Die Frau, die frei sein wollte - Hera Lind - E-Book
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Die Frau, die frei sein wollte E-Book

Hera Lind

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Beschreibung

Selma kommt Anfang der 1960er-Jahre als Gastarbeiterkind mit ihren Eltern und Geschwistern aus der Türkei nach Köln. Sie schwebt im siebten Himmel, als sie sich mit siebzehn mit ihrer großen Liebe Ismet verloben darf. Doch ein zufälliges Zusammentreffen mit Orhan wird ihr zum Verhängnis. Arglos steigt Selma in das Auto des ihr fast unbekannten Mannes – was dann passiert, ist ein einziger Albtraum. Sie verliert ihre Ehre und ihre Freiheit, und das Glück mit Ismet zerplatzt für immer. Sie gehört nun Orhan. Aber Selma gibt nicht auf...

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Seitenzahl: 536

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Der Roman

Köln im Sommer 1979: Die siebzehnjährige Selma kann es gar nicht erwarten, nun bald ihre Jugendliebe Ismet zu heiraten. Doch dazu wird es nicht kommen. Am helllichten Tag wird sie von Orhan, der ebenfalls aus einer türkischen Familie stammt, entführt, missbraucht und damit für alle Zeiten gebrandmarkt. Da er Selma entehrt hat, bleibt ihr keine andere Wahl, als diesen gefährlichen Mann zu heiraten, ohne dass ihre Eltern einschreiten können. Für Selma beginnt ein jahrelanges Martyrium. Schläge und Erniedrigungen sind an der Tagesordnung – auch noch nach der Geburt der gemeinsamen Tochter. Aber Selma gibt die Hoffnung nicht auf. Und tatsächlich gelingt ihr eines Tages zusammen mit der kleinen Elif die Flucht in die Freiheit. Der Weg in ein selbstbestimmtes Leben ist dennoch steinig für eine Frau mit türkischen Wurzeln. Wie Selma es geschafft hat, den Glauben an sich selbst nicht zu verlieren, erzählt Hera Lind in diesem überaus bewegenden, Mut machenden Tatsachenroman.

Die Autorin

Hera Lind studierte Germanistik, Musik und Theologie und war Sängerin, bevor sie mit zahlreichen Romanen sensationellen Erfolg hatte. Seit einigen Jahren schreibt sie ausschließlich Tatsachenromane, ein Genre, das zu ihrem Markenzeichen geworden ist. Mit diesen Romanen erobert sie immer wieder die SPIEGEL-Bestsellerliste. Platz 2 erreichten Die Frau zwischen den Welten, Grenzgängerin aus Liebe und Mit dem Rücken zur Wand, auf Platz 1 gelangten Die Hölle war der Preis und Für immer deine Tochter.

HERA

LIND

Die Frau, die

frei sein wollte

Roman nach einer wahren Geschichte

Vorbemerkung

Dieses Buch erhebt keinen Faktizitätsanspruch. Es basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte. Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerks gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist.

Für alle Leser erkennbar erschöpft sich der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel der Autorin mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt. Sie lässt bewusst Grenzen verschwimmen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 12 /2018

Copyright © 2018 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: t.mutzenbach design, München

Covermotive: © Plainpicture/Mihaela Ninic; Shutterstock/Anca Dumitrache/Solis Images/RossHelen

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-20312-2V006

www.diana-verlag.de

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1

Köln, Sommer 1979

Nebenan parkte ein gelber BMW.

»Baba, kennst du den?« Interessiert beugte ich mich aus dem Schaufenster unserer Lederkleidung- und Jeansboutique, um den tollen Schlitten besser sehen zu können. »Bochumer Kennzeichen«, stellte ich fest. »Was will die Luxuskarosse hier in unserer Straße?«

Vater war mit irgendwelchem Abrechnungskram in seinem Büro im Hinterzimmer beschäftigt. »Wovon redest du, Tochter?«

»Na diese quietschgelbe Karre hab ich hier noch nie gesehen!«

»Keine Ahnung, Selma.« In seiner gut sitzenden Lederjacke und mit seinen grauen Schläfen, die damals der Mode entsprechend mit beachtlichen Koteletten verziert waren, kam er ins Geschäft. Er wirkte irgendwie fahrig.

»Hör zu, Selma, ich muss dringend weg.« Er überreichte mir seinen Ladenschlüssel und kramte nach Autoschlüsseln, Geld und anderen Utensilien, die so ein türkischer Patriarch immer bei sich hat. »Ich muss dich leider alleine lassen, aber ich bin überzeugt, dass du das schaffst. Du hältst hier bis zwei Uhr die Stellung, und wenn ich bis dahin nicht zurück bin, schließt du einfach ab. Die Abrechnung mach ich dann später.«

Verwundert blickte ich meinen Vater an. Es war in unserer Familie und in unserem Kulturkreis eigentlich nicht üblich, dass ein siebzehnjähriges Mädchen allein gelassen wird, und dann noch in einer stark frequentierten Boutique. Ich war bildhübsch, hatte lange schwarz glänzende Haare, große grüne Augen und eine schlanke Figur, die ich mit engen Jeans, einem breiten Ledergürtel und einer weißen Leinenbluse aus eigener Produktion betonte. Wir waren eine moderne türkische Familie, und selbst meine Mutter trug kein Kopftuch.

Mein Vater und seine Brüder hatten sich in den Sechzigerjahren hier im Kölner Raum mit einem Schneideratelier erfolgreich selbstständig gemacht, und in diesen Sommerferien half ich mit aus, weil meine Mutter samt meinen Brüdern in die Türkei gereist war, um meine Hochzeit vorzubereiten! Üblicherweise durfte die Braut bei diesen Gesprächen nicht mit dabei sein.

Ich freute mich wahnsinnig darauf, meine Jugendliebe Ismet zu heiraten, der ganz offiziell mit seinen Eltern bei meiner Mutter und meinem ältesten Bruder Cihan um meine Hand angehalten hatte.

Meine Eltern lebten getrennt, und ich wohnte mit meinen kleinen Brüdern bei meiner Mutter in Hannover, aber damit ich nicht allein und unbeaufsichtigt war, hatte meine Mutter mich für die Ferien zu meinem Vater nach Köln geschickt. Und jetzt das! Er ließ mich in seinem Geschäft allein!

Egal. Vater ging schon lange eigene Wege, hatte immer irgendwelche dringenden Termine – leider auch mit anderen Frauen, woran die Ehe meiner Eltern trotz sechs gemeinsamer Kinder letztlich auch gescheitert war. Bestimmt hatte Baba gerade wieder so eine Dame am Start. Vielleicht hatte sie ja sogar was mit dem schicken BMW zu tun, der vor der Konditorei nebenan auf dem Parkplatz stand? Das würde auch erklären, weshalb er plötzlich so nervös war, der unverbesserliche alte Filou!

»Baba, mach dir keine Sorgen, ich pack das schon.« Ein bisschen den Laden hüten? Das würde ich wohl noch schaffen. Dann konnte ich wenigstens meine Lieblingsmusik hören, und das waren keine türkischen Liebesschnulzen, sondern die neuesten Hits aus dem Radio.

»Aber sei pünktlich bei Onkel und Tante und deiner Cousine Yasemin, hörst du? Ich komme zum Mittagessen auch zu Engin und Sule, also bis spätestens halb drei!« Baba klimperte schon mit den Autoschlüsseln. »Mein Bruder und meine Schwägerin wollen das Wochenende mit uns verbringen. Sie haben dich doch so lange nicht gesehen.«

»Natürlich, Baba.« Ich gab ihm einen Kuss auf die stoppelbärtige Wange. Vater roch immer so gut! Nach Kindheit und Geborgenheit, aber auch nach großer weiter Welt. Es war ein orientalisches Parfüm. Natürlich hatte er ein Date! Ich unterdrückte ein wissendes Grinsen. »Ich nehme den Bus um zehn nach zwei.«

Baba sprang in seinen Mercedes – ebenfalls ein teurer Schlitten, der für ihn als Statussymbol sehr wichtig war – und brauste davon.

Im Radio wurde der »Swan Song« von den Bee Gees gespielt, und sorglos summend machte ich mich daran, die Pullover zu falten, die meine letzten Kunden achtlos auf einen Haufen geworfen hatten. Hüftschwingend und mit kleinen, gut gelaunten Tanzschrittchen räumte ich sie nach Größen und Farben geordnet wieder in die dafür vorgesehenen Regale. Schon bald würde ich in die Türkei fliegen, zu meiner eigenen Traumhochzeit! Ismet und ich kannten uns von der Schule in Köln, wo ich damals noch mit beiden Eltern lebte. Obwohl ich erst dreizehn gewesen war, hatte der damals achtzehnjährige, gut aussehende und vor allem gut erzogene junge Mann jeden Tag heimlich auf mich gewartet. Hand in Hand waren wir verstohlen am Fluss entlangspaziert, hatten uns scheu unsere Liebe gestanden und von einer gemeinsamen Zukunft geträumt. Natürlich war allein schon das harmlose Händchenhalten mit einem Jungen streng verboten, und niemand hätte davon erfahren dürfen, aber jetzt … Jetzt war alles offiziell! Ismet war mit seinen Eltern nach Hannover gekommen und hatte ganz traditionell um meine Hand angehalten, und Mutter hatte Ja gesagt! Mein Jugendtraum Ismet studierte inzwischen Medizin, und unserer gemeinsamen Zukunft stand nichts mehr im Wege! Wir würden natürlich in Deutschland leben, denn hier waren wir beide aufgewachsen. Aber die prunkvolle Traumhochzeit würde traditionsgemäß in der Türkei stattfinden. Die Glücksgefühle prickelten wie Kohlensäurebläschen in einer Zitronenlimonade, das Leben war herrlich und leicht! Zum ABBA-Song »Super Trouper« hängte ich gerade eine schwere Lederjacke auf den Bügel, als die Ladenglocke ertönte und ein junger dunkelhaariger Mann forsch die Boutique betrat. Gut gelaunt steckte ich den Kopf hinter den Jacken hervor. »Kann ich Ihnen helfen?«

Wow, der sah gut aus. Pechschwarzes, nach hinten gegeltes Haar, frisch rasiert, kräftige Augenbrauen, männliche Statur. Für den hatte ich ein paar schicke Klamotten im Angebot!

