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Beschreibung

Aufstieg und Ende eines pompösen Scharlatans

Der Hellseher Oskar Lautensack ist auf dem Weg nach ganz oben. Längst sind es nicht mehr die kleinen Laute, die sich von Oskar Gewißheit über ihre ungewisse Zukunft erhoffen. Großindustrielle kommen zu ihm und auch SA-Stabschef Proell, der über ein "Signal" nachsinnt, das der Partei die absolute Herrschaft sichern soll. Oskar sieht, was Proell als Möglichkeit erwogen hat: Flammen in einem großen öffentlichen Gebäude. Doch der Hellseher Oskar Lautensack sieht nicht, das er damit sein eigenes Todesurteil gesprochen hat.

Dem Roman liegt die Lebensgeschichte des Telepathen Erik Jan Hanussen zugrunde, der 1933 ermordet wurde.

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Über das Buch

Aufstieg und Ende eines pompösen Scharlatans

Der Hellseher Oskar Lautensack ist auf dem Weg nach ganz oben. Längst sind es nicht mehr die kleinen Laute, die sich von Oskar Gewißheit über ihre ungewisse Zukunft erhoffen. Großindustrielle kommen zu ihm und auch SA-Stabschef Proell, der über ein »Signal« nachsinnt, das der Partei die absolute Herrschaft sichern soll. Oskar sieht, was Proell als Möglichkeit erwogen hat: Flammen in einem großen öffentlichen Gebäude. Doch der Hellseher Oskar Lautensack sieht nicht, das er damit sein eigenes Todesurteil gesprochen hat.

Dem Roman liegt die Lebensgeschichte des Telepathen Erik Jan Hanussen zugrunde, der 1933 ermordet wurde.

Über Lion Feuchtwanger

Lion Feuchtwanger, 1884-1958, war Romancier und Weltbürger. Seine Romane erreichten Millionenauflagen und sind in über 20 Sprachen erschienen. Als Lion Feuchtwanger mit 74 Jahren starb, galt er als einer der bedeutendsten Schriftsteller deutscher Sprache. Die Lebensstationen von München über Berlin, seine ausgedehnten Reisen bis nach Afrika, das Exil im französischen Sanary-sur-Mer und im kalifornischen Pacific Palisades haben den Schriftsteller, dessen unermüdliche Schaffenskraft selbst von seinem Nachbarn in Kalifornien, Thomas Mann, bestaunt wurde, zu einem ungewöhnlich breiten Wissen und kulturhistorischen Verständnis geführt. 15 Romane sowie Theaterstücke, Kurzgeschichten, Berichte, Skizzen, Kritiken und Rezensionen hatten den Freund und Mitarbeiter Bertold Brechts zum »Meister des historischen und des Zeitromans« (Wilhelm von Sternburg) reifen lassen. Mit seiner »Wartesaal-Trilogie« erwies sich der aufklärerische Humanist als hellsichtiger Chronist Nazi-Deutschlands.

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Lion Feuchtwanger

Die Brüder Lautensack

Roman

Inhaltsübersicht

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Erster Teil: München

Zweiter Teil: Berlin

Dritter Teil: Sophienburg

Zu diesem Band

Impressum

Erster Teil München

An diesem Mittwoch der ersten Maiwoche des Jahres 1931 saß der Hellseher Oskar Lautensack in der Wohnung seines Freundes Alois Pranner in München und sah trübe. Da ist er also wieder einmal gestrandet, da muß er also von neuem unterkriechen hier bei seinem Freund.

Der Mantel hängt, schlampig hingeworfen, über einem Stuhl, ein Paket in hartem, braunem Papier liegt auf dem Tisch, der abgewetzte Lederkoffer mit den paar dringlichsten Habseligkeiten steht mitten im Zimmer. In der Tasche aber hat Oskar Lautensack das, was ihn gezwungen hat, hier Zuflucht zu suchen, die Rechnung über die hundertvierunddreißig Mark, die er der Frau Lechner für seine zwei Zimmer in der Rumfordstraße schuldet und die er nicht zahlen kann.

So hockt er auf dem Sofa. Sein fleischiges Gesicht mit dem üppigen, tief in die Stirn gewachsenen, schwarzen Haar ist gewölkt von Unmut, der starke Mund ist verpreßt, die heftigen, dunkelblauen Augen unter den dicken, schwarzen Brauen blicken finster. Nichts wissen will er von der hausbackenen Behaglichkeit, mit der das Zimmer eingerichtet ist, nichts von der freundlichen Maiensonne, die es erfüllt.

Der Hellseher Oskar Lautensack hat Grund zum Verdruß. Zweiundvierzig Jahre ist er alt, und weiter fort ist er von der Erfüllung seiner Träume als je. Seitdem Krieg und Inflation vorbei sind, will die Welt nichts mehr wissen von seinen Künsten. Seit sieben vollen Jahren geht es ihm dreckig. In Schaubuden hat er sich produzieren müssen, auf Jahrmärkten, vor einem Pöbel, der sich über ihn lustig machte. Und wenn ihn schließlich auch die Bildhauerin Tirschenreuth von dort weggeholt, das Ärgste von ihm abgewandt und ihm durch die Maske wieder einen gewissen Ruf geschaffen hat, ein Vergnügen ist es nicht, hier bei seinem Freunde zu sitzen, dem Zauberkünstler Alois Pranner, und seine Frotzeleien anhören zu müssen, die gutmütig klingen und bösartig sind.

Vielleicht hätte er doch bei der Alten unterkriechen sollen. Die Alte, das ist die Bildhauerin Anna Tirschenreuth, nicht irgendwer, kein Artist wie Alois, sondern die erste Bildhauerin des Landes. Und sie gibt ihm nicht wie der Alois das Elend seiner äußern Lage in billigen Frotzeleien zu schmecken. Freilich fällt sie ihm dafür auf die Nerven durch ihre unerträgliche Strenge; beharrlich, einfach durch ihre Gegenwart, durch ihr großes, ernstes Gesicht, mahnt sie ihn an seine Sendung, an die Aufgabe, aufzuleben zu seiner Maske. Nein, das ist schon gehupft wie gesprungen.

Mit einem kleinen, verdrießlichen Schnauben steht er auf und wickelt das Paket aus. Es ist das bronzene Abbild seines Gesichtes, es ist die Maske, welche die Tirschenreuth gemacht hat. Er holt sich Hammer und Nägel von der brummigen, alten Kathi, der Haushälterin des Freundes, und die muß, es höchlich mißbilligend, zulassen, daß er die Maske an der Wand aufhängt. Sanft dann, zärtlich geradezu, mit seiner weißen, gepflegten, sehr fleischigen Hand streicht er über das Metall. Er kann nicht leben ohne den Anblick der Maske, und der billige Abguß, den Alois in seinem Schlafzimmer hängen hat, der ist gar nichts.

Er tritt ein paar Schritte zurück. Tausendmal hat er die Maske betrachtet, doch jetzt von neuem beschaut er sie, als sähe er sie zum erstenmal. Durch diese Maske ist dafür gesorgt, daß die Nachwelt einmal feststellen wird, was mit ihm los war. Wenn es die Mitwelt nicht tut, so ist das ihr Schade. Es ist ein Skandal, daß sich ein Mann von seiner Begabung immer wieder aus seiner Wohnung fortstehlen muß, damit ihn die Hauswirtin nicht sehe und nicht ein Geschrei anstimme wegen der unbezahlten Miete. Aber es ist beschämend nicht für ihn, sondern für die Epoche. Verlassen wir jetzt den Hellseher Oskar Lautensack, wie er dasteht und seine Maske betrachtet, und beschäftigen wir uns mit seinem Beruf, mit jener Begabung, auf die er so stolz ist, mit der Fähigkeit, geistige Regungen des Nebenmenschen durch andere Kanäle wahrzunehmen als durch die uns bekannten. Beschäftigen wir uns mit den Erscheinungen, die man zusammenfaßt unter dem Namen Parapsychologie oder Metapsychologie oder Okkultismus.

Die Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts hielt alle Forschungen auf diesem Gebiet für schiere Torheit. Wer sich anmaßte, über okkulte Fähigkeiten zu verfügen, wer vorgab, außersinnliche Erlebnisse zu haben, galt für den Gelehrten jenes Jahrhunderts als Schwindler, im besten Fall als Selbstbetrüger.

Auch die Wissenschaft unserer Zeit lehnt jegliche Art von Geisterseherei ab. Sie erklärt für Unsinn alle Berichte, es könnten Menschen oder Gegenstände ohne nachweisbare Ursache sich vom Boden erheben und schweben, und sie bezeichnet als Märchen die Erzählungen über die Entstehung von Schriftzügen ohne Benutzung eines Schreibgeräts. Andernteils leugnen ernsthafte Wissenschaftler unserer Zeit nicht mehr, daß eine Übertragung komplizierter geistiger Regungen von Mensch zu Mensch möglich ist auch ohne die uns bisher bekannten normalen Kommunikationsmittel, also ohne Sprache, Schrift, Gesten, Mimik und dergleichen.

Die Hauptschwierigkeit, sich mit diesen Dingen sachlich zu befassen, liegt darin, daß das, was übertragen oder empfangen wird, gewöhnlich nicht klare, aktenmäßig niederlegbare Tatbestände sind, nicht Worte und Gedanken, sondern Bilder. Übertragen werden nicht Begriffe, sondern der Rohstoff geistiger Tätigkeit, ein Gemisch aus Denken, Fühlen und Wollen. Übertragen wird der geistige Stoff, bevor er durch die Katalogisierungstätigkeit der Sprache raffiniert ist.

