11,99 €
Bericht aus der Hölle. Mai 1940: Einer der politischen Flüchtlinge, die von den französischen Behörden im Lager Les Milles interniert werden, ist der Schriftsteller Lion Feuchtwanger. Wie so viele Nazi-Gegner hatte er in Frankreich Zuflucht gesucht. Doch nun sitzt er in der Falle, die Angst vor den heranrückenden deutschen Truppen erreicht im Lager ein kaum erträgliches Maß. "Liberté, Egalité, Fraternité stand riesig über dem Portal des Bürgermeisteramtes, man hatte uns gefeiert, als wir, vor Jahren, gekommen waren, die Zeitungen hatten herrliche, respektvolle Begrüßungsartikel geschrieben, die Behörden hatten erklärt, es sei eine Ehre für Frankreich, uns gastlich aufzunehmen, der Präsident der Republik hatte mich empfangen. Jetzt also sperrte man uns ein." Lion Feuchtwanger.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 458
Lion Feuchtwanger, 1884-1958, war Romancier und Weltbürger. Seine Romane erreichten Millionenauflagen und sind in über 20 Sprachen erschienen. Als Lion Feuchtwanger mit 74 Jahren starb, galt er als einer der bedeutendsten Schriftsteller deutscher Sprache. Die Lebensstationen von München über Berlin, seine ausgedehnten Reisen bis nach Afrika, das Exil im französischen Sanary-sur-Mer und im kalifornischen Pacific Palisades haben den Schriftsteller, dessen unermüdliche Schaffenskraft selbst von seinem Nachbarn in Kalifornien, Thomas Mann, bestaunt wurde, zu einem ungewöhnlich breiten Wissen und kulturhistorischen Verständnis geführt. 15 Romane sowie Theaterstücke, Kurzgeschichten, Berichte, Skizzen, Kritiken und Rezensionen hatten den Freund und Mitarbeiter Bertold Brechts zum »Meister des historischen und des Zeitromans« (Wilhelm von Sternburg) reifen lassen. Mit seiner »Wartesaal-Trilogie« erwies sich der aufklärerische Humanist als hellsichtiger Chronist Nazi-Deutschlands.
Bericht aus der Hölle
Mai 1940: Einer der politischen Flüchtlinge, die von den französischen Behörden im Lager Les Milles interniert werden, ist der Schriftsteller Lion Feuchtwanger. Wie so viele Nazi-Gegner hatte er in Frankreich Zuflucht gesucht. Doch nun sitzt er in der Falle, die Angst vor den heranrückenden deutschen Truppen erreicht im Lager ein kaum erträgliches Maß.
»Liberté, Egalité, Fraternité stand riesig über dem Portal des Bürgermeisteramtes, man hatte uns gefeiert, als wir, vor Jahren, gekommen waren, die Zeitungen hatten herrliche, respektvolle Begrüßungsartikel geschrieben, die Behörden hatten erklärt, es sei eine Ehre für Frankreich, uns gastlich aufzunehmen, der Präsident der Republik hatte mich empfangen. Jetzt also sperrte man uns ein.« Lion Feuchtwanger
Einmal im Monat informieren wir Sie über
die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehrFolgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:
https://www.facebook.com/aufbau.verlag
Registrieren Sie sich jetzt unter:
http://www.aufbau-verlag.de/newsletter
Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir
jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!
Lion Feuchtwanger
Der Teufel in Frankreich
Erlebnisse 1940
Inhaltsübersicht
Über Lion Feuchtwanger
Informationen zum Buch
Newsletter
Der Teufel in Frankreich
Die Ziegel von Les Milles
Die erste Nacht
Die Schiffe von Bayonne
Die zweite Nacht
Die Zelte von Nîmes
Die dritte Nacht
Die Gärten von Marseille
Tagebuch 1940
Les Milles 1940
Der Gespensterzug
Lager Nîmes
Marseille
Briefe
Marta Feuchtwanger: Die Flucht
Anhang
Nachbemerkung
Anmerkungen
Impressum
Erlebnisse
Und die Ägypter knechteten die Kinder Israel mit Härte.
Und sie machten ihr Leben bitter mit harter Frohn
in Mörtel und in Ziegeln. Und die Kinder Israel
bauten dem Pharao die Schatzstätten Pithom und Ramses.
Ich kann mir nichts Rechtes vorstellen unter den Schatzstätten Pithom und Ramses, und ich weiß nicht, ob die Bibelwissenschaftler erkundet haben, was es damit für eine Bewandtnis hat. Für mich haben die beiden feindlich, fremd und großartig klingenden Namen eine Bedeutung gewonnen, die keine noch so wohlbegründete wissenschaftliche Analyse wird ändern können.
Das kam so. Wir waren, die politischen Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei, die in Südostfrankreich wohnten, während des Krieges von den französischen Behörden eingesperrt worden in der großen, verlassenen Ziegelei von Les Milles bei Aix in der Provence. Wir waren unser über tausend, einmal waren wir beinahe dreitausend, die Ziffer wechselte, ein großer Teil von uns waren Juden.
In einem Ziegelbau waren wir untergebracht, und die Ziegel waren das Merkmal dieser Zeit. Ziegelmauern, durch Stacheldraht gesichert, schlossen unsere Höfe von der schönen, grünen Landschaft draußen ab, zerbröckelnde Ziegel waren überall gestapelt, sie dienten uns als Sitze und als Tische, auch dazu, das Strohlager des einen von dem des andern abzutrennen. Ziegelstaub füllte unsre Lungen, entzündete unsre Augen. Lattengestelle für die Ziegel liefen die Wände der Säle entlang und nahmen uns noch mehr weg von dem spärlichen Raum und von dem spärlichen Licht, und wenn uns kalt war, dann mochte wohl der eine oder andere von uns hineinkriechen in einen der leeren, großen Öfen, die zur Herstellung der Ziegel bestimmt gewesen waren, und sich wärmen an den Assoziationen des Wortes Ofen.
Wir mußten die Ziegel herumtragen, bald stapelten wir sie hier, bald dort. In Schubkarren fuhren wir sie herum, und dann, unter dem Kommando eines Sergeanten, warfen wir sie von Hand zu Hand und schichteten sie in bestimmter Ordnung. Die Arbeit war nicht eben schwer. Das Ärgerliche, Empörende daran war ihre vollkommene Sinnlosigkeit; denn sie war uns nicht aufgetragen zu einem vernünftigen Zweck, man wollte uns lediglich beschäftigen. Wir wußten, wir würden morgen oder übermorgen oder spätestens am dritten Tag die schön errichteten Ziegelstapel wieder zerstören und anderswo neu aufbauen müssen.
Da nun, eines Tages, während unter dem groben Kommando eines Sergeanten die Ziegel von Hand zu Hand flogen, während wir, Professoren, Anwälte, Ärzte, Landwirte, Arbeiter, statt uns mit unsern Büchern, Akten, Diagnosen, Wettervorhersagen, Maschinenteilen zu beschäftigen, die Ziegel stapelten, die wir am nächsten Tag wieder niederreißen würden, da, mit einem Mal, kam mir der Text jenes Bibelverses von den Kindern Israel, die für den Pharao von Ägypten Ziegel zu backen hatten für die Schatzstätten Pithom und Ramses. Ich stellte allerlei abwegige und wohl auch widerspruchsvolle Betrachtungen an. Unsere Vorväter hatten es schlechter gehabt als wir, denn sie hatten arbeiten müssen unter der Peitsche des Fronvogts; andernteils aber war es ihnen besser ergangen, denn ihre Tätigkeit war wenigstens sinnvoll gewesen. Dann wieder überlegte ich, daß es dem Sklaven, der helfen mußte, für den feindlichen Pharao eine jener »Schatzstätten« zu errichten, ziemlich gleichgültig war, ob er eine sinnvolle Tätigkeit ausübte oder eine sinnlose. Nach einer Weile gab ich es auf, darüber nachzudenken. Mechanisch aber, während ich meinen Ziegel empfing und dem Nachbarn zuwarf, dachte es in mir weiter: Pithom – Ramses – Pithom – Ramses.
Seither also hat für mich der Bibelvers eine bestimmte Färbung angenommen, einen bestimmten Tonfall. Er wird mir immer verbunden bleiben mit der Vorstellung von Staub und heißer Sonne und Stacheldraht und mit der Vorstellung eines gleichgültigen Sergeanten in rotem Fes, der mit grober Stimme kommandiert: »un, deux, un, deux«, und mit der Vorstellung von Männern in abgetragenen, zerlumpten Kleidern, die mit stumpfen, verstaubten Gesichtern einander Ziegel zuwerfen und die einstmals, vor gar nicht langer Zeit, gut angezogene Herren gewesen waren und eine ziemlich sinnvolle Tätigkeit ausgeübt hatten.
Pithom – Ramses – Pithom – Ramses.