»Hallo, Selma!« Mit zwei langen Sätzen war er bei mir und gab mir zwei galante Wangenküsschen.

Kannten wir uns irgendwoher? Er roch nach irgendetwas Süßlich-Scharfem, das ich nicht einordnen konnte.

»Dein Blick verrät mir, dass du dich gerade fragst, woher wir uns kennen, stimmt’s?« Der attraktive Kunde fixierte mich mit dunklen Augen, in denen es eigentümlich flackerte. Erst jetzt bemerkte ich die Narbe bei seiner rechten Augenbraue.

»Falls wir uns überhaupt kennen«, gab ich tapfer zurück. Als unverheiratetes türkisches Mädchen durfte ich ihm eigentlich nicht in die Augen sehen, also wandte ich den Blick ab und schaute sittsam auf den Boden.

»Aber Selma!« Er hielt mich auf Armeslänge von sich ab und lachte. Sein Atem roch nach Pfefferminz. »Du weißt wirklich nicht mehr, wer ich bin?«

Noch einmal sah ich ihn verlegen an, dann entfuhr mir ein nervöses Kichern. »Orhan? Bist du das? Der Sohn von Vaters ehemaligen Mitarbeitern Muhamet und Neslihan?«

»Ja, jetzt hast du’s, Kleine! Du bist ja noch viel hübscher geworden! Wie machst du das, dass dein Haar so glänzt?«

»Das ist mein Geheimnis.« Geschmeichelt, aber auch verunsichert wich ich ein paar Schritte zurück und hielt schützend die weiche Lederjacke samt Bügel vor mich. »Wie lange ist das jetzt gleich wieder her?«

»Dass meine Eltern für Alper Tuclu, deinen Vater geschneidert haben?« Orhan schaute zur Decke und schien zu rechnen. »Warte mal. Vor zwei Jahren haben wir uns mal kurz im Betrieb deines Onkels Engin getroffen. Daran wirst du dich nicht mehr erinnern, da warst du ja auch noch ein schüchternes kleines Schulmädchen.«

Das längst heimlich mit Ismet zusammen war!, dachte ich. Auch wenn wir uns jahrelang nur schrieben. Natürlich hatte ich keine Augen für andere Jungs gehabt, auch nicht für Orhan, der mir jetzt schon etwas großspurig vorkam.

»Und, wie geht’s dir so?« Nervös pustete ich mir eine widerspenstige Strähne aus der Stirn. Im Spiegelbild der offen stehenden Umkleidekabine sah ich eine ziemlich verwirrte, rotfleckige Selma. »Ich dachte, du wärst damals mit deinen Eltern zurück in die Türkei gegangen?«

»Ja, aber da hab ich keine Arbeit gefunden. Wir sind schon länger wieder in Deutschland.«

Beiläufig musterte er die Jacke, hinter der ich mich verschanzt hatte, und zupfte daran herum. Ich sah die schwarzen Härchen auf seinen durchtrainierten Unterarmen und versuchte, eine Berührung zu vermeiden.

»Wie läuft denn der Laden?«, fragte er gönnerhaft.

»Gut, denke ich. Ich helfe hier ja nur während der Sommerferien aus.« Ich räusperte mich nervös. »Meine Mutter, meine siebenjährigen Zwillingsbrüder und ich wohnen ja jetzt schon seit drei Jahren in Hannover, wo ich in einem Jahr mein Abi machen werde.« Ich grinste verlegen. »Und danach will ich Modedesign studieren.«

»So? Dein Abi?! Wow.« Täuschte ich mich, oder zuckten seine Mundwinkel spöttisch?

Was erzählte ich ihm denn da für Familiengeheimnisse? Vielleicht wusste er noch gar nichts von der Trennung meiner Eltern? Für das türkische Moralempfinden war das nichts, was man an die große Glocke hängen sollte. Und nachdem seine Eltern nicht mehr für meinen Vater arbeiteten, konnte mir dieser Orhan auch ziemlich egal sein. Ich setzte ein professionelles Gesicht auf. »Kann ich dir irgendwas zeigen? Sonst würde ich nämlich gleich schließen.« Geschäftig hängte ich endlich die Lederjacke zurück, um aus dieser Ecke herauszukommen, in die er mich gedrängt hatte.

»Nee, lass mal, Selma. Ich wollte eigentlich DICH sehen.« Orhans Augen funkelten begehrlich. Er musterte mich so unverhohlen, dass ich mir nackt vorkam.

»Woher weißt du denn überhaupt, dass ich bei meinem Vater in der Stadt bin?« Mein Herz polterte auf einmal so unrhythmisch. Ich presste einen Ledergürtel an mich.

»Man erfährt so einiges, wenn man sich bemüht.«

Sein Blick war mir nicht geheuer. Ich schielte auf die große Uhr an der Wand. Es war zehn vor zwei. Mich überfiel das dringende Bedürfnis, ihn aus dem Laden hinauszukomplimentieren und hinter ihm abzuschließen. Es schickte sich nicht, dass ein junges Mädchen mit einem jungen Mann allein in einem Raum war. Hier in der Stadt lebten inzwischen viele türkische Familien, die alle mehr oder weniger miteinander verwandt oder verschwägert waren, und zu meinem Leidwesen passten sie auch ziemlich gut aufeinander auf. Speziell auf die unverheirateten Töchter. Moralische Fehltritte, und seien sie auch noch so harmlos, verbreiteten sich wie ein Lauffeuer, und dann war die Familienehre dahin. Ich wusste das nur zu gut: Baba hatte vor Jahren meine ältere Schwester Fidan verstoßen, weil sie sechzehnjährig von einem Kurden namens Bekir schwanger geworden war. Niemand aus unserer Familie durfte mehr mit ihr reden!

Wenn Orhan nichts kaufen wollte, sollte er verschwinden. Nicht auszudenken, wenn uns jetzt jemand sehen würde! Mein Vater würde es schneller erfahren als die Zweiuhrnachrichten, und dann würde es auf jeden Fall Ärger geben. Er würde bestimmt enttäuscht von mir sein, dass er mich nicht mal zwei Stunden in seinem Laden allein lassen konnte.

»Tja, Orhan, dann mach’s mal gut.« Ich wies freundlich, aber bestimmt zur Tür. »War nett, dich mal wiederzusehen, und grüß deine Eltern.«

»Ich musste oft an dich denken.« Orhan nahm mir den Gürtel aus der Hand und strich spielerisch über die schwere, blank polierte Silberschnalle. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie ein Totenkopfmotiv zierte.

»Ach bitte leg das weg, ich wollte gerade abschließen.« Mutig griff ich danach, aber Orhan ließ die Schnalle klirrend durch seine Hände gleiten.

»Ziemlich oft sogar. Die schöne Selma mit den glänzenden Haaren. Und als ich erfahren habe, dass du heute ganz allein in diesem goldenen Käfig herumflatterst, da dachte ich, schau ich doch mal nach dem Vögelchen, bevor es davonfliegt.«

Okay, das reichte jetzt.

»Also dann, Orhan. Es war nett, dich zu treffen, aber wenn du nichts kaufen willst …« Unwillkürlich trat ich hinter den Tresen. »Schön, dich wiederzusehen«, wiederholte ich mich. Mein Herz polterte. »Aber ich mache jetzt zu, denn ich werde um halb drei von meinem Vater bei Onkel Engin, Tante Sule und meiner Cousine Yasemin zum Essen erwartet. Und du kennst ihn, er versteht keinen Spaß.«

So. Das war doch eine deutliche Botschaft. Vor meinem Vater hatte er bestimmt Respekt.

War da nicht irgendwas gewesen? Hatte Baba seine Eltern nicht fristlos entlassen?

»Willst du gar nicht wissen, was der Anlass für meinen Besuch ist?« Orhan ließ die Schnalle vor meinen Augen baumeln und fixierte mich mit seinen schwarzen Augen.

Nervös schielte ich auf die verwaiste Straße hinaus. Wenn doch mein Vater vorfahren und in den Laden stürmen würde! Doch von Baba war weit und breit nichts zu sehen. Auch kein einziger Kunde wollte jetzt, um die heiße Mittagszeit, noch vorbeischauen.

»Was ist denn der Anlass?« Ich versuchte, meiner Stimme einen lässigen Klang zu geben. »Hab ich irgendwas verpasst?« Vielleicht war er im Begriff zu heiraten und wollte mich einladen?

Doch er ließ eine ganz andere Bombe platzen.