Zudem geben die Personen, die über metapsychische Fähigkeiten verfügen, die sogenannten Psychitiven oder Medien, den Stoff, den sie senden oder empfangen, nur selten rein und unverändert wieder. In den meisten Fällen fügen sie wissentlich oder unwissentlich hinzu oder ziehen ab. Schwindel ist häufig, Selbstbetrug sehr häufig auf diesem Gebiet. Der Ton der meisten Berichte ist so, daß man des Verfassers subjektive Ehrlichkeit nicht bezweifeln wird. Allein die subjektive Ehrlichkeit des Erzählers macht das Erzählte noch lange nicht zu einem Faktum. Der Reisende, der über eine Fata Morgana berichtet, mag seine Stadt in der Wüste wirklich erlebt haben; aber sie existiert nicht in der Wüste.

Ich führe einige der sehr vielen Zeugnisse an, welche die Literatur über den Okkultismus bietet.

Zeugnis Eins.

Immanuel Kant, der große Philosoph, schrieb im August 1763 einem Fräulein Charlotte von Knobloch unter anderm:

»… Es war im Jahre 1756, als Herr von Swedenborg, gegen Ende des Septembermonats am Sonnabend um vier Uhr nachmittags aus England ankommend, zu Gothenburg ans Land stieg. Herr William Castel bat ihn zu sich und zugleich eine Gesellschaft von fünfzehn Personen. Des Abends um sechs Uhr war Herr von Swedenborg herausgegangen und kam entfärbt und bestürzt ins Gesellschaftszimmer zurück. Er sagte, es sei eben jetzt ein gefährlicher Brand in Stockholm am Südermalm – Gothenburg liegt von Stockholm über dreihundert Meilen weit ab – und das Feuer greife sehr um sich. Er war unruhig und ging oft heraus. Er sagte, daß das Haus eines seiner Freunde, den er nannte, schon in Asche liege und sein eigenes Haus in Gefahr sei. Um acht Uhr, nachdem er wiederum herausgegangen war, sagte er freudig: Gottlob, der Brand ist gelöscht, die dritte Türe von meinem Hause.

Diese Nachricht brachte die ganze Stadt und besonders die Gesellschaft in starke Bewegung, und man gab noch denselben Abend dem Gouverneur davon Nachricht. Sonntags des Morgens ward Swedenborg zum Gouverneur gerufen. Dieser befrug ihn um die Sache. Swedenborg beschrieb den Brand genau, wie er angefangen, wie er aufgehört habe, und die Zeit seiner Dauer. Desselben Tages lief die Nachricht durch die ganze Stadt, wo es nun, da der Gouverneur darauf geachtet hatte, eine noch stärkere Bewegung verursachte, da viele wegen ihrer Freunde oder wegen ihrer Güter in Besorgnis waren. Am Montag abend kam eine Estafette, die von der Kaufmannschaft in Stockholm während des Brandes abgeschickt war, in Gothenburg an. In den Briefen war der Brand ganz auf die erzählte Art beschrieben. Dienstag morgen kam ein königlicher Courier an den Gouverneur mit dem Berichte von dem Brande, vom Verluste, den er verursacht, und den Häusern, die er betroffen, an; nicht im mindesten von der Nachricht unterschieden, die Swedenborg zur selbigen Zeit gegeben hatte, denn der Brand war um acht Uhr gelöscht worden.«

Zeugnis Zwei.

Im Oktober 1937 unternahm Sir Hubert Wilkins eine Nordpolexpedition. Er hatte mit Harold Sherman in New York vereinbart, daß sie versuchen wollten, dreimal in der Woche zwischen elf Uhr dreißig und zwölf Uhr nachts östlicher Zeit auf telepathische Art zu kommunizieren. Vorsichtsmaßnahmen dagegen, daß etwa Wilkins und Sherman auf andere Art miteinander in Verbindung träten, waren getroffen. Sherman saß um die vereinbarte Zeit in seinem Arbeitszimmer am Riverside Drive in New York und schrieb den Inhalt der jeweils telepathisch empfangenen Meldungen nieder. Eine Kopie dieser Meldungen schickte er dann an Professor Gardner Murphy von der Columbia University, eine andere Niederschrift an einen zweiten Gewährsmann.

Die so übermittelten Meldungen und die von dem Nordpolfahrer wirklich um die entsprechende Zeit erlebten Gedanken und Fakten sind einander gegenübergestellt in einem Bericht, den I. H. Irvin im »Cosmopolitan« im März 1939 veröffentlicht hat. Danach berichtete Sherman unterm 28. Oktober 1937: »C. ist bei Ihnen. Trägt ein Amulett.« Dazu bemerkt Wilkins: »Cheeseman kam an diesem Tag zu der Expedition. Trägt einen kleinen Pinguin aus Holz als Amulett.« Unterm 1. November schreibt Sherman: »Sie setzten sich heute mit der russischen Regierung in Verbindung über einige Fragen Ihres Flugs. Sie erklären, Sie können die Suche (russischer Flieger) nicht vor zwei Wochen aufnehmen, wenn sich nicht das Wetter radikal ändert.« Dazu bemerkt Wilkins: »Sprach um sieben Uhr dreißig telefonisch mit der Botschaft in Washington. Erklärte, ich würde vermutlich in zwei Wochen nach dem Norden aufbrechen.« Sherman wußte, daß Wilkins in der Arktis natürlich keinen Frack bei sich hatte. Trotzdem schreibt er unterm 11. November: »Sie sind in Begleitung von Militärs in Uniform. Einige Damen in Abendkleidern. Sie selber scheinen im Frack.« Wilkins bemerkt dazu: »Ball zur Waffenstillstandsfeier in Regina« (wohin Wilkins, ohne daß es jemand in New York hätte wissen können, geflogen war, um beschädigte Ausrüstungsgegenstände zu ersetzen). »Viele Offiziere der Armee und Polizei in Uniform. Ich konnte dem Ball beiwohnen dadurch, daß ich mir einen Frack auslieh.« Unterm 27. Januar schreibt Sherman: »Ein Hund scheint in Alkavik (einer winzigen Eskimo-Siedlung) verletzt und getötet worden zu sein. Wurde er im Kampf mit andern Hunden verletzt, oder ist etwas auf ihn gefallen? Ich sehe das Ganze sehr stark.« Und Wilkins bemerkt dazu: »Ging übers Eis spazieren, stieß auf einen toten Hund, er war durch den Kopf geschossen. Dachte einige Zeit intensiv darüber nach. Fragte mich, warum er wohl getötet worden sei.«

Zeugnis Drei.

Die Direktion der Österreichischen Nationalbank in Wien setzte ein Honorar von viertausend Kronen für die Eruierung eines Diebstahls von Banknoten aus. Der Hellseher Hermann Steinschneider, genannt Eric Jan Hanussen, verdiente sich das Honorar, indem er auf telepathische Weise feststellte, wo sich das gestohlene Geld befand. Die Bank teilte dem Schriftsteller Bruno Frei, der Hanussens Anteil an der Entdeckung des Diebstahls anzweifelte, folgendes mit: »Hanussen bezeichnete wohl die Stelle, wo die Banknotenbogen wahrscheinlich entwendet wurden, und meinte, daß gestohlene Noten sich im Hauskanal vorfinden würden, konnte jedoch die Person des Diebes nicht angeben. Durch das Geständnis des durch die Nachforschungen der Polizei überwiesenen Diebes wurden die Angaben Hanussens bestätigt. Aus diesem Grunde wurde ihm die Gratifikation zuerkannt.«

Solcher und ähnlicher Berichte gibt es Tausende.

Davon abgesehen hat eine französische Forschungsgesellschaft, ausgehend von der Überzeugung, daß es sich auf dem Gebiet der Telepathie um eine Übertragung von Bildern, nicht von Wortinhalten handle, methodische Versuche folgender Art gemacht. Man hat medial veranlagte Personen in verschiedene Räume gesetzt, häufig Hunderte von Kilometern voneinander entfernt, und sie aufgefordert, zu einer bestimmten Stunde das, was ihnen in den Sinn komme, zeichnerisch festzuhalten. An der Ehrlichkeit und Gutgläubigkeit derjenigen, welche die Versuche veranstalteten, kann nicht gezweifelt werden. Die Ergebnisse der Versuche wurden dann veröffentlicht.

Die Resultate der geglückten Experimente schauen so aus: Da gibt etwa einer einen primitiv gesehenen Baum wieder, und das korrespondierende Medium zeichnet etwas hin, was sehr wohl als Baum angesprochen werden kann; weniger Wohlwollende können freilich in dieser korrespondierenden Zeichnung auch eine Pyramide mit einem senkrechten Strich darunter sehen. In einem andern Fall zeichnet jeder der beiden Partner, unabhängig vom andern, etwas hin, was als nichts anderes gedeutet werden kann denn als eine Waage. Von wieder einem andern Paar zeichnet der eine Partner ein Kaninchen hin, der andere zeichnet etwas Kaninchenähnliches und schreibt vorsichtshalber dazu: »Kaninchen«.

