9,99 €
»Die Schwarze Venus«-Trilogie: Historische Spannung um eine legendäre Figur – Josephine Baker, Tänzerin, Vordenkerin, Kämpferin! Der Abschlussband »Die Dunkelheit der Welt« spielt in Paris 1942: Als die Leiche einer jungen Frau gefunden wird, die von Deutschen ermordet wurde, vermutet die französische Résistance einen Verräter in den eigenen Reihen. Tristan Nowak, der sich dem Widerstand angeschlossen hat, versucht, die Identität des Kollaborateurs aufzudecken. Als er erfährt, dass Josephine Baker, die ebenfalls für die Résistance arbeitet, nach Paris kommen wird, tut er alles, um sie zu schützen. Er ahnt nicht, dass er damit genau in die Hände der Verschwörer spielt: Er selbst soll zum Lockvogel für Josephine werden – und damit zur Schlüsselfigur in ihrer Ermordung. In ihren historischen Kriminalromanen (Bd. 1: »Der Tod ist ein Tänzer«, Bd. 2: »Die Spur der Grausamkeit«, Bd. 3: »Die Dunkelheit der Welt«) macht Veronika Rusch die faszinierende Tänzerin und Sängerin Josephine Baker, die man auch »Die schwarze Venus« nannte, zur zentralen Figur einer groß angelegten Verschwörung. Die drei Bände führen die Leser in drei glamouröse Hauptstädte – Berlin, Wien und Paris – und von den goldenen Zwanzigern bis ins Paris des Jahres 1942: Drei Schicksale treffen wieder und wieder aufeinander, ein Mann, gezeichnet durch den Krieg, eine Frau, entschlossen, die Welt zu erobern, ein Gegner, gefährlich und unberechenbar … »›Der Tod ist ein Tänzer‹ ist ein großartiger historischer Roman, eine gelungene Mischung aus Fakten und Fiktion, unheimlich atmosphärisch und spannend bis zum Schluss. Dieser Roman macht unbedingt Lust auf Teil zwei und drei.« WDR 4 Die Josephine-Baker-Verschwörung Band 1: Der Tod ist ein Tänzer Band 2: Die Spur der Grausamkeit Band 3: Die Dunkelheit der Wel
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:
www.piper.de
Wenn Ihnen dieser Kriminalroman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Die Dunkelheit der Welt« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.
© Piper Verlag GmbH, München 2021
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: zero-media.net, München
Coverabbildung: FinePic®, München
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Cover & Impressum
Zitat
Motto
ERSTER AKT
1
Paris, 23. Juli 1942, Donnerstag
2
3
Marrakesch, 25. Juli 1942, Samstag
4
Paris, 27. Juli 1942, Montag
5
7
Paris, 28. Juli 1942, Dienstag
8
9
Tanger, 7. August 1942, Freitag
10
Paris, am selben Tag
ZWEITER AKT
11
Paris, 7. August 1942, Freitag
12
Tanger, am selben Tag
13
Paris, am selben Tag
14
15
Paris, 8. August 1942, Samstag
16
17
18
19
20
21
22
Marrakesch, am selben Tag
23
Paris, 9. August 1942, Sonntag
24
25
26
27
Marrakesch, Marokko am selben Tag
28
Paris, am selben Abend
29
30
31
Paris, 10. August 1942, Montag
32
33
Paris, 11. August 1942, Dienstag
34
35
36
DRITTER AKT
37
Vor der nordafrikanischen Küste, 12. August 1942, Mittwoch
Paris, am selben Tag
38
Marrakesch am selben Tag
39
Paris, am selben Tag
40
Marokko, 13. August 1942, Donnerstag
41
42
Paris, am selben Abend
Telouet, am selben Tag, spätnachts
43
44
Paris, 19. August 1942, Mittwoch
45
Zug Marseille–Paris, am selben Tag, zwanzig Minuten früher
46
Paris, eine Woche später
47
Epilog
Westberlin, 12. April 1975, Samstag
Nachwort
Anmerkungen zum historischen Hintergrund
Lebenslauf Josephine Baker
Danksagung
Literaturverzeichnis
Quellenangaben
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
»Meine Zuversicht mag sonderbar erscheinen, aber ich glaube fest daran, dass man stirbt, wenn man nachgibt, wenn man, des Kampfes müde, die Waffen streckt.«
Josephine Baker
Die Dunkelheit hat mich eingeholt.
Viele Jahre lang habe ich versucht, ihr zu entfliehen, bin gelaufen, weiter, immer weiter, doch es war vergebens.
Was wird die Finsternis am Ende überleben?
Liebe? Oder Verrat?
Ich bin Nowak.
Ich bin Tristan.
Ich bin ein Mörder.
Sur mes refuges détruits
Sur mes phares écroulés
Sur les murs de mon ennui
J’écris ton nom
Auf meine zerstörte Zuflucht
Auf meine gestürzten Leuchtfeuer
An die Mauern meiner Langeweile
Schreibe ich deinen Namen
Paul Éluard, Liberté (1942)
Die Stadt war leer. Das war sein erster Eindruck gewesen, als er gestern Nachmittag am Gare de l’Est angekommen war. Im Vergleich zu seinem letzten Besuch vor sechzehn Jahren schien sie sogar nahezu entvölkert zu sein. Es herrschte eine seltsame Stille, es waren kaum Menschen zu sehen, und die wenigen privaten Automobile, die unterwegs waren, krochen seltsam verloren über die prächtigen Boulevards, die dadurch noch breiter und leerer wirkten. Mit dem Einmarsch der Truppen war ein Großteil der Pariser geflohen, und die wenigsten waren seither zurückgekehrt. Für die Verbliebenen war Benzin streng rationiert, Zivilisten hatten kaum Gelegenheit, welches zu bekommen. Und so gehörten die Straßen von Paris den Panzern und Kübelwagen der deutschen Wehrmacht sowie den glänzend schwarzen Limousinen der SS-Offiziere. In eine von diesen, ein Mercedes-Benz 630, stieg von Waldeck nun mit größter Genugtuung.
Am Steuer saß SS-Untersturmführer Höllrich, sein neuer Adjutant. Er hatte vor von Waldecks frisch bezogenem Quartier in der Rue du Faubourg Saint-Honoré auf ihn gewartet, nachdem er zuvor Hermann Gille am Hotel Crillon, wo die Offiziere der Wehrmacht und Angehörige des Stabs der deutschen Sicherheitspolizei untergebracht waren, abgeholt hatte.
»Guten Morgen, Herr Standartenführer«, grüßte ihn Gille höflich, und von Waldeck erwiderte den Gruß mit einem Nicken. Die sechs Zylinder des offenen Tourenwagens schnurrten wie eine Raubkatze, als sie losfuhren, und man konnte die verhaltene Kraft von hundert PS geradezu unter sich spüren. Der Wagen hatte zwar nicht die Klasse des 770er-Mercedes des Führers, aber er kam ihm schon sehr nahe. Sie fuhren natürlich über die Champs-Élysées, und von ein paar Radfahrern abgesehen gehörte der breite Boulevard an diesem Morgen ganz ihnen. Die Straße mit ihren prächtigen Häusern erstrahlte im flirrenden Licht der Morgensonne, das durch das Laub der geometrisch gestutzten Alleebäume vielfach gebrochen wurde, und ließ den Triumphbogen in der Ferne wie das Tor zu einer anderen Welt erscheinen. Von Waldeck dachte an den Plan des Führers, Berlin in ein »Germania« umzugestalten, wie die Hauptstadt des großgermanischen Reiches dann heißen sollte, und er hoffte, Speer würde sich in seinen Entwürfen dazu von Paris inspirieren lassen. Natürlich würde alles noch moderner, schöner und gewaltiger werden, doch es lohnte durchaus, sich Anregungen dazu von Paris zu holen. Man konnte von den Franzosen halten, was man wollte, aber Größe zeigen, darin waren sie gut.
Am Étoile, wie der Platz mit den sternförmig abgehenden Straßen rund um den Triumphbogen genannt wurde, bogen sie in die Avenue Foch ab. Dort befand sich das Hauptquartier der Pariser Gestapo, dessen Leitung von Waldeck heute antreten würde. Hermann Gille hatte er mit nach Paris genommen, um einen Vertrauten an seiner Seite zu haben. Gille hatte sich bei der Gestapo in Berlin unter seinem alten Freund Franz von Geldern bis zum Kriminalkommissar hochgedient und sich in den vergangenen Jahren als treuer Gefolgsmann erwiesen. Von Waldeck war sich bewusst, wie wichtig solche Männer innerhalb einer Organisation waren, wo jeder sein eigenes Süppchen kochte.
Von Waldecks Hand tastete unauffällig zu dem kleinen, schon etwas vergilbten Blatt Papier, das in der Brusttasche seiner Uniform steckte. Er trug es seit vierzehn Jahren bei sich, eine ständige Mahnung, die von seinen zivilen Anzügen in seine Uniformen gewechselt war. Um nicht zu vergessen, was sein Ziel war: die Auslöschung. Die endgültige Vernichtung jener drei Menschen, deren Namen auf dem Zettel standen und die der wahre Grund waren, warum er sich um den Posten des Pariser Gestapochefs bemüht hatte.
Eigentlich war diese Notiz lachhaft, eine sentimentale Albernheit. Von Waldeck brauchte keine Mahnung, denn er vergaß nicht. Dies war seine wohl hervorstechendste Tugend – erlittenes Unrecht niemals und unter keinen Umständen zu vergessen. Dicht gefolgt von seinem urpreußischen Bedürfnis, begonnene Dinge zu Ende zu bringen.
