Die Frösche meiner besten Freundin - Lilian Hintermeyer - E-Book

Die Frösche meiner besten Freundin E-Book

Lilian Hintermeyer

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Beschreibung

Manche Menschen behaupten, es gäbe so etwas wie Seelenverwandtschaft und obwohl ich ein rational denkender Mann bin, muss ich dieser Aussage zustimmen. Warum? Nun, ich habe meine Seelenverwandte schon sehr früh getroffen. Im Sandkasten. Damals dachte ich, sie würde ebenfalls so empfinden. Doch dem war leider nicht so. Also begnügte ich mich damit, ihr bester, ihr allerbester Freund zu sein. Der Mensch, der ihr den Kopf immer wieder zurechtrückte, wenn sie mal wieder in einen Fettnapf latschte. Meine beste Freundin heißt Phili. Sie ist chaotisch, impulsiv und echt nervtötend. Eine verwirrte Prinzessin der Gegenwart, die auf der Suche nach dem Glück, sehr zu meinem Leidwesen, unzählige widerwärtige Kröten küsste, immer auf der Suche nach ihrem Prinzen auf dem weißen Pferd. Dabei bin ich doch da. Ich, der Mann, der sie liebt. Mein Name ist Laurin van Boon und meine beste Freundin ist gleichzeitig meine erste große Liebe. Meine einzige Liebe. Ein schicksalhaftes Los, das ich dennoch klaglos hinnehme. Dennoch stelle ich mir seit Jahren immer wieder die Frage: Könnte man Freundschaft und Liebe nicht doch irgendwie unter einen Hut bringen? Ich habe echt mein Bestes gegeben. Doch reicht dies, um IHR Froschkönig zu werden?

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Für vergangene, bestehende und zukünftige Freundschaften.

Dies ist eine Geschichte über Freunde. Beste Freunde.

Vielleicht sogar mehr als Freunde.

Jeder hat sie. Naja, vielleicht nicht jeder…aber viele von uns. Die meisten, schätze ich mal.

Und wir sind froh, dass wir sie haben.

Eigentlich sollte jeder zumindest Einen haben!

Es wurden schon viele Geschichten über Freunde erzählt.

Und auch viele über BESTE Freunde.

Doch das wirft für mich die Frage auf…

WAS SIND EIGENTLICH BESTE FREUNDE?

Was macht sie aus?

Was tun sie?

Was macht sie so besonders?

Warum sind sie so, wie sie sind?

Im Grunde genommen, sind es Menschen wie du und ich.

Menschen, die leider viel zu oft, in der grauen Masse des Alltags einfach so untergehen. Für die einen sind sie selbstverständlich, für die anderen nichts.

Doch für einen selber, sind sie oft der Rettungsanker, der uns bei einem stürmischen Seegang Halt gibt.

Viele Freundschaften überdauern Jahre…Jahrzehnte.

Einige ein Leben lang…so Gott will. Manche dauern nur ein paar Monate, was sie aber nicht schlechter macht, als die, die Jahre halten.

Deswegen sind sie nicht weniger wertvoll.

Nicht die Quantität macht es aus, sondern die Qualität!

Beste Freunde sind Menschen, die meist unverhofft in dein Leben schneien. Vielleicht erkennt man sie auf Anhieb nicht als beste Freunde…bis sie sich eines Tages selbst enttarnen und für dich da sind.

Sie reden mit dir, trösten dich bei Bedarf, kochen Kaffee, wenn das Wehklagen etwas länger dauert, helfen beim Umzug, wenn die ‚netten‘ Bekannten in letzter Sekunde mit einer fadenscheinigen Ausrede absagen und sie organisieren Überraschungspartys, wenn du meinst, die ganze Welt hätte deinen Geburtstag vergessen.

Vielleicht haben sie auch unglaublich geschickte Hände und reparieren dir deine Rostlaube, weil sie wissen, dass an diesem altersschwachen Vehikel dein Herz hängt.

Sie Lachen mit dir, aber sie Weinen auch mit dir. Und ihre Anwesenheit ist meistens nur einen Telefonanruf entfernt.

Ein bester Freund besitzt die Gabe, zu erkennen ob es dir gut geht oder du am Boden zerstört bist, auch wenn du keinen einzigen Ton von dir gibst.

Sie gehen mit dir durch Dick und Dünn. Selbst wenn du mit einer rosaroten Verliebtheitsbrille auf der Nase, mit 180 Sachen frontal auf ein Beziehungs-Desaster zurast und die Katastrophe unausweichlich ist, dann sind sie da und stellen sich als emotionalen Airbag zu deiner Verfügung, um den harten Aufprall einer gecrashten Liebe abzufedern.

Ein bester Freund wird niemals versuchen, dich zu verbiegen, damit du angenehmer in sein eigenes Leben passt. Er wird auch nie kneifen, wenn es darum geht, dir einmal die Leviten zu lesen.

Dein bester Freund wird dich lieben, so wie du bist.

Das sind beste Freunde.

Doch stell dir einmal vor, du hast einen besten Freund, aber er will irgendwann nicht mehr dein bester Freund sein! Was geschieht dann?

*

Kennen Sie eigentlich Edward Lorenz?

Nein?

Nun ja, er war ein amerikanischer Theoretiker.

Ein ziemlich berühmter Theoretiker sogar.

Dieser Mann war ein amerikanischer Theoretiker. Ein ziemlich berühmter Theoretiker sogar. Er war DER Chaos-Theoretiker, der die Sache mit dem Flügelschlag eines Schmetterlings in die Welt gesetzt hat. Als er seine, zugegebenermaßen haarsträubend klingende Theorie im Jahre 1963 der Welt präsentierte, hielten alle diesen Mann für völlig bekloppt.

Oder wenigstens für leicht durchgeknallt. Möglicherweise mochte der Mann aber auch einfach keine Schmetterlinge und hat die armen Tierchen deswegen für seine These missbraucht. Wer weiß das schon.

Edward Lorenz hatte damals entdeckt, dass ein Schmetterling, der irgendwo in China, möglicherweise war es Shanghai, wenn der Schmetterling also dort mit seinen bunten Flügelchen wackelt, könnte das arme kleine Tier damit, rein theoretisch einen gewaltigen Wirbelsturm in New York auslösen. Ziemlich abgefahren, oder nicht?

Leider hatte dieser Chaos-Theoretiker ziemlich viel mit mir gemeinsam. Allerdings nicht der Theoretiker selbst, sondern eher das Chaos.

In meinen Augen war diese Schmetterlings-Geschichte nur total abgefahren, wenn man nicht gerade Opfer einer dieser Chaos-Theorien wurde.

Und Schwupps…alle Wege führten nach Rom oder besser gesagt, alle Thesen führten zu Phili!

Diesen obligatorischen, ach so unschuldigen Flügelschlag konnte man gut und gerne auch in das normale Leben übertragen. In diesem Fall in mein Leben. Doch bei mir handelte es sich nicht um einen popeligen Schmetterling, der mal kurz seine Flügelchen wippen ließ.

Nein, bei mir handelte es sich eben um meine beste Freundin Phili. Und bei mir handelte es sich auch nicht nur um EINEN Wirbelsturm, sondern um einen 26, nein, fast 27 Jahre andauernden Wirbelsturm.

Phili…dieses kleine egoistische Miststück.

Entschuldigung. Das klang bestimmt ziemlich hart, zumal ich ihr bester Freund gewesen bin und sie eigentlich nicht so betiteln sollte. Man beachte: Die Betonung lag eindeutig auf ‚gewesen bin‘. Also durfte ich dieses Frauenzimmer getrost Miststück nennen.

Was dieser Chaos-Theoretiker nun mit Phili zu tun hatte?

Nun, Phili war MEIN rabiater Schmetterling.

Phili, oder wie ich sie früher manchmal genannt hatte, Rapunzel, stampfte nun seit einer gefühlten Ewigkeit in glitzernden High Heels durch die Welt und walzte rigoros alles platt, was ihren sagenhaften Stilettos nicht ausweichen konnte. Vorwiegend Männerherzen.

Obwohl da bestimmt auch das ein oder andere Frauenherz darunter sein könnte. So genau wusste ich das auch nicht.

Mit ihrem blonden Haar (manchmal ein Hauch rosè) und nur schrumpfigen 162 Zentimeter entsprach sie eigentlich nicht dem Ideal einer herkömmlichen Traumfrau, dass jeder Mann tief in seiner Hypophyse genetisch beherbergte, dennoch rissen sich all die Jeans, Jaques, Carlos, oder wie sie alle hießen, freiwillig ihre schmelzenden Herzen aus der Brust und warfen es ihr zu Füssen. So wie man Perle vor die Säue warf.

Phili spießte diese liebestrunkenen Herzen dann triumphierend grinsend mit ihren spitzen Hacken auf, grillte sie und verspeiste sie zum Nachtisch.

Oder wahlweise auch zum Frühstück.