Wenn ich von meinem New-Yorker Hotelfenster über den Central Park hinausschaue auf die Turmhäuser, die ihn rechts und links umgeben, und auf die riesige, lebendige, friedlich tätige Stadt, dann, häufig, frage ich mich, ob ich denn wirklich hier bin und wieso. Vor neun Jahren saß ich in meinem Haus in Berlin, im Grunewald, meine Bücher rings um mich, ein kleiner, friedlicher Kiefernwald stieg sanft von meinem Garten hinunter zu einem kleinen, friedlichen See, ich fühlte mich wohl, ich hatte keineswegs die Absicht, dieses Haus aufzugeben. Vor sechs Jahren saß ich in meinem weißen, stillen Haus in Sanary, in Südfrankreich, meine Bücher rings um mich, Olivenbäume stiegen hinunter zu dem sehr blauen Meer, ich fühlte mich wohl, ich hatte keineswegs die Absicht, dieses Haus aufzugeben.
Gewiß könnte ich hundert gescheite Gründe anführen, warum die Ereignisse vom Beginn des ersten Weltkrieges an bis heute genau so verlaufen mußten, wie sie verliefen, und warum also auch ich, getrieben von diesen Ereignissen, genau das Schicksal erfahren mußte, das ich erfuhr. Ich könnte hundert wohlklingende Erklärungen zustande bringen, warum ich im Anfang des ersten Weltkrieges in einem französischen Gefängnis in Tunis interniert und warum ich später in eine deutsche Uniform gesteckt wurde, warum ich in die Wirbel der kurzen deutschen Revolution und der langen deutschen Gegenrevolution hineingeriet, warum ich beschloß, von nun an aber die Welt nur mehr von meinem Berliner Schreibtisch aus zu betrachten, warum ich dann gleichwohl nach Frankreich verschlagen wurde und warum ich schließlich den zweiten Krieg zu einem großen Teil in einem französischen Konzentrationslager mitmachen mußte. Gewiß, für das alles, für den besondren Verlauf dieser meiner eigenen kleinen Erlebnisse nicht minder als für den Ablauf der großen Begebenheiten, die sie bedingten, gibt es eine Reihe rationell zureichender Gründe. Kluge Leute können sie aufzählen, diese Gründe, wirtschaftliche, biologische, soziologische, psychologische, allgemein philosophische. Ich selber könnte ein Buch darüber schreiben und die Zusammenhänge mit scharfer Logik darlegen.
In meinem tiefsten Innern aber weiß ich, daß ich nicht das Geringste weiß von den Ursachen des barbarischen Wirrwarrs, in welchem wir alle uns drehen. Ich bin wie ein Mann aus dem Urwald, der ein System von Telegrafendrähten sieht, aber keine Ahnung hat, warum man das errichtet hat, wozu es gut sein soll und wie es funktioniert. Und ich weiß ferner, daß niemand auf der Welt, auch der bestinformierte Staatsmann nicht, das Warum, Wieso und Wozu dieses Krieges wissen kann. Und selbst wenn einmal alle Akten vorliegen, auch dann wird man höchstens ein wenig mehr wissen über die unmittelbaren Ursachen und Zusammenhänge einzelner Fakten, das Urteil aber über den Gesamtverlauf wird immer einzig und allein von der geistigen Beschaffenheit des Betrachters abhängen und nur über ihn etwas aussagen. Tausend kundige Geschichtsschreiber weisen mit geistreichen, zwingenden Gründen nach, warum das Römische Reich zugrunde ging, warum das Christentum die heidnische Welt ablöste, warum die Französische Revolution entstand, warum das alles so kommen mußte und gar nicht anders kommen konnte: nur sind die zwingenden Gründe jedes Geschichtsschreibers andere. »Geschichte ist die Sinngebung des Sinnlosen«, hat ein gescheiter deutscher Professor gesagt, der dann von den Nazis erschlagen wurde.
Wenn ich also auf den folgenden Seiten berichte, was mir in Frankreich während des Krieges zugestoßen ist um die Wende von meinem sechsundfünfzigsten zu meinem siebenundfünfzigsten Lebensjahr, dann werde ich gar nicht erst den Versuch machen, Ihnen, Leser, meine Meinung aufzudrängen über die letzten Gründe, warum gerade dieser Mensch, der Schriftsteller L. F., in gerade diese Situation geriet. Nennen Sie diese Gründe, wie Sie wollen: Zufall oder Notwendigkeit oder göttliche Vorsicht. Ich, Leser, werde Sie nicht behelligen mit meinen eigenen Ansichten über die Gründe, warum ich, ein im Grunde kontemplativer Mensch, der nichts anderes anstrebt, als in Ruhe zu leben, zu lesen und zu schreiben, warum gerade ich ein so bewegtes, aufgeregtes Dasein zu führen habe. Ich werde mich darauf beschränken, darzustellen, was ich erlebt habe, so ehrlich, das heißt so subjektiv wie möglich und ohne den Anspruch, objektiv zu sein.
Es begann an einem Abend, Mitte Mai, nach Sonnenuntergang. Im Erdgeschoß meines Hauses in Sanary, in dem kleinen Zimmer, wo der Radioapparat stand, war es dämmerig, aber noch nicht so dunkel, daß ich Licht gemacht hätte.
Ich war allein, lag auf der Ottomane und hörte die Meldungen des Rundfunks. Es stand nicht gut, weder in Belgien noch in den Niederlanden. Ich überdachte die spärlichen Nachrichten, mit geschlossenen Augen auf der Ottomane liegend, und ich hörte mit halbem Ohr auf die Bekanntmachungen, die im Anschluß an die Nachrichten verkündet wurden. Da, auf einmal, hieß es, alle im Bezirk von Paris ansässigen deutschen Staatsangehörigen oder in Deutschland geborenen Staatenlosen im Alter von siebzehn bis fünfundfünfzig Jahren, Männer und Frauen, hätten sich an dem und jenem Tage da und dort einzufinden, um interniert zu werden.
Ich rührte mich nicht, ich blieb liegen. Ich befahl mir: »Keine Panik, denke ruhig nach.« Ich sagte mir, höchstwahrscheinlich werde die Maßnahme auf die Stadt Paris beschränkt bleiben und sicherlich nicht werde sie auf den vom Krieg nicht bedrohten Süden ausgedehnt werden. Aber ein inneres Wissen sagte mir gleichzeitig, daß diese vernünftigen Erwägungen Unsinn seien. Vom Beginn dieses Krieges an war immer das Schlechte eingetroffen, das man befürchtet, nie das Gute, das man gehofft hatte.
Das Radio sprach längst von anderem. Ich lag immer noch auf der Ottomane, geschlossenen Auges. Ich stand auf und sah mit Verwunderung, daß es vollends Nacht geworden war. Ich fühlte mich auf einmal schrecklich müde. Ich ging hinaus in den Garten, ging zwischen den Beeten herum, stieg die kleinen Terrassen hinauf und wieder hinunter und bedachte dies und jenes.
Es war schon niederträchtig. Seit dreiviertel Jahren jetzt saß ich hier in dieser Mausefalle Frankreich und konnte keine Erlaubnis zur Ausreise kriegen. Und jetzt werde ich also ein zweites Mal das Konzentrationslager schmecken müssen.
Die Landschaft rings um mein Haus ist schön und voll tiefen Friedens. Berge, Meer und Inseln; eine herrlich geschwungene Küste; Ölbäume, Feigenbäume, Pinien; ein paar verstreute Häuser. Eine große Stille war, ein kleiner Wind ging. Eine unserer Katzen lief spielend um mich herum, vor, wieder zurück, wieder vor, und miaute auffordernd. Ich streichelte sie, und sie schnurrte. Es war nicht warm, doch auch nicht kalt, ich fror auf einmal.
Ich ging zurück ins Haus und suchte meine Frau. Das große Haus lag leer, das Ehepaar, das uns bediente, war wohl ausgegangen. Ich fand meine Frau in der Küche, sie bereitete Futter für die Katzen. Sie nickte mir zu. »Willst du noch was trinken?« fragte sie. »Ein Glas Grapefruitsaft?« – »Danke«, sagte ich, »vielleicht später.« Sie sagte irgendwas Belangloses, daß Leontine – das war das Mädchen – dem Fleisch für die Katzen immer zuwenig Reis und zuwenig Milch beimische, oder dergleichen. Ich saß auf einem Küchenstuhl, schaute ihr zu und dachte: Soll ich es ihr noch heute abend sagen? Aber sicher haben sie es auch im Ort gehört, und wenn ich es ihr nicht sage, dann sagt es ihr Leontine. Es ist besser, ich sage es ihr. Ich schaute ihr zu, wie sie das Futter in einen großen Teller goß und es den Katzen hinstellte, und beide schauten wir zu, wie die Katzen gierig fraßen, schnurrend, vergnügt. Ich dachte: Jetzt ist ihre größte Sorge, daß die Katzen mehr Reis und Milch bekommen. Ich will ihr noch diese Minute lassen, und noch diese, und noch diese letzte.
