Nur ein kleiner Schritt - Lilian Hintermeyer - E-Book

Nur ein kleiner Schritt E-Book

Lilian Hintermeyer

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Beschreibung

Stell dir mal vor, du hättest die Gelegenheit einmal dein Leben zu treffen. Was würde es wohl zu dir sagen? Oder anders herum gefragt. Was würde dein Leben wohl zu DIR sagen? Würde es Lob oder Schelte regnen? Wäre alles eitel Sonnenschein oder gäbe es ein konstruktives Kritik-Gespräch? Diese, wohl einmalige Gelegenheit, eben genau DAS herauszufinden, bekommt Josefine Jordan, kurz Jojo. An einem Tag, der eigentlich wie jeder andere beginnt, trifft sie, im wahrsten Sinne des Wortes, mitten auf der Straße der Schlag. Sofort fällt sie ins Koma. Und hier, an einem fernen Ort, zu dem nur sie Zugang hat, muss sie sich mit ihrem stark gebeutelten Leben auseinandersetzten. In der Zwischenzeit beginnt das Schicksal einen völlig neuen Mantel um Josefines bisheriges, reales Dasein zu stricken. Veränderungen, die sie sich wohl in ihren kühnsten Träumen niemals hätte ausmalen können. Ob Josefine jedoch jemals diese unglaublichen Veränderungen erleben darf? Dazu müsste sie nur eine Kleinigkeit tun. Nur einen kleinen Schritt. Denn es ist in der Tat nur ein kleiner Schritt der sie von ihrer eigenen Realität trennt. Doch wird Jojo den Mut zu diesem Schritt aufbringen und somit auch ihr verbittertes Leben retten?

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Stell dir einmal vor, du hättest du Chance deinem Leben zu begegnen. Was würdest du ihm sagen?

Oder anders herum…was würde dein Leben DIR wohl sagen?

Vorwort

Koma! Ein Wort das in den Augen vieler Menschen fast einem Todesurteil gleichkommt. Einige nennen ihn auch Todesschlaf, was ich persönlich ganz treffend finde.

Denn, ist es nicht so, dass ein Mensch in dieser Lage sich genau auf der Schwelle des Todes befindet? Koma!

Es trifft einen unverhofft und unvorbereitet. Und niemand der davon betroffen ist, wurde von seinem Schicksal gewarnt.

Was passiert eigentlich mit einem Menschen, wenn er im Koma liegt? Was passiert in seinem Kopf? Und damit meine ich nicht, die Blutungen, die einige Areale unseres Denkapparates schädigen können oder die Schwellung des Gehirns, dass sich mit immensem Druck gegen die einengende, unnachgiebige Schädeldecke presst. Nein!

Ich meine…was passiert da, mit uns?

Mit unserem Geist…unserer Seele. Wieviel bekommt ein Komapatient von seiner Umwelt mit? Warum gibt es Patienten, die aus einem Koma erwachen und andere, die sterben? Hängt es mit der Schwere oder der Art des Schadens zusammen? Bestimmt hat es was damit zu tun.

Doch es sind auch schon Menschen verstorben, die rein medizinisch gesehen, eine gute Prognose hatten. Was ist denn dort passiert? In unserem Kopf oder in unserem Geist MUSS sich doch einiges abspielen. Etwas, was Außenstehende nicht sehen können.

Etwas Unbegreifliches…etwas, das die Entscheidung fällt, zu leben oder zu sterben. Welche Faktoren bestimmen denn nun diese Entscheidung?

Ist es hilfreich, nahestehende Menschen zu haben, die stundenlang an deinem Bett sitzen und dir die Hand halten? Hilft uns der Klang vertrauter Stimmen aus dem Labyrinth des Todesschlafes heraus? Oder liegt diese Entscheidung ganz alleine bei uns?

Wägen wir in diesem Zustand vielleicht ab, ob wir es wert sind, weiterzuleben? Ob unser bisheriges Leben es wert ist weiterzuleben? Ob wir dieses Leben so überhaupt noch mögen? Oder ob wir des Lebens vielleicht einfach nur müde sind?

Wie auch immer…egal wie wir uns entscheiden…ob wir leben wollen oder doch lieber nicht…

Für den Betroffenen selber,

ist es

‚Nur ein kleiner Schritt‘…

(K)ein Tag wie jeder andere

Piep… piep… piep… piep… piep… piep… piep… piep…

Zack!

Josefines Hand klatscht auf den lästigen Wecker, der versucht, sie mit seinem aufdringlichen, grellen Getute zum Aufstehen zu animieren.