Aus sicherer Quelle hatte er vor einigen Jahren die Bestätigung dessen erhalten, was er von Anfang an vermutet hatte: Sein verhasster Halbbruder, dessen Schlampe und der Rote Graf waren nach Frankreich geflohen, in die Stadt, in der Tristan in seiner Kindheit schon einmal gelebt und in der sein Onkel exzellente Verbindungen hatte. Sie hatten sich aus Berlin davongemacht wie Ratten, die sich feige verkrochen, um ihren Jägern zu entgehen. Doch das würde ihnen nicht gelingen. Am Ende würde er sie kriegen. Alle drei.
Julius von Waldeck verzog sein Gesicht zu einem zufriedenen Lächeln. Taktik und Geduld, das waren die Stärken eines guten Feldherrn. Und natürlich, das Wichtigste, unerbittliche Härte, wenn es darauf ankam.
Für diesen Feldzug privater Natur benötigte er jedoch einen Helfer, auf den er sich verlassen konnte. Jemanden, der ebenso hart sein konnte und ebenso hasste wie er. Dies war der zweite Grund, weshalb er Hermann Gille mit nach Paris genommen hatte. Er warf einen Blick auf den Mann, der neben ihm saß und schwieg, seit sie losgefahren waren. Julius von Waldeck hatte ihn seit ihrer gemeinsamen Rückkehr aus Wien im Auge behalten und wusste, Gille verfügte über beides in ausreichendem Maße. Unauffällig musterte er das grobe Profil seines Begleiters, der mit einem faszinierten Gesichtsausdruck die Umgebung betrachtete. Der fast vierzigjährige Mann mit dem Gesicht eines brutalen Jahrmarktschlägers staunte über diese Stadt wie ein Kind. Er war das erste Mal in Paris. Anders als von Waldeck, der als Kind oft die Sommerferien bei Verwandten verbracht hatte, »um die französische Lebensart kennenzulernen«, wie sein Vater sich ausgedrückt hatte. Zu diesem Zweck hatte sein Vater Tristan sogar ein Jahr das Lycée in Paris besuchen lassen, was er selbst nicht gedurft hatte. Für ihn war die Karriere eines Offiziers vorgesehen gewesen, darauf hatte seine Mutter, die aus einer alten preußischen Offiziersfamilie stammte, bestanden. Schon mit elf Jahren war er in die Kadettenanstalt Groß-Lichterfelde gekommen, wie alle seine männlichen Vorfahren mütterlicherseits. Das war hart gewesen, hatte ihn aber zu dem geformt, was er heute war: ein aufrechter, ehrenhafter Soldat.
Sie waren am Ziel angekommen, einem fünfstöckigen, schlichten Haus, vielfach unterteilt von schmalen, hohen Fenstern und schmiedeeisernen Balkonen. Es sah genau so aus, wie es ihre Arbeit erforderte: diskret. Höllrich brachte den Wagen direkt vor dem Eingang zum Stehen. Eilfertig sprang er heraus, um seinem Vorgesetzten die Tür aufzuhalten. Von Waldeck stieg aus, dicht gefolgt von Gille.
In der Eingangshalle erwarteten ihn bereits sein geschasster Vorgänger und seine künftigen Untergebenen. Die verhaltene Begrüßung erwiderte von Waldeck mit einem kühlen Nicken, ebenso die Vorstellung der wichtigsten Mitarbeiter. Gille stand die ganze Zeit wie ein Schatten hinter ihm. Weder sprach er ein Wort, noch stellte ihn von Waldeck vor.
Es war immer von Vorteil, die Leute im Unklaren zu lassen. Stattdessen ließ er sich unverzüglich sein Büro zeigen, ein geräumiges, elegant eingerichtetes Zimmer mit glänzendem Parkettboden und einem Mahagonischreibtisch. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing eine große rot-weiße Hakenkreuzfahne, die er sofort entfernen ließ. Sosehr er die Zurschaustellung der Insignien der Macht im öffentlichen Raum zu schätzen wusste, in seinem Büro hatte derlei Pomp nichts zu suchen. Er beabsichtigte, allein durch seine Präsenz zu zeigen, wer hier das Sagen hatte.
Von Waldeck entließ Gille, dem ein Büro ein Stockwerk tiefer zugeteilt worden war, mit einem knappen Nicken und zündete sich eine Zigarette an. Dann trat er ans Fenster, ließ den Blick über die silbergrauen Dächer der umliegenden Häuser schweifen und bleckte dabei für einen Moment die Zähne. Tristan und von Seidlitz waren hier irgendwo, er konnte ihre Anwesenheit spüren, ja förmlich wittern, wie ein Jagdhund seine Beute. Er war hierhergekommen, um ihre Fährte aufzunehmen. Und wenn er sie gefunden hatte, würde auch der dritte Name auf der Liste in unmittelbare Reichweite rücken. Denn hatte er erst einmal Tristan, dann würde er auch Josephine Baker bekommen, gleichgültig, wo sie sich gerade aufhielt.
Seine verkrüppelte rechte Hand verkrampfte sich bei dem Gedanken an seine lang ersehnte Rache so jäh und ruckartig, dass die Zigarette, die er zwischen den verbliebenen Fingern gehalten hatte, zu Boden fiel. Leise fluchend bückte er sich, hob sie auf, ging zum Schreibtisch und setzte sich. Die glänzende Mahagoniplatte war leer bis auf die Auswahl der aktuellen Tageszeitungen, die er sich erbeten hatte.
Mit mäßigem Interesse blätterte er sich durch die Pariser Zeitung, das offizielle Blatt der Besatzungsmacht, von dem keine interessanten Informationen zu erwarten waren, und schlug dann L’ŒUVRE auf. Mal sehen, was die Franzosen so schrieben. Zunächst ließ ihn das Motto, Les imbéciles ne lisent pas L’Œuvre, Dummköpfe lesen die Oeuvre nicht, verächtlich schmunzeln. Einst hatte die Zeitung wahrhaft dümmliche, sozialistische und pazifistische Gedanken verbreitet, wie von Waldeck wusste, da er sich über die örtliche Presselandschaft genau informiert hatte. Inzwischen jedoch arbeitete der Chefredakteur erfreulich eng mit ihnen zusammen. Er überflog den Leitartikel und ließ dann seinen Blick langsam nach unten wandern, bis er bei einem kleinen Artikel hängen blieb. Ungläubig las er die wenigen Zeilen ein zweites und danach ein drittes Mal, dann ließ er die Zeitung sinken und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Eine ganze Weile blieb er vollkommen reglos sitzen und starrte in die Ferne. Mit einer bedächtigen Bewegung zog er das vergilbte Blatt Papier aus seiner Brusttasche, faltete es auf und legte es vor sich auf den Schreibtisch. Er betrachtete die drei verblassten Namen, schraubte seinen Füllfederhalter auf und strich einen davon mit einem kräftigen Strich durch.
* * *
Helene hastete die Rue de l’Abbaye entlang, bog nach links ab und erreichte nach wenigen Schritten den Place de Furstemberg, wo im dritten Stock eines hellgrau getünchten Hauses ihre Wohnung lag. Vor dem Zeitschriften- und Tabakwarenladen von Monsieur Martin, einem freundlichen älteren Witwer, der ihr Vermieter war, blieb sie kurz stehen, um zu Atem zu kommen. Sie lehnte sich an die warme Hauswand und ließ ihren Blick über den kreisrund angelegten Platz mit der Laterne und den vier Linden in der Mitte schweifen. Der Place de Furstemberg war ein stiller, verträumter Ort. Fast vergaß man, dass man sich mitten in einer Großstadt befand. Jetzt, kurz nach Mittag, war niemand zu sehen, keine Kinder spielten, die Fensterläden der umliegenden Häuser waren wegen der sommerlichen Hitze geschlossen, nur die Bäume spendeten ein wenig Schatten.
Ein Blick auf die Armbanduhr sagte Helene, dass sie trotz aller Eile spät dran war. Pauline, die sie heute, an ihrem Ehrentag, partout nicht hatte begleiten wollen, sondern störrisch wie ein kleiner Maulesel darauf bestanden hatte, zu Hause zu bleiben, »für alle Fälle«, würde sie schon ungeduldig erwarten. Doch Geneviève, die Leiterin der kirchlichen Suppenküche der Pfarrei von Saint-Germain-des-Prés, in der Helene vormittags mitarbeitete, hatte sie aufgehalten. Und angesichts dessen, was sie zu sagen gehabt hatte, hatte sie sie nicht abwürgen können. Nicht bei diesem Thema, das alle in der Stadt seit Tagen aufwühlte.
Helene spürte, wie ihr Mund trocken wurde. Es gab keine Worte für das Grauen, das ihr die sonst immer so fröhliche Geneviève mit Tränen in den Augen beschrieben hatte. Jeder Versuch, solche Dinge zu verstehen, war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Grausamkeit war nicht zu begreifen. Während Genevièves Schilderung hatte sich trotz der Sommerhitze eine eisige Kälte in Helene ausgebreitet, die sie noch immer ausfüllte wie frostiger Nebel. Er hatte sich in ihren Knochen, in ihrem Magen und in ihrem Herzen festgesetzt und wollte nicht mehr weichen. Nicht mehr daran denken, ermahnte sie sich. Jetzt geht es um Pauline. Sie schloss für einen Moment die Augen, strich sich mit beiden Händen über das vom Laufen erhitzte Gesicht und betrat dann den Schreibwarenladen.