Man sieht, das Material, das der metapsychischen Forschung zur Verfügung steht, ist vag. Dafür sind und waren von je die Gläubigen um so fanatischer. Schon Immanuel Kant hat sich wehren müssen gegen die Art, wie Hellseher und ihre Anhänger seinen Bericht über Swedenborg ausnützten. In einem hübschen, kleinen Buch »Träume eines Geistersehers« rückt er von diesen Fanatikern ab. Er leugnet nicht die Möglichkeit, daß hinter Swedenborgs Hellseherei Realität stehe, allein er verbrämt dieses Zugeständnis mit Scherz und Ironie. »Wem jene Erzählungen eine Sache von Wichtigkeit zu sein scheinen«, schreibt er, »der kann immerhin, im Fall er Geld genug und nichts Besseres zu tun hat, eine Reise auf eine nähere Erkundigung derselben wagen.« – »Torheit und Verstand«, meint er an anderer Stelle des Büchleins, »haben so unkenntlich bezeichnete Grenzen, daß man schwerlich in dem einen Gebiete lange fortgeht, ohne bisweilen einen kleinen Streif in das andere zu tun.« Und er kommt zu dem Schluß: »Die Schwäche des menschlichen Verstandes in Verbindung mit seiner Wißbegierde macht, daß man anfänglich Wahrheit und Betrug ohne Unterschied aufrafft. Aber nach und nach läutern sich die Begriffe, ein kleiner Teil bleibt, das übrige wird als Auskehricht weggeworfen.«

Es sind, seitdem Kant dieses kleine Buch veröffentlichte, viele »Beweise«, welche die Anhänger des Okkultismus beigebracht haben, zum Auskehricht geworfen worden. Die Basis aber, auf der alle Metapsychologie beruht, die Annahme, es sei eine Übertragung geistiger Regungen von Mensch zu Mensch möglich auch ohne die uns bekannten normalen Kommunikationsmittel, diese Grundannahme ist noch nicht entkräftet worden, im Gegenteil, die Wahrscheinlichkeitsbeweise, die für sie sprechen, haben sich gehäuft.

Kehren wir zurück zu dem Hellseher Oskar Lautensack, wie er an diesem Mittwoch im Mai 1931 in der Gabelsbergerstraße in München vor seiner Maske steht, äußerlich in reduzierten Umständen, in der Seele aber stolz, ungebrochen, voll von Gier und Hoffnung auf äußere und innere Erfolge.

Oskar Lautensack ist nicht groß, er ist eher untersetzt, breit, kräftig. Seine Freunde sagen, er habe einen Cäsarenkopf, seine Gegner finden, es sei der Kopf eines Komödianten. Er selber ist überzeugt, jenes Finster-Strahlende zu besitzen, das Anna Tirschenreuth in der Maske dargestellt hat. Gewiß, es ist noch Gemeines in ihm, Billiges. Aber er wird es austilgen. Er ist auf diesem Weg ein großes Stück vorwärts gegangen, als er sich und der Tirschenreuth gelobte, alle Tricks zu unterlassen und seine ganze Kraft der reinen Telepathie zu widmen. Bis jetzt, länger als ein Jahr, ist er diesem Gelöbnis treu geblieben. Er wird durchhalten. Er wird zu seiner Maske aufleben.

Nicht wenige Menschen erwarten das von ihm. Nicht nur die mancherlei Frauen in mancherlei Städten, die ihm zugefallen sind, ohne daß er sich viel darum hätte mühen müssen; solche Anhängerschaft bewiese wenig. Aber es glaubt an ihn auch sein Bruder, der Hans, und das ist ein harter Bursche, der es einem nicht leicht macht. Desgleichen glaubt an ihn sein Freund, der Zauberkünstler Alois Pranner, auch er ein starker, zweifelsüchtiger Kopf. Und vor allem glaubt an ihn die Alte, Anna Tirschenreuth, die Bildhauerin.

In ihrer Maske hat sie diesen Glauben sichtbar gemacht. Diese Maske, die in Wahrheit ein Abbild seines Innern ist, zeigt jedem, der es sehen will, daß er es hat, das Schöpferische. Er meint natürlich nicht das bißchen armselige Telepathie. Was da an die Oberfläche dringt, das ist nichts als das letzte, traurige Rinnsel eines Stromes tief in seiner Brust. Denn durch ihn, durch Oskar, rinnt er, der große Urstrom, der die Quelle aller Kunst ist. Oskar hat die Intuition, das Daimonion, er hat das, was der Philosoph Kassner die »physiognomische Schau« nennt.

Freilich, zu einem Werk, das man dem blöden Beschauer auf der flachen Hand vorweisen könnte, gerinnt diese seine geheimnisvolle Begabung nicht. Aber hat vielleicht Sokrates ein »Werk« hinterlassen? Er besaß es nur, sein Daimonion: Gestalt wurde es ihm nicht.

Ihm, Oskar, genügt es, daß er den Funken hat. Wenn er in ihm aufglüht, dann ist das eine Wollust jenseits alles Beschreibbaren. Mit einer Frau zu schlafen ist, damit verglichen, ein kleiner, läppischer Genuß. Erfolg, Ruhm, Liebe, das alles ist nichts. Diejenigen, die das Schöpferische nicht haben, können einfach nicht ermessen, was Glück ist.

Im übrigen wird er sich auch den äußern Erfolg erzwingen. Je schlechter es ihm gegangen ist, so größer und begehrlicher sind seine Träume geworden, und alle haben sie sich erfüllt. Als Junge, als Student des Realgymnasiums seines Heimatortes, der kleinen bayrischen Stadt Deggenburg, hat er diese Stadt Deggenburg erobern wollen. Als er dann aus der Schule herausflog, weil er zweimal hatte sitzenbleiben müssen, hat er sich geschworen, er werde die Stadt München erobern. Jetzt, da er München erobert und wieder verloren hat und da er wieder einmal hier gestrandet ist, gelobt er sich, er werde nicht rasten, bevor er Berlin und das Reich erobert hat. Und wenn ihn der Alois Pranner noch so sehr frotzelt, er kommt wieder hinauf, er weiß es ganz genau. »Es ist mein unerschütterlicher Entschluß«, sagt er vor sich hin, durch die Zähne.

Seine heftigen, dunkelblauen Augen bohren sich in die bronzenen Züge der Maske. Bittend, beschwörend, drohend starrt er sie an; beinahe grotesk sieht er aus, maskenhaft selber. So spielt er sich und der Maske seinen festen Willen vor, eine ganze, lange Minute hindurch.

Dann, müde, doch weniger verdrossen, kehrt er zurück in die Wirklichkeit und das bürgerlich behäbige Speisezimmer des Zauberkünstlers Alois Pranner, genannt Cagliostro.

Dieser Alois Pranner saß am nächsten Morgen über seinem Frühstück und erwartete den Freund. Er war spät aus der Vorstellung heimgekommen, und Oskar hatte sich schlafen gelegt, ohne ihn abzuwarten.

Lang und knochig saß er da; den großen, kahlen Schädel mit den tiefliegenden Augen, der hohen Stirn und der krausen Nase hielt er über den Teller gebeugt, und er aß, trank und schmatzte gierig. Er sah mürrisch aus. Doch die alte Kathi, die, ihn bedienend, ab und zu ging, wußte, daß ihm keineswegs grantig zumute war. Leider freute sich der Herr Pranner auf seinen Freund und Spezi, den Herrn Lautensack, das Früchterl, den Hallodri, den ausgehausten Lumpen, den Unglücksmenschen.

Kathi hatte recht, Herr Pranner freute sich auf Oskar. Während er sich mit seinen großen, weißen, magern, geschickten Händen Brötchen belegte, abwechselnd mit Schinken und mit Käse, überdachte er mit grimmigem Behagen die Frotzeleien, mit denen er jetzt den Freund aufziehen wird.

Sie gehören zusammen, er, der Zauberkünstler Pranner, genannt Cagliostro, und der Gedankenleser Lautensack. Oskar ist ein Lump, stinkfaul, eingebildet, verlogen, anspruchsvoll, unzuverlässig, er hat alle zuwidern Eigenschaften, die man sich denken kann. Aber er hat auch das »Ich weiß nicht was«, den Funken. Alois könnte sich ein Leben ohne den Oskar nicht vorstellen.

Vor sechzehn Jahren, im zweiten Kriegsjahr, hat er Oskar kennengelernt, an der Ostfront. Vom ersten Augenblick an hat ihn der Oskar behext, und Alois hat sich die Behexung gerne gefallen lassen. Alois ist damals Postgefreiter gewesen, er hatte die Briefe des Bataillons zu zensurieren, und aus dieser Lektüre erfuhr er gewisse Ereignisse, die sich, den Briefempfängern noch unbekannt, in der Heimat ereignet hatten. Da hat ihm der Oskar einen interessanten Vorschlag gemacht: Alois solle Briefe mit solchen Neuigkeiten eine Zeitlang zurückhalten, und er, Oskar, wolle in der Zwischenzeit den Betroffenen jene Ereignisse aus den Briefen verkünden, so seine Hellseherei bewährend. An den Vergünstigungen, die eine solche Betätigung ihm zweifellos bringen werde, wolle er den Alois teilnehmen lassen. Alois hat angenommen, es ist alles gutgegangen, sie haben ausgezeichnet zusammengearbeitet, Oskars Begabung fiel höheren Ortes auf, sie haben, unterstützt von den Militärbehörden, im Hinterland Unterhaltungsabende veranstaltet zugunsten von Wohlfahrtskassen. Und während ihre Kameraden an der Front Entbehrungen litten und starben, haben sie in der Etappe ein angenehmes Leben geführt. Zusammengeschmiedet sind sie seit jener Zeit, spießgesellenhaft, spitzbübisch, in gegenseitiger Anerkennung.