Das war nicht nett, doch das war Phili.

Sie klimperte mit ihren großen unschuldigen Puppenaugen und erwartete, dass die Welt sich plötzlich in die entgegengesetzte Richtung drehte. Tat sie dies nicht, füllten sich diese kullerhaften Puppenaugen mit Christbaumkugeln großen Krokodilstränen und durchweichten jeden gestählten Männerkern, bis er nur noch Wackelpudding in ihren Händen war. Leider fand Phili Wackelpudding ziemlich doof und der arme Kerl wanderte ohne Umwege auf ihre geistige Müllkippe.

Nach so vielen Jahren müssten sich die Kerle dort eigentlich gegenseitig auf den Füssen herumtrampeln.

Vielleicht sollte man einmal Green Peace benachrichtigen?

Gehörten solche abservierten Softies nicht eher auf den Sondermüll? War ich gerade zu hart in meinem Urteil?

Egal… Nun hockte ich wie ein gottverdammter begossener Pudel auf dieser dämlichen Bank, mitten auf diesem dämlichen Bahnhof, wo ich dennoch irgendwie hoffte, dieses Miststück aufzugabeln. Dabei blies ich rabenschwarzen Trübsal in die Morgenluft.

Phili besaß eigentlich den wunderschönen Namen Philomena. Er war Griechisch und bedeutete: Die die der Liebe treu bleibt. HAH…

Da hatten ihre Eltern wohl auf einer sarkastischen Ader geschlafen, als sie ihrem entzückenden Satansbraten diesen klangvollen Namen verpasst hatten.

Allerdings würgte der Nachname so einiges an Erhabenheit in diesem Namen ab. Phili hieß mit vollem Namen: Philomena Müller. Aber alle nannten sie Phili. Das passte irgendwie auch besser zu diesem kleinen Wildfang.

Früher, in der Kindergarten- und Grundschulzeit hatte Phili lange goldblonde Locken gehabt. Bis über den Po.

Daher auch der der geheime, mein geheimer Spitzname Rapunzel. Ich war auch der Einzige der sie so nennen durfte. Jedem anderen, der sie so nannte, knuffte sie äußerst schmerzhaft und ohne mit der geschwungenen Wimper zu zucken, auf das Nasenbein.

So lange, bis es blutete.

Ich dachte lange Zeit, dass es eine sagenhafte Bedeutung haben musste, weil sie mir NIE auf die Nase boxte, doch da hatte ich mich gewaltig getäuscht. Allerdings hatte es lange, unendlich lange 26, nein, fast 27 Jahre gedauert bis ich dies endlich erkannt hatte.

Meine Funktion in Philis Leben war von jeher die, einer emotionalen Mülltonne. Oder wahlweise auch der eines Mechanikers, einer Bank, eines Schreiners, eines Klempners, einer Jobvermittlung, einer Ausrede und so weiter. Die Liste meines Aufgabengebietes in Philis Leben war ellenlang.

Doch am heutigen Tag hatte dies ein Ende. Die kleine Phili überspannte den Bogen nun einmal zu viel. Deswegen saß ich auch hier am Bahnhof in St. Wendel und grübelte dunkle, böse Gewitterwolken. Es war der 13. April 2017 um genau 10 Uhr 32. Plötzlich lachte ich hart, denn mir fiel auf, dass es nicht nur ein einfacher 13. April war, nein, wir hatten Freitag, den 13.!

Ein kalendarischer Pechtag, der nun der Beginn meines neuen Lebens darstellte.

Ein Leben ohne Phili!

Und trotzdem saß ich hier auf der Bank, starrte auf die verwaisten, rostigen Gleise, kochte vor Wut über meine Naivität und wartete. Auf was? Keine Ahnung.

Ich wusste nur, der Drang aufzustehen und wegzulaufen wurde immer mächtiger.

Ich wollte einfach nur weg. Weg von Phili, an deren Schuhspitze nun wiederholt auch mein Herz sein blutiges Ende gefunden hatte.

Das hatte ich nicht verdient. Ehrlich nicht.

Ich war und bin ein rechtschaffener Mensch, der wusste wie man das Wort Verantwortung schrieb.

Ich besaß einen Beruf, der mich mit Freude erfüllte, ich war und bin überdurchschnittlich intelligent und die Baupläne meines Traumhauses lagen auch schon in meiner Schublade. Zweistöckig, mit großem Garten und einem alten, knorrig gewachsenen Baum darin, wo ich die Schaukel für meine Kinder daran aufhängen konnte.

Ich war und bin ein wirklich netter Mensch.

Und trotzdem schlitterte ich immer wieder in diese Falle.

In die Phili-Falle.

Das machte mich gerade so richtig wütend.

Unglaublich wütend.

So wütend, dass ich Phili am liebsten schütteln wollte, bis ihre chaotisch herumschwirrenden Gehirnzellen wieder an den richtigen, den vernünftigen Platz rutschten.

Genau deswegen saß ich hier auf dieser dämlichen Bank, auf diesem dämlichen Bahnhof.

Allerdings müsste ich ihr dann wieder gegenübertreten.

Doch dieses Opfer würde ich nur zu gerne bringen.

Aber ich weiß nicht einmal wo sie ist.

Also…, wenn ich ehrlich zu mir selbst war, so richtig ehrlich, dann würde ich dieses Opfer doch lieber nicht bringen wollen. Jetzt nicht mehr.

Wir waren um 9 Uhr in der Hotellobby verabredet gewesen, doch sie war nicht erschienen, sondern hatte sich einfach in Luft aufgelöst. Wiedermal.

Das machte mich nicht nur wütend, sondern auch irgendwie traurig, denn mir wurde auf einmal klar, dass dieser, von mir beschlossene, schwerwiegende Freundschafts-Bruch von nun an ein schwarzes Loch in meinem Leben hinterlassen würde.

Ein Phili-Loch.

Es ist ein großes Loch, von dem ich noch nicht wusste mit was ich es stopfen sollte.

Innerlich kochend erhob ich mich und stampfte zurück zum Auto, wobei ich krampfhaft versuchte an etwas anderes außer Phili zu denken.

Zum Beispiel dreckige Wäsche…die Spritpreise…der nächste Friseurbesuch…warum Bienen beim Fliegen summen…wie groß die Möglichkeit war, dass ein Blitz zweimal an der gleichen Stelle einschlägt oder wann der Penner auf der anderen Straßenseite das letzte Mal ordentlich hatte duschen können… Mit versteinerter Miene und zerfleddertem, blutendem Herz, stieg ich ins Auto und fuhr nach Hause.

*

Wer ICH bin? Verzeihung!

Offensichtlich vergaß ich in meiner angekratzten Männerehre mich vorzustellen.

Mein Name ist Laurin. Laurin van Boon und nein, ich bin kein Holländer. Sondern stolzer Hermeskeiler.

Meine Geburtsstadt und auch die von Phili. Wir beide haben nämlich am selben Tag Geburtstag und wenn man es genau nimmt, sind wir schon seit der Wiege befreundet.

Also schon unser ganzes 27-jähriges Leben.

Doch vielleicht beginne ich mal ganz am Anfang.

Naja, nicht ganz am Anfang. An die Geburt und die Sabberphase kann ich mich natürlich nicht mehr erinnern.

Will ich auch nicht. Beginnen wir doch einfach mit der ersten Erinnerung, die mein überfülltes Gedächtnis mit der sagenumwobenen und chaotischen Philomena verknüpft…

Inhaltsverzeichnis

1993

1996

1997

1999

2000

2001

2002

2004

2006

2008

2009

23. Mai 2015

23.04.2018

1993

„Nun geh schon Laurin. Die Kinder werden dich schon nicht beißen. Und schau mal…da hinten im Sandkasten ist die kleine Philomena. Geh und spiel mit ihr. Ich setze mich zu Philomenas Mutter auf die Bank. Wenn du Durst oder Hunger hast, dann komm zu mir. Na, hopp…nicht so schüchtern.“

Eine große Hand legte sich auf meine schmalen Schulterblätter und schob mich rigoros ein Stück nach vorn, Richtung lärmender, spielender Kinder. Trotzig stemmte ich die Hacken in den weichen Sand unter meinen Füßen. Ich hörte den lauten Seufzer meiner Mutter. Er klang irgendwie müde und genervt. Trotzdem hatte ich keine Lust in diesem doofen Sandkasten zu spielen. Lieber wollte ich auf Mamas warmen Schoß sitzen, die hellen Sonnenstrahlen auf dem Boden betrachten und die mächtigen Bäume um mich herum bewundern.

Ich schaute hilfesuchend zu ihr auf. Da ich meinen Wunsch, mangels verbalen Wortschatzes, noch nicht richtig artikulieren konnte, begann ich einfach zu weinen.