Dann sagte ich es ihr.
Sie schaute mich an, und ich schaute sie an. Schließlich sagte sie: »Wir müssen gleich nach Paris schreiben oder besser depeschieren.« – »Gewiß«, sagte ich, »morgen in aller Frühe. Wenigstens gibt es jetzt keine Fröste mehr«, sagte ich. Die französischen Konzentrationslager waren nicht geheizt, und im Winter war es vorgekommen, daß Internierten ein Finger abgefroren war oder eine Zehe.
Wir hatten schon zu Abend gegessen, doch auf einmal spürte ich wieder Hunger. »Gib mir doch noch etwas zu essen«, bat ich.
Während ich aß, klopfte es erst an der einen Tür, dann an der andern. Es war ungewöhnlich, daß um diese Zeit Besucher kamen, die nicht gemeldet waren. »Wer ist da?« fragten wir. Es waren unsre Nachbarsleute, ein deutscher Maler und seine Frau. Wir sahen einander selten, wir mochten uns nicht besonders leiden, jetzt fanden wir es natürlich, daß sie kamen.
»Haben Sie es gehört?« fragte er. Wir besprachen die Nachrichten hin und her. Ein vernünftiger militärtechnischer Grund, uns hier unten im Süden einzusperren, lag wohl nicht vor. Daß wir Gegner des Naziregimes waren, war in wiederholten, scharfen Untersuchungen festgestellt worden. Aber hat man denn die in Paris deshalb eingesperrt, weil man sie für gefährlich hält? Vermutlich geht man doch nur deshalb gegen sie vor, weil man die Bevölkerung glauben machen will, es geschehe irgend etwas. Und wenn das der Grund ist, warum dann soll man es hier unten anders halten? Ein einziger kleiner Trost bleibt: bei der französischen Schlamperei wird es eine gute Weile dauern, ehe man eine entsprechende Verordnung auch hier unten erläßt.
Wie ich die nächsten Tage verbracht habe, kann ich genau nicht sagen. Ich habe Tagebuch geführt über jene Zeit in Frankreich, doch habe ich diese Aufzeichnungen nicht an der Hand und weiß nicht, ob ich sie je wieder erhalten werde.
Vielleicht ist es ein Vorteil, daß ich nun so ganz auf mein Gedächtnis angewiesen bin. Gewiß, das Gedächtnis fälscht. Mein Gedächtnis, wie wohl das Gedächtnis der meisten, weigert sich häufig, Dinge zu behalten, die ich gerne aufbewahren möchte, während es ungeheißen Dinge aufbewahrt, die mir gleichgültig sind. Es drängt Wichtiges zurück und Unwichtiges in den Vordergrund. Es handelt nach Gesetzen, die mein Bewußtsein nicht erklären kann, die aber sicherlich mit meinem innersten Wesen zu tun haben.
Ja, ich denke, diese Willkür des Gedächtnisses ist ein Vorteil für den Schriftsteller. Sie nötigt ihn zu jener unbedingten Ehrlichkeit, welche die Voraussetzung aller Dichtung ist, sie nötigt ihn, nur solche Visionen zu geben, die wirklich seine Visionen sind. Im besondern Fall zwingt mich der Verlust meines Tagebuchs, der Mangel an objektiven Notizen, nur von solchen Dingen zu erzählen, die mich innerlich angingen. Es wird so vielleicht manchmal objektiv Wesentliches fehlen, aber meine Darstellung wird subjektiv ehrlich sein, dichterisch wahr, nicht verzerrt von Akten, von minutiösen Daten der Realität. Ob ich will oder nicht, ich muß infolge des Verlustes meiner Aufzeichnungen ein Bild geben, nicht plumpe, fotografierte Wirklichkeit.
Bin ich sehr hochmütig, wenn ich gestehe, daß ich mich darüber freue? Bin ich sehr hochmütig, wenn ich mich grundsätzlich zu dem Glauben bekenne, daß ein fotografisch sachlicher Bericht nicht sehr viel beiträgt zur Erkenntnis dessen, was an einer Begebenheit wesentlich ist? Aber ich bin nun einmal der Meinung, daß sich eine Begebenheit ändert jeweils nach der Erlebniskraft des Erlebenden. Ja, ich bin steif und fest überzeugt, daß es bei der Wiedergabe eines Erlebnisses auf die Person des Erlebenden nicht weniger ankommt, sondern mehr als auf das Erlebte.
Die meisten Menschen sind nicht sehr erlebnisfähig. Sie sind zu tief beeinflußt von den Wertungen anderer. Sie glauben, sie müßten bestimmte Dinge als groß und wichtig, andere als klein und belanglos empfinden, weil »Kompetente« in ähnlichen Fällen so empfunden haben. Nicht nur das Verhalten, auch das Fühlen der meisten ist von der Konvention, von der Mode vorgeschrieben. Der Durchschnittsmensch kann Erlebnisse nicht anders katalogisieren als nach den paar üblichen Normen. Magazin, Radio, Film tragen das ihre dazu bei, diese wenigen Normen noch tiefer in die Hirne zu hämmern, und verengen dadurch die Fähigkeit eigenen, gesonderten Hörens, Sehens, Fühlens, Wertens noch mehr. Die Erlebnisfähigkeit des Durchschnittsmenschen ist gering, das Register seiner Empfindungen klein. Geschehnisse, auch wenn er mitten darin ist, fließen an ihm ab, dringen nicht in ihn ein, machen ihn nicht reicher. Wenn man in einen kleinen Becher noch soviel Flüssigkeit hineingießt, der Becher nimmt nur ein bestimmtes Maß auf.
Ein Mensch mit einiger Phantasie hat vor den andern das voraus, daß eine erwartete Wirklichkeit an Intensität fast immer zurückbleibt hinter seiner Erwartung. Das tatsächliche Erleben des Schlimmen bereitet ihm beinahe immer weniger Schmerz als die Angst davor, wie ihm freilich auch das Erleben des Glückes fast immer weniger Erhebung bringt als die Hoffnung und die Freude darauf.
Wie ich die letzten Tage in meinem schönen Haus in Sanary verbracht habe, das kann ich also, wie gesagt, nicht im einzelnen angeben. Aber das weiß ich, daß es keine angenehmen Tage waren, daß ein Rahmen von Unbehagen um alles war, was ich in jenen Tagen sah, hörte, sprach, dachte, lebte.
Ich habe während der sieben Jahre meines Aufenthalts an der französischen Küste des Mittelmeers die Schönheit der Landschaft und die Heiterkeit des Lebens dort mit allen Sinnen genossen. Wenn ich etwa, von Paris mit dem Nachtzug zurückkommend, des Morgens das blaue Ufer wiedersah, die Berge, das Meer, die Pinien und Ölbäume, wie sie die Hänge hinaufkletterten, wenn ich die aufgeschlossene Behaglichkeit der Mittelmeermenschen wieder um mich fühlte, dann atmete ich tief auf und freute mich, daß ich mir diesen Himmel gewählt hatte, unter ihm zu leben. Und wenn ich dann den kleinen Hügel hinauffuhr zu meinem weißen, besonnten Haus, wenn ich meinen Garten wiedersah in seiner tiefen Ruhe und mein großes, helles Arbeitszimmer und das Meer davor und den launischen Umriß seiner Küste und seiner Inseln und die endlose Weite dahinter und wenn ich meine lieben Bücher wieder hatte, dann spürte ich mit all meinem Wesen: hier gehörst du hin, das ist deine Welt. Oder wenn ich etwa den Tag über gut gearbeitet hatte und mich nun in der Stille meines abendlichen Gartens erging, in welcher nichts war als das Auf und Ab des Meeres und vielleicht ein kleiner Vogelschrei, dann war ich ausgefüllt von Einverstandensein, von Glück.
Von dem Augenblick an indes, da ich damit rechnen mußte, ein zweites Mal interniert zu werden, verlor mir die Landschaft ihre Farbe, mein ganzes Leben seinen Geschmack. Es war dabei noch gar nichts entschieden, aber innerlich wußte ich, daß alles entschieden war, und die peinigende Erwartung dessen, was da kommen wird, zerstörte die Fähigkeit, das, was da war, noch zu genießen. Wohl arbeitete ich. In jahrzehntelangem Training hatte ich mir die Fähigkeit erworben, mich, was immer geschehen mochte, während meiner Arbeit auf diese Arbeit zu konzentrieren. Gemeinhin waren überdies, wenn ich mit einem Werk beschäftigt war, nicht nur die Stunden der Arbeit, sondern mein ganzes Leben erfüllt von diesem Werk, dergestalt, daß ich automatisch alles, was ich sah, hörte, las, lebte, auf das Werk bezog. Jetzt aber verließ mich der Gedanke an meine Arbeit in dem Augenblick, da ich zu arbeiten aufhörte, und statt meines Werkes war die Erwartung wieder da dessen, was da kommen wird.
