habe noch lange nicht genug von dir.“

Er wandte den Kopf und beobachtete Betty, die in strahlender Nacktheit und aufreizend langsam das Schlafzimmer verließ.

Unwillkürlich dachte Wilhelm an seine Frau. Ute war bestimmt nicht prüde, doch selbst nach über dreißig Jahren Ehe legte sie in bestimmten Situationen immer noch eine gewisse Scheu an den Tag.

Wilhelm Oppermann wollte sich aufsetzen, doch als er sich abstützte, spürte er einen feinen Schmerz in der Schulter und sank wieder zurück. Leise fluchend rollte er sich zur Seite, um sich ohne Beschwerden auf die Bettkante setzen zu können.

Wieder einmal nahm der Fabrikant sich vor, einen Orthopäden aufzusuchen, und er lächelte über seine Absicht, die er – wie er aus Erfahrung wusste – doch wieder nicht umsetzte, weil es so viele andere Dinge gab, die er zu erledigen hatte.

Der Endfünfziger schlüpfte in den hellen rohseidenen Morgenmantel und schlenderte ins Wohnzimmer. Der Tisch in der Nische neben dem Fenster war gedeckt. Leichte Übelkeit machte sich bei Wilhelm bemerkbar, als er ans Essen dachte.

„Wieso bist du aufgestanden?“

Er drehte sich um. Betty stand in der Tür und schaute ihn vorwurfsvoll an. Oder lag da auch noch ein spöttisches Funkeln in ihren Augen?

„Ich kann heute nicht so lange bleiben, wie ich gern möchte“, schwindelte er. „Ich habe morgen früh einen wichtigen Termin. Ein Ingenieur, der von Jena zu uns wechseln möchte, kommt. Und da muss ich fit sein.“

„Schade.“ Sie zog einen Schmollmund und ging wieder in die Küche, um ein paar Minuten später einen Servierwagen zum Esstisch zu rollen. „Magst du auch einen Aperitif, Bill?“

„Danke, nein, ich muss noch fahren.“

Betty hakte nicht nach, denn es war sinnlos. In manchen Dingen war Bill in ihren Augen richtig spießig, und dazu gehörte auch, dass er, wenn er mit dem Wagen unterwegs war, keinen Alkohol trank, auch keinen noch so kleinen Sherry.

Das hinderte Betty jedoch nicht daran, sich ein Gläschen zu gönnen, denn die goldbraune Flüssigkeit in dem kunstvoll geschliffenen Glas war nicht irgendein Sherry, sondern eine Köstlichkeit, die Bill direkt aus Spanien bezog. Nach dem Preis fragte Betty nicht, doch sie wusste, dass ein Normalsterblicher sich so etwas nicht leisten konnte.

Betty legte ihm kalten Braten, Gürkchen und Tomaten auf den Teller, lehnte sich zurück, nippte am Sherry und schaute den Mann ihr gegenüber verträumt lächelnd an.

„Ach, Bill, ich kann es kaum erwarten, mit dir zu leben“, sagte sie wieder einmal.

Er widmete sich dem Essen und ging bewusst nicht auf ihre Bemerkung ein. Wilhelm Oppermann wusste, was kam, wenn Betty diesen Ton anschlug, wenn ihre Stimme etwas Weiches, Sehnsüchtiges bekam. Jetzt wird sie gleich von unserem kleinen Nest im Süden reden, von einem Leben in Marbella, dort, wo die Reichen und Schönen zu Hause sind, dachte er.

Und so war es auch. Betty wurde nicht müde, ihm ein Leben an ihrer Seite in leuchtenden Farben zu schildern, ein Leben, in dem nur die schönen Dinge des Lebens Raum hatten.

„Aber du kannst dich zum letzten Schritt ja nicht durchringen.“ Ihre Stimme wurde jetzt eine Spur härter. „Ich kann dich zwar verstehen, aber nur bedingt. Ach Bill, deiner Frau fehlt doch nichts, wenn du gehst! Und mich würdest du sehr glücklich machen.“

Betty ließ ihren Geliebten nicht aus den Augen. Sie wusste, wie ungern er dieses Thema berührte, doch sie wusste auch, dass steter Tropfen den Stein höhlte.

„Deine Frau hat einen großen Freundeskreis und eine Menge Verwandte. Und dein Sohn? Glaub mir, der ist froh, wenn du ihm endlich die Leitung der Firma überlässt.“ Sie wechselte den Platz, setzte sich neben ihn und lehnte den Kopf an seine Schulter. „Manchmal glaube ich, du liebst mich einfach nicht genug.“

„Bitte, Betty, nicht schon wieder“, warf er ärgerlich ein, legte das Besteck auf den Teller und griff zur Serviette. „Natürlich liebe ich dich, und das weißt du auch. Aber dreißig Jahre Ehe wischt man nicht einfach so weg. Lass uns die paar Minuten, die uns noch bleiben, nicht streiten. Ich genieße die Stunden, die ich bei dir bin. Verdirb sie mir nicht.“

Kaum hatte er es ausgesprochen, setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl. Ihre Miene war eisig, und sie griff zur Zigarette.

„Tut mir leid, Betty, ich wollte dich nicht verletzen, aber so eine Entscheidung bricht man nicht übers Knie“, sagte er einlenkend, griff über den Tisch und berührte ihre Hand. „Lass mir noch ein bisschen Zeit.“

„Habe ich eine andere Wahl?“, entgegnete sie bitter. „Und ich wollte nie die Geliebte eines verheirateten Mannes werden!“ Theatralisch schlug sie die Augen nach oben. „Und genau das ist eingetroffen.“

Er lächelte dünn, als er ein stilles Stoßgebet zum Himmel schickte, mit der Bitte, Betty möge jetzt nicht wieder die alte Leier vom Kinderkriegen anstimmen. Das war ihr neuester Tenor: Sie wollte ein Kind von ihm!

„Sehe ich dich am Wochenende?“ Bettys Miene wechselte, sie lächelte honigsüß. „Oder musst du wieder mal auf Familie machen?“

Sichtlich erleichtert antwortete er: „Ute verreist für ein paar Tage. Wenn du willst, fliegen wir nach Paris. Oder möchtest du lieber nach Nizza oder Cannes?“

„Oh, Paris wäre wunderbar! Paris, die Stadt der Liebe! Die Champs-Elysées, der Montmartre, die eleganten Restaurants und die hübschen kleinen Bistros! Und abends ein Bummel an der Seine …“ Betty strahlte. „Mit dir Hand in Hand durch die Stadt flanieren, nachts in deinen Armen liegen … Ach, Bill, ich wollte, es wäre wahr.“

„Das wird es, mein Engel“, versicherte er, froh darüber, sie endlich auf andere Gedanken gebracht zu haben.

***

Schwester Annegret hatte einen guten Blick für Menschen, das brachte der Beruf so mit sich. Doch sie hatte einen besonderen Blick für Frauen, die schon als Dame zur Welt kamen, und zu ihnen gehörte Ute Oppermann.

Vom Äußeren ließ Schwester Annegret sich nicht täuschen. Kleider machten zwar Leute, doch eine Frau konnte noch so elegant sein – Sprache, Gebärde und Mimik verrieten sie nur allzu oft.