Krach gegeben hat es in den langen Jahren ihrer Freundschaft unzählige Male. In der letzten Zeit gar, seitdem der Oskar dem Varieté Valet gesagt hat, können sie keine Stunde miteinander verbringen, ohne sich die saftigsten Grobheiten an den Kopf zu werfen. Aber sie brauchen das, sie genießen es. Und wenn auch jetzt der Oskar groß und protzig daherredet von seiner Sendung, so wird doch die Zeit kommen, da sie wieder auf einer Bühne zusammenarbeiten und die ganz große Zaubernummer schmeißen werden.

Endlich erschien der Oskar. Genau wie sich’s Alois vorgestellt hatte, tat er großartig und gab sich gnädig, als erwiese er dem Alois eine Gunst, wenn er bei ihm und von ihm lebe. Ja, besonders unverschämt war Oskar heute. Er aß mit Behagen von des Alois Käse und Schinken und Eiern und von seinem fetten Kuchen, genannt Gugelhopf, und würzte sich den Schmaus durch scharfe Hohnreden gegen den Geber.

Es war kein Wunder, daß Alois schließlich fuchtig wurde und ein Thema anschnitt, von dem er wußte, es werde den andern kratzen. Langsam, nicht ohne gut gespieltes Mitgefühl fragte er: »Und was hörst du von deinem Bruder?«

An diesem Bruder nämlich, dem Hans, hing Oskar, während Herr Pranner ihn durchaus nicht leiden konnte. Oskar hatte wenigstens Charme, der Hans Lautensack aber war ein höchst unliebenswürdiger Lump, ein Verbrecher schlechthin. Und wenn man ihm, höllisch schlau, wie er war, lange Zeit wenigstens nichts hatte beweisen können, so hatte er sich jetzt auch noch erwischen lassen. Ein gewisser Franz Wiedtke war ermordet worden, in Berlin, und die Täterschaft des Hansgeorg Lautensack war einwandfrei festgestellt. Der Hans versuchte zwar, sich darauf hinauszureden, daß das Ganze eine politische Affäre gewesen sei, der Gegner habe ihn aus politischen Gründen attackiert, er habe ihn in Notwehr niederschießen müssen; der Hans hatte sich nämlich einer großen politischen Partei angeschlossen, den Nationalsozialisten, den sogenannten Nazi. Die halfen ihm auch in seiner faulen Geschichte, aber es schien ihm nichts zu nützen, diesmal drang er nicht durch, die Anklage blieb dabei, es sei bei dem Mord um eine zweifelhafte Dame gegangen, eine gewisse Karfunkel-Lissy, bei welcher der Wiedtke dem Hans Lautensack im Wege gestanden habe. Jedenfalls saß der Hans jetzt in Untersuchungshaft in Berlin, verwickelt in diese wüste Geschichte, in der es um Hals und Kragen ging, und der Alois Pranner hatte Grund zu der Annahme, er treffe den Oskar, wenn er sich nach diesem Hans erkundige.

Die Überlegenheit und das Behagen verschwanden denn auch von dem cäsarischen Gesicht des Oskar. »Ich habe von Hans seit etwa vierzehn Tagen keine Nachricht«, erwiderte er ablehnend, »aber sein letzter Brief klang zuversichtlich.« Doch so schnell ließ Alois das unerquickliche Thema nicht fahren. »Ich möchte nicht in der Haut des Hans stecken«, sagte er voll falschen Gefühles und tunkte bedächtig ein letztes Brothörnchen in den Kaffee; der magere Mensch konnte unendlich viel essen, ohne daß es ihm anschlug.

Grimmig hörte sich Oskar die Reden des Freundes an. Es war klüger, nichts zu erwidern. Einmal wird er doch von diesem Thema aufhören müssen. Einmal, bald, wird er anrücken mit seinem alten, ewigen Gebettel, Oskar möge doch zurück zum Varieté, und dann wird Oskar Gelegenheit haben, ihm die Gemeinheiten gegen den Hans heimzuzahlen.

»Ich weiß, Oskar«, fing auch nach einer Weile Alois an, den langen, kahlen, komisch-traurigen Schädel nachdenklich nach vorne geneigt, »es ist dir zuwider, aber ich muß doch noch einmal mit dir darüber reden.« Und dann kam die ganze alte, wohlbekannte Sauce. Oskar habe es doch nicht nötig, in solcher Misere zu leben. Warum gehe er nicht zurück zum Varieté? Warum mache er nicht zum Beispiel eine Nummer mit ihm, mit Alois?

Mit Lust schluckte Oskar diesen Honig. Mit Befriedigung hörte er bestätigt, daß also das Beharren in seinem elenden Zustand ein Opfer war, das er brachte, um seine Begabung rein zu erhalten. Er ließ den Freund ganz zu Ende reden, dann erst tat er seine Aufforderung mit eisiger, höhnischer Höflichkeit ab. Berief sich auf seine Sendung, auf die Gefährdung seiner Gabe durch die Anwendung von Tricks. Sprach von den Geheimnissen des Schöpferischen.

Alois grinste, erst leise, dann immer stärker, bis alle die weiß und goldenen Zähne seines langen, schmallippigen Mundes sichtbar wurden.

Auf dieses Grinsen antwortete hochfahrend Oskar, er verstehe schon, daß dem Alois daran liege, mit ihm zusammen eine Nummer zu machen. Eine solche Nummer hebe die Tätigkeit des Alois in die Sphäre des Geistigen; ohne ihn, den Oskar, sei er verurteilt, für immer so was zu bleiben wie ein gehobener Clown.

Immerhin, meinte gemütlich Alois, wäre der Oskar zum Beispiel jetzt aufgeschmissen ohne die Hilfe dieses Clowns.

So stritten sie hin und her, gründlich, mit Vergnügen. Sie sagten einander nichts Neues, unzählige Streitgespräche solcher Art hatten zwischen ihnen stattgefunden, jeder kannte den andern bis in die letzte Falte.

Schweigend, ein wenig erschöpft, standen sie schließlich vor der Maske. Oskar grollte dem Gebild, das ihn immer wieder spornte, über seine Kraft hinauszugehen; gleichzeitig war er stolz darauf, Träger einer so großen Aufgabe zu sein. Alois, während er wünschte, der Scheißkerl von einem Freund möge endlich nachgeben und die Nummer mit ihm machen, freute sich, daß Oskar hartnäckig blieb, sein »Genie« nicht verriet und ihm so die Möglichkeit gab, ihn weiter zu bewundern.

Müde und befriedigt ließen sie ab von dem ewigen Streit. Es war spät, aber noch standen die Reste des Frühstücks auf dem Tisch. Sie brachen auf, einen kleinen Spaziergang zu machen und sich Appetit für den Mittag zu holen.

Die Bildhauerin Anna Tirschenreuth sah nach der Uhr. Es war drei Minuten vor zehn. Sie hatte Oskar aufgefordert, um zehn Uhr bei ihr zu sein, sie habe ihm eine Mitteilung zu machen.

Als sie erfahren hatte, er habe sich wieder einmal mit Schulden aus seiner Wohnung verdrückt und sei zu dem Pranner geflohen, hatte sie neue Schritte für ihn unternommen. Jetzt wollte sie mit ihm sprechen über das, was sie erreicht hatte.

Sie saß im Sessel, schwer, massig. Das große Gesicht mit der platten Nase, den grauen, etwas müden Augen und den verfärbten Haaren, die einst rot gewesen waren, sah kummervoll aus. Sie war noch keine sechzig, man pflegte zu rühmen, ihr Werk habe erst jetzt seine Blüte erreicht, sie stehe in ihrer besten Kraft. Ach, was wußten die. Sie war alt, ihr Leben lag hinter ihr, es war ein hartes Leben gewesen, sie hatte kämpfen müssen, mit sich und mit den andern, sie hatte es sich und den andern nicht leicht gemacht. Jetzt hatte sie nur mehr ihr Werk und diesen Mann Oskar, den sie liebte wie einen Sohn, dieses schlechte Gefäß, von dem sie nicht wußte, ob nicht alles verloren sei, was man hineinschüttete.

Helles Licht füllte den Raum und zeigte deutlich die scharfen, strengen Falten ihres vergrämten Gesichtes. Zu den Fenstern schauten die Bäume des kleinen englischen Gartens herein, der das Haus umgab. Eine Glastür führte hinaus auf eine Terrasse, dahinter war eine stille Wiese und ein paar Baumgruppen mit Gebüsch, und wieder dahinter ein Bach. Mitten in der Stadt war man hier auf dem Lande, das Leben der Stadt war versunken.

Zehn Uhr acht. Anna Tirschenreuth saß und wartete. Der Stock, an dem sie zu gehen pflegte, lehnte am Sessel. Ziemlich schlaff saß sie da, vornübergeneigt. Sonst weiß sie untrüglich, ob sie etwas gut gemacht hat oder schlecht. Diesmal weiß sie nicht, ob das, was sie für Oskar getan hat, das Richtige war. Professor Hravliczek hat ironisch gelächelt, ein wenig mitleidig, als sie mit ihrem Handel zu Rand gekommen waren, und der Hravliczek ist ein höllisch kluger Mann.

Da war Oskar. Das starke Gesicht mit den heftigen, blauen Augen unter den dicken, dunkeln Brauen bemühte sich, gehalten auszuschauen, gleichmütig. Die Frau wollte es ihm leicht machen. »Da bist du ja«, sagte sie so beiläufig wie möglich.

Allein Oskar kam sich vor wie ein Junge, der die Schule geschwänzt hat. Wenn sie ihn gefragt hätte, warum er nicht zu ihr gekommen sei statt zu dem Alois, hätte er nichts zu erwidern gewußt. So war er als Bub, wenn er etwas angerichtet hatte, vor seinem Vater gestanden, voll Angst vor seinen groben Schimpfreden, seinem dicken, rötlichen Schnurrbart und seinem Rohrstock.

