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Was ist nur mit Bob los? Warum reagiert der sonst so ausgeglichene Dritte Detektiv plötzlich agressiv und gereizt auf seine Freunde Justus und Peter? Es scheint, als stünde er unter dem Einfluß einer fremden Macht. Justus und Peter beschatten ihren Freund und folgen ihm unauffällig in den Konzertsaal eines Privathauses. Dort lauscht er gebannt der Musik eines virtuosen Geigenspielers. Und bevor sie wissen, wie ihnen geschieht, werden auch Justus und Peter von dem Klängen gleichsam verhext. Können sie sich dem Bann des Teufelsgeigers entziehen, ehe es zu spät ist?
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Seitenzahl: 166
Musik des Teufels
erzählt von André Marxnach einer Idee von André Marx und Christian Strohkirch
Kosmos
Umschlagillustration von Aiga Rasch
Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage
der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele weitere Informationen zu unseren Büchern, Spielen, Experimentierkästen, DVDs, Autoren und Aktivitäten findest du unter kosmos.de
© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan
Based on characters by Robert Arthur.
ISBN 978-3-440-14177-9
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Für Xandra, das wandelnde Musiklexikon.Vielen Dank für deine unermüdliche (?) Hilfe.
Bob Andrews schoss mit seinem Fahrrad in die Einfahrt von Sax Sendlers Musikagentur. Erst im letzten Moment sah er das Mädchen im Rollstuhl, das nicht weniger schnell auf die Straße zusteuerte. Bob bremste und riss den Lenker herum. Das Fahrrad geriet ins Schleudern und prallte mit dem Hinterrad gegen den Rollstuhl. Bob konnte sich gerade noch mit den Beinen abfangen, um nicht zu stürzen. Ein Kasten polterte zu Boden.
»Kannst du nicht aufpassen!«, fuhr die Rollstuhlfahrerin ihn an.
»Entschuldigung!«, keuchte Bob erschrocken. »Ich habe dich nicht gesehen.«
»Dann mach die Augen auf!«
»Habe ich dich verletzt?«
»Nein.«
Bob kniete sich hin, um den Kasten aufzuheben, doch das Mädchen kam ihm zuvor. »Finger weg!«, rief sie, griff nach dem Geigenkasten und legte ihn auf ihren Schoß. Sie strich sanft über seine Oberfläche. »Wenn der Geige etwas passiert ist, wird es teuer für dich!«, drohte sie und öffnete vorsichtig die Metallverschlüsse, während Bob gespannt den Atem anhielt. Sorgsam begutachtete sie das Instrument. »Scheint okay zu sein. Glück gehabt. Fahr in Zukunft gefälligst etwas langsamer. Das ist ja lebensgefährlich.«
»Na, hör mal«, erwiderte Bob. »Du hattest auch ein ganz schönes Tempo drauf.«
Sie funkelte ihn wütend an. »Du kannst mich mal!«, zischte sie und setzte ihren Weg mit Schwung fort.
Irritiert sah Bob ihr nach. War er ihr wegen seiner Bemerkung über ihr Tempo zu nahe getreten? Dann entschied er, dass sie einfach etwas hysterisch war. »Die hat sie ja nicht mehr alle«, murmelte er und schwang sich wieder auf den Sattel. Doch ein schleifendes Geräusch veranlasste ihn nach wenigen Minuten anzuhalten. Er sah sich um. Das Hinterrad hatte eine Acht. Fluchend stieg er ab und betrachtete den Schaden genauer. Er konnte noch damit fahren, aber wenn er vermeiden wollte, dass das Rad sich weiter verzog, schob er besser. Seufzend stellte er es vor dem Eingang der Agentur ab und betrat das große Gebäude. In einem der Büros begegnete er Sax Sendler, dem Chef der Agentur.