»Ah, Madame Arnaud!« Das runzelige Gesicht von Monsieur Martin tauchte hinter einem Ständer mit verstaubten Postkarten auf, der auf dem Tresen stand. Die Ansichtskarten waren schon vor dem Krieg verstaubt gewesen, allzu selten hatten sich Touristen auf den versteckten kleinen Platz im 6. Arrondissement verirrt, und jetzt kam gar keiner mehr hierher. Noch nicht mal die Deutschen, worüber allerdings niemand im Viertel traurig war.
»Was kann ich für Sie tun, Madame?«, fragte er sie mit einem Lächeln, doch wenn man genau hinsah, sah man, dass seine dunklen Augen nicht mitlächelten; sie waren voller Schmerz, und der alte Mann wirkte zutiefst verschreckt. Helene schoss durch den Kopf, dass es vermutlich jedem Bewohner des Place du Furstemberg so ging, und nicht nur ihnen, sondern Tausenden von Bürgern der Stadt, die noch nicht begreifen konnten, was passiert war, es vielleicht nie begreifen würden.
Helene versuchte erneut, die beklemmenden Gedanken abzuschütteln. »Haben Sie farbiges Seidenpapier?«, fragte sie. »Am liebsten ein rotes.«
Monsieur Martin runzelte die Stirn, dann drehte er sich zu einem der Regale in seinem Rücken um, zog eine Schublade auf und nahm ein paar Bögen dünnen Papiers heraus. Allerdings waren sie nicht rot.
»Braun?« Helene schüttelte entschieden den Kopf. »Das sieht grauenhaft aus.«
»Etwas anderes habe ich leider nicht.« Monsieur Martin hob bedauernd die Arme. »Wofür brauchen Sie es denn?«
»Um ein Geschenk darin einzuwickeln. Pauline hat heute Geburtstag. Sie wird elf.«
»Nein, so was! Wie die Zeit vergeht.« Monsieur Martins Lächeln wurde ein wenig breiter, und jetzt erreichte es auch seine Augen. »Da ist unser Paulinchen ja fast schon eine kleine Dame.« Er überlegte. »Warten Sie, Madame, vielleicht habe ich etwas, was die Farbe etwas fröhlicher macht.« Er bückte sich mit steifem Rücken und kramte unter dem Tresen herum, und als er sich wieder aufrichtete, hielt er ein rosafarbenes Band in den Händen. Es war aus festem Samt, fast zwei Zentimeter breit und schimmerte seidig. »Eine Kundin hat es bei mir verloren. Vermutlich war es als Zierde für ein Kleid gedacht. Ich habe es aufbewahrt, für den Fall, dass sie zurückkommt. Doch das ist sie nicht. Ich wusste, irgendwann wird es jemand brauchen können.« Er hielt es an das braune Seidenpapier. »Sehen Sie, Madame? So sieht das Braun plötzlich edel aus. Wie feiner Nugat!«
»Sie haben recht.« Helene nahm aus ihrer Tasche das Kleid, das Geneviève in ihrem Auftrag für Pauline genäht hatte. Es war ein mintgrünes, mit rosa Streublümchen bedrucktes Sommerkleid aus Baumwollmusselin mit einem schwingenden Rock und kleinen Puffärmeln. »Das ist das Geschenk«, sagte sie.
»O wie schön. Das wird Pauline fabelhaft stehen.« Monsieur Martin nahm ihr das federleichte Kleid ab, schlug es in einen der Seidenpapierbögen ein und wickelte das Samtband als Schleife darum. Gemeinsam betrachteten sie das Päckchen, das jetzt in der Tat recht hübsch wirkte.
»Wie viel bekommen Sie dafür?«, fragte Helene und zückte ihre Geldbörse.
Monsieur Martin winkte ab. »Keinen Sou, Madame, das ist mein Geschenk für Pauline.«
»Danke! Sie sind ein Schatz.« Helene lächelte ihm zu. »Pauline kommt nachher runter und bringt Ihnen ein Stück Geburtstagskuchen.«
»Das wäre schön. Zu einem Kuchen sag ich nie Nein«, sagte er und fügte dann leise hinzu: »Wissen Sie, wie es Levin geht? Ich habe ihn heute noch gar nicht gesehen.«
»Ich auch nicht.« Helene ignorierte das leichte Frösteln und das unheilvolle Kribbeln in ihrem Nacken, das sich augenblicklich wieder einstellte. »Ich war heute Morgen oben bei ihm, habe geklopft, doch er hat nicht aufgemacht. Ich werde es nach der Geburtstagsfeier noch einmal versuchen. Er könnte natürlich gerne kommen, aber …« Sie verstummte hilflos.
»Nein, da haben Sie recht, Madame, das könnte er nicht ertragen.« Monsieur Martin schüttelte betrübt den Kopf. »Der arme, arme Mann …«
Levin und Esther Pollak und ihre kleine Tochter Recha, Paulines beste Freundin, waren vor sechs Jahren auf abenteuerlichen Wegen praktisch in allerletzter Minute aus Berlin hierhergeflüchtet, und Monsieur Martin hatte ihnen die kleine Wohnung unter dem Dach vermietet. Esther war da bereits schwanger gewesen, und kurz darauf war Léon auf die Welt gekommen, ungeachtet der Strapazen der Flucht ein rundum gesundes, fröhliches Kind.
Jetzt war von der vierköpfigen Familie nur noch der Vater übrig. Nein, das stimmte nicht, korrigierte sich Helene. Im Grunde war niemand mehr übrig. Levin Pollak war gestern erloschen. Als er die Nachricht bekommen hatte. Man hatte es seinem Gesicht angesehen, das von einer Sekunde auf die andere aschgrau geworden war, wie das eines Toten.
Vor fünf Tagen hatte die französische Polizei um vier Uhr morgens die Tür der Wohnung der Pollaks eingetreten und ohne Begründung Esther und die beiden Kinder mitgenommen. Zuvor hatten bereits einige Tage Gerüchte kursiert, dass erneut Juden verhaftet werden würden, aber niemand im Viertel hatte geglaubt, dass sie dieses Mal auch Frauen und Kinder mitnehmen würden. Bisher war es immer nur um die Männer gegangen. Levin hatte sich daher wie viele andere Männer versteckt, um der Festnahme zu entgehen. Doch als er nach der Razzia zurückkam, war seine Familie nicht mehr da gewesen. Nach und nach hatten die Pariser erfahren, dass die über achttausend Menschen, von denen die meisten Frauen und Kinder waren, im Vélodrom d’Hiver festgehalten wurden, zusammengepfercht in diesem Stadion, auf dessen Kunststoffdach die Julisonne unbarmherzig herunterbrannte und in dem es keine Versorgungsmöglichkeiten für so viele Menschen gab. Alle Bemühungen, zu den Verhafteten zu gelangen oder gar ihre Freilassung zu erreichen, waren zwecklos gewesen. Jeder, der es versucht hatte, Jude oder nicht, hatte befürchten müssen, selbst festgenommen zu werden. Gestern Morgen war dann die Nachricht gekommen, dass alle abtransportiert würden, in Bussen zum Bahnhof und von dort weiter. Niemand hatte etwas Genaues über den Zielort gewusst, doch jedem war augenblicklich klar gewesen, was das bedeutete.
Genevièves Schwester Marthe war Grundschullehrerin im Viertel, und sie war mit einigen anderen Frauen abkommandiert worden, als Betreuerin mitzukommen, um dafür zu sorgen, dass keines der Kinder entwischte. »Marthe zittert am ganzen Körper und weint ohne Unterlass, seit sie heute spätnachts zurückgekommen ist«, hatte Geneviève mit aufgerissenen Augen erzählt und sich dabei den Schweiß von der Stirn gewischt. Und dann hatte sie Helene von den Schlägen und Peitschenhieben der Polizisten auf die Frauen und Kinder berichtet und den verzweifelten Schreien der Kinder, als sie am Bahnhof schließlich ihren Müttern entrissen wurden. »Auch die jüngsten, Babys und ganz kleine Würmchen von zwei, drei Jahren«, schluchzte Geneviève. Ohne ihre Mütter hatte man sie ganz alleine in die Viehwaggons des Zuges gepfercht, der sie in den Osten bringen würde. Mit Tränen in den Augen hatte Helene an die dunkelhaarige, immer so gewissenhafte Recha und den stupsnasigen Léon denken müssen, der die lockigen rotblonden Haare seines Vaters geerbt hatte. Sie wusste, sie würden, ebenso wie ihre Mutter, nie mehr zurückkehren. Die Dunkelheit, der sie vor sechs Jahren geglaubt hatten, in letzter Minute entronnen zu sein, hatte sie eingeholt.
Helene griff nach dem Geschenk. »Was soll ich nur Pauline sagen?«, flüsterte sie. »Sie hat Recha vor ein paar Tagen eine Einladungskarte für ihr Geburtstagsfest gebastelt und in den Briefschlitz gesteckt. Sie hofft immer noch, dass ihre Freundin rechtzeitig zurückkommt. Heute Vormittag ist sie deswegen extra zu Hause geblieben, ›für alle Fälle‹, wie sie meinte, um Recha nicht zu verpassen.« Ihr Kinn begann zu zittern. »Soll ich ihr etwa sagen, dass diese Monster …?« Sie sprach nicht weiter, sondern nahm ein paar Centimes aus ihrem Geldbeutel und legte sie Monsieur Martin, der sie tief bekümmert ansah, für das Seidenpapier auf den Tresen. »Und dann lese ich heute in der Pariser Zeitung, diesem verlogenen Drecksblatt, dass der Stadtpolizei mit dieser Razzia ein erfolgreicher Schlag gegen Verbrecher, Kommunisten und sonstiges asoziales Gesindel gelungen sei. Dabei sind es Kinder! Sie ermorden Kinder …« Atemlos vor Zorn und innerer Erregung holte Helene Luft und griff nach einer der Tageszeitungen, die im Ständer neben dem Tresen steckten. »Keine unserer Zeitungen hat die Eier, darüber zu berichten, worum es hier wirklich ging!« Sie hatte l’Œuvre zu fassen bekommen, ein ehemals anständiges Blatt, das inzwischen gemeinsame Sache mit den Deutschen machte. Zornig warf sie es auf den Tresen. »Schauen Sie, Monsieur Martin! Kein Wort steht da von Esther, Recha und Léon und all den anderen …« Sie verstummte, als ihr Blick auf eine kleine Notiz im unteren Teil des Blattes fiel, und als sie die wenigen Zeilen las, vergaß sie für einen Moment das Grauen der Razzia vom Vel’ d’Hiv.