Ute Oppermann kam einmal im Jahr, um sich von Dr. Holl gründlich untersuchen zu lassen. Dazu gehörte vor allem eine Mammografie, denn in den Köpfen vieler Frauen geisterte das Schreckgespenst Brustkrebs.

„Guten Morgen, Schwester Annegret.“

„Grüß Gott, Frau Oppermann.“ Die ältere Schwester strahlte. „Gehen Sie nur hinein, unser Herr Doktor erwartet Sie schon.“ Das war zwar etwas übertrieben, denn der Chefarzt machte keine Unterschiede bei der Behandlung seiner Patienten, doch die Schwester wusste, dass viele Frauen diese Behauptung gern hörten.

„Danke, Schwester.“

Die Ältere schaute der eleganten Unternehmergattin nach. Ach ja, bei Ute Oppermann stimmte einfach alles. Das sandfarbene Kostüm aus feinstem Leder war Figur betonend geschnitten, aber nicht zu eng. Die kurzen dunklen Haare waren sorgsam frisiert, der Duft ihres Parfüms dezent, die Sprache leise und kultiviert.

Dr. Holl erhob sich und ging Ute ein paar Schritte entgegen.

„Guten Morgen, Frau Oppermann, Sie kommen sicher zum alljährlichen Routine-Check.“

„Ja und nein, Herr Doktor Holl.“ Sie neigte den Kopf, als er ihr Platz anbot. „Ich habe ein paar kleine Probleme, die ich mit Ihnen besprechen möchte.“

„Nur zu.“ Er ließ sich am Schreibtisch nieder und warf einen Blick auf die Karteikarte. „Sie sind pünktlich wie ein Maurer. Heute vor einem Jahr, auf den Tag genau, haben wir die letzte Untersuchung durchgeführt.“

„Ja, und ich könnte durchaus zufrieden sein, wenn ich nicht in der ständigen Angst lebte, bald keine richtige Frau mehr zu sein.“

„Ach? Das müssen Sie mir schon näher erklären, Frau Oppermann.“ Sein bewundernder Blick war nicht gespielt. Aus den Unterlagen wusste Dr. Holl, dass Ute Mitte fünfzig war. Ohne zu schmeicheln konnte man jedoch behaupten, dass sie zehn Jahre jünger aussah.

„Sie haben mich in den letzten Jahren schon darauf vorbreitet, dass ich mich mit den Wechseljahren auseinandersetzen muss. Nun, seit einem halben Jahr habe ich keine Periode mehr. Allmählich stellt sich all das ein, wovor ich mich gefürchtet habe.“ Sie lächelte schief. „Und da Sie meine Einstellung zu Hormongaben kennen, zögere ich immer noch, sie zu nehmen.“

„Das kann Ihnen niemand verübeln, Frau Oppermann, denn die Diskussionen über die Hormontherapien werden immer kontroverser geführt“, entgegnete er sachlich.

„Und wie denken Sie darüber?“, hakte sie sofort nach. Ihre dunklen mandelförmigen Augen blickten ihn ernst und forschend an.

„Ich entscheide von Fall zu Fall. Jedenfalls müssen wir erst einmal Ihren Hormonspiegel prüfen. Und ich möchte Sie gründlich untersuchen, um sicher zu sein, dass sich keine krankhaften Veränderungen ankünden.“ Dr. Holl stand auf. „Das Prozedere kennen Sie ja bereits, Frau Oppermann. Schwester Annegret wird Ihnen Blut abnehmen, und anschließend sehen wir uns im Untersuchungszimmer.“

Eine Stunde später saß Ute wieder am Schreibtisch des Chefarztes. Er hatte sie gründlich untersucht, die Brüste abgetastet und geröntgt.

„Ich kann noch nichts über den Hormonspiegel sagen, Frau Oppermann. Wir müssen erst den Laborbefund abwarten. Aber was alles andere angeht, bin ich sehr zufrieden.“

„Wie schön für Sie“, bemerkte sie ironisch. „Sorry, Herr Doktor, es war nicht so gemeint. Ich brauche Hilfe für mein Gefühlschaos, ehrlich gesagt. Ich leide so ziemlich an allen Symptomen. Stimmungsschwankungen machen mir zu schaffen, ich schlafe schlecht und wache oft Schweiß gebadet auf. Stehe ich morgens gut gelaunt auf, kann es sein, dass ich schon eine Stunde später zutiefst niedergeschlagen bin. Und dann diese Hitzewallungen, die immer dann auftreten, wenn ich sie am wenigsten gebrauchen kann … Erst neulich, auf einer Vernissage, musste ich fluchtartig den Ausstellungsraum verlassen, weil ich wie ein frisch gebrühter Hummer aussah.“

„Da ich Ihre Einstellung zur Hormonbehandlung kennen, kann ich Ihnen eine pflanzliche Therapie vorschlagen“, sagte er. „Außerdem käme noch eine Ernährungsumstellung infrage, denn die neusten Studien haben gezeigt, dass Frauen im asiatischen Raum weit weniger unter den Beschwerden des Klimakteriums leiden als die europäischen. Untersuchungen haben gezeigt, dass Produkte aus der Sojabohne, die sehr viel natürliches Östrogen enthält, einen positiven Einfluss auf die Wechseljahre haben, und zwar ohne die gefürchteten Nebenwirkungen.“

„Ach, das ist interessant.“ Sie lachte verlegen. „Verzeihen Sie, wenn ich es etwas drastisch ausdrücke, Herr Doktor, aber ich habe – zum Beispiel – mal Tofu probiert, und das Zeug schmeckt wie eingeschlafene Füße.“

Er stimmte in ihr Lachen ein. „Nun, das ist eine Frage des Würzens, Frau Oppermann. Kaufen Sie sich entsprechende Literatur, denn davon gibt es inzwischen schon einiges, und machen Sie sich kundig“, schlug er vor. „Viele Heilpflanzen und Kräuter beinhalten die so genannten Phytoöstrogene. Mönchspfeffer, Eichenrinde, und Thymian lindern Wechseljahrsbeschwerden wie Reizbarkeit, Lustlosigkeit und Nervosität.“

„Ich werde sofort in eine Buchhandlung gehen“, versicherte sie und wich seinem Blick verlegen lächelnd aus. „Aber da gibt es noch ein Problem, Herr Doktor, über das ich kaum sprechen kann.“ Inzwischen hatte sich das zarte Rosa ihrer Wangen in tiefes Rot verwandelt.

Der Frauenarzt ahnte, was sie bedrückte.