Kein richtiges Heulen. Nur ein paar aufsteigende Tränen, die meine Augäpfel etwas unter Wasser setzten, damit Mama begriff, dass ich nicht zu den anderen Kindern wollte. Das laute Kreischen, die laufenden Rotznasen und der Geruch nach Pipi, der an einigen Kindern zu kleben schien, behagte mir überhaupt nicht.

Und ich wollte auch nicht, dass ein anderes Kind seinen Popel an meiner Jacke abwischte.

Das geschah nämlich manchmal. Hatte ich selbst schon beobachtet. Selbst mit meinen nicht ganz drei Jahren fand ich grünen, schleimigen Popel so eklig, dass ich würgen musste, wenn ich einen sah.

Und hier auf dem Spielplatz waren viele Nasen, in denen eklige, glibbrige Popel lauerten.

Doch meine Mama blieb standhaft. Sie packte mich einfach an der Hand und zog mich in Richtung des Sandkastens, wo einige Kinder gerade dabei waren, sich Sandkuchen in den Mund zu stopfen.

DAS fand ich mindestens genauso eklig wie Popel.

Obwohl ich mich mit Händen und Füßen wehrte, wurde ich einfach in den braunen Sand gepflanzt. Dann drückte mir Mama eine blaue Plastik-Schippe in die Hand, leerte den Beutel mit den Förmchen vor mir aus und stopfte mir einen Lutscher in den weinerlich verzogenen Mund.

Abermals schaute ich bettelnd zu ihr auf, doch an ihrer Miene erkannte ich, dass sie sich nicht erweichen lassen würde. Heute nicht.

„Spiel doch wenigsten so lange im Sand, bis der Lolli leer ist. Machst du das?“

Ich kniff meine Augen zusammen und überlegte tatsächlich ob ich das süßliche, pappige Ding in meinem Mund einfach auf der Stelle zerbeißen sollte, entschied mich aber dagegen, als ich den weichen, bittenden Blick meiner Mutter sah. Ihr schien viel daran zu liegen, dass ich im Sand spielen sollte. Warum? Das wusste ich nicht.

Trotzdem begann ich widerwillig an dem Lolli herumzulutschen und rammte meine blaue Schaufel lustlos in den Sand neben mir. Mama seufzte erneut. Doch diesmal klang es irgendwie erleichtert. Sie richtete sich auf, drehte sich um und ging zu einer Bank, wo schon eine andere junge Mutter saß. Sie begrüßten sich lachend und waren auch sofort in ein Gespräch vertieft, dem ich von meinem Platz jedoch nicht lauschen konnte.

Nun saß ich hier und sollte sinnlose Löcher buddeln, die andere Kinder wieder zuschütten würden.

Toll. Nein, eben NICHT toll… Am Lolli nuckelnd schob ich gelangweilt die Förmchen zu einem Haufen und begann sie mit Sand zu überschütten.

Vielleicht würden sie ja dabei irgendwie verlorengehen?

Eine Schaufel nach der anderen landete auf den bunten Förmchen, die ich so hasste. Doch kurz darauf stellte ich fest, dass ich immens viel Sand benötigen würde.

Das dauerte mir entschieden zu lange. Also grub ich mit meiner Schaufel ein Loch, stopfte zwei Förmchen hinein und bedeckte sie mit Sand. Weg waren sie. Zufrieden nuckelte ich weiter an der süßen Masse in meinem Mund und begann das nächste Loch zu graben.

Dann erhaschte ich plötzlich aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Misstrauisch schielte ich mit erhobener Schaufel hoch, bereit, einen möglichen Popel-Angriff abzuwehren. Doch es war nur das kleine blonde Mädchen, dass bei uns in der Nachbarschaft wohnte. Ich kannte sie von diversen Spaziergängen, wenn unsere Mütter uns im Buggy nebeneinander herschoben. Doch bis Dato hatte ich sie ignoriert. Nicht weil sie ein Mädchen war, nein, dieser Unterschied war mir trotz meiner jungen Jahre schon bewusst, sie interessierte mich einfach nur nicht wirklich.

Ob nun Mädchen oder Junge? Egal!

Ich mochte Kinder im Allgemeinen nicht. Sie alle hatten schmierbereite Popel in der Nase. Doch bei Philomena machte ich mir keine Sorgen über Popel.

Es waren ihre Augen. Große, blaue Augen, umrahmt von langen, wirklich langen Wimpern, mit denen sie immer so komisch wackelte. Es waren Puppenaugen und ich hatte Angst vor Puppen. In meinen kindlichen Gedanken waren dies gruselige Geschöpfe, die dich den ganzen Tag über beobachteten, dabei unschuldig mit den Augen klackerten, eine starre Grinse-Miene, die so unnatürlich wie der Sandkuchen hier im Sandkasten war und die sich nachts in Monster verwandelten. Monster, die nur darauf lauerten, mir die Haare vom Kopf zu fressen, wenn ich schlief.

Diesen Spruch hatte ich von Papa. Er sagte das immer, wenn wir am Tisch zusammen aßen und mir Mamas Pfannkuchen besonders gut schmeckten.

Aber ich wollte nicht, dass mir eine dieser Monsterpuppen die Haare vom Kopf fraß. Ich mochte meine Haare.

Sie waren schwarz und lang. So lang, dass der Wind sich in ihnen verfing und mit ihnen spielte. DAS fand ich lustig.

Es fühlte sich toll an.

Aus diesem Grund wollte ich um jeden Preis meine Haare behalten. Und aus diesem Grund mochte ich keine Puppen. Und aus diesem Grund hatte ich auch ein klein wenig Angst vor Philomena, denn sie hatte ja Puppenaugen. Das besagte Mädchen mit den Puppenaugen näherte sich und ließ sich mir gegenüber einfach in den Sand plumpsen. Ihr kleiner roter Puppenmund verzog sich zu einem Grinsen. Sie wies auf die bescheuerten, bunten Förmchen, „Helfen?“

Völlig überrumpelt von diesem netten Angebot, nickte ich automatisch. Philomena entriss mir sofort die Schaufel und wies nun in einer herrischen Geste auf den weißen Stiel, der aus meinem Mund ragte, „Will lutschen!“

Keine Bitte, ein Befehl!

Ihre gierigen Puppenaugen, mit denen sie mich anstierte, schüchterten mich dermaßen ein, dass ich bereitwillig den Mund aufklappte und zuließ, dass Philomena sich nun auch den süßen Lolli unter den Nagel riss. Speichel lief an meinem Kinn herunter. Klebriger, zuckriger Speichel.

Ich wusste nicht, was mich am meisten schockierte. Der Sabber in meinem Gesicht? Der Verlust der Schaufel?

Die Tatsache, dass ich in einem schmutzigen Sandkasten saß, eingepfercht mit einem angsteinflößenden Puppenmädchen oder die Erkenntnis, dass ich nun nicht wusste, wie lange ich in diesem Sandkasten hocken musste, da meine Zeitangabe sich nun in einem fremden Puppenmund befand.

All das war in diesem Moment einfach zu viel für mich.

Erste Tränchen sammelten sich in meinem Augenwinkel, bereit sich an meiner kindlichen Wange herabzustürzen.

Philomena nuckelte ungerührt an dem Lolli und taxierte mein Gesicht. Dann fuhr sie ihren knubbeligen Zeigefinger aus und stach mir damit in den Augenwinkel. Instinktiv presste ich die Augenlider zu, was dazu führte, dass die versammelten Tränen nun gewaltsam herausgequetscht wurden und einen verfrühten Abgang hatten.

„Oh!“

Dieses kleine, leise gehauchte ‚Oh‘ ließ mich überrascht die Augen wieder öffnen. Philomena betrachtete sich gerade einen Wassertropfen auf ihrer rosigen Fingerkuppe.

Bei diesem Wassertropfen handelte es sich eindeutig um eine meiner Tränen.

So langsam wurde ich sauer. Nicht nur dass dieses Puppenmädchen sich meine Schaufel gekrallt hatte, dann auch noch meinen Lolli, nein, nun entriss sie mir auch noch meine Tränen.

War ihr den Garnichts heilig?

Ihre runden, blauen Puppenaugen schauten mit einem Mal zu mir auf und völlig perplex erkannte ich darin ebenfalls Tränen. Meine Wut verpuffte mit einem Schlag, genau wie meine Angst vor Philomena. Verdutzt streckte ich nun ebenfalls einen Finger aus und tupfte sachte in ihrem Augenwinkel herum.

Dann zog ich den Finger wieder zurück und betrachtet erstaunt den kleinen Wassertropfen auf MEINER Fingerkuppe. In diesem Moment näherte sich Philomenas Zeigefinger vorsichtig. Ganz sachte drückte sie ihre Fingerkuppe gegen meine und die beiden Tränen verschmolzen zu einem riesigen Tropfen, der sofort an unseren Zeigefingern herablief.