Josephine Baker tot
Von Krankheit gezeichnet, entkräftet
und völlig verarmt stirbt
Josephine Baker in einem Krankenhaus
in Casablanca.
Das war nicht möglich! Dies war ihr erster Gedanke. Und ihr zweiter: Er darf es nicht erfahren! Nicht jetzt. Nicht heute. Helene legte dem verdutzten Monsieur Martin auch noch das Geld für die Zeitung auf den Tresen, nahm das Blatt und das Geschenk und verließ wie in Trance den Laden. Draußen durchforstete sie die Zeitung Seite für Seite, ob sich womöglich noch ein größerer Artikel und genauere Informationen zu dieser Nachricht fänden, doch vergebens. Josephine Baker, vor ein paar Jahren noch ein frenetisch gefeierter Star, hatte Paris nicht mehr betreten, seit die Deutschen einmarschiert waren. Dieselben Zeitungen, die ihr früher ganze Seiten gewidmet hatten, hatten heute für die Nachricht ihres Todes gerade einmal vier Zeilen übrig. So eilfertig und vorauseilend folgten sie den Vorgaben der Besatzungsmacht, für die der dunkelhäutige Star aus naheliegenden Gründen eine Persona non grata war.
Auch für Helene war Josephine viele Jahre lang ein Schreckgespenst gewesen, allerdings aus ganz anderen Gründen. Die Nachricht ihres Todes erschütterte sie dennoch bis ins Mark. Josephine und sie waren sich seit Jahren nicht mehr persönlich begegnet, dennoch war Josephine so lange Teil ihres Lebens mit Tristan gewesen, dass sie sich einfach nicht vorstellen konnte, dass sie nicht mehr am Leben war.
Vielleicht war aber auch ihre Vorstellungskraft nach den albtraumhaften Ereignissen der letzten Tage so ausgereizt, dass diese neuerliche Schreckensnachricht keinen Platz mehr in ihrem Kopf fand. Sie faltete langsam die Zeitung zusammen und legte sie dann auf die Bank, die vor dem Laden stand. Tristan durfte es nicht erfahren. Das war ihr einziger Gedanke, als sie sich auf den Weg nach oben in ihre Wohnung machte. Ihr Mann war außer sich gewesen, als er von der Verhaftung der Pollaks erfahren hatte, und hatte seither kaum mehr geschlafen. Unruhig wie ein gefangenes Tier schlich er Nacht für Nacht durch die Wohnung, und ihre Tröstungsversuche fanden nirgends Halt, glitten an ihm ab wie an einer Wand aus grauem Granit.
Levin war ein alter Freund, Tristan kannte ihn noch aus Berlin, und er hatte die Familie nach ihrer Ankunft in Paris unterstützt. Die Nachricht von Josephines Tod würde ihm endgültig den Boden unter den Füßen fortreißen. Und Helene wusste, was das bedeutete.
Der Salle de Boxe Rouzy befand sich im ersten Arrondissement, gleich hinter den Großmarkthallen, dem Bauch von Paris. Heute war er geschlossen. Pierre Rouzy hatte das Schicksal seines Mitarbeiters Levin Pollak tief erschüttert, und er hatte als Zeichen seiner Trauer und seines Protests gegen die Maßnahme der Polizei seine Boxclubs – er besaß mehrere – schließen lassen und Türen und Fenster mit schwarzen Tüchern verhängt. Allein diese Geste war nicht ungefährlich, doch Pierre Rouzy glaubte, es sich leisten zu können, und das aus mehreren Gründen: Zum einen war er elffacher Champion im französischen Boxen und Präsident des Boxverbandes und daher so etwas wie eine Ikone der Boxwelt, zum anderen entstammte seine Familie altem Adel, und er selbst war ein schwerreicher Industrieller und Stadtgemeinderat im 10. Arrondissement, protegiert von Pétain und seiner mit den Deutschen kollaborierenden Vichy-Regierung. Pierre Rouzy war klug genug, sich keine Illusionen darüber zu machen, dass ausnahmslos jeder im besetzten Frankreich Gefahr laufen konnte, das Schicksal der abtransportierten Juden und Regimegegner zu teilen. Dennoch war er der Meinung, dass es seine moralische Verpflichtung als patriotischer und freiheitsliebender Franzose war, seinen Spielraum so weit als möglich auszureizen.
Tristan hatte Pierre kennengelernt, als er sich eine Weile als Arbeiter in den Hallen durchgeschlagen hatte. Ihm war der Boxclub in der Rue du Cygne aufgefallen, der trotz seiner Größe – er war nicht viel größer als sein eigener Boxclub in Berlin – einen ordentlichen und gut ausgestatteten Eindruck gemacht hatte. Obwohl die Arbeit in der Fleischerhalle, das Schleppen und Zerteilen der Schweinehälften, schweißtreibend genug war, hatte Tristan nach einer Weile dort mit dem Training begonnen. Grund war nicht so sehr das Bedürfnis nach körperlicher Anstrengung gewesen, sondern ein diffuses, aber nicht minder schmerzhaftes Gefühl von Heimatlosigkeit, das ihn begleitete, seit er und Helene im Frühjahr 1931, noch vor Hitlers Machtergreifung, Deutschland den Rücken gekehrt hatten. Den Salle de Boxe Rouzy zu betreten war sein und Helenes Glück gewesen. Tristan hatte sich rasch mit dem nur ein Jahr älteren Pierre angefreundet, und Pierre war es auch gewesen, der ihm und Helene falsche Papiere beschafft hatte. Ausländer wurden in Paris zwar unter diversen komplizierten Auflagen geduldet, aber Pierre hatte gemeint, durch die Situation in Deutschland und die vielen Emigranten könnte sich dies schnell ändern, und er hatte recht behalten. Tristan hatte seine ohnehin falschen Papiere erneut in einen falschen Pass getauscht und hieß nunmehr seit fast zehn Jahren Tristan Arnaud, war französischer Staatsbürger, und Helene als seine Frau war damit ebenfalls Französin geworden, ebenso wie Pauline. Nicht nur in dieser Hinsicht war diese Bekanntschaft mit dem Boxchampion ein Glücksfall gewesen. Pierre, der auf so vielen Hochzeiten tanzte, dass Tristan mitunter den Überblick verlor, hatte ihm nach kurzer Zeit die Geschäftsführung des Boxclubs übertragen und ihm damit eine Aufgabe gegeben, die ihm half, tatsächlich in dieser Stadt anzukommen und, wenn auch zaghaft, Wurzeln zu schlagen.
Anders als Tristan, der sich nur völlig sicher fühlte, wenn er in seinem Revier war, dort, wo er sich auskannte und seine Leute um sich hatte – was Helene als »Territorialverhalten eines Primaten« bezeichnete, womit sie nicht ganz falschlag –, hatte seine Frau sich als ausgesprochen anpassungsfähig erwiesen. Sie war in den Alltag dieser fremden Stadt hineingeglitten wie in ein Kleidungsstück, das eigens für sie geschneidert worden war. Und das, obwohl sie anfangs kein Wort Französisch gesprochen hatte. Vielleicht hatte es auch an Pauline gelegen, die wenige Monate nach ihrer Ankunft auf die Welt gekommen war. Während Tristan beim Anblick dieses wunderbaren winzigen, hilflosen Wesens in eine länger andauernde Schockstarre verfallen war, hatten Helenes praktischer Verstand und ihre natürliche Gabe, auf die Menschen zuzugehen, dazu geführt, dass sie schnell Anschluss an andere Mütter fand und inzwischen über einen Freundeskreis verfügte, der größer war als der, den Tristan je in Berlin gehabt hatte, von Paris ganz zu schweigen. Im Grunde beschränkten sich seine Kumpel, les potes, wie man hier sagte, genau wie früher auf den Boxclub. Hinzu kamen gelegentliche Treffen mit seinem Onkel. Von Seidlitz war, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen, im Sommer 1933 nach einem Besuch eines Freundes in der Nähe von Paris ebenfalls nicht mehr nach Deutschland zurückgekehrt.
Anfangs hatte er noch in der Stadt in einer noblen Pension gewohnt, doch seine finanzielle Lage war immer schwieriger geworden, die Nazis hatte einen Großteil seines Vermögens konfisziert, und der Graf war gezwungen gewesen, den Gürtel enger zu schnallen. Vor vier Jahren war er daher in die Nähe seines Freundes aufs Land gezogen, wo das Leben billiger war.