»Selma! Weißt du denn nicht, dass meine Eltern bei deinem Vater um deine Hand angehalten haben?« Orhan war noch einen Schritt näher gekommen.

Mein Herz setzte einen Schlag aus, aber dann entfuhr mir ein schrilles Lachen. »Nein! Wie lustig!« Zu dem ängstlichen Gefühl von vorhin gesellte sich eine mädchenhafte Eitelkeit. Klar! Ich war eben eine glänzende Partie!

»Und?«, kokettierte ich schon ein bisschen selbstbewusster. »Was hat mein Vater gesagt?«

Kämpferisch blitzte ich ihn an. Ich wusste, dass mein stolzer Vater mich, seinen Augenstern, nie dieser einfachen Arbeiterfamilie versprechen würde.

»Er hat natürlich Nein gesagt.« Orhan legte den Gürtel auf den Tresen und steckte seine zitternden Hände in die Hosentaschen. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück.

Ach Gott, der war doch total harmlos! Erleichterung durchflutete mich. Am liebsten hätte ich ihn getröstet und ihm übers schwarze Haar gestrichen. Armer schwarzer Kater! Bestimmt hatte mein Vater ihm gesagt, dass ich längst einem Medizinstudenten versprochen war!

»Dein Vater meinte sogar zu meinen Eltern, sie sollten es nicht noch mal wagen, privat bei ihm aufzutauchen. Und dann hat er meine Eltern beide gefeuert.«

Oje, der Arme. Verletzte männliche Eitelkeit war für einen türkischen jungen Mann schlimmer als Zahnschmerzen und Heimweh zusammen.

»Mach dir nichts draus, Orhan. Mein Vater meint das nicht so. Du bist sicher ein ganz patenter netter Kerl. Nur: Ich bin schon anderweitig vergeben.« Stolz drehte ich an meinem Verlobungsring, den Ismet mir nach seinem Antrag feierlich angesteckt hatte. »Mein Verlobter steht kurz vor dem Examen, er wird Arzt«, erklärte ich stolz. »Also, wer auch immer dir gesteckt hat, dass ich in der Stadt bin, muss dir doch auch gesagt haben, dass ich verlobt und versprochen bin!« Ich drehte ihm den Rücken zu und schloss die Kasse ab. »Und, haben deine Eltern wieder einen Job gefunden?«

»Ich sage dir doch gerade, dass du mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen bist«, überhörte Orhan meine Frage. »Seit unserem Treffen vor zwei Jahren weiß ich, dass du meine Frau werden wirst. Du oder keine.« Erschrocken wirbelte ich herum. Er ballte die Hände in den Hosentaschen, und seine Kieferknochen mahlten. »Und ich kriege immer, was ich will.«

Jetzt lachte ich noch ein bisschen schriller. »Bitte nimm es nicht persönlich, aber ich hab dir doch gerade erklärt …« Als ich sein Gesicht sah, verstummte ich abrupt. Er scherzte nicht. Sein Blick hatte sich dramatisch verfinstert, und seine buschigen Augenbrauen mit der Narbe wirkten bedrohlich. Kam die von einer Schlägerei?

»Orhan, red keinen Scheiß.« Schützend verschränkte ich die Arme vor der Brust. Der sollte aufhören, mich so anzustarren!

»Ich bin sicher, dass ich dich erobern kann.« Orhans Augen glühten. »Ich kriege dich, wollen wir wetten?«

»Orhan, hast du mir überhaupt zugehört?« Ich wusste nicht, ob das hier ein heißer Wortflirt war, oder ob der Typ nicht ganz dicht war. »Ich bin nicht zu haben, und ich bin nicht interessiert. An deiner Stelle würde ich jetzt echt abhauen, bevor mein Vater dich hier sieht.« Um dem Ganzen ein wenig die Schärfe zu nehmen, schickte ich noch ein etwas zu hoch geratenes perlendes Mädchenlachen hinterher. »Schade, dass wir nicht gewettet haben – du hättest haushoch verloren!« Hoffentlich fühlte er sich jetzt nicht ausgelacht. »Und grüß deine Eltern, Neslihan und Muhamet – siehst du, ich erinnere mich noch genau an sie!«

Wie gut, dass ich Stärke gezeigt hatte. Denn diese Mischung aus Freundlichkeit und Bestimmtheit wirkte. Orhan stürzte mit langen Schritten zur Tür und riss sie auf. Die Ladenglocke zerrte an meinem Trommelfell.

»Bitte überlege es dir noch mal!«, stieß er hervor, und rote Flecken zierten sein Gesicht. »Es würde dir an nichts fehlen, ich könnte dich glücklich machen!«

»Träum weiter«, flachste ich selbstbewusst, schob die Tür hinter ihm zu und schloss ab.

Mein Herz raste noch minutenlang.

2

Köln, Sommer 1979

Plötzlich hatte ich das unstillbare Bedürfnis, Ismets Stimme zu hören. Mit zitternden Fingern wählte ich von Vaters Büro aus die Nummer meiner zukünftigen Schwiegereltern in der Türkei.

»Liebling, wie schön, dass du anrufst!« Ismets vertraute Stimme drang tröstlich an mein Ohr. »Wie geht es dir bei deinem Vater? Was macht das Geschäft?«

»Stell dir vor, was mir gerade passiert ist«, sprudelte es nur so aus mir heraus. »Der Sohn ehemaliger Schneider aus Vaters Betrieb ist hier gerade aufgetaucht und meinte, er hätte bei Vater um meine Hand angehalten, jedoch vergeblich!«

»Na, das will ich wohl meinen!« Ismet lachte warm und sonor. »Du bist mir versprochen, aber versuchen kann er es ja mal, der Hund!«

Ich musste lachen. »Er heißt Orhan. Er meinte, er würde mich seit zwei Jahren nicht mehr aus dem Kopf kriegen, dabei sind wir uns nur einmal ganz kurz begegnet, und ich konnte mich kaum noch an ihn erinnern.«

»Liebling! Du bist die schönste junge Türkin zwischen Hannover und Köln! Es würde mich total befremden, wenn der Kerl NICHT seitdem an dich denken würde!« Stolz und Humor schwangen in Ismets Stimme mit. Jetzt musste ich auch ein bisschen selbstgefällig kichern.

»Ich bin jedenfalls froh, dass ich ihm zuvorgekommen bin«, rief Ismet glücklich. »Die Hochzeitsvorbereitungen laufen auf Hochtouren, du wirst staunen, was für Überraschungen wir für dich planen!«

Neugierig wollte ich Einzelheiten wissen, aber Ismet machte ein Riesengeheimnis daraus. »Liebling, du sollst dich einfach nur auf Händen tragen lassen. Es wird die prächtigste Hochzeit, die unsere Heimatstadt je gesehen hat!«

»Und? Wie geht es deinen Eltern und Geschwistern?«

»Großartig! Alle sind in heller Vorfreude! Du solltest erleben, welchen Zirkus meine Schwestern wegen der Kleider veranstalten, die sie passend zu deinem Hochzeitskleid tragen wollen!« Wieder hörte ich sein glückliches Lachen. »Und ich freue mich so auf unsere Hochzeitsreise, Liebling! Wenn wir die ganze Verwandtschaft hinter uns gelassen haben und endlich in unser Liebesnest auf Çanakkale in der Ägäis segeln – ich hab nämlich eine kleine Jacht gechartert …«

»WAS? Ismet, wir segeln?« Aufgeregt hüpfte ich auf der Stelle.

»Ups, das sollte doch eine Überraschung werden!« Ismet wurde sofort wieder sachlich.

»Liebes, du ziehst mir alles aus der Nase, was ich dir überhaupt noch nicht verraten wollte. Bitte gedulde dich noch ein bisschen. Wir bereiten hier so viele Dinge für dich vor, du wirst schreien vor Glück!«

Ismet berichtete dann noch in aller Ausführlichkeit von seiner weitläufigen Verwandtschaft, welche Onkel und Tanten und Cousinen und Cousins noch alle anreisen würden und nach welchen Geschenkwünschen sie gefragt hätten. Ich platzte fast vor Vorfreude, Stolz und Liebe. Alle Verwandten von Ismet hatten mich längst ins Herz geschlossen und freuten sich aufrichtig für uns. Die ganze Familie bestand aus Akademikern, auch seine Schwestern studierten noch. Ich würde in eine wirklich angesehene, moderne Familie einheiraten und wusste, dass meine Eltern darauf sehr stolz waren.

»Liebling, ich muss jetzt Schluss machen, ein Teil deiner Überraschung wird gerade angeliefert. Oh, wenn du sehen könntest, was ich sehe …«

Ich konnte förmlich hören, wie Ismet strahlte.

»Ismet, mach es nicht so spannend!« Vor meinem inneren Auge wurde gerade das kostbarste goldene Geschmeide vor ihm ausgebreitet, das er mithilfe meiner Mutter für mich ausgesucht hatte.

»Grüß mir deinen Vater! Er ist natürlich ebenso herzlich eingeladen, aber bitte ohne eine andere Frau. Es wäre sehr brüskierend für deine Mutter, und das würden meine Eltern niemals zulassen!« Ismet senkte taktvoll die Stimme, und ich ging davon aus, dass meine Mutter gerade den Raum betreten hatte.