Fasziniert beobachtete ich seinen Verlauf, bis er im Ärmel meiner Jacke verschwand. Dann blickte ich wieder auf, direkt hinein in dieses Gesicht mit den großen Kulleraugen. Mit einem leisen ‚Plop‘ zog Philomena den Lolli zwischen ihren Lippen heraus und stopfte ihn zurück in meinen verdutzten Mund. Dann grinste sie mich breit an, beugte sich vor und umarmte mich mit ihren kurzen Stummelärmchen.

Dies war DER Moment, als unsere Freundschaft begann.

Besiegelt mit jeweils einer Träne.

Oder war es doch der Moment gewesen, als wir die letzten Förmchen in diesem dämlichen Sandkasten verscharrt hatten und meine Mutter später die Hälfte nicht mehr fand? Nein, ich denke, es waren die beiden Tränen gewesen, die unser weiteres Schicksal miteinander verwoben hatten.

Ganz sicher waren es diese beiden Tränen gewesen.

Zwar hatte ich meine Angst vor Puppen noch immer nicht abgelegt, aber die Angst vor Philomenas Puppenaugen war komplett verschwunden. Eigentlich sah es doch ganz niedlich aus, wenn sie mit ihren langen Wimpern klimperte. Wenn ich meine Wange ganz nah an ihr Gesicht brachte, kitzelten sie sogar und es fühlte sich so ganz und garnicht gruselig an. Außerdem futterte Philomena keine Haare. Sie liebte Wassereis und das in rauen Mengen.

DAS beruhigte mich damals ungemein.

Die Tatsache, dass wir in der Nachbarschaft wohnten, begünstigte unsere heranwachsende Freundschaft natürlich und da unsere Mütter sich wohl auch mochten, verbrachten wir viel Zeit miteinander. Wir teilten alles, sogar die Badewanne. Und hier stellte Phili auch fest, dass ich ein anderes Wesen war als sie. Ich war ein Junge.

Möglicherweise war ICH ja daran schuld, dass ihr Interesse am männlichen Geschlechtsteil im Nachhinein so ausgeprägt war? Auf jeden Fall hatte sie der Anblick meines kleinen Piepmatzes beeindruckt, so dass es auf jeden Fall der Erste war, den sie in ihrer Hand gehalten hatte. Und obwohl sie das mickrige Würstchen doch ziemlich fest eingequetscht hatte, weinte ich nicht.

Im Gegenzug musste ich gestehen, dass ich doch ziemlich argwöhnisch ihre kahle Stelle zwischen den speckigen Beinchen beäugelte. Natürlich unauffällig, denn in meinen Augen stellte das Fehlen eines Piepmatzes definitiv ein Manko dar. Ein Manko, dass ich meiner kleinen Freundin nicht unter die Nase reiben wollte.

Vielleicht war Phili ja krank?

Wie machte sie ohne Piepmatz eigentlich Pipi?

Diese Frage würde sich für mich erst im Kindergarten beantworten, als ich mich, völlig verängstigt von der dortigen Puppenschar, aufs Mädchenklo verirrte und hier von einer älteren Kindergarten-Bekanntschaft aufgeklärt wurde. Leider war mir der Name, dieses äußerst freizügigen Mädchens entfallen, doch ich wusste noch, dass sie rote Zöpfe hatte. So wie Pippi Langstrumpf.

Ich konnte mich deshalb noch so gut an die rothaarige Pippi erinnern, weil Phili sie grob an den Ratten-Zöpfchen gezogen hatte, als sie einmal mitbekam, wie diese Pippi mir eine leicht gebräunte Apfelschnitze aus ihrer Brotdose angeboten hatte. Phili war sehr eingenommen.

Vor allem von meiner Person. Niemand durfte sich mir nähern, wenn sie mit mir spielte und sie spielte oft mit mir.

Gottlob zwang sie mich nie zu furchtbaren Puppenspielen.

Sie wusste, dass ich Puppen nicht mochte. Allerdings wusste sie NICHT, dass ich Angst vor ihnen hatte. Diese Information behielt ich tunlichst für mich.

Ein gesundes Maß an Misstrauen war bereits in meinen kindlichen Augen äußerst vernünftig. Es begleitete mich bis weit in das Erwachsenenleben und bewahrte mich vor so mancher Enttäuschung. Allerdings muss ich gestehen, dass nicht nur Phili sehr vereinnahmend gewesen war.

Ich war es auch. Wir verschmolzen praktisch miteinander und bereits nach kurzer Zeit hatten wir unseren Spitznamen im Kindergarten weg. Alle Erzieherinnen nannten uns nur noch ‚die Siamesischen Zwillinge‘.

Wo immer Phili hinging, ich war stets dabei und umgekehrt war es genauso.

Wir rutschten zusammen.

Wir schaukelten zusammen.

Wir malten zusammen.

Wir aßen zusammen und wir ruhten zusammen.

ICH kämmte IHRE Haare, sie meine.

ICH putzte IHRE Nase, sie meine.

ICH pflückte Gänseblümchen, Phili knotete sie zu einem Armband, dass sie MIR dann schenkte.

Meinen Geburtstags-Schokokuss reichte ich bereitwillig an Phili weiter. Ich zog IHRE Socken an, sie meine.

Wenn Phili weinte, weinte ich auch.

Und wenn Phili lachte, ging mir das Herz in der Brust auf.

So putzig und herzig diese ungewöhnlich intensive Nähe auch gewesen war, sie hatte nicht nur gute Seiten gehabt.

Nach jener zurückliegenden Tränen-Brüderschaft betrachtete ich Phili als eine Art Eigentum von mir.

Genau wie mein Bagger, meinen Stoffaffe Umpf und all die Bauklötze, die sich in meinem Kinderzimmer wie Konfetti verstreuten. Wenn ich mitbekam, dass jemand über Phili lachte oder sie ärgerte, sprang ich sofort in die Presche und warf todesmutig meinen noch ziemlich schmächtigen Körper zwischen die beiden Streithähne.

Jeder Erwachsene, unsere Mütter miteingeschlossen, fanden dieses kindliche Klammern ja sooo süß.

Es war an einem Tag im Mai, an dem ich einen weitgreifenden Entschluss publik machen wollte.

Wir feierten im Garten unseren Geburtstag nach.

Wir feierten IMMER zusammen, da wir ja auch am gleichen Tag auf die Welt gekommen waren.

Am 23.04.1990.

Und heute, an meiner, nein unserer 5. Geburtstagsfeier schien mir der beste Zeitpunkt um meine Familie und auch Philis Familie in meine zukünftigen Lebenspläne einzuweihen. Ich trat also mutig einen Schritt nach vorne, hämmerte mit einem Löffel auf mein Saftglas ein und wartete mit feierlicher Miene bis alle Anwesenden mir ihre Aufmerksamkeit schenkten. Dann zog ich Phili, die ebenfalls noch nichts von meinen Plänen wusste, neben mich und verkündete meine frohe Botschaft, „Ich werde Phili heiraten und wir werden drei Kinder kriegen!“

Erst starrten sich die Erwachsenen völlig verblüfft an.

Phili bekam ganz rote Wangen und hauchte mir doch tatsächlich einen keuschen Kuss auf die Wange. Mein Vater kickste plötzlich und als ob dies ein geheimer Startschuss gewesen wäre, prusteten plötzlich alle Erwachsenen los. Sie lachten und lachten, bis ihnen die Tränen die Wange herunterliefen. Ich dachte, es wären Freudentränen. Das dachte ich damals wirklich.

Erst als Phili wutentbrannt losschnaubte und wie ein Miniaturpanzer auf meinen Vater losging, ihn mit voller Wucht gegen das Schienbein trat, begriff ich, dass sie sich über mich lustig machten. Was für eine Schmach!

Ich stand kurz davor in Tränen auszubrechen. Philis Puppenaugen blitzten böse in Richtung der Kuchentafel.

Dann zog sie mich hinter den am weitesten entfernten Rosenbusch, nahm meine Hände und versicherte mir, „Die sind ja alle so blöd. Von denen laden wir keinen auf unsere Hochzeit ein. Ist das klar, Laurin?“

Ich nickte gerührt und schluckte eilig die aufsteigenden Tränen herunter. Phili wollte mich auch heiraten. Mehr musste ich nicht wissen. Ich war in diesem Augenblick der glücklichste kleine Junge im ganzen Universum.

Es war allerdings auch ein Verhalten, dass Phili schnell prägte, wie es sich am Abschlussfest unserer Kindergartenzeit zeigte. Damals hätte ich vielleicht noch die Möglichkeit gehabt, die Reißleine zu ziehen und Phili in ihre Schranken zu weisen. Doch ich hatte diesen sich entwickelnden Charakterzug erst bemerkt, als es bereits zu spät war. Allerdings wusste ich das zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Möglicherweise wäre es mir aber auch egal gewesen. Auf jeden Fall war die erste ERNSTE Eskalation damit vorprogrammiert.