Die Glocken von Saint-Eustache schlugen Mittag. Tristan war schon spät dran. Den ganzen Vormittag war er mit Pierre im Salle Wagram gewesen, einem riesigen, prächtigen Saal in der Nähe des Arc de Triomphe, um mit dem Veranstalter über eine geplante Boxveranstaltung zu sprechen, nur um dann zu erfahren, dass die Nazis ihr Veto gegen den Wettkampf eingelegt hatten. Vermutlich fürchteten sie, dass die aufgeheizte Stimmung unter den Zuschauern, die ein Boxkampf dieser Größenordnung oft mit sich brachte, in Tumulte gegen die Besatzungsmacht umschlagen könnte. Tristan beschleunigte seine Schritte und war kurz darauf in der Rue du Cygne angelangt. Er musste nur noch schnell das Geschenk für Pauline holen, das er spontan besorgt und im Boxclub verwahrt hatte. Er würde zu spät zum Mittagessen kommen, doch zu der danach angesetzten Geburtstagsfeier für seine Tochter würde er pünktlich da sein.
Tristan sperrte die schwarz verhängte Tür des Clubs auf und trat ein. Als ihm ein übler Geruch in die Nase stieg, runzelte er kurz die Stirn. Etwas Unangenehmes hatte sich über den üblichen Geruch nach Schweiß, Zigarettenrauch, Leder und Vaseline gelegt, der offenbar allen Boxclubs auf der Welt zu eigen war, doch er hielt sich nicht damit auf, den Ursprung des Gestanks zu ergründen. Bernadette, ihre Putzfrau, würde sich morgen früh schon darum kümmern. Obwohl es durch die verdunkelten Scheiben in dem rechteckigen Raum mit dem erhöhten Boxring in der Mitte düster war, machte er sich auch nicht die Mühe, das Licht anzuschalten. Er kannte sich aus, und ins Büro waren es nur ein paar Schritte. Tristan nahm das in Packpapier eingewickelte Paket aus der Schublade seines Schreibtischs und eilte zurück in den Trainingsraum. Fast war er schon an der Tür nach draußen, als ihn ein aus den Augenwinkeln wahrgenommener, irgendwie ungewohnt erscheinender Schatten veranlasste, sich noch einmal umzudrehen und schließlich doch das Deckenlicht anzuschalten. Als er die schlaffe Gestalt sah, die neben dem Boxring von der Decke hing, an einem Haken, an dem normalerweise die Sandsäcke befestigt waren, durchrieselte ihn ein eiskalter Schauer. Für einen Moment lang sah er sich zurückversetzt in vergangene Zeiten, sah einen Toten an einem Baum hängen, einen weiteren nackt und ausgeweidet an einer Laterne – doch die Erinnerung verblasste schnell, und zurück blieb das Bild, das sich ihm bot und das traurig genug war. An dem Haken hing Levin Pollak.
Es war halb vier, als Tristan endlich am Place du Furstemberg ankam. Er hatte Levin heruntergeholt und war danach eine ganze Weile nur am Boden gesessen, seinen toten Freund im Arm, bevor er sich dazu durchringen konnte, Pierre anzurufen, damit dieser das Nötige in die Wege leitete, wobei sie übereingekommen waren, die Behörden außen vor zu lassen. Nachdem die Polizei gerade erst über achttausend jüdische Männer, Frauen und Kinder in den sicheren Tod geschickt hatte, würde sie ein weiterer toter Jude nicht interessieren. Auch als Pierre schließlich mit zwei seiner Angestellten und einem jüdischen Freund eintraf, der den Rabbiner kannte, mit dem die Familie Pollak bekannt war, konnte sich Tristan nur mit Mühe überwinden, zu gehen. Mit Levins Selbstmord, der aus seiner Sicht nur eine logische Konsequenz aus dem darstellte, was seiner Familie widerfahren war, waren alle Verbindungen, die er zu seinem alten Leben noch gehabt hatte, abgerissen. Abgesehen von Helene und seinem Onkel war Levin der Letzte gewesen, den Tristan noch aus Berlin kannte. Sie waren sich 1926 zum ersten Mal begegnet. Kurt Herzfeld hatte den etwa zehn Jahre jüngeren Mann damals angeheuert, um im Nelson-Theater auf Josephine aufzupassen.
Tristan blieb an der Haustür stehen, mit einem Mal von Erinnerungen an Berlin und sein früheres Leben überwältigt. Seit Jahren hatte er sich nicht mehr erlaubt, daran zu denken. Wozu auch? Es war niemand mehr übrig, sein Boxclub existierte nicht mehr, die Männer waren in alle Winde zerstreut, sofern sie nicht verschleppt oder getötet worden waren. Kurt Herzfeld, der Jude und Kommunist gewesen war, war kurz nach dem Reichstagsbrand verhaftet worden, wie er von Levin gehört hatte, und vermutlich nicht mehr am Leben, ebenso wie Rudko Franzen, der junge Boxer, der in einer anderen Zeit, einer anderen Welt ein ganz Großer hätte werden können. SA-Schläger hatten ihn in einer kalten Januarnacht 1931, nach einem Boxkampf, den Rudko gegen einen ihrer Leute gewonnen hatte, auf dem Heimweg verfolgt und totgeschlagen. Dies war für Tristan einer der Gründe gewesen, seine Koffer zu packen und mit Helene zu verschwinden. Ein zweiter Grund waren Gille und sein Halbbruder gewesen.
Das Wissen, dass Julius und Gille nach den Vorfällen in Wien entkommen waren, hatte Tristan unablässig gemartert. Die beiden hatten ihn in seinen Träumen heimgesucht und ihn zunehmend reizbar und misstrauisch gemacht. Auch wenn er ihnen in Berlin nicht mehr persönlich begegnet war, lebte er anfangs in ständiger Habachtstellung, vor allem in Bezug auf seinen Bruder. Tristan war überzeugt, Julius würde weiter auf Rache sinnen. Er war ein Wahnsinniger. Wahnsinnig in seinem Hass und absolut unversöhnlich.
Dennoch hatten er und Helene angefangen, sich nach ihrer Rückkehr aus Wien in Berlin ein normales gemeinsames Leben aufzubauen. Sie hatten geheiratet und waren in eine kleine Wohnung in Friedrichshain gezogen, weg aus dem Scheunenviertel, weg vom Boxclub, wohin er von da an nur noch zum Trainieren gegangen war, und vor allem weg von Fanny und den Mädchen. Für Helene war es wichtig gewesen, Abstand zu ihrem früheren Leben zu gewinnen, und er hatte gehofft, sie und sich selbst auf diese Weise ein wenig aus der Schusslinie seines Bruders zu nehmen.
Tatsächlich hatte es anfangs gut ausgesehen. Seine diskret angestellten Nachforschungen hatten ergeben, dass Julius für das Reichswehrministerium arbeitete und überwiegend in geheimer Mission in Russland tätig war. Dies schürte zwar Tristans Befürchtungen, dass an den hartnäckigen Gerüchten, das Reichwehrministerium arbeite unter Umgehung des Versailler Vertrags weiter am Aufbau einer Schwarzen Reichswehr und kooperiere dafür mit Russland, etwas dran war, erleichterte ihn aber andererseits, weil Julius ihnen von dort aus vermutlich nicht gefährlich werden konnte.
Nach und nach hatte Tristan zu hoffen begonnen, dass Julius mit für ihn wichtigeren Dingen beschäftigt war und ihn womöglich doch vergessen würde. Doch dann kam die Weltwirtschaftskrise. Die Arbeitslosenzahlen schnellten in die Höhe und mit ihnen die Zahl derer, die sich nach Sicherheit und einer starken Hand sehnten. Julius von Waldeck wurde aus Russland zurückberufen, stieg nicht nur in der Hierarchie des Ministeriums auf, sondern auch in der NSDAP und gewann weiter an Macht und Einfluss. Die politische Lage wurde zunehmend bedrohlicher, und man musste kein Prophet sein, um zu erkennen, dass die fragile Demokratie auf ihr Ende zusteuerte.
Rudkos sinnloser Tod erschütterte Tristan tief, und er begriff, dass die vermeintliche Sicherheit, in der er sich zu wiegen begonnen hatte, eine Illusion gewesen war. Kurz darauf erzählte ihm Helene, dass sie erneut schwanger war. Sie hatten beide den Verlust ihres ersten Kindes durch den brutalen Angriff damals in Wien nur schwer verwunden, und obwohl sie kaum darüber sprachen – vor allem Tristan hatte Schwierigkeiten gehabt, seine Gefühle, die er erst langsam selbst begriff, in Worte zu fassen –, war beiden klar gewesen, was dies bedeutete: Sie bekamen eine zweite Chance. Womöglich die letzte. Daher beschlossen sie, Deutschland zu verlassen und nach Frankreich zu gehen, sobald der Winter vorüber war.
Nachdem Helene und er einige Wochen in einem kleinen Hotel gewohnt hatten, fanden sie mithilfe eines Bekannten seines Onkels die Wohnung in Saint-Germain und begannen ihr neues Leben in Paris, während sie mit Schrecken die Entwicklung in Deutschland mitverfolgten. Die persönlichen Nachrichten wurden dabei immer spärlicher und versiegten schließlich ganz.