»Aber Liebster, natürlich kommt er allein! Er ist zwar manchmal ein Hallodri und hält sich nicht immer an die strengen moralischen Regeln, aber was seine Lieblingstochter betrifft, weiß er doch, was sich gehört!«

Ja, nach dem Rauswurf meiner Schwester Fidan war ich seine einzige ehrbare Tochter neben vier Söhnen, und ich wollte meinem Vater keine Schande machen. Obwohl er uns selber ziemlich viel Schande gemacht hatte – aber er war eben ein Mann.

Ich lachte aufgeregt und ließ noch ein paar Luftküsschen los. »Bis dann, Liebster! – Oh, es ist schon nach zwei, ich muss den Bus kriegen!« Hastig legte ich auf und griff nach meiner Jacke.

Die Haltestelle war nur dreißig Meter von unserem Laden entfernt, und ich sah den grünen Linienbus bereits herannahen.

»Verdammt, den wollte ich doch erwischen … Wo ist denn jetzt meine Tasche?«

Hektisch packte ich meinen Kram, löschte das Licht und schloss die Ladentür von außen ab. Der Bus stand an der Bushaltestelle, als würde er auf mich warten, und ich gab Fersengeld.

Mist, warum hatte ich ausgerechnet heute diese Riemchensandaletten mit den hohen Absätzen an? Ich ruderte mit den Armen, knickte um und unterdrückte einen undamenhaften Fluch: Zischend schlossen sich die Türen des Busses, der mir buchstäblich vor der Nase davonfuhr.

Gerne hätte ich laut geflucht, doch das tat ein anständiges türkisches Mädchen natürlich nicht. Hatte der Fahrer mich im Rückspiegel denn nicht gesehen? Oder bremste er zwar für Tiere, aber nicht für Türken?

Puh, zehn nach zwei. Ich hatte mich einfach verplaudert.

Oje, jetzt wartete die Verwandtschaft mit dem Essen auf mich! Vater hasste Unpünktlichkeit. Wie peinlich, wenn sie jetzt nicht anfangen konnten, nur weil ich den blöden Bus verpasst hatte! Der nächste fuhr erst in einer Stunde.

Das würde wieder Ärger geben!

Ratlos raufte ich mir die Haare und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Geld für ein Taxi hatte ich nicht. Mein abgezähltes Fahrgeld für den Bus nützte mir nichts mehr. Da sah ich in der gleißenden Sonne etwas aufblitzen.

Wie von Geisterhand gelenkt, rollte der kanariengelbe BMW direkt neben mich, die Beifahrertür öffnete sich, und Orhan rief freundlich vom Fahrersitz: »Du willst zu Yasemin? Ich kann dich gerne mitnehmen!«

Ich erstarrte. Oh nein, das ging GAR nicht! Aus Gründen der Ehre und des Anstandes gehörte es sich nicht für ein heiratsfähiges türkisches Mädchen, in ein fremdes Auto einzusteigen. Da hätte ich gleich nackt auf der Straße tanzen können.

»Du weißt genau, dass die Gerüchteküche nur so brodeln wird«, knurrte ich und kehrte ihm den Rücken zu. Sollte ich wieder in den Laden gehen? Von dort könnte ich wenigstens zu Hause anrufen. Aber ich schämte mich auch vor Orhan, den ich gerade noch so souverän abgebürstet hatte. Träum weiter! Das war echt cool von mir gewesen. Da hatte er gleich Respekt vor mir gehabt. Der hielt mich jetzt bestimmt für eine feige Zimperliese. Ach verdammt! Mein Magen knurrte. Ich hatte solchen Hunger!

»Selma! Ich tu dir doch nichts!« Er warf die Hände in die Luft und machte ein Gesicht, als hätte er es mit einer naiven Dreijährigen zu tun. »Wir sind doch alte Familienfreunde! Was ist denn schon dabei!«

»Es gibt wahrlich genug Menschen hier in der Stadt, die nur darauf warten, meinem Vater mal eins auszuwischen«, zischte ich ihm zu. »Wenn seine tugendhafte Tochter bei einem fremden Mann einsteigt, ist es endgültig um seine Ehre geschehen.«

Orhan schnalzte abfällig. »Ich lass dich an der Tankstelle unauffällig aussteigen, dann läufst du die letzten Meter zum Haus deines Onkels!«

Die brütende Hitze sorgte dafür, dass ich fast mit dem Bürgersteig verschmolz.

»Jetzt komm schon, Hasenfuß!« Orhan grinste mich einladend an. Sein behaarter Arm hielt die ganze Zeit die Beifahrertür auf. »Ich hab auch ’ne kalte Cola für dich!«

Eigentlich hatte er recht. Wer sollte mich denn sehen? Die Straßen waren wie ausgestorben. Wenn Orhan mich jetzt schnell mitnahm, würde ich in zehn Minuten zu Hause sein, und keiner würde was merken. Ich freute mich so auf meine Lieblingscousine Yasemin und Tante Sules köstliches Essen. Und die Cola lachte mich so erfrischend an!

Wie von Geisterhand gesteuert, schlüpfte ich in den gelben BMW. Schick war das Teil ja. Kühle Ledersitze schmiegten sich an meinen Rücken. So selbstverständlich wie möglich griff ich nach dem Anschnallgurt. WOW. Eigentlich schade, dass mich niemand sehen würde. Dieser Orhan war schon ziemlich cool!

»Was wird das denn jetzt?« Die kalte Colaflasche auf den Knien, starrte ich ihn mit schreckgeweiteten Augen an, als ich plötzlich in den Gurt gepresst wurde.

»Ich hab noch was vergessen. Dauert nicht lange.«

Vor einer roten Ampel riss Orhan plötzlich das Lenkrad herum und wendete mit quietschenden Reifen. Im ersten Moment hoffte ich wirklich, er würde nur schnell noch irgendwo was abholen. Ich zwang mich zur Ruhe. Komm, Selma, er will nur ein bisschen angeben, jetzt wo du in seiner gelben Testosteronschleuder sitzt. Was anderes hat er doch nicht zu bieten!

Doch Orhans Kieferknochen mahlten mit wilder Entschlossenheit, seine Hände umklammerten so fest das Lenkrad, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Der Wagen jagte in entgegengesetzter Richtung aus der Stadt!

»He«, schrie ich panisch. »Lass mich raus! Ich muss nach Hause! Mein Vater wartet doch auf mich!« Mein Herz begann zu rasen, und in meinen Ohren rauschte das Blut.

»Beruhige dich.« Orhan knallte den fünften Gang rein, gab Gas bis zum Anschlag und raste über die Ausfallstraße Richtung Autobahn. »Lehn dich ganz entspannt zurück, Selma. Wir machen nur eine kleine Spritztour.« Seine Halsschlagader wummerte genauso wild wie die aggressive Musik, die er plötzlich eingeschaltet hatte. Ich spürte, wie die Bässe in den Polstern vibrierten. Na toll!

»Lass den Scheiß jetzt, Orhan, das ist nicht lustig!« Meine Hände waren plötzlich feucht.

Er grinste mich von der Seite an, und das Auge unter der Narbe blitzte diabolisch. »Du willst das doch auch, einmal so richtig fliegen, oder?«

»Nein! Ich will nach Hause!« Schlaff wie Gummi hingen die Beine an mir herab. Ruhig, Selma. Ruhig. Reiß dich zusammen. Du bist cool. Er hat Respekt vor dir. Er will nur angeben.

Ich krallte mich in den Sitz. Da hinten war eine Ampel. Die letzte vor der Autobahn! Bitte werde rot, bitte werde rot, bitte bitte … Die Ampel sprang um.

Fluchend legte Orhan eine Vollbremsung hin, dass die Reifen quietschten. Der Anschnallgurt schnürte mir fast die Luft ab.

Okay, Selma. Er wird nichts merken. Du steigst jetzt einfach aus.

Meine Finger suchten nach der roten Taste, mit der man den Anschnallgurt lösen konnte. So geräuscharm wie möglich klinkte ich den Gurt aus. Seine behaarten Hände trommelten nervös aufs Lenkrad. Gehetzt spähte er in den Rückspiegel.

Unauffällig tastete ich nach dem Türgriff und spannte sämtliche Muskeln an. Jetzt!

Ruckartig stieß ich die Tür auf, aber sie war sperrig und schwer, und in derselben Sekunde lag Orhan auf mir, riss die Tür wieder zu und gab Gas, bevor es überhaupt wieder grün war. Der Wagen schlingerte, und jemand hinter uns hupte unwillig.

»Versuch das nicht noch mal, Selma! Du wirst hier bleiben!« Orhan knallte die Gänge rein und drückte das Gaspedal durch. Die letzten Häuser der Stadt rasten an mir vorbei wie ein Film im Schnelldurchlauf.

Todesangst überkam mich.

Er ließ den Motor so richtig aufheulen und preschte auf die Autobahn Richtung Dortmund. Ich wurde in den Sitz gepresst und sah die blauen Schilder an mir vorbeifliegen.

»Orhan! Ich flehe dich an! Mein Vater wird mich suchen, du kriegst Riesenärger, das schwör ich dir!«, schrie ich gegen die wummernden Bässe an.

»Beruhige dich, Selma, ich meine es nur gut mit dir!« Mein Entführer lenkte den Wagen sofort auf die Überholspur und preschte an den rechts fahrenden Autos vorbei. Verzweifelt versuchte ich den Fahrern Zeichen zu machen, doch er riss meinen Arm herunter.