Ich habe oft meine Katzen beobachtet, während sie fraßen. Sie kauerten und schleckten gierig, aber sie waren immer auf der Hut, niemals verließ sie das ererbte Gefühl, von Gefahren umgeben zu sein. Ganz tief innen steckt wohl in uns allen ein solches Gefühl ständigen Bedrohtseins; wir haben es nur verdrängt, wir haben uns die Angst abgewöhnt. Damals indes, in jenen Tagen der Erwartung, fühlte ich wie meine Katzen. Wenn ein Wagen den kleinen Hügel herauffuhr, wenn jemand kam, immer glaubte ich: jetzt kommen sie, jetzt holen sie dich.
Meine Sekretärin konnte sich nicht enthalten, zu klagen: »Ach, warum sind wir nicht rechtzeitig nach Amerika gegangen.« Gemeinhin hasse ich solche Erwägungen, Grübeleien darüber, was man hätte tun und was man hätte lassen sollen, sie führen zu nichts. Immerhin war ein solcher Ausbruch gerade in unserm Falle erklärlich.
Seit Kriegsbeginn zwar war es nicht mehr in meinem Belieben gestanden, das Land zu verlassen; die französische Regierung hatte es mir nicht erlaubt. Aber ich hatte ja den Krieg schon lange vorher kommen sehen. Im Februar 1938, unmittelbar nach der Annexion Österreichs, hatte ich mich ernstlich mit dem Gedanken getragen, in ein Land zu übersiedeln, das mehr Sicherheit bot als Frankreich. Meine Sekretärin hatte ganz recht, wenn sie jetzt darüber jammerte, daß ich damals meine Absicht nicht wahrgemacht hatte.
Was waren eigentlich die Gründe gewesen, die mich in Frankreich gehalten hatten? Da war zum Beispiel dieses. Seit 1933 hatte ich öffentlich erklärt, Hitler bedeute Krieg, ohne Krieg werde man die Nazis nicht los werden. Durfte ich jetzt, nun endlich dieser Krieg in Sicht kam, in dem, wenn irgendwer, ich Partei war, ausreißen, mich in Sicherheit bringen? Nein, ich hatte zu bleiben. Ich glaubte ernstlich, ich könne helfen. Ich hatte schließlich Millionen Leser in Deutschland gehabt; noch immer hörten dort viele auf mein Wort, noch immer, trotz der Gefahr, ließen mir viele aus Deutschland Botschaft zukommen und wollten Rat. Ich glaubte, gerade während eines Krieges könnte ich den Feinden Hitlers von Nutzen sein.
Des weiteren hielt mich schriftstellerische Neugier. Ich hatte es mir zeitlebens zum Grundsatz gemacht, Erlebnisse zwar nicht zu suchen, ihnen aber auch nicht aus dem Weg zu gehen. Dazu kam noch ein weiteres: ich wollte die Arbeit an meinem Roman »Exil« nicht durch eine umständliche Umsiedlung unterbrechen.
Gleich zu Beginn des Krieges freilich war ich dann darüber belehrt worden, wie falsch ich es gemacht hatte. Nicht nur wollten die Franzosen von einer Mitarbeit von uns deutschen Antifaschisten nichts wissen, sie sperrten uns vielmehr schon damals alle ein. Mich hatten englische Proteste schon nach wenigen Tagen aus dem Konzentrationslager befreit, und die französische Regierung hatte sich damals bei mir entschuldigt und meine Internierung als einen Mißgriff subalterner Organe bezeichnet. Aber das Ausreisevisum, das ich nach dieser üblen Erfahrung verlangt hatte, war mir nicht bewilligt worden.
Ich muß hier ein Bekenntnis einschalten oder eigentlich zwei Bekenntnisse.
Erstes Bekenntnis. Wenn ich heute darüber nachdenke, was mich seinerzeit, im Jahre 1938, wohl in Frankreich zurückgehalten hat, dann waren es wahrscheinlich doch andere, tiefer in meinem Wesen liegende Gründe als die, von denen ich gerade sprach. Was mich hielt, war die innige Behaglichkeit des Lebens dort, die Schönheit des Ortes, mein wohleingerichtetes Haus, meine geliebte Bibliothek, der vertraute, in allem Kleinsten mir und meinen Methoden angepaßte Rahmen meiner Arbeit, die hundert Einzelheiten des dortigen Daseins, die mir zu lieben, schwer mißbaren Gewohnheiten geworden waren. Ich bin – ich glaube, ich sagte es schon – gegen meinen Willen immer wieder aus der Umgebung herausgerissen worden, die ich mit Liebe und Sorgfalt meinen Wünschen und Bedürfnissen gemäß gemodelt hatte. Immer wieder umgab ich mich mit Dingen, die ich gern hatte, immer wieder stellte ich einen sehr großen Schreibtisch vor einen Ausblick in eine schöne Landschaft, immer wieder stellte ich ein paar tausend Bücher um mich herum, immer wieder zog ich ein paar Katzen groß und glaubte, sie hingen nun gerade an mir, immer wieder schaffte ich mir zwei oder drei Schildkröten an und schaute ihren langsamen, urweltlichen Bewegungen zu, immer wieder legte ich mir ein paar Flaschen ausgesuchten Weines in einen kellerigen Raum. Und wiewohl mich immer wieder äußere Umstände zwangen, dieses mein mit soviel Mühe eingerichtetes Gehäuse zu verlassen, ich ließ mich nicht belehren. Immer von neuem baute ich es mir auf, immer von neuem klammerte ich mich daran, innerlich und äußerlich, und glaubte, diesmal müsse es mir erhalten bleiben. So war es wohl auch die Liebe zu meinem Haus in Sanary und zu allem, was darin und was darum war, die mich hielt. Mit andern Worten und ohne viel Umschweife, es war innere Trägheit, Hang zur Bequemlichkeit, Mangel an Phantasie.
Zweites Bekenntnis. Ich habe eine große Scheu vor Behörden. Der Beamte ist der Vertreter des Staates, er repräsentiert viele Millionen: wie soll da ich, ein einzelner, gegen ihn aufkommen. Vielleicht ist diese Schüchternheit ein Erbteil aus der Zeit, da meine Vorväter in deutschen Ghettos vor den Behörden bangten. Wahrscheinlich haben auch Gründe solcher Art mitgespielt und mich verhindert, mich rechtzeitig um ein amerikanisches Einwanderungsvisum umzutun. Ich ließ es genug sein mit der Beschaffung eines Besuchervisums; die Beschaffung eines Einwanderungsvisums stellte ich mir übertrieben schwierig vor. Einmal, in Paris, nahm ich einen Anlauf, und als ich in der Nähe der amerikanischen Botschaft war, ging ich kühn hinein, Erkundigungen über die Modalitäten der Einholung eines solchen Einwanderungsvisums einzuziehen. Ich hatte Empfehlungen an den Konsul, ich hatte auch gelegentlich den Botschafter in Gesellschaften getroffen, doch ein Gemisch aus Hochmut und Schüchternheit hielt mich davon ab, mich direkt an einen dieser Herren zu wenden. Ich ging vielmehr an einen anonymen Tisch, an dem »Information« stand, ein gleichgültiges Fräulein gab mir gleichgültig einen schnellen Bescheid, aus dem ich heraushörte, daß, wenn ich ein Einwanderungsvisum begehrte, mein Besuchervisum hinfällig werde. Im Grunde kam mir dieser Bescheid sehr zupaß, und befriedigt aufseufzend verließ ich die Botschaft. Ich fühlte mich lästiger weiterer Schritte überhoben; die Auskunft des gleichgültigen Fräuleins war ein Wink des Schicksals, daß ich mich mit einem Besuch Amerikas begnügen, daß ich nicht übersiedeln solle!
Wie ich mich denn überhaupt gern schicksalsgläubig nenne, so meiner Liebe zur Bequemlichkeit einen kleidsamen Mantel umhängend.
Nein, so primitiv ist mein Fatalismus nun doch nicht. Er ist vielmehr die logische Folge schlechter Erfahrungen mit der konsequenten Anwendung des Verstandes. Ich habe es nämlich zu oft erlebt, an mir und an andern, daß bestberechnete Erwägungen Folgen hatten, die den gewünschten genau entgegengesetzt waren. Da schlugen zum Beispiel finanzielle Sicherungsmaßnahmen, auf welche meine Frau und meine Sekretärin gedrängt hatten, infolge grotesker Schicksalswendungen ins Gegenteil um. Ich deponierte Geld in jenen Ländern, die vor dem Kriege am meisten gesichert schienen, in Schweden, in Holland, in Kanada: gerade dort wurde es mir konfisziert oder blockiert. Mein Freund Brecht wählte sich das sichere Schweden zum Aufenthalt. Als der Krieg ausbrach, schien es, als ob die Ereignisse bestätigten, er habe klug daran getan: in der Folge ist gerade dieses Land ihm zur Falle geworden. Meine in Deutschland geborene Sekretärin war glücklich, die Schweizer Staatsangehörigkeit zu erwerben: die einzige Folge war, daß die Franzosen sie gleichwohl als Deutsche ansahen und in ein Konzentrationslager sperrten, während die Amerikaner sie infolge ihres Schweizer Passes für gesichert genug erklärten, um ihr ein Gefahren-Visum zu verweigern.