„Haben Sie Probleme mit Ihrem Mann?“ Er lächelte nachsichtig, als sie die Stirn runzelte. „Viele Frauen reden nicht gern darüber, aber die Vaginalprobleme wie Brennen, Juckreiz oder Schmerzen beim Verkehr sind bekannt. Versuchen Sie es doch einmal mit einer entspannenden Unterleibsmassage mit Rosenöl. Es belebt im Zusammenklang mit dem Duftstoff Ylang-Ylang das sexuelle Verlangen. Die Zutaten bekommen Sie in fast jeder Apotheke.“ Dr. Holl zog einen kleinen Block heran und notierte einige Buchtitel, die er kannte. Er schob den Zettel über den Tisch. „Versuchen Sie es, Frau Oppermann. Und haben Sie Geduld, bis Ihr Körper sich darauf eingestellt hat. Und – sollten Sie keinen Erfolg haben – dann werden wir vielleicht doch auf chemische Substanzen zurückgreifen müssen.“

„Niemals!“ Entschlossen schob sie das Kinn vor. „Tut mir leid, Herr Doktor, aber ich habe in den letzten Jahrzehnten stets versucht, ohne Chemie auszukommen, und so soll es auch bleiben. Lieber nerve ich andere und schwitze.“

„Nun ja, das müssen Sie entscheiden“, entgegnete der Chefarzt der Berling-Klinik gelassen. Er überließ jeder Patientin die Entscheidung, solange sie sich nicht schadete. Und wenn Sie nicht mehr weiter wissen, dann kommen Sie wieder zu mir. Ich bin sicher, wir finden den richtigen Weg für Sie.“

Dr. Holl stand auf und signalisierte Ute Oppermann, dass er die Unterredung als beendet betrachtete. Der Chefarzt begleitete sie zur Tür.

„Sagen Sie, Herr Doktor, ist es üblich, dass Männer Ihre Frauen betrügen, wenn diese ins Klimakterium kommen?“ Diese Frage hatte Ute sich bis zum Schluss aufgespart, und als sie sah, dass er leicht die Brauen hob, fügte sie spöttisch hinzu: „Tut mir leid, ich dachte, Sie wüssten das. Schließlich sind Sie auch ein Mann.“

„Ich denke, dass hat nichts mit dem Geschlecht zu tun, Frau Oppermann“, entgegnete er mit feinem Lächeln. „Es ist wohl mehr eine Charakterfrage.“

„Ja, vielleicht.“ Sie gab ihm die Hand. „Dann – bis zum nächsten Check, Herr Doktor. Ich hoffe, ich bekomme die Umstellung meines Körpers in den Griff.“

„Wir werden sehen“, antwortete er ausweichend. „Ich wünsche es Ihnen jedenfalls von Herzen.“

***

Franziska Conradis Appartement in Schwabing lag in einer ruhigen Seitenstraße, und die Studentin war froh, dass es ihr Eigentum war, denn die Mieten in dieser Gegend waren horrend.

Ihre Eltern hatten sich das Appartement schon vor zwanzig Jahren gekauft, um nicht immer im Hotel nächtigen zu müssen, wenn sie wieder einmal Großstadtluft schnuppern wollten.

Seit Franzis Mutter vor sechs Jahren bei einem Reitunfall ums Leben kam, hatte Franzis Vater die kleine Wohnung nicht mehr betreten.

Jetzt stand sie Franzi zur Verfügung, die Architektur studierte, um eines Tages in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Für Franzis Bedürfnisse reichte das große Zimmer, zu dem ein Bad und eine winzige Küche gehörten. Letztere benutzte Franzi kaum. Sie war keine gute Köchin, ja, man sagte ihr sogar nach, dass sie selbst Wasser anbrennen ließe.

Heute hatte Franzi sich bemüht, den Tisch hübsch zu decken. Wurst und Käse hatte sie hübsch dekoriert und den Merlot bereits entlüftet, damit er sein Aroma entfalten konnte.

Nervös trat sie immer wieder auf den Balkon und lehnte sich über die Brüstung. Von hier aus konnte sie einen Teil der Straße übersehen, doch nirgends sah sie Daniels schwarzen Porsche.

Auf dem Sideboard, neben einem kunstvoll geschnitzten Kerzenständer, stand ein silberner Bilderrahmen. Franziska Conradi seufzte, als sie das braun gebrannte lachende Männergesicht betrachtete.

„Daniel“, flüsterte sie und berührte mit den Fingerspitzen das Glas des Rahmens. Daniel Oppermann war ihre erste große Liebe, und es störte sie nicht, dass Freundinnen ihn, der acht Jahre älter war, als Opa bezeichneten.

Franzi war sicher, dass aus Vielen nur der Neid sprach, denn Daniel sah nicht nur gut aus, er war auch charmant und gebildet – und er war der Juniorchef der Oppermann-Werke! Letzteres interessierte Franzi weniger. Sie war eine moderne junge Frau, die Wert darauf legte, ihre Rechnungen selbst zu bezahlen. Sie musste nicht auf den Cent schauen, denn ihr Vater unterstützte sie großzügig.

Dieser Umstand führte zwar mit schöner Regelmäßigkeit zu hitzigen Diskussionen, doch in diesem Punkt blieb Franzi hart. Sie ließ sich von Daniel selten einladen, denn sie wollte ihm nichts schulden.

Es läutete. Franzis Herz klopfte ein bisschen schneller. In den letzten Tagen hatte sie Daniel kaum gesehen. Angeblich hatte er eine Menge Arbeit. Dieser Aussage stand Franzi allerdings skeptisch gegenüber, denn Angela, eine Kommilitonin, hatte ihr gestern mit kaum verhohlener Schadenfreude erzählt, sie habe Daniel mit einer rothaarigen Schönen im Golf-Klub gesehen.

Franzi fiel dem großen schlanken Mann um den Hals und küsste ihn stürmisch.

„Hm, du riechst gut“, stellte sie fest. „Ein neues Eau de Toilette?“ Sofort dachte sie an die Rothaarige. Ob sie es ihm geschenkt hatte? Oder hatte Daniel ihr zuliebe die Duftnote gewechselt?

„Ja.“ Er ging nicht weiter darauf ein, schlüpfte aus dem Jackett und warf es lässig über eine Schulter. „Sei nicht böse, Liebling, aber lange kann ich nicht bleiben. Eine Stunde vielleicht. Wir haben Gäste, und meine Mutter wünscht, dass ich zu Hause bin, da Papa verreist ist.“

Franzi spürte, dass es nur noch wenig bedurfte, um sie in Tränen ausbrechen zu lassen. Zorn und Enttäuschung hielten sich die Waage, und sie beschloss, seinen Einwand zu ignorieren.

„Dann wirst du sicher auch nichts essen“, sagte sie und ging ins Zimmer, dessen hinterer Teil durch eine Faltwand vom Wohnbereich abgetrennt war.

„Nein, aber ein Glas Wein trinke ich.“ Er warf einen Blick auf das Etikett der Flasche. „Oh, ein Merlot? Du hast dich ja richtig in Unkosten gestürzt.“

„Was ist eigentlich los?“ Sie reagierte sichtlich verärgert. „Bist du nur gekommen, um zu sticheln?“

Schnell war er bei ihr und zog sie an sich. „Natürlich nicht. Tut mir leid, Franzi, aber ich bin ein bisschen gestresst.“ Er küsste sie zärtlich und führte sie zum Tisch. „Komm, lass uns nicht streiten. Sag mir lieber, was so wichtig ist, dass du mich unbedingt sehen musstest. Mama war sauer, weil ich noch mal weggefahren bin. Sie ist in letzter Zeit sowieso zickig bis zum Abwinken. Na ja, sie ist jetzt in einem Alter, in dem Frauen sich verändern.“ Er grinste schief. „Du weißt schon, was ich meine.“

„Wir kommen in die Wechseljahre und ihr in die Midlife-Crisis“, konterte sie spitz und schenkte den Wein ein.