In unserer Mäusegruppe selbst, hatten wir keinen Rabauken. Aber in der Gruppe gegenüber war EIN Junge, Felix, den ich am liebsten auf den Mond geschossen hätte, weil er sich ziemlich oft mit Phili anlegte.

So auch an jenem Tag.

1996

„Ich will aber nicht den doofen Chinesenhut anziehen.

Und den Tanz will ich auch nicht machen. Das sieht doch voll bescheuert aus!“

Mit bockiger Miene verschränkte Phili die Arme vor der Brust und blitzte ihre Kindergärtnerin, die Helene, böse an.

Die versuchte natürlich zu beschwichtigen, „Aber Schätzchen. Wir haben den Chinesentanz doch extra für das Abschlussfest eingeübt. ALLE die den Kindergarten verlassen, führen etwas auf. Und dir hat der Tanz doch auch gefallen.“

„Ich will aber nicht den doofen Hut anziehen.“

„Aber warum denn nicht?“ Hilfesuchend schaute Helene sich nach einem Rettungsanker um. Dabei fiel ihr Blick in die Bastelecke, wo ICH gerade meinen Chinesenhut mit Papierschnipsel und Kleber aufpolierte, wobei die Hälfte des Klebers an meinen Händen pappte.

Helenes stiller Hilferuf prallte unbemerkt an mir ab.

Also half Helene lautstark nach, „LAURIN? LAAAURIIIN!

KOMMST DU MAL BITTE?“

Etwas verärgert, da man mich so rüde aus meiner gebündelten Konzentration gerissen hatte, stapfte ich zu der Kindergärtnerin rüber und wurde auch sofort als Vorführmodell missbraucht. Helene packte mich an den Schultern und platzierte mich genau vor Phili, „Sieh mal!

Laurin zieht auch seinen Chinesenhut auf. ER findet ihn Super!“

Wahrscheinlich hoffte Helene, dass MEIN leuchtendes Beispiel Phili nachziehen würde. Tat es aber nicht.

Stattdessen warf sie ihren selbstgebastelten Hut auf den Boden und trat wild darauf herum.

Ich war etwas erstaunt, denn ihr Hut war einer der Schönsten in unserer Gruppe gewesen. Als er völlig plattgetrampelt sein Papierleben auf dem Fußboden ausgehaucht hatte, kickte Phili ihn unter den Tisch und funkelte MICH böse an, als ob ich etwas dafürkönnte.

Ähm…wofür überhaupt?

Wie zur Entschuldigung zuckte ich kaum merklich mit den Schultern und versuchte einen stummen Dialog mit meiner besten Freundin in Gang zu setzten. Meine Augen saugten sich hypnotisch an Philis Augen fest.

Sie erwiderte den Blick.

Für Außenstehende sah dies vielleicht aus, als ob sich einfach nur zwei Kinder feindselig anstarrten, doch dem war nicht so. Ganz im Gegenteil.

Jetzt ging es erst richtig los.

[Laurin] Warum hast du deinen Hut kaputt gemacht. ICH habe dir noch beim zusammenkleben geholfen. Er war doch schön.

[Phili] Es war ja garnicht der Hut. Der war wirklich schön. Und danke, dass du mir geholfen hast. DEIN Hut sieht aber auch toll aus.

Philis Blick wanderte an mir vorbei, rüber zum Basteltisch.

Ich schaute nicht rüber, denn ich war noch immer von der ungebetenen Unterbrechung verstimmt. Dementsprechend hartnäckig stierte ich sie weiter an.

[Laurin] Lenk jetzt nicht ab. Jetzt sag schon. Warum bist du auf einmal gegen Hut und Tanz? Gestern warst du noch Feuer und Flamme gewesen.

Phili schaute unter sich und scharrte mit den Füssen.

Es war eine verlegene Geste. Ich schnaufte genervt und stampfte kaum merklich mit meinem rechten Fuß auf, was Philis Blick wieder hob. Helene betrachtete sich etwas ratlos dieses Blickduell und hatte überhaupt keine Ahnung was hier vor sich ging.

[Phili] Die Dumpfbacke aus der anderen Gruppe hat gesagt, ich sehe aus wie ein Clown.

Ganz kurz flitzen ihre Augen zur Tür rüber. Meine Stirn runzelte sich fragend und ich neigte leicht den Kopf nach links.

[Laurin] Wen meinst du? Etwa den blöden Felix?

Phili nickte zaghaft und auch nur für mich erkennbar. Ich war ratlos. Was sollte ich denn jetzt machen? Der Felix war halt doof. Das konnte man nicht ändern.

Phili löste die verschränkten Arme, ballte ihre Hände zu Fäusten und rammte sie in die Taschen ihrer Latzhose.

Ihr Kinn schob sich angriffslustig nach vorn.

Mit zusammengekniffenen Augen taxierte sie mich.

[Phili] Ich will, dass du ihm auf die Nase haust. Ganz fest.

Damit er mit dem Lachen aufhört.

Erschrocken riss ich die Augen auf. Helene straffte bei meinem alarmierten Anblick augenblicklich die Schultern.

[Laurin] Ich soll ihn schlagen? Bist du irre?

Phili holte ihre Hände wieder aus den Hosentaschen und kreuzte sie demonstrativ vor ihrer Brust.

[Phili] Du bist doch mein bester Freund, oder nicht? Außerdem bist du ein Junge. Wenn Jungen sich prügeln ist das normal!

Philis Kopf nickte unmerklich und ein zaghaftes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

[Phili] Bitte, Laurin! Bitte, bitte, bitte… Ich seufzte leise. Dabei sackten meine Schultern verzagt nach unten.

[Laurin] Na gut. Aber das mache ich nur für dich!

Philis Gesicht erhellte sich mit einem Schlag. Es war, als ob die Sonne aufgehen würde.

[Phili] Danke, Laurin. Du bist der Beste!

Ich erwiderte dieses breite Grinsen jedoch nur mit einem schiefen Lächeln.

So ganz wohl fühlte ich mich ja nicht in meiner Haut. Mit hängendem Kopf trottete ich zurück zum Basteltisch.

Helenes erstaunter Blick wanderte von meiner Wenigkeit zu Phili und dann wieder zurück in die Bastelecke zu mir.

Fragend wand sie sich der kleinen Phili zu, die nun fröhlich vor sich hin pfiff und nach ihrem Hut unter dem Tisch grabschte, um ihn notdürftig wieder in Form zu drücken. Die Kindergärtnerin beugte sich neugierig vor, „Und? Philomena?“

Phili zuckte einfach nur mit den Schultern, „Ist gut. Ich mache mit!“

Dann hopste sie auf einem Bein zu mir rüber und ließ sich von mir helfen, ihren eigenen Hut wieder zu richten.

Helene erhob sich mit einem großen Fragezeichen im Gesicht. Dieser stumme Dialog war ein unlösbares Rätsel für sie. Doch was immer Laurin getan hatte, es wirkte. Und das war die Hauptsache. Guter Laurin!

Ich seufzte erneut und warf der netten Kindergärtnerin, die nun einen äußerst zufriedenen Gesichtsausdruck zur Schau trug, einen traurigen Blick zu. Wenn DIE wüsste.

Ich wartete eigentlich nur, bis ihre Aufmerksamkeit auf einem anderen Kind lag oder sie in den Nebenraum ging um Bastelnachschub herbei zuschleifen. Dieser Zeitpunkt kam meiner Meinung nach viel zu früh.

Keine fünf Minuten später verschwand sie bereits in der Kammer und kramte in den großen Holzboxen herum.

Sofort wurde ich unsanft geknufft. Philis glitzernde Augen wanderten zur Tür, während sie leise zischte, „Jetzt, Laurin. Mach schon!“

Was sollte ich tun? Phili war meine beste Freundin und ich hatte es ihr irgendwie versprochen. Und was man versprach, dass musste man auch einhalten. Das sagte mein Papa immer.

Meistens nagelte er mich dabei auf mein lasches Versprechen fest, mein Zimmer gaaanz bestimmt vor dem Zubettgehen aufzuräumen.

Dies war auch irgendwie eine Aufräumaktion.

Ich räumte Felix auf. Für Phili.

Mit klopfendem Herzen schlich ich an der offenen Kammer vorbei, drückte lautlos die Klinke nach unten, warf noch einen bittenden Blick zu meiner besten Freundin, der jedoch ignoriert wurde und schlüpfte dann hinaus in den leeren Flur.

Direkt gegenüber meiner Mäusegruppe befand sich die Elefantengruppe. Leicht zu erkennen an dem riesigen, lachenden Elefanten, der auf der Tür klebte. An unserer Tür pappte eine braune Maus, die sich gerade ein Stück Käse in den Mund schob.

Doch MICH interessierte nur die Frage, wie ich ungesehen in die Elefantengruppe gelangen konnte, um diesem Großmaul von Felix mal die Leviten zu lesen.

Das Schicksal meinte es wohl gut mit mir (oder auch nicht), denn genau in diesem Augenblick öffnete sich die Elefantentür und ein kleiner Junge rannte in Richtung Klo.