Nach solchen Erfahrungen kann ich mich nicht tadeln, wenn ich meinen Kahn gelegentlich treiben lasse und nicht allzu angestrengt versuche, ihn zu steuern. Es rührt mich wenig, wenn mir jemand Vorwürfe macht: »Siehst du, ich hab’s dir immer gesagt, das hättest du tun sollen oder jenes und warum hast du’s nicht getan?« Ich weiß, daß man in Zeiten wie den unsern ebensoviele Gründe für jede Handlung anführen kann wie gegen sie und daß alles Tun und Lassen Spiel geworden ist.
Ich zuckte also die Achseln, wenn meine Sekretärin klagte: »Ach, warum sind wir nicht rechtzeitig nach Amerika gegangen.« Ich bereute nichts. Ich bereute auch nicht, als schließlich die Bestätigung kam, daß ich wirklich wieder ins Lager mußte.
Die mir diese Bestätigung brachte, war unser Stubenmädchen, Leontine. Sie kam aufgeregt, wichtig, jetzt sei die Bekanntmachung am Bürgermeisteramt angeschlagen, und zwar hätte ich mich wieder im Lager von Les Milles einzufinden. Der Anschlag spreche von allen in Deutschland geborenen Staatenlosen, welche am 1. Januar noch nicht sechsundfünfzig Jahre alt gewesen seien.
Ich habe ziemlich viele schlechte Nachrichten hören müssen und mir eine gewisse Routine erworben, in solchen Fällen den Gefühlsmotor abzustellen und kalt und ruhig zu denken. So fuhr mir auch diese Meldung, zumal da ich sie erwartet hatte, nicht sehr in die Glieder. Ich überlegte, ob ich es nicht angesichts der Tatsache, daß ich in allernächster Zeit sechsundfünfzig wurde, vielleicht doch erreichen könne, von der Internierung befreit zu werden. Ganz bestimmt weiß ich, daß ich, noch während Leontine sprach, daran rumrechnete, wieviele Tage mir noch fehlten bis zur Vollendung des sechsundfünfzigsten Lebensjahres. Es muß damals der 18. oder 19. Mai gewesen sein, und sechsundfünfzig wurde ich am 7. Juli. Ganz bestimmt auch weiß ich, daß ich innerlich zur Kenntnis nahm die Mischung von Gefühlen, wie sie sich in Leontines Gehabe zeigte, auf ihrem Gesicht, in der Wahl ihrer Worte, in ihrem Tonfall, in ihren Bewegungen. Leontine ist eine hübsche, füllige Person nahe den Dreißig, sie war, wie ihr Mann, seit sechs Jahren in unserm Dienst, ich bin überzeugt, daß beide uns ergeben waren und wahrscheinlich noch sind. Auf Leontines Gesicht war denn auch ehrliches Bedauern; gleichzeitig war darauf aber auch die Freude an der Sensation, die Nachricht überbringen zu können, die Neugier, wie ich sie aufnehmen würde, die Sorge, was aus ihr selber werden mochte, wenn wir beide, meine Frau und ich, ins Lager kämen, und schließlich auch, trotz aller Ergebenheit, ein klein bißchen Schadenfreude, daß nun auch ich, der »Patron«, der »Herr«, die Bitternisse des Krieges zu spüren bekäme und sogar schlimmer als sie selber.
Achtundvierzig Stunden blieben mir für Vorbereitungen.
An Gepäck mitnehmen durfte man dreißig Kilogramm. Nach den Erfahrungen, die ich während meiner ersten Internierung gesammelt hatte, mußte das Gepäck vor allem gut tragbar sein. Man mußte gewärtigen, es manchmal auf weite Strecken selber schleppen zu müssen, in Reih und Glied marschierend; so war es mir das letzte Mal ergangen. Eifrige Erörterungen begannen, was man am besten mitnehme. Das Wichtigste waren Decken für die Nacht, sehr wichtig auch war ein kleiner Klappstuhl, denn Sitzgelegenheit gibt es nicht. An Kleidern und Wäsche nahm man am besten das Derbste mit, was man besaß; denn alles zerlumpte sehr rasch. Bei der Mitnahme von Büchern spielten Format und Gewicht eine beinahe größere Rolle als der Inhalt, handliche Dünndruckbände sind da das praktischste. Ich entschied mich für einen Dünndruckband Balzac, der auf kleinstem Umfang sechs Romane enthielt.
Am nächsten Tag wurde ich telefonisch auf das Bürgermeisteramt beschieden, wo mir für die Reise ins Lager ein Passierschein sollte ausgestellt werden. Es war nämlich uns Nichtfranzosen verboten, uns von unsern Wohnorten ohne besonderen Geleitschein wegzubewegen; auch für die Reise ins Konzentrationslager bedurfte es eines solchen besonderen Erlaubnisscheines.
Der Beamte auf dem Bürgermeisteramt, ein Mann, mit dem ich in den Jahren meines Aufenthalts in Sanary sehr oft zu tun gehabt hatte, war gefällig, ja beflissen. Doch zeigte er, wie die meisten Einheimischen, eine gewisse Verlegenheit, eine Mischung von Neugier, von echtem Bedauern und von Scheu, sich mit Leuten, die von der Regierung eingesperrt werden, also doch anrüchig sind, zu tief einzulassen. Geschäftig betrieb er die Beschaffung des Passierscheines. Während man sonst auf die Ausstellung eines solchen Passierscheines etwa zum Zweck eines Besuches beim Zahnarzt in der acht Meilen entfernten Stadt manchmal vierzehn Tage warten mußte, erklärte sich diesmal der Sergeant der nächstgelegenen Gendarmeriestation telefonisch ohne weiteres bereit, sogleich herüberzukommen und die notwendige Schreiberei vorzunehmen.
Es waren noch drei andere Deutsche aus Sanary herbeordert worden. Wir warteten in einem Raum im Erdgeschoß des Bürgermeisteramts, der gewöhnlich als provisorischer Gewahrsam diente für Verbrecher, bis die Polizei käme, sie abzuholen. Auch der Veterinärarzt benutzte den Raum, wenn er allwöchentlich kam, die kranken Kleintiere zu behandeln. Jetzt also warteten wir hier. Wir waren unser viere, die morgen nach Les Milles abzugehen hatten: jener Maler R., mein Nachbar, dann sein Sohn, der gerade siebzehn geworden war und also auch daran glauben mußte, dann ich, schließlich noch der Schriftsteller K., ein Deutscher, der in Spanien auf Seiten der Republik gefochten hatte.
Wir standen und warteten. Wir hatten es uns alle anders vorgestellt, als wir nach Frankreich gekommen waren. Liberté, Egalité, Fraternité stand riesig über dem Portal des Bürgermeisteramts, man hatte uns gefeiert, als wir, vor Jahren, gekommen waren, die Zeitungen hatten herzliche, respektvolle Begrüßungsartikel geschrieben, die Behörden hatten erklärt, es sei eine Ehre für Frankreich, uns gastlich aufzunehmen, der Präsident der Republik hatte mich empfangen. Jetzt also sperrte man uns ein. Wir nahmen es hin mit einer Art bittern Gleichmuts, diese Jahre hatten uns die Unbeständigkeit menschlichen Verhaltens sehr anschaulich vor Augen geführt, wir ergingen uns nicht in Klagen, wir besprachen Sachliches, wie man am besten nach Les Milles gelange, wieviel Geld man mitnehmen solle, und ähnliches.
Dann endlich kam der Gendarm. Er hatte unterwegs einen Vagabunden aufgegriffen. Der Vagabund war betrunken, der Gendarm selber war betrunken, er war an diesem Tage befördert worden, das hatte er, wie er uns erzählte, feiern müssen. Der Vagabund und der Gendarm schlugen sich auf die Schulter, und der Gendarm schlug uns auf die Schulter und erklärte, er habe gar nichts gegen uns. Der Raum roch stark nach Schnaps.
Die Formulare waren umständlich wie alle Amtspapiere in Frankreich; es mußte darauf vermerkt sein der Name des Vaters und der Mutter und viele ähnliche Details, ohne das ließen einen die Franzosen nicht passieren. Der betrunkene Gendarm kam mit dem Ausfüllen der Papiere nicht zu Rande. Aus unsern Ausweisen hatte er ersehen, daß sich unter uns Vater und Sohn befanden. So fragte er dann mich, den Fünfundfünfzigjährigen, ob ich der Sohn des achtundvierzigjährigen Malers R. sei, er konnte die Zusammengehörigkeit nicht herausfinden, er konnte überhaupt nichts herausfinden, er plagte sich ab. Schließlich riefen wir den Sekretär, daß er ihm helfe.