»Hi, Bob. Kommst du, um die Plakate für das Konzert abzuholen?«
Bob nickte. Er arbeitete manchmal aushilfsweise für die Agentur, verteilte Konzertplakate oder half bei der Organisation von Veranstaltungen. »Ich kann sie nur nicht sofort aufhängen. Ich hatte gerade einen kleinen Unfall mit einer Rollstuhlfahrerin. Ihr ist nichts passiert, aber mein Hinterrad eiert.«
»Die war gerade hier«, bemerkte Sax Sendler. »Sie wollte etwas klären wegen des Kammerkonzerts im Kulturzentrum übernächste Woche. Dort spielt sie nämlich mit.«
Bob verzog das Gesicht. »Ich hatte eigentlich immer gedacht, Geiger seien besonders sensibel und zurückhaltend. Aber sie ist eben ziemlich ausgerastet.«
Sax Sendler seufzte. »Musiker waren noch nie besonders ausgeglichene Menschen. Interessierst du dich eigentlich für klassische Musik, Bob?«
»Es geht so. Nicht richtig. Wieso?«
»Weil ich eine Einladung habe. Dr. Stevenson von der Musikhochschule war heute Morgen hier. Er wurde zu einem privaten Konzertabend eingeladen, hat aber keine Zeit. Ich steh nicht so auf Pauken und Trompeten. Möchtest du hingehen?«
Bob zuckte die Schultern. »Warum nicht? Ein bisschen Kultur kann nicht schaden.«
Sax reichte ihm die Karte. »Das Konzert ist heute Abend. Die Adresse steht drauf.«
»Danke«, sagte Bob, holte die Plakate und verließ die Agentur. Erst als er vor dem Rad stand, fiel ihm der Zusammenstoß mit der Rollstuhlfahrerin wieder ein. »Blöde Kuh«, murmelte er und schob das Rad auf die Straße.
»Matt«, sagte Justus Jonas zufrieden, als Bob auf den Schrottplatz fuhr. Der Erste Detektiv saß auf einem Klappstuhl vor der Zentrale und beugte sich über einen kleinen Tisch, auf dem ein Schachbrett aufgebaut war. Die Zentrale war ein ausrangierter Campinganhänger, der Justus, Bob und ihrem Freund Peter Shaw als Büro für ihr Detektivunternehmen diente. Der Anhänger stand auf dem Gelände des Gebrauchtwaren-Centers, das Justus’ Onkel Titus führte. Eigentlich war es nicht mehr als ein riesiger Trödelladen mit angrenzendem Schrottplatz, doch Gebrauchtwaren-Center klang besser.
»Schön, dass du auch noch kommst«, rief Justus und sah demonstrativ auf die Uhr.
»Tut mir Leid. Es ist was dazwischengekommen. Ich musste erst noch mein Fahrrad reparieren. Gegen wen spielst du da eigentlich?«
»Gegen mich selbst«, erklärte Justus und blinzelte zu Bob hoch. »Mir blieb ja nichts anderes übrig. Mein Gegner war ganz schön hartnäckig, aber ich habe gewonnen! Spielen wir jetzt eine Partie?«
Bob seufzte. »Du bestehst ja darauf. Bereitet es dir eigentlich Vergnügen, immer wieder gegen mich zu gewinnen? Eine echte Chance habe ich doch nie.«
Justus grinste. »Soll ich etwa gegen Peter spielen? Der beherrscht ja noch nicht einmal die Regeln.«
»Wie wäre es mit Onkel Titus?«
»Den habe ich schon geschlagen, als ich sieben war«, erklärte Justus gelassen und baute die Figuren neu auf. »Weiß oder Schwarz?«
Sie begannen ihre Partie, doch Bob hatte schon nach zehn Minuten die Mehrzahl seiner Figuren verloren. »Ist es möglich, dass du heute ein wenig unkonzentriert bist?«, erkundigte sich Justus.
»Ja. Ich muss die ganze Zeit über etwas nachdenken. Kennst du eigentlich jemanden, der im Rollstuhl sitzt?«
Justus runzelte die Stirn. »Nö.«
»Ich bin heute mit einem Mädchen zusammengestoßen, das im Rollstuhl saß.« Bob berichtete von dem Vorfall. »Sie hat mich ziemlich angepflaumt, weil ich zu schnell war. Sie war auch nicht gerade langsam, also habe ich zurückgepflaumt. Bin ich damit zu weit gegangen?«
»Warum? Weil du sie auf die Tatsache hingewiesen hast, dass sie fährt und nicht geht?«
Bob nickte.