„Bravo, dann sind wir ja quitt.“ Daniel Oppermann kostete den Wein und warf Franzi einen anerkennenden Blick zu. „Donnerwetter, so ein edles Tröpfchen? Das muss ja eine tolle Neuigkeit sein, die du mir unbedingt erzählen willst.“

„Ich bin schwanger!“

Daniel verschluckte sich und hustete. Sein Gesicht färbte sich dunkelrot, und Franzi sprang hinzu und schlug ihm mit der flachen Hand auf den Rücken.

„Ersticke mir bloß nicht, sonst muss unser Kind ohne Vater aufwachsen.“ Es sollte scherzhaft klingen, doch Franzis Unsicherheit war nicht zu überhören.

„Schwanger?“ Daniel rang immer noch nach Luft. „Wieso? Ich denke, du nimmst die Pille?“

Sie setzte sich wieder. „Sehr begeistert klingst du nicht“, stellte sie traurig fest.

„Entschuldige, aber … aber ich kann es immer noch nicht begreifen.“ Er kaute nervös auf der Unterlippe und musterte sie mit einer Mischung aus Unbehagen und Ratlosigkeit.

„Mehr hast du nicht zu sagen?“ Ihre Stimme schwankte. Franzi sprang auf und eilte ins Badezimmer.

Daniel hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Kurz darauf war Wasserrauschen zu hören. „Mist.“ Er folgte Franzi und klopfte an die Badezimmertür. „Franzi, bitte, mach auf. Es … es war doch nicht so gemeint. Komm, lass uns in Ruhe darüber reden.“

Daniel legte ein Ohr ans Holz und lauschte. Er hörte leises Weinen, und kurz darauf öffnete Franzi. Er zog sie an sich und schlang die Arme um sie.

„Ich liebe dich doch, Kleines“, sagte er zärtlich. „Es kam nur so überraschend. Das musst du doch verstehen. Außerdem müssen wir uns jetzt überlegen …“

„Sag bloß nicht, dass ich das Kind wegmachen soll!“ Sie stemmte die Hände gegen seine Brust und lehnte sich leicht zurück. Ihre grünen Augen funkelten wie Smaragde, die blonden Locken hingen ihr wirr in die Stirn.

„Süß siehst du aus, wenn du kurz vor einem Wutausbruch stehst.“ Er lachte. „Abtreibung? Daran habe ich nie gedacht. Mein Kind? Ich soll verlangen, dass du mein Kind …“

„Unser Kind“, verbesserte sie ihn.

„Schön, unser Kind.“ Er legte einen Arm um ihre Schultern und führte sie zum Sofa. Daniel zog sie neben sich, und sie schmiegte sich an ihn.

Gedankenverloren starrte der Mann in die Luft. Natürlich war er zunächst geschockt gewesen, doch plötzlich begann er Franzis Schwangerschaft etwas Positives abzugewinnen.

Sie war eine schöne Frau, gescheit und kultiviert, und sie kam aus gutem Haus. Was wollte er mehr? Er war zweiunddreißig. Genau das richtige Alter, um eine Familie zu gründen! Doch das war es nicht, was ihn begeisterte. Daniel erkannte schlagartig, dass eine feste Bindung und Kinder seinen Vater vielleicht dazu bewegen würden, ihm endlich die Leitung der Firma zu übergeben.

„Woran denkst du, Daniel?“

„Ich überlege, wann ich dich meinen Eltern vorstelle. Es ist an der Zeit, dass sie ihre zukünftige Schwiegertochter kennenlernen.“ Seine Lippen streiften ihr Haar. „Seit wann weißt du es? Und in welchem Monat bist du?“ Er strich mit der Hand über ihren flachen Bauch. „Kaum vorstellbar, dass da drinnen unser Kind heranwächst.“

Tränen der Erleichterung liefen über ihre Wangen. „Ich bin erst Anfang des zweiten Monats.“

„Und was wird es? Weißt du das schon?“ Seine dunklen Augen glänzten. „Hoffentlich wird es ein Junge.“

„Ach, mir ist es völlig gleichgültig, was es wird“, entgegnete sie und lachte. „Es soll gesund sein, das ist alles, was ich mir wünsche.“

„Du hast recht.“ Er legte zwei Finger unter ihr Kinn. „Schau mich an, Kleines.“ Er küsste sie sanft. „Ich liebe dich, und bevor unser schreiender kleiner Engel das Licht der Welt erblickt, sind wir Mann und Frau.“

„Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, Daniel“, sagte sie und kuschelte sich an ihn.

***

Jeans, dunkler Rolli und speckige Lederjacke – das waren die Markenzeichen des Fotografen Carsten Schweick, der immer noch davon träumte, eines Tages den internationalen Durchbruch zu schaffen.

Bis jetzt – und er hatte die dreißig schon überschritten – war noch niemand auf sein Talent aufmerksam geworden. Carsten Schweick war froh, das kleine Haus und den Fotoladen von seinem Onkel Theodor geerbt zu haben.

Reich wurde er damit nicht, doch es ernährte ihn. Bei Hochzeiten und anderen Feierlichkeiten wurde Carsten gern gebucht, denn er hatte einen Blick fürs Romantische.

Seit einigen Wochen hatte Carsten jedoch das Gefühl, sein Leben stünde unter einem schlechten Stern. Was er auch anpackte – es ging schief. Und die Krönung der schlechten Phase war Betty, die ihm ohne viel Federlesen den Laufpass gegeben hatte.

Mit Betty, davon war Carsten überzeugt, wäre er beruflich vorangekommen. Sie hatte ein ausgezeichnetes Gespür für gute Geschäfte, und sie hatte Kontakte zu allen möglichen Leuten.

Der Fotograf stand an der Bushaltestelle Rheinstraße Ecke Kantstraße, denn sein alterschwacher Golf hatte wieder einmal irgendwelche Mucken und stand in einer Werkstatt.

Nur ein paar Schritte von der Bushaltestelle entfernt lag das Mehrfamilienhaus Nummer sieben, in dem Betty seit kurzem eine Eigentumswohnung besaß. Carsten knirschte mit den Zähnen, als er an den Mann dachte, mit dem er Betty in letzter Zeit so oft sah.

Der Fotograf war sicher, dass der „alte Knacker“, wie er Bettys neuen Freund nannte, ihr die Wohnung geschenkt hatte. Dass er Geld besaß, sah man schon an der Luxuskarosse, die er fuhr.

„Geld regiert die Welt“ – das hatte seine Großmutter schon behauptet, und sie hatte recht. Carsten konnte Betty keine Eigentumswohnung schenken, und er konnte sie auch nicht in einer Luxuslimousine abholen.

Sein verletztes Ego ließ Carsten nicht mehr zur Ruhe kommen. Er beobachtete seine Ex-Freundin schon seit einiger Zeit, und inzwischen hatte er auch herausgefunden, wer der neue großzügige Freund war.