»Ich habe mit Professor Hravliczek gesprochen«, sagte jetzt Frau Tirschenreuth. »Man ist bereit, dich ständig zu beschäftigen gegen ein Monatsgehalt von zweihundertfünfzig Mark.« Sie atmete schwer; Oskar wußte nicht, ob er dieses schwere Atmen auf ihr Asthma zurückführen sollte oder auf den Inhalt ihrer Mitteilung. Denn Professor Hravliczek war Präsident der »Psychologischen Gesellschaft«, und das war die angesehenste Vereinigung, die für Oskar in Frage kam. Mehrmals war von einem solchen Engagement die Rede gewesen; doch Hravliczek, ein schwieriger, genauer Herr, hatte sich nicht binden wollen, auch gefiel ihm Oskar nicht recht. Es bedeutete also etwas, wenn Anna Tirschenreuth die Widerstände des Professors überwunden hatte. Zweihundertfünfzig Mark waren, da man Oskar in der »Psychologischen Gesellschaft« kaum öfter als dreimal im Monat benötigte, eine hohe Bezahlung. Und er wird, wenn er diesen Rückhalt hat, nicht mehr Gefahr laufen, aus seiner Wohnung hinauszufliegen, die demütigende Abhängigkeit von der Tirschenreuth und von Alois wird zu Ende sein.

»Natürlich müßtest du dann«, setzte ihm Frau Tirschenreuth auseinander, »ausschließlich den ›Psychologen‹ zur Verfügung stehen. Der Hravliczek hat nichts dagegen, daß du ab und zu in privaten Zirkeln unentgeltlich experimentierst. Aber er möchte nicht, daß du die Telepathie gegen finanzielles Entgelt betreibst. Er fürchtet, das könnte die Voraussetzungslosigkeit deiner Experimente beeinträchtigen, ihre Naivität, wie er sich ausgedrückt hat.«

Aha, dachte Oskar, da ist der Pferdefuß. Wenn er das unterschreibt, dann ist es ein für allemal aus mit den Plänen, die der Alois für ihn hat. Dann ist es Essig mit Geld und Ruhm und sensationellem Erfolg und begeistertem Publikum. Dann wird sein Name höchstens alle Vierteljahre einmal in Fachzeitschriften erscheinen, und niemand wird um ihn und seine Begabung wissen als ein kleiner Kreis von Gelehrten.

»Du wirst dann unabhängig sein«, hörte er die schwere, etwas heisere Stimme der Tirschenreuth weitersprechen. »Du wirst endlich dein Buch schreiben können. Ich habe dieser Tage wieder das Exposé in der Hand gehabt, das du mir als Geburtstagsgeschenk gegeben hast. Es könnte ein gutes, verdienstvolles Buch werden.« Sie sprach vor sich hin und sah ihn kaum an.

Er ließ sich jetzt, in diesem Augenblick, nicht gern erinnern an das Buch, sosehr der klingende Titel »Größe und Grenzen der Telepathie« ihm gefiel. Er legte sich nicht gerne fest. Doch in diesem Exposé hatte er sich, nachdem sie ihn endlos bedrängt hatte, unmißverständliche Thesen abgerungen. Der echte Telepath, hatte er dargelegt, könne die Gedanken anderer viel genauer und viel umfassender lesen, als man gemeinhin vermute. Auch sei diese Fähigkeit gewöhnlich verbunden mit viel Kraft der Suggestion, ein guter Gedankenleser sei fast immer ein guter Hypnotiseur. Ein läppischer Aberglaube hingegen sei es, anzunehmen, daß etwa eine solche Fähigkeit verknüpft sei mit der Kraft, Tote zu beschwören, die Zukunft vorauszusagen, oder mit ähnlichem. Wer erkläre, er vermöge dergleichen, sei ein Schwindler.

Das waren die Thesen, an die Oskar gerade jetzt nicht gern erinnert sein wollte. Er war noch voll von Phantasien, welche die Unterredung mit Alois in ihm hatte aufsteigen lassen, noch waren in ihm Vorstellungen von einem Meer begeistert hochstarrender Gesichter und einem Sturm rasenden Applauses. Andernteils ist es für ihn natürlich von vornherein entschieden, daß er derlei Träumen ein für allemal zu entsagen und das Angebot des Professors Hravliczek anzunehmen hat. Ein Leben, wie es ihm durch diesen Vertrag ermöglicht wird, ist genau das richtige. Endlich wird er sich ausschließlich der Entwicklung seiner Persönlichkeit, seiner Begabung widmen dürfen.

»Ich danke Ihnen, Frau Tirschenreuth«, hört er sich selber sagen. Er nimmt ihre Hand und drückt sie. Ihre Augen, die geübten Augen der Bildhauerin, beschauen diese seine drückende Hand, kommen nicht los von ihr. Sie hat sie dargestellt, diese Hand, wie sie sein Gesicht dargestellt hat. Es ist eine weiße, gepflegte, geschickte, fleischige, rohe, gewalttätige Hand.

Ihn indessen bewegte der Gedanke, daß sie, und nicht zum erstenmal, etwas für ihn vollbracht hatte, etwas Schwieriges, Mühevolles. »Sicher war es nicht leicht«, fragte er, »den Professor Hravliczek zu überreden?« – »Es war nicht leicht«, gab die Tirschenreuth zu, ohne ihn anzuschauen. »Was haben Sie ihm dafür geben müssen?« fragte er geradezu; er wollte wissen, wieviel er wert sei. »Den ›Philosophen‹«, sagte mit der gleichen Offenheit die Tirschenreuth.

Oskar schaute nach der Stelle, wo der »Philosoph« gestanden war. Von Anfang an war ihm das Zimmer verändert vorgekommen, ja, es war der leere Sockel, der die Veränderung bewirkt hatte. »Der Philosoph« war eine kleine Bronzestatue; man hatte der Tirschenreuth manches Angebot dafür gemacht, aber sie hatte das Werk geliebt und sich nicht davon trennen wollen. Dem Oskar war, als sähe er in der leeren Luft über dem Sockel die Umrisse des »Philosophen«, er starrte scharf hin, es war Luft, blieb Luft.

»Was hat der Hravliczek für die Skulptur gezahlt?« fragte er, sein dunkler Tenor, sonst samten und schmiegsam, klang gepreßt. »Ich hatte schon höhere Angebote«, sagte Frau Tirschenreuth ausweichend. »Aber er hat nicht unanständig bezahlt«, fügte sie schnell hinzu.

Anna Tirschenreuth ist nicht geizig, das hat Oskar häufig erfahren, und es wäre für sie ein kleines gewesen, ihm einen Betrag auszusetzen, von dem er drei oder vier Jahre bequem und ohne Verpflichtungen hätte leben können. Aber dafür ist sie zu streng und pädagogisch. Das bekomme ihm nicht, glaubt sie. Ein so einfaches Mittel wendet sie nicht an. Lieber verschafft sie ihm durch die Anstellung einen Halt und macht, um das zu erreichen, den schmerzlichen Umweg über die Hingabe der Skulptur.

Es wärmt ihm das Herz, daß ihn Anna Tirschenreuth so hoch einschätzt. Er wird es ihr und sich selber beweisen, daß sie ihn nicht überschätzt hat. Jetzt, da es ihm endlich vergönnt sein wird, seine ganze Kraft seinem Talent zu widmen, wird er zu seiner Maske aufleben. Wird das Buch schreiben. Wird das Einmalige, nur ihm Erlebbare darstellen: »Größe und Grenzen der Telepathie«.

Nachdem er diesen ernsten, ehernen Entschluß gefaßt hatte, trug er keinen Anstand, Anna Tirschenreuth in Hinsicht auf den bevorstehenden Vertragsabschluß mit dem Hravliczek um ein Darlehen zu ersuchen. Wenn sie ihm zweihundertfünfzig Mark liehe – das entspräche der ersten Monatsrate –, dann könnte er aus dem lästigen Zusammenleben mit Alois Pranner in seine stille Klause in der Rumfordstraße zurückkehren.

Frau Tirschenreuth gab ihm das Geld.

Er fuhr in die Gabelsbergerstraße. Packte, ohne den abwesenden Alois abzuwarten, seine Sachen.

Kehrte zurück in seine alte Wohnung. Zeternd stürzte Frau Lechner herbei, seine Wirtin, und erklärte, sie lasse ihn nicht herein, solange er nicht die rückständige Miete bezahlt habe. Hochmütig gab er ihr die Scheine.

Dann, voll Behagen, richtete er sich wieder ein in seiner Klause, in der er nun, wenn er erst den Vertrag mit den »Psychologen« abgeschlossen hat, ein paar ungestörte Jahre wird verbringen können.

Er packte den abgewetzten Lederkoffer aus und legte zurück in den Schrank, was er an Wäsche und Hauskleidung mitgenommen hatte. Es war da vor allem eine violette Hausjacke mit Seidenaufschlägen und hübsche, dazu passende Pantoffel; Alma hatte sie ihm geschenkt, die Schneiderin, unter seinen Freundinnen die treueste und von ihm am wenigsten beachtete. Dann stellte er zurück zu den andern Büchern den Band Swedenborg, den er zu Alois mitgenommen und nie aufgeschlagen hatte. Schließlich entschnürte er das Paket harten, braunen Papieres und hängte mit Sorgfalt die Maske auf über dem dunkeln Fleck, wo sie früher gehangen hatte.