»Aber das weiß sie doch. Ich würde der Angelegenheit nicht so große Bedeutung beimessen. Sie hat sich wahrscheinlich nur Sorgen um ihre Geige gemacht. So wie du dir Sorgen um diesen Zug mit deinem Turm machen solltest. Einen hast du schon verloren. Was hast du eigentlich heute Abend vor? Peter sucht noch jemanden, der mit ihm joggen geht. Ich habe ihn an dich verwiesen.«
»Hätte mich auch gewundert. Aber ich habe heute schon was vor. Ich gehe in ein Konzert.«
»Was denn für ein Konzert?«
»Keine Ahnung.« Bob zog die Einladung aus der Hosentasche und reichte sie Justus. »Ich habe noch gar nicht draufgesehen.«
»Schach«, sagte Justus und betrachtete die Karte. »Ein Violinabend mit Mr Vanderhell. Aha. Nie gehört. Seit wann interessieren dich denn Violinabende?«
»Eigentlich gar nicht. Ich dachte nur, so was muss man mal erlebt haben. Wenn es mir nicht gefällt, kann ich ja gehen.« Bob zog seinen König auf ein sicheres Feld, doch Justus ließ sich davon nicht beeindrucken.
»Schach«, wiederholte er. »Und matt in vier Zügen. Wenn du gut bist.«
Bob blickte empört vom Spielbrett auf. »Woher weißt du das?«
Der Erste Detektiv lächelte überlegen. »Das sieht man doch auf einen Blick!«
Bob sah gar nichts. »Das glaube ich nicht. Wetten, dass ich länger durchhalte als vier Züge?«
»Wetten, nicht?«
»Okay, wenn du verlierst, gehst du heute Abend mit Peter joggen«, schlug Bob vor.
»Einverstanden. Und wenn du in vier Zügen verlierst, ziehst du zu diesem Konzert einen schwarzen Anzug an. Mit Krawatte!«
Sie gaben sich die Hand. Drei Züge später war Bob schachmatt.
Was sah alberner aus: in Schlips und Kragen vom Fahrrad oder aus einem klapprigen alten VW Käfer zu steigen? Bob stand vor dem Spiegel und zog seine Krawatte zurecht. Es hatte ewig gedauert, sie zu binden, und auch jetzt war Bob mit dem Ergebnis nicht hundertprozentig zufrieden. Er sah ohnehin komplett lächerlich aus, da machte ein schiefer Krawattenknoten auch nichts mehr. Er fuhr sich noch einmal durchs Haar, bevor er sein Zimmer verließ und leise die Treppe hinunterschlich. Seine Eltern saßen in der Küche und unterhielten sich. Sie sollten ihn auf keinen Fall in diesem Aufzug sehen. »Ich fahre jetzt zu Justus!«, rief Bob, riss die Haustür auf und verschwand nach draußen.
»Komm nicht so spät nach Hause!«, hörte er seine Mutter noch rufen, bevor er die Tür schloss und zum Wagen eilte. Im Auto konnte ihn wenigstens niemand sehen. Rocky Beach war eine kleine Stadt. Wenn einer seiner Mitschüler ihn so auf der Straße sah, würde ihn am nächsten Tag sicher die halbe Schule damit aufziehen.
Bob fuhr an der Küste entlang Richtung Santa Monica. Sein Ziel war eine schmale Bergstraße kurz hinter Rocky Beach, die von der Hauptstraße abbog und ins Hinterland führte. An der Straße lag nur eine Hand voll Häuser, alle sehr groß und edel und hinter hohen Hecken versteckt, die die riesigen Vorgärten säumten. Doch keines der Häuser sah nach einem öffentlichen Gebäude aus. Bob warf einen Blick auf die Einladungskarte: 16 Hillview Drive, bei Charkov. Das musste das Haus dort vorne sein. Es war ein Privatgrundstück. Dann entdeckte er den Namen Charkov auf einem großen Messingschild neben dem schmiedeeisernen Tor. Das Konzert war also eine Privatveranstaltung – oder aber der Hausbesitzer stellte seine Räumlichkeiten für Konzerte zur Verfügung.
Bob überlegte, ob er wieder umkehren sollte. Er hatte wenig Lust in einen privaten Kreis zu platzen. Andererseits: Wie oft bekam man schon die Gelegenheit an einem so exklusiven Ereignis teilzunehmen? Entschlossen lenkte er den Wagen durch das weit geöffnete Tor auf die kiesbestreute Auffahrt. Sie führte durch ein großes Grundstück, auf dem riesige Eichen den Rest Tageslicht schluckten, bevor sie den Blick auf das Gebäude freigaben: Es war ein großes, herrschaftliches Haus mit hellen und freundlichen Mauern, die im Licht der untergehenden Sonne in einem leichten Rot leuchteten. Über dem Portal befand sich ein Balkon, der Bob sogleich an ›Romeo und Julia‹ erinnerte. Er parkte seinen gelben Käfer neben einer langen Reihe großer teurer Wagen. Als er die Autotür schloss, überlegte er, ob es nicht doch klüger gewesen wäre, mit dem Rad zu kommen.