Neid fraß an Carsten. Eine Wohnung zu verschenken war für einen Mann wie Oppermann eine Kleinigkeit. Doch Carsten kannte die Achillesferse des Unternehmers: Er war verheiratet!

Der Fotograf zuckte leicht zusammen, als er Betty in ihrem neuen gelben Kabriolett in die Rheinstraße einbiegen sah.

„Auch ein Geschenk von diesem Typ“, flüsterte Carsten gepresst. „Wahrscheinlich bezahlt der so was aus der Portokasse.“ Er wartete, bis Betty den Wagen auf den für sie reservierten Stellplatz lenkte.

Betty Beilheim stieg aus und erschrak, als ihr Ex-Freund plötzlich, als sei er vom Himmel gefallen, neben ihr stand.

„Hi.“ Carsten lächelte schmierig. „Hübsches Wägelchen. Du könntest ihn mir ein paar Tage leihen, weil …“

„Dein Klapperkasten wieder mal den Geist aufgegeben hat?“ Sie lächelte dünn, und die Verachtung in ihren Augen traf ihn tief. „Tut mir leid, aber ich kann nichts für dich tun, Carsten. Außerdem bin ich in Eile, ich erwarte Besuch.“

„Von deinem verheirateten Lover?“

Ihre Augen wurden schmal. „Spionierst du mir nach?“ Kalt musterte sie ihn. „Das solltest du bleiben lassen, denn es gibt Männer in dieser Stadt, die dich mit einem Fingerschnippen kaputt machen können.“

„Und diese Männer haben Ehefrauen, die ihnen ein Feuerchen unter dem Hintern machen, wenn sie von deiner Existenz erfahren“, konterte er ungerührt.

Doch in seinem Inneren sah es anders aus. Er wusste, dass Betty recht hatte und er mit dem Feuer spielte. Doch Carsten Schweick befand sich in einer Phase, in der ihm alles einerlei war.

„Was willst du wirklich?“ Betty hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen. Carsten war in der Lage, all ihre schönen Pläne zu zerstören, und sie überlegte, wie sie ihn einschüchtern konnte. „Willst du Geld? Ist eine kleine Erpressung gefällig? Schmink es dir ab. Bill ist zwar großzügig, doch …“

„Bill?“ Er lachte schallend. „Den alten Knacker nennst du Bill? Das hört sich verdächtig nach Cowboy an. Betty, ich will kein Geld, ich will dich. Wenn du mit ihm pennen kannst, müsste für mich doch auch ein Schäferstündchen drin sein. Früher warst du doch immer begeistert von meiner Ausdauer. Jedenfalls hast du es mir mehrmals gesagt.“

„Nun ja, ich wollte dir einen Gefallen tun, mehr nicht.“ Sie lachte spöttisch. „Dich fasse ich nicht mehr mit der Beißzange an, kapiert?“

„Dann muss ich der vornehmen Ute Oppermann eben ein paar Takte stecken.“ Lässig zündete er sich eine Zigarette an und blies ihr den Rauch ins Gesicht.

„Okay, tu, was du nicht lassen kannst, aber ich versichere dir, du wirst es bereuen“, konterte sie. „Ich mache dich fertig, das schwöre ich dir.“

Feindselig standen sie sich gegenüber. Nichts deutete darauf hin, dass sie sich einmal geliebt hatten. Carsten war inzwischen sicher, dass Betty ihn nie geliebt hatte, sie hatte ihn nur benutzt. Er war ihr potenter Gott gewesen, den sie auf dem Altar des Mammons geopfert hatte.

Die schöne Frau hegte ähnliche Gedanken. Sie fragte sich, was sie jemals in Carsten gesehen hatte. Verglich sie ihn mit Bill, so war Carstens einziges Plus seine Jugend. Dafür hatte Bill andere Qualitäten, und um nichts in der Welt wollte Betty den Fotografen wieder in ihrer Nähe wissen.

„Sag mal …“ Er legte eine kunstvolle Pause ein. „Hast du keine Angst? Ich könnte gewaltsam in deine Wohnung eindringen und …“

„Werde jetzt nicht auch noch kindisch“, fiel sie ihm gereizt ins Wort. „Du und gewalttätig? Nein, mein Bester, da passt Erpressung schon besser zu dir. Tu dir einen Gefallen und schlage dir die schrägen Überlegungen aus dem Kopf, Carsten, du schneidest dich nur ins eigene Fleisch.“

Betty stieß ein böses Lachen aus, drehte sich um und ging zum Haus. Keinen Blick hatte sie mehr für den Mann, mit dem sie mehr als ein Jahr eine enge Beziehung gepflegt hatte.

Carsten Schweick führte die Zigarette zum Mund und merkte, dass seine Hand vor Wut zitterte. Betty hatte recht. Er war kein gewalttätiger Mensch, doch jetzt spürte er Lust, Betty zu folgen und sie zu verprügeln.

„Es gibt andere Mittel und Wege“, knurrte er bebend. „Ich kriege dich noch, Betty, und ich treffe dich da, wo es weh tut. Das verspreche ich dir.“

Er ahnte nicht, dass seine Ex-Freundin am Wohnzimmerfenster stand und ihn beobachtete. Betty befand sich in heller Aufregung. Sie erwartete Wilhelm Oppermann und betete, er möge sich verspäten. Nicht auszudenken, was passierte, wenn die Männer jetzt aufeinander trafen.

Betty ließ den Fotografen nicht aus den Augen, und sie kehrte dem Fenster erst den Rücken zu, als der Linienbus kam und Carsten einstieg.

***

Was zieht man an, wenn man seinen zukünftigen Schwiegereltern vorgestellt wird?

Diese Frage hatte Franziska Conradi den Nachmittag über beschäftigt, bis sie sich endlich für einen kiwigrünen Hosenanzug entschied, zu dem sie eine flaschengrüne Rüschenbluse trug, die ihr einen Touch vornehmer Blässe gab, aber auch das Mädchenhafte betont. Mit Schmuck ging Franzi sehr sparsam um. Oft war weniger mehr, und so legte sie nur eine schlichte Platinkette um und streifte sich den Smaragdring, ein Erbe ihrer Mutter, über den Finger.

Und wieder eilte sie zum hohen Spiegel im kleinen Flur und begutachtete sich. Sie wirkte knabenhaft schmal, fast zerbrechlich, und ihre Augen waren dunkel vor Aufregung.

Heute Morgen hatte Daniel angerufen und ihr noch einige Instruktionen gegeben. Eines hatte er ihr vor allem eingeschärft: Franzi sollte nicht über Krankheiten reden, schon gar nicht über Frauenkrankheiten, da seine Mutter sonst nur noch ein Thema kenne.

Franziska wurde das Gefühl nicht los, dass der Friede im Haus der Oppermanns auf schwachem Fundament stand und es nur einer kleinen Erschütterung bedurfte, um Krieg auszulösen.

Als es läutete, griff Franzi zur Handtasche und eilte nach unten. Sie hatte mit Daniel vereinbart, keine Zeit zu verlieren.

Natürlich wusste Franzi, dass die Villa der Oppermanns in einem vornehmen Münchner Vorort lag. Daniel hatte ihr oft von seinem Elternhaus am Rotbuschweg erzählt, das bereits von seinem Großvater erworben worden war.