Am nächsten Tag dann fuhren wir ins Lager, in einem Taxi.
Ich erinnere mich genau des unsentimentalen Abschieds von meiner Frau. Wir waren alle beschäftigt, in der schäbigen, alten Droschke das Gepäck zu verstauen; meine Frau erklärte, sie müsse noch Papier holen, um irgend etwas besser einzuwickeln, und lief ins Haus zurück; mit solcher Geschäftigkeit waren die letzten Minuten ausgefüllt.
Unterwegs wurden wir von Gendarmen angehalten und mußten unsere Passierscheine vorweisen. Der Sekretär und der betrunkene Gendarm hatten auf diesen Formularen die Frage nach dem »Zweck der Reise« beantwortet: »Ausführung eines Regierungsauftrags«. Die kontrollierenden Gendarmen schauten uns an, schauten sich an, merkten, was das für ein Regierungsauftrag war, sagten bedauernd: »Aha«, grüßten mit verlegenem Mitleid und wünschten uns viel Glück.
Wir kamen nach der Stadt Aix, nach dem Orte Les Milles, wir durchfuhren ihn, wir fuhren die niedrige Mauer der Ziegelei entlang, die uns aufnehmen sollte, hielten auf der staubigen Landstraße vor dem großen Tor. Unmittelbar hinter dem Gitter war ein kleines Wachgebäude. Einige Uniformierte standen und hockten herum. Ich lohnte den Chauffeur ab und trug ihm Grüße an meine Frau auf.
Die Uhr auf dem Hauptgebäude der Ziegelei zeigte fünf Uhr zwei. Ich notierte innerlich, daß also die erste Minute nach fünf Uhr am 21. Mai die letzte Minute gewesen war, die ich in Frankreich in Freiheit verbracht hatte.
Ich schickte mich an, mein Gepäck über den Hof zur Anmeldestelle zu schleppen. Ich bin nicht sehr gewandt in diesen Dingen, und ich wußte einfach nicht, wie ich es anstellen sollte, den großen Koffer und den kleinen und die Decken und den Klappstuhl die fünfzig oder sechzig Meter zu tragen. Ich klemmte den Klappstuhl unter den linken, die Decken unter den rechten Arm, nahm den großen Koffer in die linke, den kleinen in die rechte Hand. Aber da fielen die Decken herunter, ich mußte alles abstellen, um sie von neuem unter den Arm zu nehmen, und als ich glücklich alles wieder beisammen hatte, fiel der Klappstuhl herunter. Die Soldaten schauten zu, ernsthaft, stumpf, ungerührt. Der Sergeant sagte: »Also los endlich, allez hop.« Ich war recht unglücklich. Das war um fünf Uhr zwei.
Um fünf Uhr drei aber war ich sehr glücklich. Über den Hof nämlich auf mich zu kamen ein paar Burschen, ich erinnerte mich nicht ihrer Namen, wohl aber ihrer Gesichter, sie waren mit mir hier in Les Milles gewesen, als ich das erste Mal eingesperrt gewesen war, sie ließen sich nicht abschrecken von den Wachen, die ihnen zuriefen: »Zurück, zurück«, und die Wachen nahmen es wohl auch nicht so ernst. Die Burschen aber sagten: »Hallo, sind Sie wirklich wieder hier? Das hätten wir uns auch nicht träumen lassen«, und sie bemächtigten sich meines Gepäcks und trugen es zum Anmeldebüro.
Dort gab es zunächst einige Schreiberei. Dann wurde das Gepäck untersucht, nicht sehr ernst. Der Leutnant, der das Büro befehligte, ein Industrieller aus Lyon, ein eleganter Herr mit angegrauten Haaren, gewöhnlich etwas müden Gesichtes, begrüßte mich höflich, bat mich ins Büro, befragte mich um meine Meinung über die politische und militärische Lage, bedauerte, daß die Umstände die Regierung zwängen, uns von neuem einzusperren, hoffte, daß es auch diesmal nicht lange dauern werde.
Dann, wieder am Anmeldeschalter, wurde ich gefragt, wieviel Geld ich bei mir hätte. Ich zögerte ein wenig. Der Sergeant sagte: »Geben Sie ruhig den richtigen Betrag an. Wir funktionieren hier lediglich als Bank, Sie können jederzeit wiederhaben, was Sie wollen. Es wird in einem solchen Lager viel gestohlen. Sie deponieren Ihr Geld besser bei uns, statt es immer mit sich herumzuschleppen.« So machte ich es dann auch. Das war falsch, wie sich später erwies; denn man bekam von seinem Gelde nur jeweils kleine Summen zurück, in großen Zeitabständen und nur nach Eingaben und vielerlei Bemühungen.
Dann, dies alles erledigt, bekam ich eine Nummer zugewiesen, ich war No. 187. Das blieb ich von da an.
Der kleine Ort Les Milles ist häßlich, doch die Landschaft ringsum ist sanft und lieblich; hügeliges Gelände, blau und grün, kleine, sanfte Flüsse, alte Landgüter, Ölbäume, Reben, viel Rasen, der sonst in dieser Gegend spärlich ist, ein kühner, hoher Aquädukt, weithin sichtbar. Inmitten dieser schönen Landschaft lag unbeschreiblich häßlich unsere Ziegelei.
Das weite, niedrige Hauptgebäude war umgeben von kahlen, weißen Höfen. Ein paar kleine Nebengebäude dienten als Schreibstube, Wachstube, Krankensaal, Küche, Remise. Das Gesamtareal war auf zwei Seiten von einer Ziegelmauer, auf den beiden andern von einer Böschung abgeschlossen, alles war ausgiebig mit Stacheldraht und mit Wachsoldaten gesichert. An dem Stacheldraht des rückwärtigen Hofes hatten gewöhnlich Internierte ihre Wäsche aufgehängt, bunt flatterte sie im Wind, vor dem Stacheldraht schlenderten gelangweilt die Wachsoldaten auf und ab, und es war ein seltsames Gefühl, dort hinauszublicken in die liebliche, gewellte, sanft grüne, so nahe und unerreichbare Landschaft.
Schaute man dagegen vom Hof aus durch eines der großen Tore ins Hauptgebäude, so sah man nichts als ein riesiges, schwarzes Loch. Immer von neuem, wenn man dieses Hauptgebäude betrat, mußte man sich an die Dunkelheit gewöhnen. Vor allem im Erdgeschoß stolperte man immerzu. Düstere Korridore, welche an den für die Ziegelöfen bestimmten Nischen entlang führten, machten hier den Durchgang an den Strohlagern vorbei besonders eng. Das Ganze hatte etwas Katakombenartiges.
Eine primitive Holzstiege, schmal, schmutzig, gebrechlich, führte hinauf in den ersten Stock. Dort waren zwar die Säle weit; doch die Fenster waren mit Holz verschalt, und der kleine Teil, der unverschalt geblieben, war dunkelblau gestrichen, wegen der Fliegergefahr, damit kein Licht hinausdringe. Es lag also auch dieser erste Stock immer im Halbdunkel, und an Lesen war nicht zu denken. Des Abends gab es ein paar schwache Glühbirnen, welche die Dunkelheit mehr unterstrichen als behoben.
Da die Höfe die meiste Zeit des Tages in greller Sonne lagen, wirkte das Innere des Gebäudes zwiefach dunkel. Überdies war es erfüllt von Ziegelstaub. Verdickter, festgetretener Ziegelstaub machte den Boden uneben, zerbröckelnde, sich in Staub auflösende Ziegel lagen in Massen herum, Staub, Staub war überall.
In diesem Innern des Gebäudes hatten wir einen großen Teil unserer Zeit zuzubringen. Hier aßen und schliefen wir, auf diese Räume waren wir angewiesen, wenn es regnete oder wenn, was in dieser Gegend häufig ist, der Wind die Höfe zu einer einzigen Staubwolke machte. Und selbst bei stillem, strahlendem Wetter flüchteten viele in das Gebäude, da die Höfe schattenlos waren und die sommerliche Sonne der Provence auf die Dauer unerträglich ist. Einen sehr großen Teil unserer Zeit also verbrachten wir in Staub und Dunkelheit.
Die Räume des ersten Stockes waren eingeengt durch Lattengestelle, welche, für die Ziegel bestimmt, die Wände entlang liefen und, Nischen bildend, in den Raum hineinragten. Die Nischen waren indes zu eng, als daß sie zum Beispiel als Raum zum Schlafen hätten benutzt werden können. Man konnte das Lattenwerk zur Unterbringung von Gegenständen verwenden. Doch nur mit Vorsicht, kleinere Gegenstände fielen zwischen den Latten durch, und zur Aufstellung von größeren waren die einzelnen Schichten zu niedrig.