Das verrichtet, setzte er sich in den Lehnstuhl und ergriff mit der Seele von neuem Besitz von seinem Zimmer. Durch die Absicht, den Vertrag mit dem Hravliczek zu schließen, und durch den damit verbundenen Verzicht auf seine Träume von äußerm Erfolg hatte er sich dies sein kleines Reich neu erobert.

So armselig das Zimmer herschaute, es war durchtränkt mit seinem Wesen. Da war der Schreibtisch. Er hatte ihn gerettet aus der Erbschaft des Elternhauses in Deggenburg. Es war der Schreibtisch, an dem der Vater gesessen war, der Magistratssekretär Ignaz Lautensack; an ihm sitzend, hatte er die Zeugnisse des kleinen Oskar geprüft, jene Zeugnisse, in denen vermerkt war, daß er wegen ungenügender Leistungen das Schuljahr wiederholen müsse, und von diesem Schreibtisch war dann der Vater aufgestanden, um ihn durchzuhauen. Da war weiter das Bild an der Wand, ein prunkvoll gerahmter Öldruck, darstellend den König Ludwig den Zweiten von Bayern, einen sehr stattlichen, schönen Mann, wie er sich, angetan mit einer silbernen Rüstung, in einem Nachen von einem Schwan über blaues Wasser ziehen läßt. So hatte das Bild während der Jahre seiner Kindheit auf Oskar Lautensack heruntergeblickt, verkörpernd Macht, Traum und Schönheit, alles im Leben Erstrebenswerte, ein Ideal und ein Ansporn. Da war weiter die Maske, die platonische Idee seines Selbst, zu der aufzuleben er sich verpflichtet hatte.

Und da war schließlich die vierte Wand, leer und ungeschmückt. Diese Leere aber hatte nicht weniger Beziehung zu seinem Innern als die Maske. In seinem Innern nämlich bekleidete Oskar diese Wand mit einem Bildteppich, mit einem Gobelin. Als Junge war er ein paarmal eingeladen worden zu dem Getreidehändler Louis Ehrental, dem reichsten Mann der Stadt Deggenburg – die kleine Franziska Ehrental machte manchmal einen Teil des Weges von der Schule nach Haus mit Oskar zusammen, und das bald scheue, bald großartige Wesen des Jungen hatte Eindruck auf sie gemacht –, und dort, im Hause des reichen Ehrental, hatte er einen solchen Wandteppich hängen sehn. Darauf dargestellt waren Herren und Damen, reitend in prunkvollen Gewändern; »es ist ein spätflandrisches Original«, hatte Frau Ehrental vornehm und beiläufig erklärt. Dieser Wandteppich hatte sich dem Knaben Oskar als Symbol äußersten Reichtums und Erfolges ins Hirn geprägt, eine innere Stimme sagte ihm, auch ihm werde es einmal beschieden sein, seine Wohnstätte mit solcher Pracht zu schmücken, und an diese äußere Aufgabe mahnte ihn die leere Wand, so wie ihm die Maske ständig die inneren Verpflichtungen vor Augen hielt, welche seine Begabung ihm auflegte.

Das waren die Träume und Symbole, die ihn umgaben, wie er so im Lehnstuhl saß in seinem neu eroberten Zimmer.

Professor Thomas Hravliczek wandte den rosighäutigen, von einem blonden Bart umrahmten Kopf dem eintretenden Oskar zu, ihn aus den kleinen, hellen Augen hinter der scharfen Brille musternd. »Setzen Sie sich«, sagte er zu Oskar, es war mehr ein Befehl als eine Bitte.

Er selber, der Hravliczek, saß zwerghaft inmitten des großen, dunklen Raumes, der bis zur Decke mit Büchern vollgestopft war. Oskar pflegte sich hochfahrend lustig zu machen über den Gnom, über seinen lächerlichen böhmischen Dialekt, über seine öde, umständliche Aufklärerei, aber er wußte, dieser Mensch, der da so lächerlich, wie hingeklebt, in seinem viel zu mächtigen Stuhl hockte, war ein schlauer, zäher, gefährlicher Feind. Niemals hatte ihn der Professor in Wort oder Schrift angegriffen, aber Oskar spürte, daß er alles an ihm anzweifelte, nicht nur seine Begabung, sondern sein ganzes Wesen.

»Ich höre von Frau Tirschenreuth«, begann nach einem unbehaglichen Schweigen Hravliczek, »daß Sie den Angeboten widerstanden haben, mit denen die Varieté-Bühne Sie zu locken versuchte. Wacker, wacker«, anerkannte er. Doch sein quäkender Ton und der fast belustigte Blick, mit dem er Oskar betrachtete, machten sein Lob zur Ironie.

Oskar, sonst nicht aufs Maul gefallen, fand nichts, was er hätte erwidern können. Er begnügte sich, die heftigen, dunkelblauen Augen unter den finstern, schwarzen Brauen drohend auf den Hravliczek zu richten. Aber auf den Zwerg machte das keinen Eindruck. Aus dem Dämmer heraus blitzte seine scharfe Brille; und mit einem kleinen, fast wohlwollenden Schmunzeln gab er Oskar seinen Blick zurück. Es war ein stummes Zwiegespräch. Oskar sagte stumm: »Du wirst es mir noch zugeben, daß ich mehr kann, als du denkst.« Der Zwerg seinesteils erwiderte stumm: »Schon gut, mein Lieber. Ich weiß, was du kannst und was du nicht kannst. Mir machst du nichts vor. Du bist eine kleine, beschränkte Abnormität.«

Laut, wie die Stummheit fast unerträglich wurde, sagte er: »Sie tun recht daran, Herr Lautensack, nicht mehr im Varieté aufzutreten. Gewiß ist die Telepathie eine unterhaltsame Sache, und es macht Spaß, zuzuschauen. Der Gedankenleser, der sich vor einem größeren Kreis produziert, kann wahrscheinlich auch Geld machen. Aber er leidet Schaden an seiner Fähigkeit. Mir wenigstens ist noch keiner untergekommen, der bei einer solchen öffentlichen Bühnenproduktion nicht nach dem Effekt geschielt hätte, und auf die Dauer nimmt diese Effekthascherei dem Telepathen die Unbefangenheit, die Naivität. Was ist das aber für ein Telepath, der mit ›Kunst‹ arbeitet, mit Vorbedacht? Was ist da seine ganze Gedankenleserei noch wert?« Der Professor sprach dozierend wie zu einem Schuljungen. Oskar empfand seine Sätze wie eine Abkanzelei, er fühlte sich gedemütigt.

Trotzdem wagte er nicht, dem Manne heimzuleuchten. Der Hravliczek war arrogant, eigenbrötlerisch, er hatte zweimal infolge seiner Streitbarkeit einen Lehrstuhl aufgeben müssen. Aber er galt als der erste Kenner auf dem schwierigen Grenzgebiet der Parapsychologie, des Okkultismus; auch Oskar stritt ihm sein Fachwissen nicht ab.

Der Professor nahm jetzt mit den dünnen Händchen seinen schweren Sessel an beiden Lehnen, schob sich und den Sessel weiter vor, Oskar näher auf den Leib rückend, und beschaute ihn interessiert, wie ein Versuchskaninchen, wie ein Phänomen, dazu ironisch, wie es dem Oskar schien. »Frau Tirschenreuth erzählte mir«, quäkte er in seinem komischen Böhmisch, »Sie wollten ein Buch schreiben. Viele Telepathen haben Bücher geschrieben, es ist wertloses Zeug geworden. Die Herrschaften können zuweilen die Gedanken und Gefühle der andern lesen, aber, wie es scheint, selten ihre eigenen. Es liegt wohl daran, daß die Besitzer telepathischer Fähigkeiten geneigt sind, die Bedeutung ihrer Fähigkeiten zu überschätzen. Wenn Sie das nicht tun, Herr Lautensack, wenn Sie ehrlich und ohne Affektation berichten, dann kann Ihr Buch wichtiges Material beisteuern.«

Dem Oskar war das Mißtrauen des Hravliczek gegen die Telepathen nichts Neues. Der Theorie des Professors zufolge war die Fähigkeit des Hellsehens kein Privileg, sondern ein Mangel. Für ihn war diese Fähigkeit ein Überbleibsel aus einer früheren Entwicklungsstufe. So wie uns der Blinddarm geblieben ist und ein rudimentärer Schwanz, so ist uns aus der Zeit, da unsere Kritik, unsere Vernunft noch wenig entwickelt war, ein Haufe atavistischen, jetzt unnützlichen Instinktes übriggeblieben, ein Haufe von Ahnungsvermögen, das nicht weiter vom Verstand kontrolliert wird. Dem Professor zufolge war der kritische Verstand des Gedankenlesers einfach zu dünnhäutig, die Ratio des Telepathen hielt der Hypertrophie seines Unterbewußten nicht stand.

Sich mit einem Herrn, der solche Theorien vertrat, in eine Diskussion einzulassen wäre sinnlos gewesen. Oskar beschränkte sich also auf einen Augenaufschlag der Hoffnungslosigkeit und wandte den Blick von dem Professor ab.