Stolz hatte Daniel ihr vom geschäftlichen Weitblick seines Großvaters berichtet. Er habe schon vor vielen Jahrzehnten geahnt, dass die Stadt sich einmal so ausdehnte, dass die Bodenpreise ins Unermessliche stiegen. Sein Großvater habe die Villa, die damals sehr renovierungsbedürftig war, für ein Butterbrot bekommen. Heute sei das Schmuckstück einige Millionen wert.

Als Franzi neben Daniel im Porsche saß, gab sie sich betont gelassen, doch die Wirklichkeit sah anders aus. Die junge Frau konnte die innere Anspannung kaum noch ertragen, und immer wieder fragte sie sich, wie sie sich verhalten sollte. War es angebracht, die verwöhnte Tochter aus gutem Hause herauszukehren? Oder sollte sie die Bescheidene spielen? Schätzten Daniels Eltern das Damenhafte oder war ihnen eine unkomplizierte, burschikose Studentin lieber?

„Mach dir keine Sorgen“, sagte Daniel, der sie verstohlen beobachtete. „Sie werden dich schon nicht auffressen. Papa wird begeistert sein, denn er hat eine Schwäche für schöne Frauen.“ Er hob die Schultern ein wenig an. „Und Mama? Sie ist eine Dame. Selbst wenn du nicht nach ihrem Gusto bist, wird sie es nicht zeigen.“

Daniel bog in den Rotbuschweg ein. Hohes Buschwerk und alte Bäume säumten die Straße und gaben nur selten den Blick auf die hochherrschaftlichen Villen und feudalen Landhäuser auf den parkähnlichen Grundstücken frei.

Die Villa Diana, Daniels Elternhaus, war im Jugendstil erbaut. Ein eisernes Tor war zwischen der mannshohen Hecke eingelassen. Daniel griff zur Fernbedienung und das Tor rollte beiseite.

Eine breite Auffahrt führte zur Villa. Zwei steinerne Löwen flankierten den ebenerdigen Eingang, und als Franzi Hand in Hand mit dem Sohn des Hauses zum Portal ging, wurde dieses geöffnet.

Ute Oppermann, im eleganten dunklen Zweireiher, und Wilhelm, der einen bequemen Cordanzug trug, ließen es sich nicht nehmen, die zukünftige Schwiegertochter persönlich willkommen zu heißen. Andere Gäste wurden von der Hausdame empfangen, doch Franziska war etwas Besonderes.

Mit kaum verhohlener Neugierde musterten Daniels Eltern die junge Frau, die der Sohn sich ausgesucht hatte, und wie es schien, war man mit Daniels Wahl zufrieden. Zumindest was den äußeren Anschein betraf.

Ute, die einen Blick für gute Garderobe hatte, registrierte sofort, dass Franzis Hosenanzug von Armani war, während Wilhelm Oppermann seinen Sohn zu dessen Wahl beglückwünschte.

„Mein lieber Daniel, sei froh, dass ich in festen Händen und nicht zwanzig Jahre jünger bin“, scherzte der Hausherr und bot Franzi den Arm. „Darf ich Sie auf die Terrasse führen? Bei diesem Kaiserwetter wäre es eine Sünde, im Haus zu bleiben. Für Ende Mai ist es fast zu heiß. Finden Sie nicht auch?“

„Ich muss gestehen, dass es mir kaum heiß genug sein kann“, antwortete Franzi, die Daniels Vater auf Anhieb sympathisch fand. „Ich bin eine Sonnenanbeterin, und irgendwann möchte ich auch im Süden leben.“

„Das kann ich gut verstehen“, sagte er und registrierte Franzis Begeisterung.

Ungeniert schaute sich die Studentin um, und sie musste sich eingestehen, dass in diesem Haus nichts dem Zufall überlassen war. Jedes Möbelstück war gekonnt in Szene gesetzt, und das war gut so, denn nur so kamen die antiken Stücke zu der Geltung, die sie verdienten.

Die Terrasse, an der Westfront der Villa gelegen, war riesig und wurde von einer sonnengelben Markise überdacht. Der Hausherr führte Franzi zum gedeckten Tisch und rückte ihr höflich den Stuhl zurecht.

Maria Walser, die Hausdame, schob den Servierwagen auf die Terrasse und zog sich, so wie sie es mit Ute vereinbart hatte, sofort wieder zurück.

„Es ist zwar nur eine Kleinigkeit, aber ich hoffe, Sie haben ein wenig Appetit mitgebracht“, sagte Ute, als sie die silberne Platte mit den kunstvoll verzierten Kanapees auf den Tisch stellte.

Wilhelm kümmerte sich um den Wein. „Was darf ich Ihnen einschenken, Frau Conradi? Einen Ghibellino? Oder geben Sie dem Brunello den Vorzug?“

Franzi ahnte, dass Wilhelm sie testen wollte, und im Stillen beglückwünschte Franzi sich zu einem Vater, der ein großer Weinkenner war und ihr sein Wissen vermittelt hatte.

„Wenn ich mich schon entscheiden darf, dann nehme ich den Ghibellino. Ich muss gestehen, dass ich ihn schon lange nicht mehr getrunken habe.“ Sie lachte den Hausherrn an. „Er ist ja auch schwer zu bekommen, denn so weit ich informiert bin, füllt Guiseppe Rainoldi nur etwa zwölftausend Flaschen pro Jahr ab.“

„Oh, wir haben eine Kennerin unter uns.“ Bewunderung lag in Wilhelms Augen. Er kannte nur wenige Männer, die Wein-Verstand besaßen, und Franzi war die erste Frau, die etwas über den seltenen Ghibellino wusste.

Daniel und Ute entschieden sich für den Brunello aus der Toskana, und in Daniels Augen lag Stolz. Er wusste, dass Franzi sich bei edlen Tropfen auskannte. Schon oft genug hatte sie sein Wissen in den Schatten gestellt.

„Nun erzähle uns mal ein bisschen was über deine zukünftige Frau, mein Junge“, forderte Wilhelm seinen Einzigen auf. „Wie lange kennt ihr euch denn schon?“

„Fast ein Jahr“, antwortete der Jüngere.

„Was?“ Wilhelm schaute ihn vorwurfsvoll an. „Und du hast es fertig gebracht, uns so etwas Hübsches vorzuenthalten?“ Der Hausherr wandte sich an Franzi. „Hat er Ihnen auch gesagt, dass Sie die erste Frau sind, die er mit nach Hause bringt?“

„Das ist mir neu“, entgegnete Franzi und lachte. „Ich nehme es als Kompliment.“

Daniels Mutter hatte sich bis jetzt zurückgehalten. Ein grübelnder Ausdruck lag in ihren dunklen Augen.