Helene hatte Fanny und Doro, ihrer alten Freundin aus dem »Wohnheim für junge Mädchen«, mehrmals geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Zuletzt waren die Briefe mit dem Vermerk Absender unbekannt zurückgekommen. Was Fanny anbelangte, so befürchtete Tristan das Schlimmste. Sie war Jüdin, was an sich schon ausgereicht hätte, um in die Fänge der Nazis zu geraten. Hinzu kam ihre Sturheit, ihre Weigerung, den Tatsachen ins Gesicht zu blicken. Tristan und Helene hatten bereits nach ihrer Rückkehr aus Wien ein paarmal mit ihr über die Gefahr gesprochen, die sich am nicht so weit entfernten Horizont zusammenbraute, doch Fanny hatte davon nichts hören wollen. »Ick bin Berlinerin, nüscht weiter«, hatte sie nur immer stur wiederholt. »Mit Religion hatte ick noch nie wat am Hut. Ick bezahle meine Steuern, mir kann keiner was.«
Als ihre Briefe zurückkamen, hatte Helene gehofft, dass Fanny sich nach der Machtergreifung, als die Situation für die Juden sehr schnell sehr viel schlimmer wurde, womöglich doch noch umstimmen lassen und vielleicht mit Doro die Stadt verlassen hatte. Doro stammte aus Neuruppin, und vielleicht hatte sie sich dazu durchgerungen, dorthin zurückzukehren und Fanny mitzunehmen?
Doch das war alles reine Spekulation, beide wussten, dass diese Hoffnung der sprichwörtliche Strohhalm war, an den man sich noch klammerte, wenn längst alle Tatsachen dagegensprachen. Irgendwann hatte Helene aufgehört, Briefe nach Berlin zu schreiben, und ihre Gespräche über früher waren weniger und weniger geworden, bis sie schließlich ganz versiegt waren.
Einige Jahre war es gut gegangen. Das immer lauter werdende Grollen des Unheils, das aus Deutschland zu ihnen herüberdrang, so gut wie möglich ignorierend, hatten sie ein gutes Leben geführt. Pauline war herangewachsen und in die Schule gekommen und war inzwischen französischer, als er und Helene es je werden konnten. Sie kannte keine andere Heimat als Frankreich. Alles, woran sie beide sich erst hatten gewöhnen müssen, die Sprache, das Essen, die Lebensart, war für Pauline selbstverständlich. Und Tristan war unendlich dankbar dafür gewesen. Er hätte alles auf sich genommen, um Pauline in Sicherheit aufwachsen zu sehen.
Doch ihr friedliches Leben endete mit dem Einmarsch der Deutschen in Paris am 14. Juni 1940. An diesem Tag holte die Finsternis sie ein, und mit ihnen auch alle anderen, die vor Hitler ins vermeintlich sichere Frankreich geflohen waren. Jener grollende Unterton, der sie all die Jahre begleitet hatte, verwandelte sich in eine Kakofonie aus gebellten Befehlen. Deutsche Wörter, angebracht an Straßenschildern, an besetzten Hotels, dem Rathaus, den Kinos, hinausgebrüllt in den zahlreichen Bekanntmachungen, die über Nacht an jeder Hauswand, jeder Litfaßsäule hingen, schienen selbst ihnen wie Fremdkörper, Symbole des Feindes. Ihre eigene Muttersprache dröhnte ihnen in einer Art und Weise entgegen, die sie anwiderte. Und schließlich verstummen ließ. Helene und er hörten auf, in der Öffentlichkeit miteinander Deutsch zu sprechen, und sogar zu Hause, mit Pauline, sprachen sie überwiegend Französisch. Nur in den dunklen, bangen Nächten zu zweit, in denen die Zukunftsängste übermächtig wurden und wie große Schatten in den Ecken ihres Schlafzimmers hockten und sogar die Stille vor ihrem Fenster etwas Bedrohliches bekam, benutzten sie die alten, aus ihrem früheren Leben vertrauten Wörter, die jetzt, wo die Nazis sie tagtäglich besudelten, wie Chiffren klangen, geheime Zeichen aus einer Welt, die es nicht mehr gab.
Mit einer jähen Kopfbewegung schüttelte Tristan die trüben Gedanken ab und drückte die Tür auf. Es nützte nichts, an früher zu denken, zu hadern und zu jammern. Es galt vielmehr, jetzt zu leben und Hitlers tausendjähriges Reich irgendwie zu überleben. Er eilte an dem kleinen Portierszimmer vorbei, das seit zwei Jahren verwaist war. Clothilde, ihre frühere Concierge, hatte wie so viele andere mit ihrer Familie fluchtartig die Stadt verlassen, als bekannt wurde, dass die Deutschen auf Paris zumarschierten. Monsieur Martin war es bisher nicht gelungen, einen Ersatz für sie zu finden.
Tristan nahm zwei Stufen auf einmal und war rasch oben bei ihrer Wohnung im dritten Stock. Helene machte sich vermutlich schon Sorgen. Heutzutage machte man sich ständig Sorgen, wenn jemand zu lange fortblieb. Tatsächlich erwartete sie ihn bereits im Flur, als er die Tür aufschloss und eintrat.
»Wo warst du?«, fragte sie, bemüht, ihre Erleichterung nicht zu zeigen. »Pauline wartet schon sehnsüchtig auf dich. Die Gäste sind längst eingetroffen. Ich habe gesagt, wir essen die Torte erst, wenn du auch da bist.«
Tristan bemühte sich um ein Lächeln. »Entschuldige. Es hat länger gedauert als gedacht, und dann musste ich noch in den Boxclub.« Er hob das Paket hoch. »Ein Geschenk für Pauline abholen.«
»Noch ein Geschenk? Sie bekommt doch schon das Kleid. Außerdem hat ihr Paul aus Amerika ein Paket geschickt, und Henry hat natürlich wie üblich übertrieben …«
»Ja. Noch ein Geschenk.« Tristan legte die in Packpapier eingewickelte und mit einer Schleife versehene Schachtel auf die Kommode, die im Flur stand, zog Helene zu sich heran und küsste sie, bevor sie widersprechen konnte.
Er hatte keine Lust, mit ihr über die angemessene Anzahl von Geschenken für seine Tochter zu diskutieren, die er so sehr liebte, dass er ihr am liebsten jeden Tag die Sonne, den Mond und die Sterne vom Himmel geholt hätte. Außerdem wollte er Helene spüren. Ihre Anwesenheit, die Nähe ihres Körpers, ihr Duft waren das Einzige, was die Dunkelheit, die mit Levins Tod nach ihm gegriffen hatte, zurückdrängen konnte. Helene erwiderte seinen Kuss, strich ihm über die Wange und machte sich dann lächelnd von ihm los. »Jetzt komm schon rein, du Spinner. Wir wollen endlich Kuchen essen.«
Tristan ließ Helene den Vortritt, schloss für einen Moment die Augen, um die Gespenster zu bannen, die ihm aus dem Boxclub gefolgt waren, dann folgte er ihr in die geräumige Küche, die das Herz der kleinen Zweizimmerwohnung bildete und ihnen den fehlenden Salon ersetzte. Der Tisch war für sieben Personen festlich gedeckt, mit Papierservietten und einer bunten Tischdecke. In der Mitte standen eine Vase mit Blumen und eine mächtige Buttercremetorte, wie sie Fanny in Berlin auch immer zu Festtagen gebacken hatte. Solche Torten kannte man in Frankreich nicht, wo es überwiegend kleine Gebäckstücke und flache Tartes gab, doch Helene backte sie zu jedem Geburtstag, zu Weihnachten und zu Ostern.
Dieses Jahr war sie schon seit Wochen in Sorge gewesen, wegen der Lebensmittelrationierung nicht in ausreichendem Maß Butter und Eier zu bekommen, und hatte frühzeitig angefangen, alles zu bunkern, was sie ergattern konnte. Vermutlich würde es in den nächsten Wochen nur noch Omeletts zum Mittagessen geben.
Am Tisch saßen Luc, Paulines bester Freund, mit seiner Mutter Irène, die in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnten, und Tristans Onkel Henry, der Graf von Seidlitz. Alle hatte sich dem Anlass entsprechend fein gemacht. Helene trug das grüne Kleid, das Tristan so an ihr mochte, sein Onkel einen hellen Anzug samt Weste und Einstecktuch, Irène ein fröhlich geblümtes Sommerkleid und Luc, dessen Haare heute ungewöhnlich ordentlich gescheitelt waren, ein weißes Hemd mit Fliege.
»Papa!« Pauline flog ihm in die Arme, und er hob sie hoch, hielt sie einen Moment von sich entfernt und sagte dann stirnrunzelnd. »Oh, ich habe mich getäuscht. Das ist gar nicht meine kleine Pauline.«
Pauline kicherte. »Doch, Papa. Ich bin’s.«
Er schüttelte den Kopf. »Nie im Leben. Als ich Pauline heute Morgen gesehen habe, war sie ein kleines Mädchen in einem kurzen Hemd und mit zerzausten Haaren. Du aber bist eine junge Dame in einem wunderschönen Kleid.« Er setzte sie ab und deutete auf das neue Sommerkleid, das sie trug und das ausgezeichnet zu ihrem dunklen Haar passte.