Da gewahrte er in einer dämmerigen Ecke des großen Zimmers die kleine Bronzestatue des »Philosophen«. Es war gemein. Da saß dieser verfluchte Professor und spreizte sich und verhöhnte ihn; dabei hatte er durch ihn ein so gutes Geschäft gemacht. Die Wut machte Oskar geistreich. »Ein Mann«, sagte er mit vollendet höflicher Ironie, »ein Mann, der willens ist, einem zweihundertfünfzig Mark im Monat zu zahlen, hat sich das Recht gekauft, einem seine Meinung an den Kopf zu werfen, auch wenn sie unhöflich ist.« Doch der Gnom schmunzelte nur in seinen rotblonden Bart und erwiderte: »Eine höfliche Wissenschaft, mein Lieber, die gibt es nicht. Für den Wissenschaftler bleibt ein Telepath« – er schmunzelte stärker – »nun eben ein Telepath.«

Auf Grobheiten erwidert ein weiser Mann weltmännisch. »Wir werden uns schon vertragen, Herr Professor«, sagte Oskar mit seiner samtigsten Stimme, konziliant lächelnd. »Der erste Kenner der Materie und ein immerhin nicht ganz schlechter Telepath, das wird schon gehen.«

Oskar erwartete, nach diesem Hinweis werde der Hravliczek endlich auf das Geschäftliche zu sprechen kommen. Oskar brauchte den Vertrag, brauchte vor allem eine Anzahlung auf den Vertrag. Allein der Professor sagte nichts, und von neuem entstand ein unbehagliches Schweigen.

Sollte Oskar die Rede auf den Vertrag bringen? Ganz leise erklangen in seinem Innern die Vorschläge des Alois, regten sich in ihm die begrabenen Träume seiner Bühnenlaufbahn. Nein, nach der Frechheit und Verachtung, die ihm der Zwerg bezeigt hat, wird er nicht von dem Vertrag anfangen. Eher beißt er sich die Zunge ab.

Er sprach also nicht von dem Vertrag, und da auch der Professor nicht davon sprach, so ging Oskar, nach einem letzten Blick auf den »Philosophen«, unverrichteterdinge.

Wenige Tage später bekam Oskar ein Telegramm aus Berlin, in dem ihm sein Bruder Hans oder Hannsjörg, wie er sich jetzt markig und neudeutsch nannte, mitteilte, er sei aus der Untersuchungshaft entlassen und werde übermorgen in München eintreffen.

Vor jedem, besonders vor Alois, hatte sich Oskar heftig zu Hansens Version bekannt, der habe seinen Gegner während eines politischen Streites in Notwehr getötet. Aber in seinem Heimlichsten hatte Oskar gewußt, die Anklage hatte recht, Hans hatte an den Einnahmen jener Karfunkel-Lissy teilgenommen und den Maler Wiedtke erschossen, weil der ihm bei dieser Dame im Weg gestanden war. Oskar hatte schlecht geschlafen, wenn er an Hans dachte und wie übel es um seine Sache aussah.

Mit um so tieferer Erleichterung las er das Telegramm, das ihm die glückhafte Wendung berichtete. Wenn es einen Menschen auf der Welt gab, den er liebte, dann war es der Hans, sein kleiner Bruder.

Oskar selber ist musisch, er hat die Schau, aber er ist der reine Tor, der Parsifal, von der harten, äußern Realität versteht er nichts. Hans hingegen ist nicht dumpf und langsam wie er selber, sondern ein Mensch, der die Tatsachen rasch und sicher durchschaut und sie anpackt, wie sie sind. Er und Hans ergänzen einander.

Das Telegramm ist des Morgens gekommen, Oskar war gerade im Begriff aufzustehen. Er hat Sinn für Formen. Er hat die hübsche, violette Hausjacke angezogen und die zugehörigen Pantoffel, das ist eine Ehrung für Hannsjörg und für das freundliche Schicksal. So sitzt er nun im Sessel, die Morgensonne fällt herein, sein starker, fleischiger Kopf lehnt an der Rückwand, und in diesem Kopf sind viele zärtliche Gedanken an den Bruder.

Ja, sie gehören zusammen, Hans und er, »orphisch, von den Müttern her, von Gewässern der Tiefe her«. Das ist so seit ihrer frühesten Jugend, die sie verbracht haben in der Stadt Deggenburg, dort die Volksschule besuchend und später das Realgymnasium. Zusammengehangen wie die Kletten haben sie allezeit und sich befehdet wie bissige Köter. Hundert schlaue, böse Streiche haben sie ausgeheckt und durchgeführt, spießgesellenhaft verbunden, einer den andern verratend, sich am Ende immer wieder zusammenfindend. Durchschaut haben sie einer den andern bis ins Letzte. Das Bösartigste, was ein Mensch dem andern sagen kann, haben sie sich gesagt, schonungslos, treffsicher. Aber obwohl der Hans ein Realist ist und keinen Sinn hat fürs Mystische, verehrt er an Oskar das Unheimliche, die Intuition, die Persönlichkeit, und Oskar bewundert Hansens Weltblick und Tatkraft. Und wenn sie in Not sind, gehen sie einer zum andern, überzeugt, daß dieser andere für ihn sein Letztes geben wird.

Ausgefüllt also von einer großen Wärme und Zärtlichkeit ist Oskar, wie er jetzt an den Bruder denkt. Es war seine innere Stimme, es war sein Daimonion, das ihn davor bewahrt hat, den Hravliczek an den Vertrag zu mahnen. Oskar weiß nicht, wie Hansens äußere Situation ist, ob er Geld hat oder nicht. Aber das weiß er, nun der Hans wieder frei ist, wäre der Vertrag mit den »Psychologen« nur eine Kette. In Ruhe jetzt wird er mit dem Hans bedenken und bereden, was er machen soll. So was wie der Vertrag mit dem zuwidern Zwerg, ein Vertrag mit zweihundertfünfzig Mark monatlich, wird es bestimmt nicht sein.

Oskars Blick geht von dem Bild des Bayernkönigs Ludwig zu der Maske, von der Maske zu der leeren Wand. Hans ist frei, jede Erfüllung viel näher gerückt. Nicht nur wird er das Buch schreiben, er wird auch den Gobelin erwerben und weltweiten Ruhm.

Wieder zwei Tage später, des Abends, stand Oskar auf dem Bahnsteig, den Kopf leicht vorgestreckt, seine Blicke suchten die Wagen des eben angelangten Berliner Zuges ab.

Da war der Kleine. Er kletterte heraus, gepäckbeladen, und, schau mal an, aus einem Coupé der Polsterklasse. Er sah noch schmächtiger aus, als Oskar erwartet hatte, blaß, alle Züge schärfer, der Mund noch schmaler, aber er grinste übers ganze Gesicht, vergnügt, spitzbübisch, spießgesellenhaft, zuversichtlich, frech, schlau; »kühn und siegesbewußt«, fand Oskar. Ja, großartig sah der Kleine aus, fand er, trotz seiner Magerkeit und seiner Stubenfarbe. »Fein ist das, daß ich dich wiederhabe«, erklärte er stürmisch, mehrere Male. Und einen hellen, neuen Sommerüberzieher trug er, der Kleine, und Polsterklasse war er auch gefahren, schau mal an.

Absteigen wollte er im Hotel Kaiserhof, das war ein gutes, nicht gerade billiges Hotel. Oskars Respekt vor der Lebenstüchtigkeit des Bruders nahm zu. Sie legten den sehr kurzen Weg zum Hotel zu Fuß zurück, durch den fröhlichen Lärm der abendlich geschäftigen Stadt. »Erzähle«, drängte Oskar, »es muß viel zu erzählen sein.« – »Viel und wenig«, antwortete Hans, er sprach laut, um den Lärm zu übertönen, er hatte eine hohe Stimme, die oft scharf und befehlshaberisch klang. »Aber du weißt doch sicher alles von selber, du Hellseher«, sagte er, Oskar aufziehend. »Ich habe mich furchtbar nach dir gesehnt«, sprach er ohne Übergang weiter, und es klang ehrlich. »Manchmal hätte ich deinen Zuspruch dringend nötig gehabt, manchmal war mir verdammt flau zumute.« – »Ich hab es gespürt«, erwiderte ernst Oskar, »ich hab es gewußt«, korrigierte er sich.

Sie kamen an. Hans ließ sich ein gutes Zimmer geben, trug sich ein. Das Gepäck wurde gebracht, der Kleine packte das Notwendigste aus, wusch sich. Oskar stand dabei, geradezu bewegt schaute er auf den schmächtigen Körper des Bruders.

Das Krisperl, dachte er. Sie schwatzten, während sich Hans wusch. Der erzählte, er ging jetzt mehr aus sich heraus. Berichtete, wie seine Sache hin und her geschwankt habe, je nachdem die Sache der Partei, der Nazi, günstiger gestanden war oder weniger günstig. »Aber wenn es noch so mulmig ausschaute«, sagte er, »eigentlich habe ich nie daran gezweifelt, daß es gut ausgehen wird. Ich habe gewußt, die Partei wird es schaffen. Sie hat es ja auch geschafft.« – »Mach dich nicht gar so klein«, meinte Oskar, »nicht für jeden hätte sich die Partei eingesetzt.« – »Nun ja«, entgegnete Hans, während er sich mit dem Handtuch den geröteten Rücken frottierte, »nun ja, ich habe meine Verdienste, und ich habe meine Beziehungen. Der Proell läßt mich nicht im Stich. Meine Freundschaft mit Manfred ist noch enger geworden«, erläuterte er großspurig, er grinste verschmitzt, gemein, seine freche, helle Stimme übertönte das Plätschern des Wassers. Es hielt sich aber die Partei eine Privatarmee, die sogenannten Sturmabteilungen, und der Manfred Proell, von dem Hans sprach, war der Stabschef dieser Armee.

Man aß auf dem Zimmer zu Abend. Hans berichtete weiter. Er war zu einem Helden der Partei geworden, zu einem großen Mann. Er war auf Kosten der Partei in München und zu Zwecken der Partei. Daher der neue Überzieher und die Polsterklasse.