Dabei verlor er sogar einen Schlappen, den er aber liegenließ. Offensichtlich musste er ziemlich dringend Pipi.

Mein Blick wanderte zurück zur Elefantentür und ich grinste. Natürlich hatte er NICHT die Tür hinter sich zugemacht. Sie stand einen Spalt offen und lud mich ein, in mein Verderben zu laufen. Denn Felix war nicht nur ein einfacher Rabauke, nein, Felix war ein großer, kräftiger Rabauke, der mich in Null Komma nix zu einer Brezel verbiegen konnte.

Hier half also nur ein Überraschungsangriff. Ich musste sozusagen aus dem Nichts auftauchen, ihn kloppen und sofort wieder abtauchen.

Bestenfalls, ohne dass er mich erkannte.

Trotzdem hatte ich Angst. Angst erwischt zu werden.

Angst erkannt zu werden und Angst vor den Folgen meiner Tat. Das Grinsen fiel mir aus dem Gesicht. Meine Hände zitterten und mein Herz raste. Jetzt oder nie!

Wie ein flinkes Eichhörnchen huschte ich über den breiten Flur, linste vorsichtig in die Elefantengruppe und sondierte hektisch blinzelnd die Lage. Die Kindergärtnerin saß an einem Tisch. Vor ihr lagen Akten. Ich wusste, dass es die Akten DER Kinder waren, die nach den Ferien in die Schule gehen würden. Genau wie ich.

Wenn sie also in den Akten vertieft war, hatte sie keinen Rundumblick. Zumindest für eine kleine Weile. Mein Zeitfenster war also extrem winzig. In Sekundenschnelle glitten meine Augen über die spielenden und bastelnden Kinder. Felix, mit seinem krausen Haar fiel sofort auf, was aber möglicherweise auch an seiner Lautstärke lag, mit der er einen rotweißen Kipplader über den Boden schob.

„Rrrrrrrrrrrrrr…Rrrrrrrrrrrrrr…Rrrrrrrrr!“

Ich schluckte hastig und glitt wie ein Schatten in die Gruppe hinein. NOCH hatte mich niemand bemerkt.

Also schlich ich weiter in die Höhle des Löwen und näherte mich DEM Jungen, der meine beste Freundin immer piesackte. Da er mit dem Rücken zu mir saß und sich weit nach vorne gebeugt hatte, konnte ich das gestreifte Gummiband seines Schlüpfers sehen, dass etwas nach unten gerutscht war und mir damit auch ein Stück seiner weißlich schimmernden Poritze offenbarte.

Maurer-Dekolleté nannte mein Vater sowas.

Kein wirklich appetitlicher Anblick.

Deshalb betrachtete ich mir lieber den leicht gebuckelten Rücken und schluckte erneut.

Dann stand ich hinter ihm.

Ich wusste nicht genau was mich verraten hatte. War es mein laut pochendes Herz? Oder mein Schatten? Oder war es die geballte Aura der Angst, die mich wie klebrige, aufgebauschte Zuckerwatte zu umgeben schien?

Vielleicht war Felix aber auch einfach nur fertig mit seinem Spiel. Was es auch gewesen war, er drehte sich auf jeden Fall um und erlöste mich somit zumindest von dem unschönen Anblick seines halb entblößten Hinterns.

Seinen dämlichen Gesichtsausdruck, als er MICH, ein Kind aus einer anderen Gruppe, hinter ihm stehen sah, werde ich nie vergessen. Ich genoss diesen kurzen, wirklich sehr kurzen Moment. Ehe mich der Mut verließ, ballte ich meine rechte Hand zur Faust und hämmerte sie Felix mitten auf die dämliche Nase.

Es klatschte nicht so laut wie ich befürchtet hatte.

„LAURIN!“

Ertappt zuckte ich unter diesem lauten Ruf zusammen.

Im gleichen Moment begann Felix wie eine Sirene zu heulen und hielt sich mit beiden Händen DAS Körperteil, dass soeben Opfer meiner hinterhältigen Attacke geworden war.

Im nächsten Moment wurde ich auch schon am Arm gepackt, ziemlich unsanft herumgedreht und glotzte nun mit weit aufgerissenen Augen in das böse Antlitz der Kindergärtnerin. Was hatte ich getan?

„LAURIN! KANNST DU MIR MAL VERRATEN, WAS DAS SOLL? WAS MACHST DU ÜBERHAUPT IN DIESER GRUPPE? WO IST HELENE?“

„MEINE NASE BLUTET! HILFE! AUA…DAS TUT WEH!“

„LAURIN! BLEIB HIER STEHEN UND RÜHR DICH NUR JA NICHT VOM FLECK!“

Felix wurde unter den Achseln gepackt und zum kleinen Hand-Waschbecken geschleift.

Dort jammerte er weiter, wie ein Baby, während seine Kindergärtnerin einen Waschlappen mit kaltem Wasser tränkte, dass sie ihm in den Nacken legte. Dann riss sie einige Papiertücher aus dem Behälter an der Wand, die eigentlich zum Fingerabtrocknen gedacht waren, nun aber unter Felix Nase untergebracht wurden, wo sie sich langsam aber sicher mit hellrotem Blut vollsaugten. Felix jammerte noch immer. Dabei warf er mir einen Blick zu, den ich zunächst nicht zuordnen konnte.

Doch dann dämmerte es mir.

Es war Angst die ich in seinen Augen lesen konnte.

Einfache, nackte und ungeschnörkelte Angst.

Der große, blöde Felix hatte Angst vor mir. Einem kleinen schmächtigen Jungen, der noch immer die Hände zu Fäusten geballt hatte und ihn angriffslustig anstarrte.

[Laurin] So, dass hast du nun davon, du doofer Blödmann. Lass bloß Phili in Ruhe, sonst boxe ich dich nochmal! Verstanden?

Ich wusste nicht ob meine stumme Botschaft ankam, denn Felix glotzte mich einfach weiterhin an, wie ein dummes Schaf. Vielleicht war ihm DIESE Art der Kommunikation ja nicht vertraut? Ja, so musste es sein. So ein blöder Kopf konnte ja nur ein Spatzenhirn beherbergen.

Bei dieser gedanklichen Feststellung schnaufte ich abwertend, während die anderen Kinder ihre jeweilige Tätigkeit unterbrochen hatten und mich nun ehrfürchtig, fragend und teilweise auch grinsend betrachteten.

Einige schienen sich also wirklich zu freuen, dass Felix, das Großmaul, mal eine ordentliche Abreibung bekommen hatte.

Während Felix also notdürftig am Waschbecken verarztet wurde, stand ich still und stumm und harrte der Dinge, die nun geschehen mussten.

In diesem Augenblick stürmte Helene, MEINE Kindergärtnerin herein. Ihr auf dem Fuß folgend, Phili, die die Lage sofort mit einem Blick erfasste und ein paar andere Kinder, die keinen blassen Schimmer hatten, was hier gerade passiert war.

Nur ich sah, wie Phili heimlich den Daumen in Hüfthöhe nach oben hob und mir einen stolzen Blick schenkte. Dann wurden sie alle jedoch hinausgescheucht.

Wie eine Herde unwilliger Gänseküken.

„Ab, zurück in die Gruppe Kinder. Hier gibt es nichts zu sehen. Los! Hopp!“

Helene erfasste die Lage nicht ganz so schnell wie Phili.

Mit einem fragenden Blick auf den blutenden Felix, kam sie auf mich zugeeilt, ging in die Hocke und packte mich nun ebenfalls an den Schultern. Ihr fragender Blick suchte nun den meinen, „Laurin? Was ist los? Was machst du hier?“

Allerdings wartete sie meine Antwort nicht ab. Stattdessen musterte sie erneut den weinenden Felix, schaute dann etwas ratlos zurück auf meine noch immer geballten Fäuste und dann in mein verkniffenes Gesicht, „Laurin, warst du das? Hast DU Felix geschlagen?“

Ich nickte standhaft.

Was sollte ich auch sonst tun. Es gab eine Menge Zeugen, die gesehen hatte, wie ich Felix geboxt hatte. Klatsch!

Mitten auf die dämliche Schweinsnase!

Dieser Vergleich ließ mich grinsen. Allerdings war es wohl der falsche Zeitpunkt um zu grinsen, denn Helene richtete sich auf, stemmte die Hände in die Hüften und schaute extrem verärgert auf mich hinunter, „Das ist nicht zum Lachen, Laurin. Felix blutet und du bist schuld daran. Ich möchte, dass du dich auf der Stelle bei ihm entschuldigst. Verstanden?“

Mein Grinsen verrutschte und wurde durch einen leicht entsetzten Blick ersetzt, den Helene mit Genugtuung zur Kenntnis nahm. Ihr Zeigefinger richtete sich auf den blöden Felix, „Und zwar sofort.“

Unter den Blicken aller anderen Kinder musste ich doch tatsächlich zum Waschbecken trotten und in die verheulten Felixaugen glotzen. Doch irgendwie sträubte sich mein innerer Schweinehund, diesem Vollpfosten entschuldigend die Hand zu reichen. Erst ein sanfter Knuff in meinen Rücken, brachte meinen störrischen Arm dazu, sich auszustrecken.