»Wir werden heiraten, und du wirst mich lieben. Wenn du stillhältst, werde ich dir nichts tun.«

Wie gelähmt starrte ich auf die flirrende Autobahn. Der meinte das ernst, der Wahnsinnige! Der Asphalt vor meinen Augen schien flüssig zu sein. Mein Gehirn weigerte sich, die Informationen zu verarbeiten. Das war eine Entführung! Und eine Entführung war, zumindest unter heißblütigen Liebenden, gar nicht mal so unüblich. Mein Vater hatte meine Mutter entführt, als sie Wasser vom Brunnen holte! Darauf war er sein Leben lang stolz! Aber meine Mutter war total verschossen in meinen Vater, die Entführung war zwischen ihnen abgesprochen – das war der kleine, aber wesentliche Unterschied. Ich dagegen liebte Orhan kein bisschen, im Gegenteil! Er widerte mich an mit seinem protzigen Gehabe.

Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Die nackte Panik drosch auf mich ein wie eine Axt auf ein ahnungsloses Schlachtschaf. Warum war ich nur zu ihm ins Auto gestiegen? Warum hatte ich mich nur dazu überreden lassen? Warum, warum? Wegen einer kalten Cola? Weil ich cool sein wollte?

Ich wollte ihm die Flasche gegen die Schläfe schmettern, aber er entriss sie mir blitzschnell und warf sie bei voller Fahrt aus dem Fenster.

»So nicht, du Früchtchen. So nicht.«

Plötzlich hörte ich mich schreien wie ein in die Falle geratenes Tier. Wut auf mich selbst, Angst, Verzweiflung und Zorn auf ihn, der sich erdreistet hatte, mich in diesen Hinterhalt zu locken, ließen mich jede Fassung verlieren.

»Babaaaa! Hilf mir! BABAAAAAA!« Ich versuchte das Fenster runterfahren zu lassen.

»Hör auf zu schreien!« Nervös schaute Orhan in den Rückspiegel. »Zwing mich nicht, dir wehzutun!«

Aber ich schrie, was meine Lungen und meine Stimmbänder hergaben. »BABAAAA! Onkel Engiiiiinnn!«

Ich fühlte mich wie fünf! In meinem ganzen Leben hatte ich noch nicht so geschrien. Meine Füße trampelten auf den Boden, und ich warf den Kopf hin und her. Er umklammerte meine Hände mit seiner Rechten, das Auto schlingerte und kam der Leitplanke gefährlich nahe, die Tachonadel zeigte 180 Stundenkilometer an, und plötzlich ließ er los, holte aus und schlug mir mit aller Wucht ins Gesicht. Der Schmerz kam erst nach Sekunden, der Schock ließ mich weiß werden, und ich schmeckte Blut. Der brennende Schmerz breitete sich in mir aus wie ein Lauffeuer.

»Bitte lass mich gehen«, wimmerte ich, während mir das Blut aus der Nase quoll und auf meine helle Bluse tropfte.

»Je mehr du dich wehrst, umso mehr tut es weh.« Orhan nahm meinen Oberarm in einen eisenharten Klammergriff. »Also bleib ruhig, und ich verspreche dir, dass alles wieder gut wird.«

»Ich will zu meinem Babaaaa!«, wimmerte ich. Beim Anblick der Blutstropfen, die auf meiner weißen Bluse immer größere Flecken bildeten, begann ich wieder zu kreischen. »Was hast du gemacht! Du Schwein! Mein Baba wird dich töten, und deine Familie wird sich von dir lossagen!«

Ich sah, wie die schwarz behaarte Hand, die mir gerade beinahe den Kieferknochen gebrochen hatte, hektisch im Handschuhfach wühlte, und dachte erst, er würde mir ein Taschentuch reichen. Doch auf einmal war ein Revolver auf mich gerichtet. Mit blutunterlaufenen Augen und Schaum vor dem Mund schrie Orhan mich an: »Wenn du dich noch einmal rührst, knalle ich dich ab. Das ist mein voller Ernst.«

Mit diesen Worten zog er mir den Kolben über die Schulter. Der nächste Schmerz schoss mir in den Körper, und ich wurde ohnmächtig.

Als ich wieder zu mir kam, schaute ich in eine triste Wohngegend in einer unbekannten Straße.

»Los, aussteigen.«

Orhan bohrte mir den Revolver in den Oberarm. »Ein einziger Mucks, und du bist tot.«

Vor mir stand ein altes graues Mietshaus. Überquellende Mülltonnen, leere Flaschen und Stapel Altpapier moderten auf dem Bürgersteig vor sich hin.

»Wo sind wir?«

»Bochum. – Los jetzt. Keine falsche Bewegung.«

Orhan zwang mich aus dem Auto und folgte mir mit seinem Revolver, den er mir in den Rücken bohrte. Ich stolperte über einen Hundehaufen. Er stieß nach kurzem Klingeln die Haustür auf und drängte mich durch ein muffiges Treppenhaus in den dritten Stock. Meine Wange brannte nach wie vor, und mein Gaumen war ausgetrocknet. Mein linkes Auge war so zugeschwollen, dass ich fast nichts sehen konnte. Mein Schädel dröhnte, und Sterne tanzten vor meinen Augen. Mein Magen wollte sich umdrehen vor Angst.

Oben öffnete sich links die Wohnungstür, und eine alte Frau ließ uns wortlos herein.

Vielleicht war das Orhans Großmutter, er beachtete sie nicht. Sichtlich geschlaucht von seiner heldenhaften Aktion schob er mich durch den schmalen Flur ins hintere Zimmer und warf sich auf das Sofa.

Orhans Mama sprang auf und kam mir freundlich lächelnd entgegen. Das war tatsächlich Neslihan! Sie hatte damals bei meinem Baba im Hinterzimmer an der Nähmaschine gesessen, Gott, war die alt geworden! Ihre Haare waren grau und strähnig, ihr Küchenkittel fleckig. Dennoch, sie war es! Eine Riesenlast fiel mir vom Herzen. Orhans Mutter nahm meine kalten Hände und musterte unwillig mein Gesicht: »Orhan! Musste das sein?!«

Am liebsten wäre ich ihr um den Hals gefallen!

»Endlich!«, stieß ich erleichtert hervor. »Oh, Neslihan, du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich freue, dich zu sehen! Dein Sohn ist gerade ziemlich durchgedreht.«

Na, der würde jetzt Ärger bekommen! Aber das war deren Familienangelegenheit.

Mit einem Seitenblick stellte ich fest, dass auch Orhans Vater Muhamet, der ehemalige Schneidermeister meines Babas, mit unbeteiligter Miene auf dem Sofa saß. Ein alter Mann war auch noch da, das musste Orhans Großvater sein. Sie würden sich ihren Heißsporn schon vorknöpfen. Bestimmt würden sie ihn ordentlich verdreschen, und ich gönnte es ihm von Herzen. So ein Idiot!

Neslihan klopfte mir beruhigend auf den Arm.

»Selma. Wie hübsch du geworden bist. Das sieht man sogar in deinem jetzigen Zustand.« Sie schüttelte den Kopf. »Na ja, Selma. Jetzt bist du in Sicherheit.«

Ich wollte weinen vor Erleichterung, und gleichzeitig meldete sich mein verletzter Stolz. Ich war wer! Die Tochter ihres früheren Chefs! Ich kratzte meinen letzten Rest Coolness zusammen.

»Leute!«, stöhnte ich und rieb mir die geschwollene Wange.

»Das war echt kein Meisterstück von eurem Sohn!« Ich rang mir ein tapferes Lächeln ab, was das Dröhnen in meinem Kopf nur noch verstärkte. »Keine Ahnung, was das werden sollte mit seinem getunten BMW, ich bin wirklich zu Tode erschrocken auf diesem Höllentrip. Aber jetzt seid ihr ja da. Gott sei Dank!«

Die Mutter reichte mir ein Glas Wasser, das ich mit aufgesprungenen Lippen gierig austrank. »Ich dachte schon, meine letzte Stunde hätte geschlagen«, versuchte ich gute Miene zum bösen Spiel zu machen. »Mein Vater wird toben vor Wut. Das wird ein Nachspiel haben.«

Die Alten konnten ja nichts für das, was ihr testosterongesteuerter Sohnemann da angestellt hatte.

»Am besten ihr fahrt mich sofort zurück.« Ich stellte das leere Wasserglas auf den Tisch, wo leere Mokkatassen und Sonnenblumenkerne davon zeugten, dass man hier schon länger gewartet hatte. Nachdem keiner von ihnen auf meinen Vorschlag reagierte, fügte ich hinzu: »Na gut, ich erzähle auch niemandem etwas davon.« Dankbar nahm ich die Serviette, die Neslihan mir hinhielt, und tupfte mir damit Mundwinkel und Nase ab. »Ich würde nur gern schnell mal bei euch auf die Toilette gehen, und dann können wir. Ich denke mir schon was aus, was ich meinem Baba erzähle.«

Als ich wieder aus dem engen alten Bad kam, hatten sie sich beraten.