„Gibt es vielleicht einen bestimmten Grund, dass du uns plötzlich eine Schwiegertochter vorstellst?“

„Ja, wir machen euch zu Großeltern.“ Stolz schaute Daniel in die Runde, dann nahm er Franzis Hand und zog sie an die Lippen. „Ich bin sehr glücklich, und ich kann es kaum erwarten, meinen Sohn in den Armen zu halten.“

„Er lässt es sich einfach nicht ausreden“, sagte Franzi hilflos lächelnd. „Dabei steht es noch gar nicht fest, was es wird. Ich bin doch erst in der sechsten oder siebten Woche. Doktor Holl sagte, dass man …“

„Oh, Sie lassen sich von Doktor Holl betreuen?“, unterbrach Ute Oppermann sie anerkennend. „Sie haben eine gute Wahl getroffen, meine Liebe.“

„Ich schlage vor, dass wir uns duzen“, sagte Wilhelm und hob sein Glas. „Trinken wir auf unser neues Familienmitglied.“ Er stellte das Glas bedächtig beiseite und sagte zu seiner Frau: „Du erlaubst doch?“ Eine Antwort wartete er nicht ab, stand auf und nahm Franzis Gesicht in die Hände. Ungeniert küsste er sie auf die frischen Lippen. „Du musst nicht Papa zu mir sagen, ich heiße Wilhelm.“

„Und ich Ute“, sagte die Dame des Hauses, die sich mit zwei Küsschen auf Franzis Wangen begnügte.

„Ich bin sehr froh, dass ich so herzlich aufgenommen werde“, sagte Franzi und schaute strahlend lächelnd in die Runde. „Ich muss gestehen, dass ich mich ein bisschen gefürchtet habe.“

„Ich bitte dich, Franzi, wir sind doch keine Unmenschen“, behauptete der Hausherr charmant lächelnd und griff zur Flasche. „Noch ein Schlückchen?“

„Da kann ich nicht widerstehen, Herr … äh … Wilhelm.“

„Frauen in deinem Alter sagen oft Bill zu ihm“, warf Ute ironisch ein.

„Bill? Das klingt hübsch.“ Franzi war viel zu sehr damit beschäftigt, einen guten Eindruck zu machen, um auf Ute zu achten. „Ich glaube, daran kann ich mich gewöhnen.“

„Daniel hat uns nicht viel über dich erzählt“, sagte Ute und bemühte sich, der Unterhaltung eine andere Wende zu geben. „Wollen … willst du das nicht nachholen, Franziska?“

„Ach, viel gibt es da nicht zu sagen. Ich studiere Architektur, denn ich möchte mal in die Fußstapfen meines Vaters treten. Wenn ich in München bin, lebe ich in meinem Appartement in Schwabing. Die Wochenenden verbringe ich oft mit Papa.“ Sie nahm Daniels Hand. „Das heißt, wenn Daniel keine Zeit hat. Papa lebt in Friedrichshof. Ein winziges Dorf mit ungefähr zwanzig Häusern. Doch mir gefällt es dort, und wenn ich mit Papa zusammen bin, fachsimpeln wir meistens. Schließlich soll ich sein Büro einmal übernehmen.“

„Conradi?“ Utes Brauen schoben sich leicht zusammen. „Doch nicht etwa ‚der‘ Conradi? Weißt du, ich interessiere mich sehr für Architektur. Ich war im ersten Semester, als ich Wilhelm kennenlernte. Er war mir wichtiger als das Studium, doch manchmal, wenn ich zurückschaue, bereue ich es, das Studium an den Nagel gehängt zu haben.“

„Wenn ich ehrlich bin – mir sagt der Name Conradi nichts“, warf der Hausherr ein. „Ist das eine Bildungslücke?“ Er schmunzelte, denn wenn es so war, so berührte es sein Selbstwertgefühl nicht.

„Aber Wilhelm, Hubert Conradi ist ein fantastischer Architekt, der schon viele internationale Auszeichnungen bekommen hat. Ich glaube, sein letztes Werk war das Kulturzentrum in Wien, für das er auch einen Preis bekommen hat.“ Vorwurfsvoll schaute Ute ihren Mann an und lächelte schief, als sie sich an Franzi wandte: „Er kennt leider nur seine Arbeit.“

„Apropos Arbeit“, meldete Daniel sich zu Wort. „Wenn ich verheiratet bin und Frau und Kind habe, kannst du dich doch endlich zur Ruhe setzen, Papa. Dann kannst du dir endlich deinen Traum von einem ruhigen Leben erfüllen.“

Wilhelm rieb sich nachdenklich das Kinn. Er dachte an Betty, die immer öfter darauf drängte, mit ihm im Süden zu leben.

„Wann wollt ihr denn heiraten?“

„Jetzt haben wir Ende Mai“, überlegte Daniel laut und schaute Franzi fragend an. „Im August bist du im vierten Monat. Ich kenne mich da nicht so aus, aber ich glaube, da sieht man noch nicht viel – oder? Ich sage das nur, damit du deinen Traum von einer Hochzeit ganz in Weiß verwirklichen kannst.“

„Und ich möchte eine weiße Kutsche, die mit roten Rosen geschmückt ist und von vier weißen Pferden gezogen wird“, fügte Franzi begeistert hinzu.

Daniel küsste zärtlich ihre Hand. „Du bekommst alles, was du willst“, versicherte er und wandte sich an die Eltern. „Ich hoffe, es ist euch recht? Ich möchte, dass unser Kind meinen Namen trägt, wenn es zur Welt kommt.“

„Oh, da kommt noch einiges auf uns zu, Franzi.“ Ute Oppermann war jetzt in ihrem Element, und niemand achtete auf Wilhelm, der ins Haus ging und sich einen Cognac gönnte.

War Daniels plötzliche Heiratsabsicht vielleicht ein Wink des Schicksals? Bis heute hatte der alte Oppermann gezögert, die Leitung der Firma abzugeben. Daniel erschien ihm noch nicht genug gefestigt. Doch wenn er eine Familie gründete, so hatte er sicher auch die Absicht, seinen lockeren Lebenswandel aufzugeben.

„Ich kann auch einen gebrauchen“, sagte Daniel, der ihm gefolgt war. „Unsere Damen vermissen uns nicht. Sie schwelgen in Hochzeitsvorbereitungen.“ Daniel trat neben seinen alten Herrn und schenkte sich einen Cognac ein. „Was meinst du zum Generationswechsel an der Firmenspitze?“

„Ich werde darüber nachdenken“, entgegnete der Ältere ausweichend. „Jedenfalls möchte ich diese Entscheidung nicht übers Knie brechen, aber ich bin nicht abgeneigt.“

Daniel strahlte. Er hatte also richtig kalkuliert! Allein schon die Aussicht, bald der große Boss in der Firma zu sein, bestätigte ihm, wie richtig es gewesen war, sofort eine Ehe ins Auge zu fassen. Das Kind, das Franzi von ihm bekam, ebnete Daniel den Weg zur Macht, und für ihn gab es nichts Erstrebenswerteres.

***

Als Franzi an diesem Morgen vom laut schrillenden Radiowecker aus dem Schlaf gerissen wurde, überlegte sie, ob sie überhaupt zur Uni fahren sollte. Sie fühlte sich müde und zerschlagen. Schon wollte sie sich zur Seite rollen, als ihr einfiel, dass Professor Dr. Merten heute seine erste Vorlesung hielt. Der Privatdozent war sehr gefragt, und wenn sie sich nicht beeilte, bekam sie keinen Platz mehr.