„Entschuldigung.“

Mein Blick saugte sich an seinen rotverquollenen Augen fest. Ein Blick der sagte: Garnix tut mir leid. Wenn du Phili nochmal ärgerst, dann boxe ich dich wieder auf die Nase und das noch viel fester wie eben.

DIESE nonverbale Botschaft kam offensichtlich an, denn Felix nickte unmerklich und reichte mir zaghaft die Hand.

Dazu nuschelte er in die Papiertücher, „Klasse Rechte!“

Ich stutzte verblüfft. Ein Lob von Felix? Dem Felix, dem ich gerade die Nase verbogen hatte?

Ich war völlig baff. Damit hatte ich nun nicht gerechnet.

Und dann schüttelte er doch tatsächlich meine Hand, „Cool Mann. Freunde?“

Total geplättet starrte ich zuerst auf den männlichen Handschlag hinunter und dann wieder rauf in Felix verunstaltetes Gesicht. Mit viel Mühe konnte ich ein Grinsen erkennen. Ein erstaunlicherweise ehrlich wirkendes Grinsen. SO ein Grinsen hatte ich bei Felix noch nie gesehen. Was so ein Boxhieb doch ausmachen konnte?

Und eigentlich war der Felix ja garnicht so verkehrt.

Er konnte super Klettern und ich hatte sogar mal beobachtet, wie er einen Regenwurm von der Straße aufgehoben und wieder in die Wiese gesetzt hatte.

So etwas tat man nicht, wenn man abgrundtief schlecht war. Mein Handdruck verstärkte sich und ich hörte mich selbst sagen, „Freunde!“

Helene schien mit diesem unverhofften Ergebnis höchst zufrieden, denn sie lächelte nun ebenfalls.

Doch dann wurde ihre Miene wieder ernst, „Das wird trotzdem Konsequenzen haben, junger Mann und wir werden diese Sache auch Felix Eltern mitteilen müssen. Sie werden sich ganz sicher NICHT darüber freuen. Und DEINE Eltern werden auch informiert.“

Der Schreck fuhr mir durch alle Glieder, doch ich ließ mir nichts anmerken. Als Felix dann jedoch für mich in die Presche sprang, schrumpfte der Schreck auf die Größe einer Erbse.

„Ist ja nicht so schlimm und es tut auch fast nicht mehr weh. Ich habe Laurin gestern auf dem Klo getreten und er hat es keinem erzählt. Bestimmt hat er mich deswegen gehauen!“

Erneut musterte ich diesen Jungen. Er log.

Er log ohne mit der Wimper zu zucken. Er log für mich.

Felix hatte mich ja garnicht getreten.

Meine Verwunderung schlug über in Bewunderung.

Felix war doch ein toller Kerl.

Trotzdem hatte meine Attacke Konsequenzen. Zwar reagierten die Eltern von Felix ziemlich gelassen, zumal die Nase ja auch nicht mehr blutete, als seine Mutter ihn nachmittags abholte, doch meine Mutter fiel aus allen Wolken.

IHR Sohn ein Schläger? IHR kleiner, schüchterner Laurin?

Unfassbar.

Selbst die sofort herbeieilende Hilfe meiner besten Freundin, die ihr wirklich äußerst glaubhaft versicherte, dass es nur ein gaaanz kleiner Schlag gewesen war, bewahrte mich am Abend nicht vor dem zornigen und fassungslosen Donnerwetter meines Vaters, dass sich eimerweise über meinem schmächtigen Haupt ausleerte.

Zudem wurde mir auch noch das Taschengeld für einen Monat gestrichen und ich musste den kompletten Mülldienst übernehmen, obwohl wirklich JEDER wusste, wie eklig ich Küchenmüll fand.

Doch das war noch nicht alles.

Die Strafe meines Fehlverhaltens erstreckte sich auch bis in den Kindergarten.

Ich wurde rigoros aus der Chinesen-Tanzgruppe entfernt und durfte meiner Abschlussaufführung nur als Zuschauer beiwohnen. Für Phili, meine beste Freundin, ein Glück.

Denn nun konnte sie MEINEN Chinesenhut tragen, da ihr Hut, die Wurzel allen Übels, ja plattgetrampelt worden war. War es das alles wert gewesen?

Klar…für Phili immer!

1997

Es war kurz vor den Sommerferien, die uns nach Ablauf der sechs herrlichen Sommerwochen direkt in 2. Schuljahr katapultieren würde. Natürlich waren Phili und ich in einer Klasse gelandet. Und noch ein Dritter, sozusagen ein Überraschungsgast, war Teil dieses Bundes geworden.

Felix. Ja, man mochte es kaum glauben, aber Felix und ich wurden richtig gute Kumpel. Zwar gab es zwischen ihm und Phili hin und wieder noch ein paar kleinere Dispute, doch im Großen und Ganzen kamen die beiden ebenfalls gut miteinander klar.

Dennoch kam die Männerfreundschaft qualitätsmäßig nicht an die Freundschaft zwischen Phili und mir heran.

Phili und ich…das war etwas ganz Besonderes.

So besonders, dass meine Eltern heilfroh waren, als ich eines Tages mit Felix im Schlepptau zuhause erschien.

Vor allem mein Vater freute sich riesig über diesen freundschaftlichen Männerzuwachs, obwohl er Phili sehr mochte. Doch Phili war ein Mädchen und somit seinem Anspruch an eine handfeste Kumpelkiste nicht gewachsen.

Das Phili ein ziemlich wildes Mädchen war, spielte für ihn keine Rolle.

Auch nicht, dass sie wie ein Affe klettern konnte oder dass sie mich regelmäßig im Kirschkern-Weitspucken schlug.

Mädchen war Mädchen und ihn seinen Augen brauchte ein Junge einen Kumpel mit dem er irgendwann über Mädchen herziehen konnte.

Er hatte gesagt, dass dies mit Phili nicht möglich war. Das hatte ich einmal mitbekommen, als er mit meiner Mutter abends vor dem Fernseher geredet hatte. Außerdem sagte er noch, „Diese Phili ist ja ein nettes Mädchen, aber sie wird aus unserem Sohn einen richtigen Softie machen.

Er ist eh schon schmächtig für sein Alter, da muss er sich nicht noch von einer Nachwuchs-Amazone herumkommandieren lassen.“ Mama lachte nur.

Ich musste zu diesem Zeitpunkt dringend aufs Klo und hatte dies rein zufällig belauscht. Zuerst war ich stocksauer auf ihn gewesen, doch dann? Nun ja. Wenn man es genau betrachtete? Wo er Recht hatte, da hatte er recht.

Deswegen teilte ich ab diesem Zeitpunkt meine Freizeit gerecht zwischen den Beiden auf, so dass sich keiner benachteiligt fühlen konnte. Doch hin und wieder unternahmen wir auch was zu Dritt und auf dem Schulhof in den Schulpausen gluckten wir eh immer zusammen.

Unser geheimer Spitzname, den wir uns selbst gegeben hatten, war: Die drei Musketiere.

Geil, nicht wahr? WIR fanden es auf jeden Fall geil.

Es war auch in einer jener großen Pausen, kurz vor den besagten Sommerferien, in denen ich zum ersten Mal bemerkte, dass Phili ein Mädchen war. Natürlich war mir das vorher auch schon klar gewesen, doch an jenem Tag verschob sich meine Sichtweise ein klein wenig…wie soll ich sagen…es verschob sich ein klein wenig mehr in die Männerwelt. Phili war nicht nur ein Mädchen, sondern sie war ein Mädchen. Ich konnte mir diesen Unterschied selber nicht erklären. Es war halt so.

Festgestellt hatte ich dies auf der hohen Kletterspinne, die für Phili wie ein zweites Zuhause war. Sie hangelte sich mit einer Selbstverständlichkeit an den dicken Seilen entlang, als ob diese zu ihrem Körper gehören würde, wie zusätzliche Arme. Mal baumelte sie von oben der Spitze herab, mal lauerte sie wie eine vierbeinige Spinne auf dem wackeligen Gitter in der Mitte des Gerüstes oder sie hakte sich einfach mit den Knien ein, egal in welcher Höhe und hing dann wie eine Fledermaus kopfüber nach unten.

Und hier geschah es…hier keimte meine Erkenntnis auf, dass Phili nicht einfach nur ein Mädchen war, sondern eben ein Mädchen.

Einige sommerliche Sonnenstrahlen bohrten sich an diesem Tag gerade durch eine fluffige Wolke am Himmel und verfingen sich in Philis herabhängendem Haar. Dieses lange, unglaublich lange blonde Haar, dass in diesem Licht nun aussah, wie gesponnenes Gold.