„Maul halten, dämliches Ding!“

Sofort nach ihrer unsanften Ohrfeige, schweigt die elektronische Weckhilfe. Müde rollt sie sich auf den Bauch und schielt mit einem halbgeschlossenen Auge auf das leuchtende Zifferblatt. Fünf Minuten nach fünf.

Jojo seufzt und schiebt ihre dicke Federdecke zur Seite, während sie gleichzeitig versucht sich im Bett aufzurappeln. Ihre baumelnden Füße hangeln nach den ausgelatschten Pantoffeln, die sich halb unter das Bett verkrochen haben. Jojos großer Onkel erhascht den pelzigen Rand eines Hausschuhes und zerrt ihn unter dem Lattenrost hervor. Ihr anderer großer Zeh hat weniger Glück. Er fischt tastend im Leeren und zwingt Josefine nach ein paar Sekunden sinnlosem Unterfangen, im wahrsten Sinne des Wortes auf die Knie. Mürrisch beugt sie sich neben ihr Bett und muss fast halb darunter kriechen, um an ihren anderen Pantoffel zu kommen.

Ächzend stemmt sie sich wieder hoch, schiebt ihren nackten, frierenden Fuß in das wärmende Fell und schlurft aus dem Schlafzimmer, durch den düsteren, aber schnuckeligen Essbereich, rüber in ihre kleine Kochküche. Mehr als eine Kochküche ist es nicht, denn außer einer weißen, abgewohnten Spüle, einem, in die Jahre gekommenen alten Beistellherd in der linken Ecke und einem alten, roten, zweitürigen Unterschrank (der gleichzeitig als Arbeitsplatte dient), hat in dieser 2x3 Meter großen Kammer nichts anderes mehr Platz. Im Grunde genommen, kann Jojo hier gleichzeitig kochen, spülen und schnippeln. Doch wer macht das schon?

Nach einem Griff zum Lichtschalter, der den einfachen Deckenstrahler zum Leuchten animiert, kann sie diese Hässlichkeit in seiner ganzen Pracht genießen.

Auf der geriffelten Abtropffläche der Spüle, steht ein kleiner Wasserkocher, dessen Ausgusstülle schon ziemlich verkalkt ist. Den schaltet sie an. Während sie auf das Rauschen, des sich erhitzenden Wassers lauscht, gleichzeitig zum überquellenden Mülleimer schielt, greift sie blind nach dem Glas Instantkaffee, das immer auf der Spüle steht. Mit ihrem pantoffeltem Fuß schiebt sie die Tür ihres Schränkchens auf (der Griff ist lose), bückt sich und holte einen angeschlagenen Keramikbecher heraus, den sie neben den mittlerweile brodelnden Wasserkocher stellt. Aus der Schublade, dessen ebenfalls wackeliger Griff nur noch an einem kleinen Schräubchen hängt, angelt sie sich einen Kaffeelöffel. Damit füllt sie zwei Häufchen löslichen Kaffeepulvers in die Tasse, gießt heißes Wasser obenauf und drückt zeitgleich mit ihrem Knie die Schranktür wieder zu.

Im Stehen (Sitzgelegenheit gibt es in ihrer Küche nicht…wie auch) schlürft sie die dampfende, braune Brühe, blickt direkt vor sich aus dem Fenster (dass sie mal dringend putzen muss) und schaut durch die gräulich angehauchten Gardinen hinaus. Der Anblick des schwach beleuchteten grauen Hinterhofes baut sie nicht wirklich auf. Deswegen verlässt sie die trostlose Küche, begibt sich durch das gemütliche Esszimmer (knipste im Vorbeigehen die hohe, schmale Stehlampe an) und schreitet in ihren noch gemütlicheren Wohnbereich.

Sie liebt ihr Wohnzimmer. Seufzend sinkt sie in ihren grauen, dickgepolsterten Schaukelstuhl. Ihre neueste Errungenschaft und sündhaft teuer. 300 Euro hat sie für dieses Schmuckstück hingeblättert. Sanft streicht sie mit ihrer freien Hand über die niedrige Lehne.

Aber er ist es wert gewesen.

Sie hat ihn zufällig gesehen und sich auf den ersten Blick in dieses nostalgisch angehauchte Teil verliebt. Ein kleiner Schups mit ihrem Fuß und sie fängt an, sachte zu schaukeln. Während sie langsam vor sich hin schwingt und vorsichtig an ihrem Kaffee nippt (bloß nichts auf den hellgrauen Stoff sudeln), wandern ihre grünen Augen durch den Raum. Die Kombination von verschiedenen Grautönen, gemixt mit Türkisfarbenen Deko-Elementen ergänzt sich hervorragend. Neben ihr steht das wuchtige Sofa…eigentlich mit rotem Stoff bezogen, was nun so gar nicht zu ihrer Einrichtung passt oder auch nur Ansatzweise ihrem Geschmack entspricht.