Oskar, nicht schnell von Verständnis für äußere Zusammenhänge, mußte das alles erst verdauen. Der Kleine hatte also nicht nur die üblen Folgen der Mordaffäre abgewandt, er hatte aus der Geschichte noch Vorteile zu ziehen gewußt. Er selber, Oskar, konnte nicht mit äußern Erfolgen aufwarten, nur mit innern, konnte nur anführen, daß seine Kraft gewachsen sei. Das klang ein bißchen mager nach den eindrucksvollen Berichten des Kleinen. Der schaute ihn denn auch nur nachdenklich an und fragte sachlich roh: »Hast du eigentlich Pinkepinke zur Zeit?« Oskar ärgerte sich mehr über die schnoddrige Berliner Ausdrucksweise als über die Frage selber. »Es geht«, antwortete er vornehm. »Meine Zimmer in der Rumfordstraße kann ich halten.«

Später erzählte Hans, er werde morgen bei der großen Parteiversammlung im Zirkus Krone dem Führer vorgestellt werden und die Glückwünsche der Münchner Parteigenossen entgegennehmen. Manfred Proell werde eigens von Berlin herüberfliegen, um ihn dem Führer vorzustellen. Oskar müsse natürlich auch kommen. Oskar war sehr beeindruckt.

Er freute sich ehrlich über alles, was dem Bruder zugefallen war. Aber er dachte an den nackten, armseligen Körper, den er vorhin, da Hans sich wusch, gesehen hatte; er beschaute das spitze, schlaue Gesicht des » Krisperls«. Es blieb merkwürdig, daß ein Mensch von solchem Aussehen so viele greifbare Erfolge davontrug, und er selber mit seinem bedeutenden Kopf so gar keine. »Ohne Wahl verteilt die Gaben, ohne Billigkeit das Glück«, klang in seinem Innern ein Vers, den er in der Schule hatte lernen müssen.

Hans wollte bald schlafen gehen. Aber: »Bleib doch«, bat er den Bruder, »setz dich noch zu mir ans Bett.« Es klang sehr brüderlich, sehr nach Jugendzeit. Oskar tat denn auch, wie Hans wollte.

Der gähnte, dehnte und räkelte sich, wohlig. »Sie haben da so eine Art Wandbetten in Moabit«, erzählte er, »man muß sie herunterklappen. Sie sind nicht einmal besonders schlecht, sie sind ähnlich wie beim Militär, aber ich sage dir, gut geschlafen hab ich nicht. Wenigstens hat es sich bezahlt gemacht«, konstatierte er, tief befriedigt, und streckte sich von neuem. »Die Betten sind nicht schlecht hier«, anerkannte er, »überhaupt ist es ein gutes Hotel. Ich könnte mir natürlich auch die ›Vier Jahreszeiten‹ leisten. Aber es ist klüger, wenn wir Prominenten der Partei nicht zu sehr protzen.«

Oskar blieb, bis Hans eingeschlafen war. Er selber, zurückgekehrt in die Rumfordstraße, lag noch lange wach und dachte nach über die Erfolge des Bruders. Bei Gelde war er, der Kleine, das sah man, die Partei ließ ihn nicht hungern. Wenn das nur gut ausgeht, dachte Oskar, seinen Neid auf Hans in Besorgnis verwandelnd.

Der Hansl hat es immer verstanden, sich ein gutes Leben zu machen. Dafür hat er freilich auch immer in Gefahr leben müssen. Es war nicht schön, als damals im Krieg die Prozesse anrollten wegen der Klaviere, die der Hansl aus Polen nach Deutschland verschoben hatte. Und es war recht unangenehm, als einer von denen, deren Heimlichkeiten der Hansl in seinem Blatt »Das Blitzlicht« enthüllte, ihn wegen Erpressung angezeigt hatte. Auch die Geschäfte, die der Hansl jetzt trieb, sein Wirken für die Partei, stellte sich Oskar ungemütlich vor. Für nichts und wieder nichts ließ sich die Partei bestimmt keine so hohen Spesen aufrechnen, da mußte einer wohl schon mancherlei Risiko auf sich nehmen.

Hannsjörg heißt er also jetzt, der Kleine. Er hat den Oskar ausdrücklich darum gebeten, ihn nur mehr Hannsjörg zu nennen. Überhaupt gebraucht er ein bißchen viel norddeutsche Wendungen. »Mulmig«, »Pinkepinke«.

Soll er sich Hannsjörg nennen, wenn er sich was davon verspricht. Aber einfach wird es nicht sein für den kleinen Hansl aus Deggenburg, aufzuleben zu diesem markigen Namen.

Sehr langsam nur kam der Wagen voran, in dem die Brüder Lautensack zum Zirkus Krone fuhren, zur Massenversammlung Adolf Hitlers. Von allen Seiten strömten Menschen zu, überall war Polizei. Erwartung war in der Luft, Erregung. Schon in den letzten Wahlen hatte sich die Partei zur zweitstärksten des Reichs emporgeschwungen; ihre Anziehungskraft nahm zu.

Oskar hatte sich vor ein paar Wochen um die Mitgliedschaft beworben. Aber es war zu spät, jetzt drängten alle zu, die Parteileitung hatte eine vorläufige Mitgliedersperre verfügt.

Hans tadelte den Bruder liebevoll, er kümmere sich zuwenig um diese Dinge; Mitglied der Partei zu sein sei heute wichtig. Da müsse halt einmal wieder er, Hannsjörg, in die Bresche springen. Aber er werde es schon machen. Er werde Oskars Aufnahme in die Partei erwirken. Mit einer so späten Mitgliedsnummer, wie sie Oskar auf regulärem Weg erhalten könne, sei freilich nicht viel gedient. Da werde er, Hannsjörg, halt korrigieren und dem Oskar eine frühe Nummer besorgen. Und da Oskar nur lächelte, versicherte er ihm: »Du darfst mir schon glauben. Dein Bruder ist nämlich wer in der Partei.«

Oskar widersprach nicht; doch blieb sein Gesicht nach wie vor ungläubig. Hansens Tüchtigkeit reichte gerade hin, ihn zu dem zu machen, was er in seinen besten Zeiten war, zu einem erfolgreichen Schieber, Revolverjournalisten, Zuhälter. So mochte er jetzt vielleicht ein gut verdienender politischer Agent sein. Aber »wer in der Partei«? Nein, da riß der Kleine das Maul sicher wieder einmal mächtig auf.

Als sie indes in den Raum kamen, wo die Notabeln der Partei versammelt waren, nahm Oskar wahr, daß Hans keineswegs übertrieben hatte. Mit seinen Augen sah er, daß sein Hans, der kleine Hansl, Sohn des seligen Magistratssekretärs Ignaz Lautensack in Deggenburg, des Subalternbeamten, der Mittelpunkt war dieser glänzenden Versammlung. Umdrängt wurde er von den Führern der einflußreichsten politischen Partei Deutschlands, man beglückwünschte ihn, bemühte sich, ihm vorgestellt zu werden, befragte ihn achtungsvoll um seine Meinung über politische Probleme. Oskar war erstaunt bis zur Betäubung.

Es war nicht nur die Tatsache des Erfolgs, die dem Oskar Bewunderung für den Bruder abnötigte, es war auch die Selbstverständlichkeit, mit welcher der Kleine die Huldigungen der andern entgegennahm. Nicht die leiseste Befangenheit zeigte der Hans, er tummelte sich in dieser verwirrenden Umwelt wie ein Fisch im Wasser. Fortan, auch in seinen Gedanken, nannte Oskar den Bruder nicht mehr Hansl, sondern endgültig und ausschließlich Hannsjörg.

Übrigens erwies sich Hannsjörg als liebevoller Bruder. Oskar, mit seinem starken, bedeutenden Gesicht, fiel auf, die meisten der Notabeln hielten zunächst ihn für den neuen Helden der Partei. Hannsjörg nahm das nicht nur nicht übel, im Gegenteil, er schob den Bruder in den Vordergrund. Betonte, er selber sei ein Garniemand, der nur infolge günstiger Umstände der Partei habe Dienste leisten können, Oskar hingegen sei von Geburt her begnadet mit einer Gabe, die der Partei sehr viel tiefer nützlich werden könne, da sie auf eine gewisse Art verwandt sei mit dem Genie des Führers. Oskar hielt zu solchen Reden weislich den Mund und beschränkte sich darauf, bedeutend auszuschauen.

Dem Oskar persönlich bekannt war unter den Männern hier im Raum ein einziger, der Hofschauspieler Karl Bischoff. Laut und jovial ging dieser Karl Bischoff herum; jeder Raum, den er betrat, verwandelte sich zur Bühne. Er schüttelte Oskar ausdrucksvoll die Hand. Dieser Lautensack, der ein paar Stunden bei ihm genommen hatte, war nicht unbegabt; aber er war faul, er scheute die große Mühe, die man benötigt, um auch den alltäglichsten Satz in etwas jambisch-tragödisch Klingendes zu verwandeln und jede Geste so auszuführen, als ginge man auf dem Kothurn, wie es nun einmal die Aufgabe des großen Schauspielers ist. Freilich betätigte sich dieser Lautensack, genau wie der erfolgreichste von Karl Bischoffs Schülern, Adolf Hitler, nur im Leben, nicht auf dem Theater, und die plumpe Wirklichkeit erforderte ja erheblich weniger Talent und Kunst als die Bühne.

Dem Hannsjörg am meisten freund schien ein Mann, dessen