»Meine Liebe«, beschwichtigte mich die gute alte Neslihan in einem ganz merkwürdigen Ton. »Alles ist gut. Mach dir keine Sorgen.«

Sie kam mir sehr fremd vor. Alle Güte und alles Verständnis waren aus ihrem Gesicht verschwunden, als sie kalt hinzufügte: »Bei uns wirst du dich wohlfühlen.«

Ich fuhr herum und starrte hilflos auf die drei Männer, die mit versteinerten Mienen auf dem Sofa saßen. Dann sagte ich: »Jetzt sagt ihr doch auch mal was!«

»Orhan liebt dich, und so ist das Leben nun mal.« Die Mutter sah mich ausdruckslos an. »Manchmal muss man sein Glück erzwingen.«

Augenblicklich wurde mir übel. Sie stand hinter ihm? Sie fand das richtig? Die ganze Familie – ich blickte in die unbewegten Gesichter – stand hinter ihm? Orhan hatte mit ihrem Wissen gehandelt? Sie wussten Bescheid? Die Entführung war von allen geplant gewesen? Sie hatten ihm sogar das Aufreißerauto dafür zur Verfügung gestellt?

Kalter Schweiß lief mir den Rücken hinunter.

»Das kann doch nicht wahr sein!« Ich hielt meinen Ringfinger hoch. »Ich bin verlobt, meine Mutter bereitet schon mit meinem Verlobten und meinen Brüdern die Hochzeit in der Türkei vor. Ich stehe kurz vor dem Abitur, ihr könnt das nicht machen!«

»Doch, das können wir.« Das war das Erste, was der Vater auf seinem Sofa von sich gab.

Rauchend starrte er auf seine grauen Pantoffeln. Der Opa nickte wortlos. Die meinten das tatsächlich ernst!

Ein panischer Schluchzer entrang sich meiner Brust, instinktiv taumelte ich rückwärts gegen den einzigen Sessel, und die Mutter gab mir einen Schubs, sodass ich kraftlos hineinfiel. Sie tätschelte mir die Schulter. »Du bist bei uns in Sicherheit, und keiner wird dir etwas tun, du musst dich nur fügen.«

Ich verstand überhaupt nichts mehr! Ich musste mich fügen? Wie so viele türkische Mädchen in der Vergangenheit? Lieber Gott, lass mich aus diesem Albtraum aufwachen, flehte ich innerlich. Das Ganze passiert mir doch nicht wirklich! Tränenblind starrte ich auf diese Leute, von denen ich drei nur flüchtig vom Sehen kannte.

Der Vater rührte in seiner Mokkatasse, Opa und Oma knackten Kerne und spuckten Schalen auf den Teppich, Orhan starrte mich nach wie vor mit blutunterlaufenen Augen an, und die Mutter hörte nicht auf, beschwichtigend auf mich einzureden.

»Du wirst dich an uns gewöhnen, Kind. Wir sind anständige, nette Menschen. Orhan liebt dich, und er will dich unbedingt haben. Wir stehen natürlich hinter unserem einzigen Sohn.«

Ich verstand überhaupt nichts mehr. Nein! Falscher Film! Verwechslung!, schrie alles in mir. Orhan und ich gehörten nicht zusammen! Ich mochte ihn nicht einmal. Ich verachtete und hasste ihn. Er hatte mich brutal geschlagen. Das war doch nicht akzeptabel!

Ich schluchzte und schüttelte den Kopf. »Bitte, bitte, Neslihan, versetz dich doch einmal in die Lage meiner Mutter! Ich kann doch nicht einen anderen heiraten, den ich gar nicht liebe! Sie hat doch schon ihr Einverständnis gegeben, dass ich Ismet heirate!« Es schüttelte mich bei dem Gedanken daran, wie meine beiden liebsten Menschen gerade ahnungslos und voller Vorfreude meine Traumhochzeit vorbereiteten! Vor meinem inneren Auge sah ich die Segeljacht auf dem blauen Meer kleiner und kleiner werden, bis sie am Horizont verschwand. Ismet!

»Bitte, bitte«, flehte ich und rang die Hände wie zum Gebet. »Lasst mich gehen! Ich sage niemandem, was passiert ist, ehrlich. Meinetwegen bin ich im Laden hingefallen, und mir ist schlecht geworden, Orhan hat mich gerettet und mich zu euch gefahren, weil er nicht wusste, was er machen sollte! Dann steht er als Held da und ihr auch, und mein Vater wird euch vielleicht wieder einstellen.« Ich glaubte selbst nicht, was ich da redete.

Die Mutter schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Ismets Familie dich jetzt noch will?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte tadelnd den Kopf. »Glaub mir, mein Mädchen, die halbe Stadt hat gesehen, wie du zu meinem Sohn ins Auto gestiegen bist. Und zwar freiwillig. Somit ist dein Ruf für immer ruiniert.«

»Nein, das ist nicht wahr. Er hat mich in eine Falle gelockt!« Verzweifelt zerrte ich an ihrem Arm.

Sie lachte höhnisch. »Selbst wenn wir dich wieder nach Hause fahren würden: Kein Mensch würde dir abnehmen, dass du noch rein und Jungfrau bist!«

O Gott, das war die größte Katastrophe, die einem türkischen behüteten Mädchen widerfahren konnte! Ich war ruiniert. Ich hatte leichtfertig genau das weggeworfen, was der Lebensinhalt türkischer Mädchen ist: der gute Ruf! Die Jungfräulichkeit! Die Familienehre! Ich hatte sie beschmutzt und in den Dreck gezogen! Es war nicht wiedergutzumachen!

Dabei hatte ich doch gar nichts getan und war auch nicht schwanger wie meine Schwester!

Mein Leben lang hatte ich mich bemüht, den Ansprüchen meiner Familie gerecht zu werden, und die offizielle Verlobung mit Ismet war für uns alle eine Erlösung gewesen! Nur noch ein Jahr trennten mich von der Hochzeit in Weiß mit meinem Traummann. Nach meinem Abitur sollte ich für immer seine Frau sein. Ich schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. Ich schämte mich ganz fürchterlich für die Schande, die ich über meine Eltern und Ismets Familie gebracht hatte, indem ich zu Orhan ins Auto gestiegen war. Wie hatte ich mein Liebesglück nur so leichtfertig zerstören können?

Die Mutter redete auf mich ein: »Füge dich deinem Schicksal. Das haben schon viele Frauen vor dir getan, schau mich an: Auch meine Heirat wurde von anderen verfügt, und ich bin trotzdem glücklich geworden!«

So sah die allerdings nicht aus. Im Gegenteil!

Die Alten brabbelten Zustimmung, und der Vater verkündete: »So gehört sich das und nicht anders! Wo kommen wir denn da hin!«

»Ich liebe Orhan aber nicht!«, brüllte ich verzweifelt. »Er hat mich hinters Licht geführt, er hat mich entführt und geschlagen. Ich will nicht bei euch leben, eher bringe ich mich um!«

»Liebe kann wachsen«, antwortete die Mutter stoisch. »Junge Mädchen wissen einfach noch nicht, was gut für sie ist.«

»Doch, das weiß ich! Ismet ist gut für mich! Wir lieben uns und wollen heiraten!«

»Jetzt nicht mehr!« Der Ton der Mutter wurde deutlich schärfer. »Dein Ismet fasst dich mit der Kneifzange nicht mehr an, nachdem du in Orhans Auto und in unserer Wohnung warst. Was bildest du dir eigentlich ein? Das ist ein ehrbarer Junge, der gibt sich nicht mit leichtfertigen Mädchen ab!«

Ich warf mich dem Vater zu Füßen und flehte ihn an: »Hilf mir! Du bist doch ein Freund meines Vaters gewesen! Du hast doch gehört, dass er Nein gesagt hat! Wie kannst du gegen seinen Willen handeln!«

Doch der schüttelte nur den Kopf. »Es ist Allahs Wille, Tochter. Und deines Vaters Wille inzwischen auch. Du gehörst jetzt zu uns.«

»Nein, bitte! Nein, nein!« Was redete er denn da?!

Verzweifelt schreiend brach ich über seinen Pantoffeln zusammen. Ich hätte ihm die Füße geküsst, wenn er mir nur einen Funken Hoffnung gegeben hätte! Ich schrie und schluchzte und winselte und bettelte. Vor meinen Augen tanzten Blitze, und ich rang verzweifelt nach Luft. Das war eine Panikattacke, die mich fast um den Verstand brachte. Damals ahnte ich noch nicht, wie viele noch folgen sollten!

»Junge, tu was!« Neslihan schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Die stirbt uns ja.«

»So, das reicht jetzt.« Orhan sprang auf und packte mich an den Haaren. Seine Eltern und Großeltern fassten mit an, und gemeinsam schleiften sie mich in das Zimmer, das vom Wohnzimmer ausging. Darin standen ein Doppelbett, ein Schrank und ein Stuhl. »Hier bleibst du, bis du dich beruhigt hast. Du kannst schreien, so viel du willst. Hier hört dich keiner.« Nach diesen Worten wurde die Tür von außen abgeschlossen.

Ich lag auf dem hässlichen Fußboden. Jede Faser meines Körpers schmerzte, mein Herz wollte zerspringen und mein Kopf zerplatzen. Ich konnte nicht begreifen, was da passiert war. Mein Gehirn weigerte sich, die Geschehnisse dieses Nachmittags zu verarbeiten. Ich fühlte mich wie ein gefangenes Tier und stellte mich tot.

Ich träume das nur!, redete ich mir ein. Das ist nicht wahr.

Nach stundenlangem Schluchzen versuchte ich mich zu beruhigen. Mühsam stand ich auf und setzte mich auf das durchgelegene Bett mit dem braunen Überwurf.