Nachdenklich blickte er an dem zweistöckigen Haus empor. Ihm wurde ein wenig mulmig. Bestimmt würden nur alte Leute da drin sein, die sich furchtbar wichtig fühlten. ›Bildungsbürger‹, die den ganzen Abend über Kultur sprachen. Und er würde dazwischen sitzen, kein Wort sagen und von allen schief angesehen werden. Was wollte er hier eigentlich?
»Feigling«, sagte er leise zu sich selbst. »Du klingelst jetzt. Wahrscheinlich lassen sie dich gar nicht erst rein. Dann hat sich die Angelegenheit von allein erledigt.« Er betrat die weißen Steinstufen, die zur großen, schweren Holztür hinaufführten, und ergriff den Türklopfer: ein Eisenring im Maul eines Löwen, der ihn finster anstarrte. Das Metall pochte dumpf gegen das Holz. Bob wartete. Nach einer Weile wurde die Tür langsam geöffnet. Überrascht blickte er auf ein Mädchen mit dunkelblondem Haar in einem Rollstuhl.
»Du?«, fragte sie erstaunt. »Du bist doch der Typ mit dem Fahrrad. Was willst du hier?«
»Ich…«, stotterte Bob und fingerte schließlich seine Einladung aus der Innentasche seines Jacketts hervor. »Ich bin hier, um mir das Konzert anzuhören.«
Das Mädchen kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Du hast eine Einladung bekommen?« Es streckte die Hand aus. Bob wollte sie ergreifen, doch das Mädchen zog sie im letzten Moment weg und kniff verärgert den Mund zusammen. »Die Karte! Ich will die Einladung sehen.« Bob wurde rot.
»Ich habe sie nicht direkt bekommen«, erklärte er. »Eher über Umwege. Ist das heute Abend ein privater Kreis?«
»Ich glaube kaum, dass du Dr. Stevenson bist«, überging das Mädchen seine Frage und tippte auf den Namen, der auf der Karte stand.
»Das sagte ich ja. Die Einladung ging nicht an mich, sondern an Dr. Stevenson, der jedoch keine Zeit hatte.«
»Und da hat er dich geschickt?«
»Nein, er hat sie Mr Sendler von der Musikagentur gegeben, der sie wiederum mir gegeben hat und –«
»Du kennst Dr. Stevenson also gar nicht?«
»Nein, aber –«
»Und was willst du dann hier?«
»Ich dachte, das Konzert sei eine öffentliche Veranstaltung und ich könnte die Karte von Dr. Stevenson verwenden. Aber da habe ich mich wohl getäuscht. Dann gehe ich mal wieder.« Er wandte sich um, doch das Mädchen hielt ihn zurück.
»Du kannst ruhig bleiben, wenn du willst. Das Konzert ist zwar nicht gerade öffentlich, aber auch nicht privat. Da Dr.Stevenson fehlt, ist logischerweise ein Platz frei. Hast du noch Lust?«
Bob wandte sich erstaunt um. Das eben noch so kratzbürstige Mädchen lächelte ihn plötzlich an, rollte ein Stückchen zurück und gab die Tür frei.