Im übrigen war der Raum völlig kahl. Man gab uns ein wenig Stroh und überließ uns alles weitere. Sitzgelegenheiten gab es nicht, keine Bank, keinen Tisch, nur zerbröckelnde Ziegel. Aus diesen versuchte man sich Sitze zu bauen, Tische, doch sie brachen immer wieder zusammen.
Wiewohl also dieser erster Stock nichts anderes war als ein weites, kahles Loch, freute ich mich, wieder hier untergebracht zu sein; denn hier hatte ich »gewohnt«, als ich das erste Mal interniert gewesen war, hier kannte ich jede Fensterverschalung, jede Latte, jeden Ziegel. Es ist seltsam, wie rasch der Mensch eine Bindung herstellt zwischen sich und seinem Rahmen, er teilt dem Unbelebten, mit dem er in Berührung kommt, sogleich etwas vom eigenen Wesen mit, so daß es fortan zu ihm gehört und zu einem Teil seines Wesens wird. Der dunkle, niedrige Raum mit seinem Staub und Dreck und Stroh hatte, da ich einmal in ihm gelebt, seine Schrecken für mich verloren, Beziehungen waren entstanden zwischen den Dingen und mir; dieser Pfeiler, an dem ich mich immer wieder stieß, war mir feind, jene breite ausgebuchtete Ecke mir beinahe freund geworden.
Die jungen Menschen, die mir vom ersten Augenblick an beigestanden waren, halfen mir, wo sie konnten. Sie suchten die hellste, vor Zug am meisten geschützte Stelle des Raums, sie war in der Nähe des Lattenwerks. Dort schütteten sie einiges Stroh auf und breiteten meine Decke aus. Sie brachten aus meinem Gepäck in den Gestellen des Lattenwerks unter, was sich dort verstauen ließ. Sie boten mir zu essen an, und wir teilten, was ich an Eßbarem mitgebracht hatte. Zu trinken freilich gab es nichts. Das Wasser war spärlich, selbst die Lagerleitung bezeichnete das Wasser nur eines Hahnes als trinkbar, und auch dieses Wasser war bedenklich.
Einer unter meinen Helfern, Karl N., ein Österreicher, betrachtete sich als mein Diener. Er hatte etwas Langsames, Verschlafenes, war aber dabei anstellig, gutmütig, hilfsbereit und mir außerordentlich ergeben. Sein ganzes Interesse gehörte dem Sport. Der große, schwerfällige, lethargische Bursche belebte sich, wenn er vom Boxen sprach, noch mehr, wenn vom Schwimmen die Rede war; er war selber ein guter Schwimmer. Beim Boxen hatte er, wie es schien, einmal eine ernsthafte Verletzung abbekommen, die wohl auch seinen Geistes- und Gemütszustand verändert hatte. Natürlich erwartete er sich von mir Bezahlung; doch es war sicher nicht allein die Rücksicht aufs Geld, die ihn an mir mit Treue hängen und mich mit Beflissenheit umsorgen hieß.
Am Abend dieses ersten Tages war ich sehr müde, und ich freute mich darauf, mich auf dem Stroh und der Decke auszustrecken. Aber hier begannen die kleinen Schwierigkeiten, aus denen sich mein Leben während der nächsten Monate zusammensetzen sollte. Es ist nicht ganz einfach, sich auszuziehen und sich für die Nacht zurechtzumachen, wenn man keinen Stuhl hat und kein Bett und keinen Tisch und kein Wasser, nur ein bißchen Stroh, und wenn man zusammen ist mit vielen andern in einem dunkeln Raum. Man weiß nicht, wo man seine Dinge hinlegen soll; der Boden ringsum ist furchtbar schmutzig, was ihn berührt, ist sogleich verdreckt. Und was soll man mit der Uhr anfangen, was mit der Brille? Am besten legt man das wohl in die Schuhe. Aber wo soll man die Schuhe hintun? Karl half mir nach Kräften, aber gemütlich war es nicht. Einem sechsundfünfzigjährigen Herrn, der gewohnt ist, ein Schlafzimmer für sich und ein sauberes Bett zu haben, fällt es nicht ganz leicht, auf der Erde und auf schmutzigem Stroh zu schlafen, er weiß zunächst nicht, wie er das technisch am besten machen soll.
Allein am Ende siegte die Ermüdung des bewegten Tages über die mannigfachen kleinen Hindernisse, und als des Morgens um halb sechs Uhr das Signal zum Aufstehen ertönte, riß es mich aus tiefem Schlaf.
Am nächsten Tag – wir dürften da unser etwa siebenhundert gewesen sein – wurde zum ersten Mal eine Art Appell abgehalten, und wir wurden in Gruppen eingeteilt.
Der Mann, der diese Einteilung leitete, war ein Sergeant oder vielleicht auch etwas Höheres; ich kann die militärischen Rangabzeichen nicht recht unterscheiden. Unsere Wachsoldaten, wiewohl sie keine Araber waren, trugen rote Fes, und wenn sie in dieser leuchtenden Kopfbedeckung und mit dem blitzenden Bajonett auf der schanzenartigen Böschung standen, davor der grellweiße Hof, dahinter die sanftgrüne Landschaft, so wirkten sie sehr malerisch. Aber gar nicht soldatisch. Sie waren keine Soldaten, sie waren Bauern und kleine ländliche Handwerker, die man in Uniformen gesteckt hatte. Auch der Sergeant, der den Appell abhielt, ein stattlicher Mann mit buschigem Schnurrbart, fleischigem Gesicht und mächtiger Stimme, war bei allem martialischen Gehabe ein gutmütiger, keineswegs kriegerischer Bursche.
Er sonderte uns zunächst in drei Gruppen: Deutsche, Österreicher, ehemalige Fremdenlegionäre.
Denn man hatte groteskerweise nicht einmal die früheren Fremdenlegionäre mitteleuropäischer Abstammung von der Internierung ausgenommen. Es gab unter ihnen solche, die zwanzig und dreißig Jahre für Frankreich Militärdienst getan hatten. Viele hatten in französischen Schlachten gefochten, einige im Kampf für die Sache Frankreichs einen Arm verloren oder ein Bein, fast alle besaßen sie militärische Auszeichnungen. Nun stampften sie grimmig herum, die Brust übersät mit Bändern und Medaillen, der Ärmel schlotterte um den Armstumpf, die Prothese klapperte über den schmutzigen Boden der Ziegelei, der Höfe. Manche schauten recht verwegen aus und so, daß man ihnen nicht gern des Nachts allein begegnet wäre. Viele konnten kein Wort Deutsch mehr, sie sprachen nur französisch. Selbst die Wachsoldaten waren erbittert darüber, daß Frankreich diesen Männern die geleisteten Dienste nun so vergalt.
Wir wurden also eingeteilt in Deutsche, Österreicher, Fremdenlegionäre. Dies bedeutete, daß ich von meinem Karl und den andern hilfsbereiten Österreichern getrennt wurde. Dann hatten wir Aufstellung zu nehmen in Gruppen von je zwanzig Mann. Und diese zufällige Aufstellung war entscheidend für die nächsten Wochen, ja Monate; denn der einzelne war nun mit seiner Gruppe in bezug auf Unterkunft, Zuteilung des Essens, der Arbeit, in bezug auf sein gesamtes tägliches und nächtliches Leben für immer verbunden. Die Mitglieder seiner Gruppe waren seine Schlaf- und Eßkameraden, Zeugen aller seiner Leibesfunktionen, er war in hundert kleinen Dingen des Alltags von ihnen abhängig. Ja, man war ständig aufeinander angewiesen, auf die Nachbarn, auf die Mitglieder der Gruppe, und der Zufall dieser ersten Aufstellung schuf Freundschaften und Feindschaften auf lange Zeit.
Nach vollzogener Einteilung wurden wir wieder in den ersten Stock geführt. Während wir an unserm ersten Tag hatten aussuchen können, wo wir unser Stroh aufschütten wollten, wurde jetzt jeder einzelnen Gruppe ihr Platz zugewiesen. Meine Gruppe bekam keinen günstigen Platz. Wir mußten uns lagern in der Mitte des Saales, fern von den Fenstern und vom Lattenwerk, dort wo es am dunkelsten war. Außerdem standen wir oder lagen wir jedermann im Weg, und man trampelte wohl oder übel über unsere Strohlager. Auch war der uns zugewiesene Raum besonders eng; als wir ausmaßen, traf auf einen jeden von uns eine Breite von siebenundsiebzig Zentimeter. Einen Durchgang zwischen der Reihe unserer Strohschütten und der hinter uns gab es nicht, so daß wir also nicht nur Seite an Seite, sondern auch Scheitel an Scheitel lagen.