Das war das hässlichste Zimmer, das ich je gesehen hatte. Es fiel kaum Licht hinein. Die alte Tapete mit einem grünbraunen Blumenmuster blätterte ab, in den Ecken hingen Spinnweben, und auf der Nachttischlampe konnte man mit dem Finger in den Staub malen. Ich schrieb »Help!« und starrte lange auf den Schriftzug. Der wackelige Schrank stand offen, in der einen Hälfte türmten sich Klamotten der ganzen Familie, in der anderen lagen Tischdecken, Bettzeug und Handtücher. Aus dem kleinen schmuddeligen Fenster konnte man eine schmutzige Hausmauer sehen. Unten war ein kleiner Hof, in dem Mülltonnen, eine Teppichstange und ein ausrangiertes Moped neben mehreren Fahrrädern und anderem Gerümpel vor sich hin rosteten. Weit und breit keine Menschenseele, nichts als Ödnis, Leere und Verwahrlosung. Hierher war Orhans Familie also gezogen, nachdem mein Vater die Eltern entlassen hatte!

Mit wie vielen Personen hausten die denn hier in der winzigen Zweizimmerwohnung? Eltern, Großeltern, Orhan … und jetzt auch noch ich? Wieder kamen mir die Tränen. Ausgeschlossen! Nie und nimmer konnte ich bei dieser primitiven, kaltherzigen Familie leben, in dieser beengten Hässlichkeit!

Mit meinen Eltern und meinen fünf Geschwistern hatte ich in einem lichtdurchfluteten, geräumigen, dreistöckigen Haus mit Garten gelebt, bevor meine Mutter mit mir und meinen jüngeren Brüdern nach Hannover gezogen war. Auch nach der Trennung bewohnten wir eine moderne helle Dreizimmerwohnung mit Balkon, in der ich ein hübsches Mädchenzimmer hatte. Mein weiß lackiertes Himmelbett war mit einer rosa Tagesdecke verziert, auf den modernen weißen Schränken lagen meine Kuscheltiere, und an den Wänden klebten Poster von meinen Lieblingspopstars. Ich hatte eine Musikanlage, einen Schminktisch mit einem verschnörkelten Stuhl und einen Spiegel, an dem Postkarten, Zettel und kleine Andenken steckten. Zimmerpflanzen rankten sich über die Türe, und vor den Fenstern rauschten Kastanien, die im Herbst prächtig leuchteten und im Frühling weiße Kerzen trugen. Meine Mutter behandelte mich wie eine Prinzessin, nähte mir die hübschesten Kleider, ließ mich meine Mädchenträume leben, und abends kuschelten wir gemeinsam im gemütlichen Wohnzimmer vor dem Fernseher, wo sie mir oft zärtlich über den Rücken strich, wenn ich mit dem Kopf auf ihrem Schoß lag. Das andere Zimmer bewohnten meine jüngeren Zwillingsbrüder, ein später Versöhnungsversuch meiner Eltern, denn sie waren erst fünf Jahre alt. In so einem kuscheligen Nest hatte ich meiner Mutter auch im Vertrauen gebeichtet, dass ich Ismet schon lange liebte, denn sie hatte die sündhaft teuren Telefonrechnungen von Hannover nach Köln gefunden. Doch statt mich auszuschimpfen, hatte sie mich aufgefordert, ihn und seine Eltern doch zu einem Heiratsgespräch zu uns nach Hause einzuladen, damit alles seine Ordnung hatte.

So war das bei uns Sitte und Brauch: Die Eltern des jungen Mannes machten den Eltern der jungen Frau mit Geschenken eine Aufwartung, und bei gegenseitiger Sympathie und nach Klärung existenzieller Fragen wurde dann das Einverständnis gegeben. War eine junge Frau erst einmal mit dem jungen Mann verlobt, konnte sie sich mit ihm auch in der Öffentlichkeit sehen lassen und musste nicht um ihren guten Ruf fürchten, von dem die Ehre und das Ansehen der ganzen Familie abhing. Da mein Vater von meiner Mutter getrennt lebte, war mein älterer Bruder Cihan extra angereist, um an seiner Stelle das Einverständnis zu geben. Meine heile Mädchenwelt war ein rosaroter Himmel voller Geigen gewesen. Bis heute Mittag um zwei. Ich wollte mein altes Leben zurück!

Schluchzend zog ich die Beine an und hockte zusammengekauert auf diesem muffigen Bochumer Bett. Und jetzt? War meine Ehre ruiniert, meine Hochzeit mit Ismet hinfällig und mein Leben für immer verpfuscht. Ich wollte nur noch aus dem Fenster springen, aber der Griff war abgeschraubt. Erneut schüttelte mich ein Weinkrampf.

Meine Eltern würden entsetzlich enttäuscht von mir sein, die ganze Familie würde sich von mir abwenden. Eine neue Welle der Verzweiflung und Scham überflutete mich bei dem Gedanken, was Ismets ehrbare Familie jetzt von mir halten musste. Ich war die Schande der Stadt! Ein Flittchen! Indem ich leichtfertig und lachend zu Orhan ins Auto gestiegen war, hatte ich beide Familien brüskiert. Das war nicht wiedergutzumachen! Selbst wenn Ismet dafür Verständnis haben sollte, wenn ich je Gelegenheit bekäme, ihm alles zu erklären, müsste er sich von mir abwenden – schon allein um der Ehre seiner Familie willen.

Und meine Eltern? Die wollten so ein leichtfertiges Flittchen wie mich auch nicht zurück. Jetzt hatten sie schon zwei gefallene Mädchen in der Familie, die zu verstoßen waren!

Orhans Mutter hatte es mir deutlich gesagt: Niemand würde glauben, dass ich noch Jungfrau war, nachdem ich in diesem Zimmer übernachtet hatte!

Wieder gab ich mich meiner Verzweiflung hin, bis ich völlig leer geweint war. Längst war es draußen dunkel geworden. Hunger, Durst und der Drang, auf die Toilette zu müssen, malträtierten mich, doch ich wagte es nicht, an diese Tür zu klopfen, hinter der ich die anderen ganz normal plaudern und lachen hörte. Sie ignorierten mich einfach und warteten, bis mein Wille vollends gebrochen war.

Mit letzter Kraft kroch ich ans Fußende des Bettes und starrte aus dem Fenster, vor dem nun nur noch Schwärze zu sehen war. Kein einziger Stern stand am Himmel. Erschöpft lehnte ich meine heiße Stirn an die kühle Scheibe.

Was konnte ich nur tun? Gar nichts. Mädchen entschieden nichts selbst. In unserem Kulturkreis war es üblich, dass über die Zukunft der Tochter in ihrer Abwesenheit entschieden wurde. Eine junge Frau hatte sich zu fügen.

Über den eigenen Kopf hinweg konnten sich die Eltern mit den Bewerbereltern treffen, und wenn die Verhandlungen positiv verliefen, wurde man einfach der anderen Familie versprochen. Nie und nimmer wäre eine junge Frau auf die Idee gekommen, sich dieser Entscheidung zu widersetzen. Wenn die Frau den Mann nicht liebte oder – was oft der Fall war – gar nicht kannte, wurde von ihr verlangt, dass sie sich fügte und das Beste draus machte. Es wurde als Gottes Wille ausgelegt, und dagegen konnte ein Mädchen nichts unternehmen. Je fügsamer sie war, desto schneller gelang ihr die Integration in die fremde Familie, und mit etwas Glück gewann sie das Herz der Schwiegermutter.

Aber war es denn Gottes Wille, dass ich nun Orhans Familie ausgeliefert war? Das konnte ich einfach nicht glauben! Mein Vater hatte doch Nein gesagt! Nie und nimmer hätte er mich dieser ungebildeten Familie überlassen!

Wie Orhan erzählt hatte, hatte der Besuch bei meinem Vater ja schon vor zwei Jahren stattgefunden, aber Baba hatte Orhans Vater zum Teufel geschickt.

Ich kaute an meinem Daumennagel, während ich mir das Szenario lebhaft vorstellte. Natürlich war Orhan in seiner männlichen Ehre gekränkt, und sein Vater, den mein Vater daraufhin entlassen hatte, erst recht. Diese Schmach konnte die Familie nicht auf sich sitzen lassen. Zuerst war man in die Türkei gefahren, um sich mit der restlichen Großfamilie zu beraten. Dort war der Entschluss gefasst worden, mich einfach zu entführen. In manchen Regionen der Osttürkei war so etwas durchaus noch üblich.

Ich kannte diesen barbarischen Brauch nur aus türkischen Filmen, wo dem Ganzen etwas Romantisches anhaftete, denn die Braut, die ihrem Schicksal hilflos ergeben war, verliebte sich meist in den heldenhaften Entführer, und am Ende wurden beide glücklich. Später nannte man das »Stockholm-Syndrom«. Selbst meine Eltern waren wie schon erwähnt auf diese Weise ein Paar geworden: Nachdem der Vater meiner Mutter den damals neunzehnjährigen Anwärter zum Teufel geschickt hatte, hatte der meine gerade mal achtzehnjährige Mutter zu Pferd entführt, als die gerade Wasser vom Brunnen geholt hatte. Nachher, als es nichts mehr zu retten gab, hatten die Eltern der Heirat doch zugestimmt, um die Familienehre zu wahren. Doch meine Anne, türkisch für Mama, war schon vorher in meinen Baba verknallt gewesen! Sie wollte ihn, und die Entführung war die einzige Chance, ihren Willen durchzusetzen.