Pauline hatte nicht Tristans rote Haare geerbt, sondern die kastanienbraunen Locken ihrer Mutter – allerdings mit einem deutlich rötlichen Einschlag. Jetzt riss sie sich das rosa Band, das ihre Locken bändigte, vom Kopf und fuhr sich mit beiden Händen durch die kinnlangen Haare, bis sie in alle Himmelsrichtungen abstanden. »Erkennst du mich jetzt?«
Tristan kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schief. »Ja … ich glaube, du bist tatsächlich die Pauline, für die ich ein Geschenk habe.«
Pauline riss die Augen auf. »Noch ein Geschenk? Ich habe schon das Kleid und das Haarband von Maman bekommen und von Luc einen Drehbleistift! Onkel Henry hat mir ein großes Buch geschenkt, über Schmetterlinge, das kann man aufklappen, und dann sehen die Schmetterlinge aus wie echt, und, stell dir vor, Onkel Paul hat ein Paket geschickt, voll mit amerikanischen Süßigkeiten!«
Tristan ging zurück in den Flur, holte das Päckchen, das er dort abgelegt hatte, und reichte es ihr. »Und du meinst, du kriegst von Maman, Onkel Henry, Paul und Luc etwas und von mir nicht?«
Pauline gab keine Antwort. Mit mühsam unterdrückter Eile löste sie die Schleife vom Paket, zog das Papier herunter und hob den Deckel hoch. Allein der ungläubige Blick, mit dem Pauline die nigelnagelneuen Vitesse-Rollschuhe betrachtete, war es wert gewesen, sie zu besorgen. Ehrfürchtig hob sie sie heraus. Sie waren aus silberglänzendem Metall mit schwarzen Gummirollen, und die Riemen, mit denen man sie an den Schuhen befestigte, waren aus rotem Leder. Luc, der seinen Hals über den Tisch gereckt hatte, um besser sehen zu können, stieß einen Schrei der Bewunderung aus.
Pauline, die ein großes Herz hatte, sagte großzügig: »Schau, Luc, man kann sie verstellen. Du darfst sie auch ausprobieren.« Natürlich wollten beide das sofort tun, wogegen ihre Mütter allerdings protestierten. Man einigte sich darauf, dass sie und Luc nach dem Essen der Torte hinunter auf den Platz gehen und damit fahren durften, was dazu führte, dass beide ihre Tortenstücke hinunterschlangen, als hätten sie seit Tagen nichts gegessen, und dann so lange unruhig auf dem Stuhl hin- und herwetzten, bis Helene und Irène ihnen endlich erlaubten, hinunterzugehen, allerdings nicht, bevor Pauline ihr neues Kleid gegen ein altes eingetauscht hatte. Sie waren schon aus der Tür, als Pauline noch einmal atemlos zurückkam.
»Maman, wenn Recha kommt, sagst du ihr Bescheid, dass wir unten sind, ja? Sie soll gleich nachkommen, dann darf sie auch mit den Rollschuhen fahren.«
Die Erwachsenen, die gerade über die neuesten Rationierungen und den Segen, Freunde auf dem Land zu haben, die sie mit Lebensmitteln versorgten, gesprochen hatten, verstummten abrupt. Es dauerte eine Weile, bis Helene mühsam beherrscht antwortete: »Mach ich, Schatz. Passt auf euch auf.«
Als die Haustür mit einem Knall hinter den beiden Kindern zugefallen war, wischte sich Helene mit der Serviette die Tränen aus den Augenwinkeln.
Tristan begriff erst jetzt, was das überzählige Gedeck am Tisch zu bedeuten hatte: Pauline hatte gehofft, Recha, ihre beste Freundin und die Dritte dieses seit einiger Zeit unzertrennlichen Dreiergespanns, würde noch kommen.
Tristans Onkel, der von der Tragödie um die Familie Pollak noch nichts wusste, sah fragend von einem zum anderen. Tristan klärte ihn mit knappen Worten auf, und von Seidlitz’ schmales Gesicht, das im Alter noch hagerer geworden war, erbleichte. »Ich habe natürlich von der Razzia gehört«, murmelte er erschüttert, »aber ich hatte keine Ahnung, dass es eure Nachbarn getroffen hat.« Er legte die Kuchengabel zurück auf den Teller und schüttelte resigniert den Kopf. Tristan betrachtete ihn mit Mitgefühl.
Sein Onkel, der nächstes Jahr siebzig wurde, war in den Jahren des Exils sehr gealtert. Eigentlich hatte es schon angefangen, als er und Paul sich getrennt hatten. Die beiden hatten sich bemüht, nach den Ereignissen in Wien ihre Beziehung wieder ins Lot zu bringen, doch der Bruch war zu tief gewesen. Auch wenn Henry Tristan gegenüber nie etwas über seine Liebe zu Paul hatte verlauten lassen, war offensichtlich gewesen, wie schwer ihn das Ende dieser langjährigen Beziehung getroffen hatte. Er hatte seinen Verlag verkauft, sich mehr und mehr aus dem Gesellschaftsleben zurückgezogen und angefangen, seine Memoiren zu schreiben. Paul, den das Ganze auch nicht unberührt gelassen hatte und der sich, wie Tristan ihm zugestehen musste, sehr bemüht hatte, zu retten, was nicht mehr zu retten gewesen war, war kurz vor ihrer Flucht nach Frankreich nach Amerika ausgewandert und hatte dort, nicht zuletzt wegen seines guten Aussehens, eine Rolle in einem Hollywoodfilm ergattert. Seitdem ging es mit seiner Karriere steil bergauf. Er spielte feurige Liebhaber, tollkühne Freibeuter, Bösewichte und Westernhelden und schickte dazwischen immer wieder Pakete mit exotischen Dingen sowie Einladungen, das so dunkel gewordene Europa hinter sich zu lassen und zu ihm nach Hollywood zu kommen, wozu sich jedoch weder Tristan und Helene noch der Graf bisher hatten durchringen können.
Schweigen breitete sich nach den leise gemurmelten Worten des Grafen in der Küche aus. Als Helene schniefte, legte Irène tröstend den Arm um sie.
»Ich halte das nicht aus«, sagte Helene, an niemand Bestimmten gewandt. »Ich weiß einfach nicht, was ich Pauline sagen soll. Sie war heute Nachmittag noch einmal oben bei Levin und hat geklingelt, um nach Recha zu fragen, doch er hat wieder nicht aufgemacht. Langsam mache ich mir wirklich Sorgen um ihn.«
»Ich wollte es nicht vor den Kindern sagen …«, begann Tristan und wartete, bis ihn alle ansahen. »Levin ist tot. Ich habe ihn im Boxclub gefunden. Er hat sich erhängt. Deshalb bin ich zu spät gekommen.«
Eine Weile sagte niemand etwas. Dann platzte Irène heraus: »Das Schlimmste ist, dass es unsere Leute waren! Französische Polizisten haben das getan! Ich meine, wenn es wenigstens die verfluchten boches gewesen wären …« Sie unterbrach sich und lief puterrot an. Mit einem Seitenblick auf Helene stotterte sie: »Entschuldige. So habe ich das nicht gemeint …«
Helene zuckte mit den Schultern. »Dafür musst du dich nicht entschuldigen. Diese boches haben mit mir nichts gemein. Wenn ich könnte, würde ich jeden einzelnen eigenhändig an den Champs-Élysées aufhängen.«
Irène nickte erleichtert und fügte hinzu: »Und Jean Bouget gleich dazu. Seit er der Chef der französischen Polizei geworden ist, sind unsere Leute von denen kaum mehr zu unterscheiden.«
Tristan schwieg. Irène hatte recht. Die französische Regierung hatte sich nach seinem Geschmack von Anfang an viel zu willfährig gegenüber den Deutschen verhalten, aber das mochte man mit einigem guten Willen noch damit rechtfertigen, dass sie bemüht war, die einheimische Bevölkerung zu schützen. Spätestens mit der Einsetzung Jean Bougets als Polizeichef konnte man eine solche Entschuldigung jedoch nicht mehr gelten lassen. Bougets Entscheidung, mithilfe der französischen Polizei Tausende Juden ins Verderben zu schicken, war der entscheidende Sündenfall gewesen. Damit saß die französische Vichy-Regierung endgültig mit den Deutschen in einem Boot.
»Bouget! Wenn ich diesem Dreckskerl nur ein einziges Mal gegenüberstünde, hätte sein letztes Stündchen geschlagen, das könnt ihr mir glauben.« Helene ballte ihre Hände zu Fäusten, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Tristan glaubte es ihr aufs Wort.
Sein Onkel wirkte ein wenig abwesend, so als wolle er sich nicht weiter mit diesem Thema auseinandersetzen. Still wandte er den Kopf und sah aus dem Fenster hinunter auf den Platz, wo Pauline und Luc die Rollschuhe ausprobierten. Ihr Lachen drang bis zu ihnen herauf.
»Was sagt ihr denn zu Josephine Baker?«, fragte Irène, offenbar bemüht, das Thema zu wechseln.
Tristan bemerkte, wie Helene alarmiert den Kopf hob und ihre Freundin mit einem eindringlichen Blick zu fixieren versuchte, doch Irène, die sich gerade eine Zigarette in den Mundwinkel geschoben hatte und in ihrer Handtasche nach einem Feuerzeug suchte, sah sie nicht an.
Tristan beugte sich vor und gab ihr Feuer. »Was ist mit ihr?«, fragte er, um einen harmlosen Gesichtsausdruck bemüht. Josephine war immer noch ein gefährliches Thema zwischen Helene und ihm, und sie sprachen nie über sie.
Er hatte sie seit Wien nicht mehr getroffen und sich auch nicht bei ihr gemeldet, als sie nach Paris gekommen waren, obwohl er in den letzten Jahren gelegentlich versucht gewesen war, es zu tun. Ein Treffen von zwei alten Freunden sei doch harmlos, hatte er sich jedes Mal eingeredet, wenn ihn das Verlangen dazu gepackt hatte. Doch er war klug genug gewesen, zu begreifen, dass das nicht stimmte. Er und Josephine waren vieles, aber niemals einfach nur Freunde gewesen. Ihr Abschied damals am Bahnhof in Wien hatte für ihn eine Art Gelübde beinhaltet, sie endgültig ziehen zu lassen. Er konnte nicht zwei Frauen gleichzeitig lieben und wollte es auch nicht. Das, was er mit Helene und Pauline hatte, war ihm zu wertvoll, um es aufs Spiel zu setzen. Im Grunde war Josephine für ihn so ähnlich wie das Kokain, dem er vor vielen Jahren schon abgeschworen hatte. Eine Prise davon, und er konnte nicht versprechen, am Ende wieder rückfällig zu werden.