»Bist du sicher, dass –«
»Dass du nicht störst? Also, mich jedenfalls nicht. Und da ich hier wohne, lade ich dich hiermit ein.«
Bob lächelte unsicher und betrat das Haus. In einem kleinen Vorraum befand sich die Garderobe, an der einige dunkle Mäntel hingen. Die Rollstuhlfahrerin stieß mit der Hand eine gläserne Schwingtür auf und führte Bob in einen großen Salon, in dem fast zwanzig Menschen in vornehmer Abendgarderobe standen und sich leise unterhielten. Fast alle hatten ein Glas in der Hand. Als Bob den Salon betrat, unterbrachen einige ihr Gespräch und blickten ihn sekundenlang schweigend an. Bob spürte, wie ihm erneut das Blut in den Kopf schoss, und wünschte sich unsichtbar zu werden. Es war genau so, wie er befürchtet hatte: Alle Anwesenden waren weit über fünfzig und schienen täglich schwarze Anzüge zu tragen. Er war heilfroh die Wette gegen Justus verloren zu haben. So tanzte er wenigstens mit seiner Kleidung nicht völlig aus der Reihe. Um nicht die misstrauischen Blicke erwidern zu müssen, sah er sich im Raum um: An der hohen Decke hing ein gigantischer Kronleuchter, der ein warmes Licht ausstrahlte. Der schwarz-weiß gekachelte Salon wurde von einem riesigen schwarzen Konzertflügel beherrscht. Er stand neben einer breiten Treppe, die gegenüber der Eingangstür in den ersten Stock führte. Auf dieser Höhe umrundete eine Galerie den Saal. An der hölzernen Brüstung waren überall Skulpturen aufgestellt: Aus weißem Sandstein gearbeitete Figuren, mal abstrakt, mal klassisch, bevölkerten die Galerie und starrten aus kalten Augen ins Leere. Auch im Saal selbst waren Plastiken verteilt: neben dem Flügel, an den Säulen, die die Decke hielten, am Treppenabsatz.
»Es dauert noch eine Weile, bis es losgeht. Möchtest du etwas trinken?«, riss das Mädchen ihn aus seinen Gedanken. »Wie heißt du überhaupt?«
»Bob. Bob Andrews.«
»Ich bin Jelena Charkova.« Nun reichte sie ihm tatsächlich die Hand, die Bob zögernd ergriff. »Komm mit!«, forderte sie ihn auf und lenkte ihren Rollstuhl zum Getränketisch hinüber. Ohne Bob zu fragen, schenkte sie ihm ein Glas Wasser ein, das er dankbar entgegennahm. Er war froh sich in dieser fremden Umgebung an etwas festhalten zu können. Inzwischen hatten sich die meisten Gäste zwar wieder ihren Gesprächspartnern zugewandt, doch Bob hatte noch immer das Gefühl, beobachtet zu werden.
»Wer sind all diese Leute?«, fragte er.
»Freunde meines Vaters. Kollegen. Die meisten kenne ich gar nicht. Aber sie haben alle was mit Musik zu tun. Mein Vater unterrichtet nämlich an der Musikhochschule in Santa Monica.«
»Gibt er heute das Konzert?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat nur unser Haus zur Verfügung gestellt. Der Solist ist irgendein unbekannter Geiger aus Europa. Vanderhell heißt er oder so ähnlich. Ich habe ihn nur kurz gesehen, als er heute ankam. Danach hat er sich gleich zurückgezogen, um zu üben. Das klang schon recht vielversprechend. Ich bin mal gespannt, was er vor Publikum draufhat.« Sie nippte an ihrem Glas und blickte zu den Gästen hinüber.
Bob fühlte sich nach wie vor nicht wohl in seiner Haut. Dieser Ort, diese Menschen und nicht zuletzt Jelenas Rollstuhl verunsicherten ihn. »Übrigens, wegen heute Nachmittag«, begann er vorsichtig. »Unser Zusammenstoß tut mir wirklich Leid. Ich hätte besser aufpassen sollen.«
»Stimmt«, erwiderte Jelena gelassen, ohne ihn anzusehen.
Bevor Bob etwas erwidern konnte, kam ein Mann mit lichtem Haar und einem kurzen weißen Bart auf sie zu. Er hatte einen starken russischen Akzent, als er Jelena ansprach. »Hast du einen Freund eingeladen? Das freut mich.« Er wandte sich an Bob. »Spielst du auch im Kammerorchester? Lass mich raten: Cello!«
Bob schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, ich bin –«
»Er ist eher zufällig hier«, fiel Jelena ihm ins Wort und stellte sie dann einander vor. »Bob Andrews. Und das ist mein Vater, Sergej Charkov.«
»Freut mich. Was spielst du denn für ein Instrument, Bob?«
»Ich, äh … gar keins.«
Mr Charkov runzelte die Stirn, als hielte er es für eine Unhöflichkeit, kein Instrument zu beherrschen. »Ich werde wieder zu den anderen Gästen gehen«, überging er Bobs Geständnis. »Sucht euch doch schon mal einen Platz, es geht gleich los.«
»Woher kommt deine Familie?«, fragte Bob, als Mr Charkov gegangen war.