Nach diesen primitiven Spielregeln hatte Orhans Familie heute gehandelt – jedoch absolut gegen meinen Willen! Mein zäher Gerechtigkeitssinn führte dazu, dass ich mich wieder aufrichtete: Das war nicht recht, was sie da taten! Das war Freiheitsberaubung! Wir schrieben das Jahr 1979, und es gab deutsche Gesetze! Dass sie sich strafbar gemacht hatten, wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, aber ich spürte, dass es Unrecht war.

Mit letzter Kraft hämmerte ich gegen die Tür. »Bitte lasst mich raus! Ich habe Durst und muss auf die Toilette! Ich will mit euch reden, bitte!«

Doch außer mitleidigem Gelächter bekam ich keine Antwort. »Wir lassen sie schmoren, bis ihr Stolz gebrochen ist. Dann wird sie uns dankbar sein, dass wir sie in unsere Familie aufgenommen haben.«

Vor lauter Verzweiflung nahm ich einen Stapel Handtücher aus dem Schrank, legte ihn auf den Fußboden und ging in die Hocke, um mich darüber zu erleichtern.

3

Bochum, Sommer 1979

Ich hörte den Schlüssel im Schloss und rieb mir verstört die Augen. Hatte ich das alles geträumt? Verschreckt fuhr ich hoch. Orhan schob sich ins Zimmer und setzte sich zu mir auf die Bettkante. Als wäre nichts gewesen, strich er mir über den Kopf. »Guten Morgen, Selma. Ich habe deinem Vater versprochen, ihn anzurufen und Bescheid zu geben, dass es dir gut geht.«

Wie ein ängstliches Tier kroch ich zur Wand und trat mit den Füßen nach ihm. Er sollte mich nicht anfassen! Und was ich da gerade gehört hatte, verschlug mir die Sprache: Er hatte meinem Vater WAS versprochen? Steckten die beiden etwa unter einer Decke? War das Ganze ein abgekartetes Spiel? So was würde mein Baba mir doch nicht antun! Ich war sein Augenstern, sein ganzer Stolz, sein kleiner Liebling, sein »Spatzenhirn«, wie er mich immer noch liebevoll nannte, weil ich vor der Geburt der Zwillinge lange Zeit die Jüngste gewesen war.

Ein Spatzenhirn. Ja, das war ich. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Keulenschlag. Ich war auf Orhans Lügen reingefallen.

Mein Herz raste. Aber warum sollte Baba so etwas tun? War mein Vater etwa gekränkt in seiner Rolle als Familienoberhaupt und sauer auf meine Mutter, dass die ohne ihn die Einwilligung zu meiner Hochzeit mit Ismet gegeben hatte? Er war ja nicht dabei gewesen. Meine Mutter sprach seit dem Betrug und der Trennung kein Wort mehr mit ihm. Wie gesagt: Mein ältester Bruder Cihan war an seiner Stelle dabei gewesen, und er verachtete Baba für seine Weibergeschichten. War das etwa Vaters Rache an ihr? Weil er nicht gefragt worden war? Nicht eingeladen, als Ismets Eltern bei meiner Anne ihre Aufwartung machten?

Hatte er mir das wirklich angetan? Plötzlich sah ich Baba nervös aus dem Laden eilen, nachdem ich ihn auf den parkenden BMW aufmerksam gemacht hatte. »Schließ ab, wenn ich nicht bis zwei Uhr zurück bin. Die Abrechnung mach ich dann später.«

War das SEINE ABRECHNUNG? Hatte er mich Orhan etwa bewusst ausgeliefert?

Obwohl er vor zwei Jahren Nein gesagt hatte?

Dieser Verrat ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Nein. Nicht mein Baba! Bei all seinen charakterlichen Verfehlungen, aber das hatte er nicht auf meinem Rücken ausgetragen.

Orhan schüttelte mich.

»Hör zu, Selma. Wir rufen jetzt deinen Vater an, und du sagst ihm, dass es dir gut geht.«

Völlig schlaff und willenlos lehnte ich an der Wand wie eine Marionette.

»Reiß dich jetzt zusammen!« Orhan zerrte an mir wie an einer leblosen Lumpenpuppe und schüttelte mich, dass mein Kopf gegen die Wand knallte.

»Wenn du dich an meine Anweisungen hältst, wird dir nichts geschehen. Hast du verstanden?« Er schüttelte mich weiter. Ein Speichelfaden seilte sich aus meinem Mund ab und klebte sich an seine behaarte Hand. Widerwillig wischte er ihn mit dem Betttuchzipfel ab. »Lass den Scheiß, Selma! Sonst muss ich dich schlagen. Willst du das?« Seine Stimme wurde gefährlich laut und schrill. Die nackte Wut stand ihm im Gesicht.

Er holte schon aus, um mir zu zeigen, wozu er fähig war.

Meine Augenlider flatterten. »Nein«, krächzte ich in Todesangst und hielt reflexartig die Hände vors Gesicht.

»Na also. Geht doch.« Dann sagte er ganz dicht an meinem Ohr: »Du wirst deinem Vater Folgendes berichten: ›Hallo, Baba, mir geht es gut. Ich bin in Bochum bei Orhan und seiner Familie, und alle sind nett zu mir. Ich will viel lieber Orhan heiraten als Ismet, habe mich aber vorher nie getraut, euch das zu sagen. Bitte verzeih mir.‹ – Hast du das kapiert?«

Ich verdrehte die Augen und sank in mich zusammen, woraufhin Orhan mir zwei gesalzene Ohrfeigen verpasste. Augenblicklich röteten sich meine Wangen wieder, und in meinen Ohren rauschte das Blut.

»Du kannst es auf die harte Tour haben oder auf die nette. Das bestimmst du ganz allein.«

Um Atem ringend starrte ich ihn an. Meine linke Wange war noch von gestern geschwollen, und jetzt kehrte der Schmerz mit aller Macht zurück.

Orhan zerrte einen Schreibblock aus dem Nachttisch, knallte einen Kugelschreiber darauf und schrie: »Schreib! Hallo Baba, mir geht es gut!«

Als ich nicht reagierte, zerrte er so fest an meinem Arm, dass er ihn mir fast auskugelte.

»Ich mach’s ja!« Zitternd schrieb ich, was er mir lautstark diktierte. Seine Familie konnte das im Nebenzimmer alles mit anhören, aber niemand kam mir zu Hilfe. Meine Schrift war dermaßen krakelig, dass ich sie selbst kaum noch lesen konnte.

»So. Und jetzt sagst du das in den Hörer. Aber ohne zu heulen, ist das klar?«

Mit der Rechten riss er mich an den Haaren hoch, mit der Linken hielt er mir die Handtücher, auf die ich mich gestern Nacht erleichtert hatte, vors Gesicht. »Nur für den Fall, dass dir die Tränen kommen!«

Ein beißender Gestank drang mir in die Nase, und ich musste mich abwenden, um nicht zu würgen.

Er hatte bereits gewählt und presste mir den Hörer ans Ohr. Als mein Vater sich meldete, wollte ich laut schreien: »Baba! Hol mich hier raus!« Doch Orhan verstärkte seinen Druck, ich sah seine geballte Faust vor meinem Gesicht und las von dem Zettel ab: »Hallo Baba, mir geht es gut …«

Gefühllos sagte ich mein Sprüchlein auf.

»Macht euch keine Sorgen um mich. Ich habe mich nicht getraut, es euch zu sagen, aber ich habe mich für Orhan entschieden, und wir werden heiraten. Bitte verzeih mir.«

Kaum hatte ich matt meinen Text heruntergeleiert, schrie mein Vater mich an: »Wo ist er? Gib ihn mir, sofort!«

Stumm reichte ich den Hörer weiter. Tränenblind starrte ich Orhan an, der mit roten Ohren und wummernder Halsschlagader dem aufgebrachten Geschrei meines Vaters lauschte. Hatte ich mich doch geirrt? Stand Baba doch auf meiner Seite? Er konnte mein Lügengestammel doch unmöglich glauben? Er musste doch hören, dass etwas mit mir nicht in Ordnung war!

»Ist ja schon gut, Herr Tuclu, bitte regen Sie sich nicht auf. Natürlich werde ich ihr nichts tun.« Orhan schüttelte vehement den Kopf. »Was denken Sie denn von mir, Herr Tuclu! Ich bin ein Ehrenmann! Ich rühre sie nicht an, bis wir verheiratet sind, das schwöre ich. Sobald sich alles beruhigt hat, werden wir die Hochzeitsvorbereitungen treffen. Ja, natürlich. Meine Eltern sind hier und passen auf, dass ihr kein Haar gekrümmt wird. – Machen Sie sich keine Sorgen. Ja, sie ist freiwillig hier. Wir lieben uns und sind froh, dass Sie es nun endlich wissen.«

Mit stoischer Ruhe legte er auf. In seinen Augen stand ein grausames Leuchten.

»Ich werde dich leider töten müssen, wenn du jemals versuchst, deinem Baba oder sonst irgendwem aus deiner Familie etwas anderes mitzuteilen als das, was du gerade gesagt und von mir gehört hast.«

Ich schluckte. Die heftige Reaktion meines Vaters ließ mich wieder an das Gute glauben. Er war genauso verwirrt und geschockt, wie ich gehofft hatte! Er wusste von nichts!