Die andern schütteten ihr Stroh auf, mein Karl war nicht sichtbar, er konnte nicht los von seinen Österreichern, denen ein anderer Saal zugewiesen worden war. Für mich war kein Stroh mehr übrig. Da stand ich, ziemlich hilflos. »Kommen Sie her, kommen Sie zu mir«, sagte schließlich einer, und dieser eine war von nun an mein Nachbar. Er war Arbeiter, Mechaniker, ein kleiner, gutmütiger, ziemlich jähzorniger Mensch Mitte der Vierzig. Er sprach so stark saarländischen Dialekt, daß ich ihn manchmal nur mit Mühe verstand.
Er war ein sehr angenehmer Nachbar, gewandt und gefällig. Sofort half er mir, durch Aufstellung meines Koffers eine Scheidewand zwischen mir und meinem Hintermann zu errichten, damit wir nicht mit den Köpfen aneinanderstießen. Auch gewann ich auf diese Art eine Ablage für meine Schuhe; in ihnen konnte ich nachts über Uhr und Brille verwahren, damit sich diese Dinge nicht im Stroh verlören und zerbrächen. Auch in der Folgezeit erwies mir mein Nachbar mancherlei Dienste. Er wurde, zusammen mit französischen Arbeitern, in der Werkstatt beschäftigt, er bekam besseres Essen als wir, des Abends brachte er mir immer allerlei gute Sachen mit, häufig auch Wein, dazu die Nachrichten, die er von seinen französischen Kameraden gehört hatte. Ich hätte schwerlich einen bessern Nachbar finden können. Er hatte nur eine unangenehme Eigenschaft, eine, an der er vollkommen unschuldig war: des Nachts, nach der Arbeit, roch er nicht gut.
Gestern hatte mir das Lattenwerk zur Unterbringung meiner Sachen gute Dienste getan. Jetzt war ich von dort vertrieben worden und hatte dadurch ungeschriebenen Gesetzen zufolge meinen Anspruch auf Benutzung der Gestelle verloren. Allein die neuen Inhaber meines früheren Raumes erlaubten mir ohne weiteres, den Teil des Lattenwerks beizubehalten, den ich benötigte. Sie waren, wie auch ein großer Teil meiner Gruppenkameraden, Proletarier. Sie behandelten mich mit freundschaftlicher Achtung. Aus den Gestellen rissen sie, obgleich das verboten war, einige Latten heraus und zimmerten für mich in der Nähe der Fensterluke etwas wie eine Bank und einen Tisch. So gewann ich schräg gegenüber meiner Schlafstätte Gelegenheit, zu sitzen und sitzend zu essen, zu schreiben, zu lesen. Bald empfand ich mein Strohlager und die Nische schräg gegenüber mit den Tisch- und Sitzlatten als Wohnung, als meinen natürlichen Rahmen, als etwas, das durchtränkt war von meinem Wesen.
Es waren unter den Arbeitern meiner und der Nachbargruppe vier, mit denen ich mich besonders gern unterhielt, Saarländer allesamt. Es waren überhaupt viele Saarländer unter uns. Jenen Leuten, die sich während der Abstimmung, ob das Saarland deutsch oder französisch werden solle, durch Agitation für Frankreich kompromittiert hatten, war wohl nichts andres übriggeblieben, als nach Frankreich zu flüchten. Frankreich hatte ihnen besonderen Schutz versprochen, jetzt verwahrte es sie im Konzentrationslager.
Von den vier saarländischen Arbeitern, mit denen ich mich anfreundete, war einer Maschinenheizer, einer war in einer Möbelfabrik angestellt gewesen, dann war da mein Nachbar im Stroh, der Mechaniker, und ein zweiter Mechaniker mir schräg gegenüber. Französisch sprachen alle vier wie ihre Muttersprache, drei waren mit französischen Frauen verheiratet. Mir halfen sie mit Vergnügen und mit Erfolg, und sie waren immer bereit zu einem guten Schwatz. Ich habe von ihnen viel erfahren über das Leben der Arbeiter im Saarland und in Südfrankreich.
Dann war da in meiner Nachbarschaft ein lustiger sächsischer Schneider, der immerzu Hunger hatte und sich zum Küchendienst zu melden pflegte, weil dabei für ihn etwas abfiel, ferner ein Friseur, zwerghaft klein, etwas habgierig, immer auf der Lauer, und schließlich ein jovialer, weltkundiger Kneipwirt aus Toulon. Auch diese Leute waren umgänglich, doch äußerten sie im Gegensatz zu den Arbeitern keine politische Meinung, legten vielmehr Gewicht darauf, nicht etwa als Flüchtlinge zu gelten, sondern als Auslandsdeutsche, die zwar nicht zu den Nazis hielten, aber das Reich mit ordentlichen Papieren und mit Erlaubnis der Behörden verlassen hatten.
Gruppenführer war der Kneipwirt aus Toulon. Das Amt des Gruppenführers brachte nicht etwa Vorrechte mit sich, sondern nur eine Menge Arbeit. Trotzdem wollten in jeder Gruppe mehrere Führer sein. Einige bewährten sich nicht und wurden wieder abgesetzt. Sie waren gekränkt. Es war überhaupt merkwürdig, wie viele das Bedürfnis hatten, etwas zu organisieren, sich wichtig zu machen.
Paris hatte jetzt die Verfügung über die Internierung dahin erweitert, daß auch die österreichischen und tschechischen Flüchtlinge in die Konzentrationslager zu bringen seien, und so trafen in den nächsten Tagen Hunderte von neuen Ankömmlingen ein. Viele wurden in Polizeitransporten eingeliefert, gewöhnlich je zu zweien mit Handschellen aneinander gefesselt. An sich sollten nur Leute unter Sechsundfünfzig interniert werden, aber die Behörden nahmen es nicht sehr genau. Gefesselt eingebracht wurde zum Beispiel auch ein angesehener Herr aus Marseille, geboren im Jahr 1882. Als er dem Polizeibeamten anhand seines Passes erweisen wollte, daß er die Altersgrenze der zu Internierenden überschritten habe, hatte der Gendarm erwidert, er sei nicht da, um zu rechnen, sondern um zu verhaften.
Der Raum in unserer Ziegelei wurde nun sehr eng, in unserm Saal war bald jeder Winkel besetzt. Es gab jetzt unter uns Männer jeden Alters und jeder Art. Von ihren Namen habe ich wenige behalten, wohl aber habe ich mir die Gesichter und die Besonderheiten vieler gemerkt.
Da war etwa ein Industrieller, ein Saarländer auch er, ein ruhiger, ordentlicher Herr. Immer hatte er eine kleine Maschine auf den Knien und schrieb Briefe und Aufstellungen. Er fand tausend Wege, sich Nachrichten, Zeitungen, Lebensmittel einschmuggeln zu lassen. Er teilte davon reichlich den andern mit und schuf um sich eine gewisse Behaglichkeit.
Dann war da ein Mann, sehr bestimmt von Wesen, immer eine kleine Gruppe um sich, die auf ihn hörte. Er war Zahntechniker aus Monte Carlo und, wie sich später ergab, ein Nazi. Er kam mir von Anfang an sehr autoritär vor. Vielleicht aber auch deutete ich das Autoritative nur deshalb in ihn hinein, weil der Zufall ihm als einzigem eine Lagerstätte gegeben hatte, die, da sie zwischen zwei Zugängen zu dem Lattenwerk lag, von den andern Lagerstätten getrennt war. Der Mann, der peinlich auf Ordnung hielt, hatte diese Lagerstätte säuberlich mit Ziegeln umgrenzt. Da lag er nun des Abends und des Morgens inmitten seines Ziegelrahmens wie auf einem Katafalk, sehr eindrucksvoll.
Dann war da, etwa zwanzig Strohbreiten von mir entfernt, der Schriftsteller Walter Hasenclever, einer der Begründer des deutschen Expressionismus.
Es war dann weiter da ein stiller Herr, der vom ersten Weltkrieg in Indien überrascht und dort für die ganze Kriegsdauer interniert worden war. Er war geduldig, ein richtiger Philosoph, er hatte sich ein Klappstühlchen mitgebracht und war darauf gefaßt, nun auch diesen ganzen Krieg auf seinem Klappstühlchen in einem Konzentrationslager verbringen zu müssen.
Weiter war da ein Herr von mittleren Jahren, klein, dicklich, lustig, schlau und gefällig, ein seit vielen Jahren in Marseille ansässiger Kinobesitzer, der in weißen, immer unsagbar dreckigen Pyjamahosen herumlief, eine Zipfelhaube auf dem rundlichen Kopf und, gegen die ausdrückliche Hausordnung, einen kleinen Hund an einer Leine mit sich führend. Die Wachsoldaten und Sergeanten hatten alle den lustigen Mann gerne, und er schmierte sie, so daß sie seinen Hund duldeten.