»Aus Russland. Nowosibirsk, falls dir das was sagt. Wir sind vor ungefähr zehn Jahren nach Kalifornien gekommen.«
»Nowosibirsk – habe ich schon mal gehört«, überlegte Bob. »Und deine Mutter? Ist sie auch hier?«
Jelena schüttelte den Kopf. »Sie ist schon lange tot.«
»Das tut mir Leid.«
»Mir auch. Sie war eine tolle Frau. Ich weiß zwar nicht mehr sehr viel von ihr, aber an einige Dinge kann ich mich noch gut erinnern. Sie war Bildhauerin. Von ihr stammen die ganzen Skulpturen, die du hier im Salon siehst. Im restlichen Haus sind noch mehr davon verstreut. Daher hat mein Vater auch dieses riesige Haus gekauft. Er wollte, dass jede Plastik ihren eigenen Platz bekommt. Sieh mal, dahinten!« Sie zeigte auf die Skulptur eines kleinen Mädchens mit einer Geige in der Hand. »Das bin ich. Besser gesagt, das war ich vor fast zehn Jahren.«
»Wahnsinn«, fand Bob, als er sich die Skulptur genauer ansah. »Ihr seid eine sehr kreative Familie. Du spielst Geige und dein Vater beherrscht doch sicher gleich ein paar Instrumente, oder?«
Sie nickte und deutete auf den Flügel. »Geige spielt er auch noch.« Dann sah sie auf die Uhr. »Es wird Zeit. Wollen wir zusammen sitzen?«
Bob nickte. »Hast du schon einen Platz?«
»Ja«, antwortete sie und tätschelte die Armlehnen ihres Rollstuhls. »Den habe ich immer.«
»Ich … ich meinte …«, stotterte Bob und Jelena sah ihn erwartungsvoll an. Zum dritten Mal an diesem Abend schoss ihm die Röte ins Gesicht. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten«, brachte er schließlich heraus.
Jelena setzte zu einer Erwiderung an, sagte dann aber doch nichts, sondern schüttelte nur verständnislos den Kopf. Sie griff in die Räder ihres Rollstuhls und setzte sich schwungvoll in Bewegung, um neben den aufgebauten Stuhlreihen zum Stehen zu kommen. Einige Leute hatten bereits Platz genommen. Bob folgte Jelena und setzte sich schweigend auf den Stuhl neben ihr. Einige Minuten später hatten alle Anwesenden ihre Plätze gefunden und blickten erwartungsvoll auf Mr Charkov.
»Liebe Freunde, liebe Kollegen«, begrüßte er sie. »Ich freue mich, dass ihr so zahlreich erschienen seid, um heute einem Musikgenuss der besonderen Art zu lauschen. Ich habe das Vergnügen, einen Violinisten aus Europa vorzustellen, der erst seit kurzem in Kalifornien lebt. Was er heute Abend spielt, wird er euch selbst erzählen. Begrüßt mit mir Mr Vanderhell!«
Mr Charkov trat zur Seite. Bob hob die Hände zum Klatschen und sah zur Treppe hinüber. Die Stufen waren mit einem schweren roten Teppich ausgelegt. Die Treppe war wie geschaffen für einen theatralischen Auftritt. Doch niemand zeigte sich an ihrem oberen Ende. Er warf einen schnellen Blick in die Runde. Auch alle anderen Anwesenden rechneten fest damit, Vanderhell die Stufen herunterkommen zu sehen. Nichts geschah. Nach einer Weile begannen die ersten Gäste miteinander zu flüstern. Mr Charkov blickte nervös zur Galerie hinauf. Fragend sah Bob zu Jelena hinüber, doch sie machte ein ebenso ratloses Gesicht wie alle anderen. Das Tuscheln der Zuschauer wurde lauter.
»Guten Abend.«
Bob zuckte zusammen. Wie aus dem Nichts war hinter Jelena ein großer, dunkel gekleideter Mann erschienen und blickte über die Anwesenden hinweg. Er war sehr dünn und seine hagere Gestalt wurde von den Schößen seines Smokings noch betont. Einen richtigen Schreck bekam Bob, als er in das Gesicht des Mannes blickte: Es war leichenblass und ausgezehrt. Die dunklen Augen lagen tief in ihren Höhlen und das schulterlange, schwarze Haar klebte strähnig an seinem Schädel. Ein dünnes Lächeln huschte über die blutleeren Lippen.