Ich stand genau unter ihr und starrte wie hypnotisiert in diese goldglänzende Fülle, die mich fast an der Nasenspitze kitzelte.

Voller Bewunderung schaute ich hoch zu ihr und ohne, dass ich es wollte, schlüpfte es auch schon aus mir heraus, „Du siehst mit deinem langen goldenen Haar aus wie Rapunzel.“

Zuerst glotzte Phili verblüfft, dann jedoch zogen sich ihre Augenbrauen erbost zusammen und sie schwang sich wie eine akrobatische Zirkusartistin von der Spitze runter, bis sie direkt vor mir stand. Da sie fast einen halben Kopf größer war als ich, musste ich gezwungenermaßen den Kopf etwas in den Nacken legen.

In diesem Moment dachte ich echt, sie würde mir eine scheuern. Doch plötzlich änderte sich ihre Miene.

Sie wurde irgendwie weich. Mit einer komischen langsamen Geste strich sich Phili mit gespreizten Fingern durch das nicht enden wollende lange blonde Haar und ihre großen blauen Puppenaugen glitzerten auf mich hinunter, „Rapunzel? Echt? Cool! Gefällt mir!“

Sie lächelte zuckersüß mit ihrem erdbeerroten Mund… …zumindest so lange bis ein lauter Ruf ertönte, „Phili und Laurin küssen sich, lieben sich, küssen sich, lieben sich…ha, ha!“

Ich sah, wie Phili bei diesem Schmähruf knallrot anlief und fragte mich doch allen Ernstes warum. ICH fände es nicht schlimm, wenn ich ihren Erdbeermund küssen dürfte.

Gottlob hatte ich diesen Gedanken nicht laut ausgesprochen, denn Philis Röte entsprang nicht etwa einer mädchenhaften Verlegenheit, nein, ihr Gesicht lief puterrot an, weil sie vor Wut wie ein Teekessel kochte. Ihre eben noch butterweiche Miene verhärtete sich mit einem Schlag und sie wirbelte kreischend um die eigene Achse, „WER HAT DAS GESAGT? NA LOS…WER?“

Angesichts der wild kreischenden Furie am Klettergerüst, verstummten alle Kinder im Umkreis von zehn Metern und schauten mit großen Augen und offenen Mündern in unsere Richtung. DIES war MIR wiederrum peinlich, deshalb lief meine Birne nun auch rot an. Verlegen senkte ich den Blick und hoffte inständig, dass sich der Boden unter mir auftun und mich verschlingen würde. Diesen Gefallen tat er mir natürlich nicht. Deshalb konnte ich nur eines tun. Philis Wutgebrüll über mich ergehen zu lassen, obwohl ICH ja eigentlich NICHT Zielobjekt ihrer blinden Raserei war, worüber ich, ganz nebenbei bemerkt, ganz froh war.

Philis keifte weiter, wie eine von der Tarantel gestochenen Furie, „WELCHER FEIGLING HAT DAS GESAGT?

LOS! ZEIG DICH, DU SCHLEIMIGE BETTWANZE!“

Tatsächlich löste sich dieses Rätsel. Ein großer schlaksiger Junge aus der dritten Klasse trat höhnisch lachend vor.

Martin, war glaube ich, sein Name. Martin Kunze.

Er trug sogar einen Ohrstecker am linken Ohrläppchen und er machte nicht den Eindruck, als ob ihn vor Wut kreischende Mädchen beeindrucken, geschweige denn, einschüchtern würden.

Furchtlos verschränkte er die Arme vor der Brust, stellte sich breitbeinig hin und röhrte, „Ich war das, Rapunzelchen. Was willst du jetzt machen? Mir deinen kleinen Erdnuckel auf den Hals hetzen?“

Sein Blick wanderte bei diesen Worten kurz zu mir rüber und er schnaubte dabei abfällig, ehe er sich mit einem weiteren Vorschlag wieder der wutschäumenden Phili zuwandte, „Oder willst du mich vielleicht mit deinem laaaangen güldenen Haaren fesseln und knebeln?“

Selbstbewusst und Beifall heischend grinsend schaute er sich in der Menge um. Doch niemand klatschte oder lachte.

Alles was sich in dieser Phili-Wut-Blase befand, war verstummt. Dies schien ihm nicht zu gefallen.

Seine Miene verfinsterte sich zusehends.

Dann geschah etwas, womit wohl keiner gerechnet hatte…ich nicht und Phili wohl am allerwenigsten.

Es ertönte ein neuer Schrei. Diesmal klang es jedoch eher wie Kriegsgeschrei, „UAAAAAAAHHHHH...!“

Man sah nur kurz einen grüngeringelten Schatten und schon im nächsten Augenblick lag Martin mit einer äußerst verdutzten Miene auf dem Rücken. Diese verdutzte Miene währte jedoch nur sehr kurz. Und zwar nur so lange, bis die erste Faust seinen Magen traf und die verblüfft angehaltene Luft gewaltsam seine Lunge verließ. Dann folgte ein weiterer Hieb und noch einer.

Und jedes Mal ‚uffte‘ Martin.

Doch auch hier lachte niemand, obwohl es sich echt witzig anhörte. Begleitet wurde diese raue Behandlung von wildem Gebrüll, „NIEMAND MACHT SICH ÜBER PHILI LUSTIG! NIEMAND! KLAR? UND AUCH NICHT ÜBER LAURIN! DU HAST JA KEINE AHNUNG, ARSCHLOCH! WENN DU EINEN VON BEIDEN AUCH NUR NOCH EINMAL SCHIEF ANGUCKST, HAUE ICH DIR SO IN DIE FRESSE, DASS DEINE ZÄHNE IM ARSCH KLAVIER SPIELEN!

UND JETZT HAU BLOSS AB!“

Das Grünweiß geringelte Etwas sprang auf und spuckte verächtlich auf den, am Boden liegenden Jungen herunter, „Schleich dich, du Wurm!“

Mit offenem Mund starrte ich völlig entgeistert auf den Jungen, der sich so todesmutig in die Kampfarena geschwungen hatte. Es war Felix.

Felix, der nun wutentbrannt, mit pumpenden Fäusten wie ein drohendes Gewitter über Martin hing, der sich rücklings wegschlängelte…eben wie ein Wurm.

Dann sprang er plötzlich auf und lief weg. Zurück blieb mein Kumpel Felix. Blitzschnell warf ich Phili einen Blick zu. Würde sie jetzt sauer sein, weil ein anderer ihren Kampf ausgefochten hatte?

Doch Philis Miene verriet eher Ratlosigkeit. Offensichtlich war sie noch nie in solch einer Situation gewesen und wusste nun nicht, wie sie damit umgehen sollte. Ich versuchte ihr dabei zu helfen, trat auf sie zu und verkündete stolz, „Typisch Felix!“

Phili warf mir einen verblüfften Seitenblick zu, ehe sie in helles Lachen ausbrach und dann leise giggelnd bestätigte, „Das stimmt. Das ist typisch Felix!“

Erst jetzt schien sich ihre Starre zu lösen. Sie lief zu unserem Freund rüber. Grinsend schaute sie ihn mit leuchtenden Augen an, „Und? Wie hat es sich angefühlt ihn zu boxen?“

Ich verdrehte die Augen. Das war eben typisch Phili.

Warum bedankte sie sich nicht einfach?

Felix schien jedoch keinen sonderlich großen Wert auf blumige Dankeshymnen zu legen. Mit einer Begeisterung, die mir schleierhaft war, begann er lang und breit auszuführen, in welchem Bogen man am besten boxte, um eben dieses komische ‚Uff‘ zu erzielen und dass es sich anfühlte, als ob man in eine Schüssel Wackelpudding haute. Ich verdrehte erneut die Augen.

Solche Informationen langweilten mich, da ich sie aufgrund meiner mickrigen Statur eh nie anwenden könnte. Phili und Felix steckten mit ihren Köpfen zusammen und fachsimpelten weiter über das Für und Wider, eines eingedrehten Daumens oder nicht, während wir uns auf den Weg in unseren Klassenraum befanden.

ICH dackelte wie ein unbeachteter begossener Pudel hinter ihnen her. Doch plötzlich blieb Phili stehen, packte Felix am Oberarm und beugte sich in einer fast drohend wirkenden Pose vor, „Aber DU nennst mich NICHT Rapunzel, klar?“

Felix schnaubte empört und wies dann auf mich, „Nee, ganz sicher nicht. Außerdem war es Laurins Idee. ER kann dich ja so nennen, wenn er will!“

Da läutete gottlob die Pausenglocke und ersparte mir die restliche Ausführung einer gepflegten, halbwegs fairen Keilerei und eventuelle spöttische Bemerkungen seitens meines Kumpels.

Felix überraschende Rettungsaktion hatte Folgen.