Franzi schwang die Beine aus dem Bett, doch kaum stand sie auf den Füßen, setzte sie sich wieder. Heftiger Schwindel machte ihr zu schaffen. Als sie sich mit beiden Händen das Haar aus dem Gesicht strich, registrierte sie, dass ihre Haut mit kaltem Schweiß bedeckt war.

Sie ließ sich auf den Rücken gleiten und starrte zur Zimmerdecke. Franzi lauschte in sich hinein. Nein, übel war ihr nicht. Vielleicht gehörten Schwindelgefühle auch zu den Unpässlichkeiten einer Schwangerschaft?

„Das kann ja heiter werden!“ Seufzend richtete sie sich auf und blieb auf der Bettkante sitzen. Seltsam, jetzt fühlte sie sich wieder völlig normal.

Trotzdem bewegte Franzi sich vorsichtig, als sie zum Badezimmer ging, doch die Attacke wiederholte sich nicht mehr, und eine knappe Stunde später saß sie in ihrem Kleinwagen, in ihrer knallroten Nuckelpinne, und fuhr zur Uni.

Karin Eichborn winkte, als Franzi sich nach einem freien Platz umschaute. Sie hatte soeben Platz genommen, als Professor Merten den Raum betrat.

„Mensch, der sieht ja galaktisch gut aus“, flüsterte Karin mit glänzenden Augen.

Auch Franzi wunderte sich, denn der Professor wirkte noch sehr jung. Das braune Haar war kurz geschnitten, und da Franzi und Karin in der vierten Reihe saßen, konnten sie sogar die Augenfarbe des Privatdozenten erkennen.

„Den würde ich nicht von der Bettkante stoßen“, sagte Karin verträumt lächelnd.

„Lass das nicht Benno hören“, stichelte Franzi. „Der ist auch ohne Merten schon eifersüchtig genug.“

Karin kicherte. „Ich hole mir doch nur ein bisschen Appetit. Benno ist und bleibt die Nummer eins.“

Professor Dr. Leon Merten begann mit der Vorlesung. Er behandelte das Thema Energiesparhaus, sprach über Solarenergie und Erdwärme. Die Studenten hörten ihm interessiert zu, doch die weiblichen unter ihnen sahen im Professor mehr den Mann und nicht den Dozenten.

Die Zeit verging wie im Flug, und nach der Vorlesung wurde der Professor von Studenten umlagert, die noch einige Fragen diskutierten. Auch Karin war unter ihnen. Franzi allerdings verließ eilig das Gebäude, denn sie hatte noch einen Termin bei der Schneiderin, die das Hochzeitskleid nach alten Vorlagen fertigen sollte.

Nur noch gute hundert Meter trennten sie vom Parkplatz, als ein schneidender Schmerz ihren Unterleib durchschnitt, ein Schmerz, der ihr sekundenlang den Atem nahm.

Franzi lehnte sich an einen Baumstamm. Sie atmete kurz und flach, kalter Schweiß brach ihr aus den Poren, und vor ihren Augen tanzten graue Nebelschleier.

Ihr Blick fiel auf eine Bank, doch Franzi befürchtete, die kurze Strecke nicht bewältigen zu können. Ein nie gekanntes Schwächegefühl durchströmte ihren Körper. Franzi ahnte, dass sie kurz vor einer Ohnmacht stand. Mit letzter Kraft stieß sie sich vom Baumstamm ab und taumelte zur Bank.

Als die Studentin saß, raste ihr Herz, und das Gefühl der Blutleere breitete sich in ihrem Kopf aus. Mit einem kleinen Seufzer ließ Franzi sich zur Seite gleiten und schaffte es noch, die Beine auf die Bank zu legen, bevor pechschwarze Dunkelheit ihr Bewusstsein ausschaltete.

Franzi wusste nicht, wie lange sie auf der Bank lag. Sie kam wieder zu sich, als jemand sie schüttelte und eine ferne Stimme an ihr Bewusstsein drang. Die Studentin verstand nicht, was die Stimme zu ihr sagte, doch sie wurde ärgerlich, denn sie empfand das Rütteln als sehr unangenehm, ja, fast grob.

Zögernd schlug sie die Augen auf und schaute in ein schmales Männergesicht. Ein besorgtes Augenpaar musterte sie.

„Hallo, können Sie mich verstehen?“

„Warum denn nicht?“, antwortete sie mürrisch. „Sie sprechen schließlich nicht chinesisch.“

„Na, das hört sich ja schon ganz gut an“, sagte der Mann und ging neben der Bank in die Hocke. „Haben Sie das öfter?“

Erst jetzt erkannte Franzi den Mann. Es war der Privatdozent Professor Dr. Merten. Ihre Wangen röteten sich leicht. Was musste er von ihr denken? Vielleicht hielt er sie für betrunken? Vielleicht vermutete er sogar, dass sie unter Drogen stand?

Mühsam setzte Franzi sich auf und fuhr sich über die blonde Löwenmähne.

„Es … es war ein Schwächeanfall“, sagte sie entschuldigend, als Merten sich neben sie setzte. „Nun schauen Sie mich nicht so an. Ich lüge nicht.“

„Das habe ich auch nicht angenommen.“ Sein nachsichtiges Lächeln ärgerte sie, denn es gab ihr das Gefühl, klein und hilflos zu sein. „Jedenfalls lasse ich Sie so nicht auf die Menschheit los. Sind Sie mit dem Auto hier?“

„Ja – warum?“

„Weil es mir nicht ratsam erscheint, dass Sie sich ans Steuer setzen. Wenn Sie erlauben, bringe ich Sie nach Hause.“

Ihre Blicke begegneten sich, und Franzi war sicher, noch nie so ein Blau gesehen zu haben. Es war ein intensives strahlendes Blau, das durch die dunklen Wimpern noch betont wurde.

„Ich schaffe es schon allein“, sagte sie trotzig und stand auf. Sofort setzte sie sich wieder, denn sie hatte das Gefühl, als schwanke der Boden unter ihren Füßen.

Professor Merten schüttelte den Kopf. „Warum wollen Sie sich nicht helfen lassen? Haben Sie Angst vor mir? Keine Sorge, ich tue Ihnen nichts.“

Sein Spott war nicht zu überhören, und Franzi musste sich eingestehen, dass sie sich unmöglich benahm. Warum sollte sie seine Hilfe nicht annehmen? Sie wandte den Kopf und schaute zum Parkplatz, und sie hatte das Gefühl, keine drei Schritte allein bewältigen zu können.

„Tut mir leid, ich wollte Sie nicht beleidigen“, sagte sie leise. „Haben Sie denn so viel Zeit, um mich nach Hause zu bringen?“

„Ich nehme sie mir“, entgegnete er und reichte ihr den Arm. „Stützen Sie sich.“

Schon nach wenigen Schritten spürte Franzi wieder diesen seltsamen Schmerz im Unterleib, und sie protestierte nicht, als Professor Merten einen Arm um sie legte.

Der Weg zu seinem Wagen erschien Franzi endlos, und sie war schweißgebadet, als sie endlich auf dem Beifahrersitz saß. Mit schwacher Stimme nannte sie ihre Adresse und schloss die Augen.