Was es nicht einfacher gemacht hatte, war, dass in Paris niemand an Josephine Baker vorbeikam. Sie hatte das Unmögliche geschafft und war die ganzen Jahre, bis die Deutschen kamen und dem ein Ende bereiteten, ein Star geblieben. Wie Josephine damals in Wien vorhergesagt hatte, hatte Pepito Abatino Umsicht und eine kluge Hand bewiesen und ihre Karriere hervorragend aufgebaut. In den Jahren bis 1939 wurde sie wie eine Göttin verehrt, sie drehte Filme, nahm Schallplatten auf, sang und tanzte im prachtvollen Casino de Paris, immer vor ausverkauftem Haus. Kleider, Kosmetikprodukte, Puppen, Schuhe, alles wurde mit und in ihrem Namen verkauft. 1934 verkündete eine Zeitung, dass Josephine Baker die reichste schwarze Frau der Welt sei. Es gab nichts, was nicht möglich schien, und keine Künstlerin in Frankreich, die mehr Aufmerksamkeit erhielt als sie. Ihre Auftritte wie auch ihr Privatleben wurden ausführlich in der Presse kommentiert. Obwohl Tristan sich nie mehr wie vor vielen Jahren in Berlin extra alle Zeitungen kaufte, in denen über sie berichtet wurde, reichte seine Selbstbeherrschung nicht so weit, sich auch der Lektüre dessen zu entziehen, was man unweigerlich mitbekam, wenn man die Tageszeitungen aufschlug oder Radio hörte. So wusste er, dass Josephine auch harte Jahre hinter sich hatte. Ihre Amerikatournee 1936, auf dem Höhepunkt ihres Ruhms in Frankreich, wurde zu einem Desaster. Die dortige Presse verriss nicht nur ihre Auftritte, sondern auch sie als Person, fand »die Tochter einer Waschfrau aus St. Louis« gewöhnlich und nichtssagend, »nichts weiter als eine junge Schwarze mit vorstehenden Zähnen, deren Tanz und Gesang außerhalb von Paris praktisch überall übertroffen werden dürfte«. In dem Hotel, in dem sie in New York abgestiegen war, musste sie aus Rücksicht auf die weißen Gäste den Personaleingang benutzen und hatte keinen Zutritt zu Restaurants, wie die französische Presse voller Empörung berichtete. Es hatte Tristan geschmerzt, das zu lesen, da er wusste, wie sehr sich Josephine gewünscht hatte, auch in ihrer Heimat als Künstlerin anerkannt zu werden. Doch es gelang ihr nicht, nicht einmal bei den Schwarzen, denen sie einerseits nicht schwarz genug war und die sie dennoch gleichzeitig als eine Verräterin ihrer Rasse beschimpften. Obwohl sie von »ungehobelten amerikanischen Ignoranten« umgeben war, wie die französischen Zeitungen entrüstet feststellten, brachte Josephine die Tournee tapfer zu Ende.
Als Tristan kurz darauf erfuhr, dass Pepito Abatino an Krebs gestorben war, war er spontan nach Vésinet gefahren, einem noblen Vorort von Paris, wo Josephine ein Haus besaß. Er hatte ihr beistehen, sie trösten wollen. Am Ende hatte er sich jedoch nur stundenlang vor dem Tor herumgedrückt, unfähig, auf den Klingelknopf zu drücken, und war schließlich wieder zurück nach Paris gefahren, ohne sie gesehen zu haben.
In den darauffolgenden Jahren hatte er von einer Heirat mit einem französischen Industriellen gelesen, die nicht lange angedauert hatte, und von einer Fehlgeburt. Dann waren die Deutschen gekommen. Josephine hatte verkündet: »Solange auch nur ein Deutscher in der Stadt ist, werde ich nicht singen«, und Paris und die besetzte Zone verlassen. Seitdem hatte Tristan sie aus den Augen verloren.
»Was ist mit Josephine?«, fragte er noch einmal, als niemand etwas sagte, dieses Mal lauter.
Sein Onkel wandte sich ihnen wieder zu, und Tristan sah, wie er und Helene sich einen kurzen Blick zuwarfen, und Helene unmerklich den Kopf schüttelte.
»Das wisst ihr nicht? Hat doch heute in allen Zeitungen gestanden«, antwortete Irene erstaunt. »Sogar in der deutschen. Sie ist tot.«
Tristan zwinkerte, begriff nicht, was er hörte.
»Tot?«, brachte er schließlich mühsam heraus. »Josephine? Nein. Nein! Das kann nicht sein …«
Helene legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich konnte es dir noch nicht sagen, es war nicht die Zeit …«
Tristan sah sie an und wusste, dass sie log. Sie hatte es ihm nicht sagen wollen. Selbst wenn er pünktlich gekommen wäre, hätte sie es ihm verschwiegen. Und sein Onkel hatte ebenfalls Bescheid gewusst, deshalb dieser verschämte Blickwechsel vorhin. Sie hatten es ihm beide verheimlichen wollen.
Unter seinem Blick senkte Helene schuldbewusst den Kopf. »Es tut mir leid, aber ich hatte Angst davor, wie du reagieren würdest …«
In einer heftigen Bewegung zog Tristan den Arm unter ihrer Hand weg.
»Tristan, bitte, beruhige dich …«, begann sein Onkel beschwichtigend, doch Tristan fuhr ihn an: »Halt dich da raus!«
Irène sah von einem zum anderen. »Habe ich was verpasst?«
Tristan schüttelte den Kopf, zwang sich, ruhig sitzen zu bleiben. »Was ist mit ihr? Was stand in der Zeitung?«
»Ich habe sie hier.« Helenes Freundin wühlte erneut in ihrer großen Handtasche und zog dann das zusammengefaltete Exemplar einer Tageszeitung heraus. »Hier.« Sie reichte Tristan die Zeitung und tippte mit einem blutrot lackierten Fingernagel auf einen kleinen Artikel am unteren Rand.
Nicht einmal fünf Zentimeter groß, dachte Tristan bitter, während er sich bemühte, die dürren Zeilen in sich aufzunehmen. Josephine hätte eine ganze Seite verdient gehabt. Ach was, eine ganze Zeitung …
Von Krankheit gezeichnet, entkräftet
und völlig verarmt stirbt Josephine Baker …
Die Worte verschwammen vor seinen Augen. Er stand so abrupt auf, dass der Stuhl umfiel.
»Bitte, Tristan, hör mir zu …«, begann Helene und erhob sich ebenfalls. Sie trat einen Schritt auf Tristan zu, doch er hob abwehrend die Arme, wich zurück. »Nicht!« Dann wandte er sich jäh um und verließ die Wohnung.
* * *
»Was ist denn los?« Irène wirkte vollkommen irritiert, als die Tür hinter Tristan ins Schloss fiel. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein.« Helene schüttelte den Kopf. Sie versuchte zu lächeln. »Wir sind alle ein bisschen nervös in diesen Tagen.«
Irène nickte nachdrücklich. »Wem sagst du das!« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »MonDieu, schon so spät! Ich muss noch zur Schneiderin, sie hat ein paar Hosen für Luc ausgelassen. Danach komme ich Luc abholen, wenn dir das recht ist?« Als Helene nickte, stand sie auf. »Der Junge wird eine richtige Bohnenstange. Wenn er so weiterwächst, wird er im Herbst für die Schule alles neu brauchen.« Sie rollte mit den Augen und seufzte theatralisch, sichtlich bemüht, die Stimmung aufzuheitern.
Helene stand mit ihr auf, schnitt ein großes Stück von der Torte ab und schlug es in Butterbrotpapier ein. »Für deinen Mann«, meinte sie und reichte das Päckchen ihrer Freundin, die zunächst höflich abwehrte, sich dann aber lächelnd bedankte. »Franck wird sich freuen. Er liebt diese riesigen deutschen Kuchen, die du immer zauberst.« Sie zögerte, dann legte sie das Kuchenpaket noch einmal auf dem Tisch ab und umarmte Helene fest. »Es wird alles gut«, flüsterte sie in ihr Ohr. »Irgendwann ist es vorbei.«
Nachdem Irène sich verabschiedet hatte, blieb Helene noch eine Weile unschlüssig stehen und sah ihr nach, bis der Graf zu ihr sagte: »Mach dir nicht so viele Sorgen. Er wird sich bald beruhigt haben, und dann kommt er zurück.«
Helene sah Tristans Onkel zweifelnd an, nicht sicher, ob er davon überzeugt war oder es nur sagte, um sie zu beruhigen. Sie setzte sich erschöpft auf den Stuhl neben ihn. »Es war so dumm von mir, Tristan Josephines Tod verschweigen zu wollen. Was habe ich mir nur dabei gedacht?«
»Du hast es gut gemeint.«
»Aber nicht gut gemacht«, erwiderte Helene bitter. »Genau das, was ich vermeiden wollte, ist eingetreten. Und das auch noch an dem Tag, an dem er seinen letzten Berliner Freund tot aufgefunden hat! Wie furchtbar muss das für ihn sein!« Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Der Schock über Levins Tod, den sie für einen Moment verdrängt hatte, kam mit voller Wucht zurück.
»Er hätte es vermutlich genauso gemacht«, gab der Graf zurück. »Man versucht immer, diejenigen zu schützen, die man liebt.«