Deswegen breitet sich darauf nun ein großes Plaid in vielen Graunuancen aus. Garniert wird das Ganze von türkisfarbenen Satinkissen in verschiedenen Größen, was diesen Platz nun in eine einladenden Kuschelecke verwandelt.

Jojos Augen spazieren weiter. Ihre Möbel sind in Beton-Optik gehalten. Ein besonderer, augenfreundlicher Ton, der mit seiner einfachen Struktur eine beruhigende Wirkung auf Jojo hat. Ihr Blick bleibt an der Gardine am Fenster hängen und sie zieht ihre Augenbrauen zusammen. Mit einem Ruck erhebt sie sich, schlendert zum Fenster und zieht den störenden, asymmetrischen Knick in dem zart geblümten türkisfarbenen Musselinstoff glatt. Zufrieden betrachtet sie sich nun den weichfallenden Schal. Nein…Jojo ist nicht pingelig. Aber diese Falte hat sie immens gestört. In ihrem Leben herrscht eh schon viel Chaos und sie muss sich Tagein und Tagaus mit schnoddrigen Kunden und schlampigen Kollegen herumschlagen. Dann soll wenigstens ihr heiliges Reich perfekt sein. Sie dreht sich herum, streift mit einem Blick ihren Laptop, der unter dem kleinen Wohnzimmertisch steht (nein…keine Zeit!) und begibt sich in die Küche zurück, wo sie beim Anblick des roten Unterschrankes den Mund missbilligend verzieht. Sie hasst ihre Küche. Doch sie kann sich einfach nicht überwinden, DIESEM Raum mehr Aufmerksamkeit zu widmen. ER ist ihr Schandfleck in dem sonst so perfekten Heim. Schnell stellt sie die Tasse in die Spüle, löscht beim Hinausgehen das Deckenlicht und zieht augenblicklich die Tür hinter sich zu. Aus den Augen, aus dem Sinn!

Ihr Weg führt sie wieder an ihrem kleinen runden Esstisch (auf dem die bauchige Glasvase, bestückt mit weißen Rosen, thront) vorbei ins Wohnzimmer, von wo eine Tür abgeht, die zu ihrem Schlafzimmer führt.

Ohne Umschweife zieht sie dort die Rollläden hoch, was allerdings nicht viel bringt. Das Tageslicht ist erst im Anmarsch. Deswegen betätigt sie den Lichtschalter ihrer kleinen Standleuchte auf dem weißen, schmiedeeisernen Schminktisch. Sofort wird der Raum in warmweißes Licht getaucht. Gegenüber, ihres Schminktisches, in der hinteren Ecke, steht der dreitürige weiße Kleiderschrank, dessen mittlere Tür mit Spiegelfolie bezogen ist. Aus dem linken, mittleren Fach zerrt sie einen unten liegenden grauen Zopfpullover aus dem hohen Stapel. Die obersten vier Pullis kippen bedenklich nach vorn und Jojo drückt sie schnell wieder zurück, bevor der ganze textile Schlamassel auf ihren Füssen landet. Zum Aufräumen hat sie nun wirklich keine Zeit. Am Boden des Schrankes stehen geflochtene Binsenkörbe, die ihre Unterwäsche beherbergen. Aus diesen Körben zupft sie sich einen verwaschene BH, eine langweilige, hüfthohe Unterhose und ein paar zusammengerollter roter Socken (sieht keiner…sie hat ja Stiefel an). Das Ganze ergänzt sie mit einer 08/15 dunkelblauen Stretchjeans, aus dem oberen Fach. Mit einem sanften Kick ihrer Hüfte, schließt sie die Schranktür.

Beladen mit ihrer Wäsche stampft sie wieder hinaus ins Wohnzimmer, durchquert das Esszimmer, ignoriert die geschlossene Tür (Küche) zu ihrer Rechten und stößt mit dem Ellbogen die Tür vor sich auf.

Das Badezimmer. Mangels Ablagefläche, lässt sie die Klamotten einfach auf den Boden fallen.

Auch hier knipst sie die Deckenlampe an (die ihr so gar nicht gefällt, doch die neue Lampe gammelt noch in einem Karton unter dem Bett herum, zusammen mit all den anderen Lampen, die sie alleine nicht anklemmen kann). Ihr Bärchenpyjama und der getragene Slip wandern gemeinsam in die braune Bambusbox, links neben dem kleinen Waschbecken und bilden dort eine ineinander verschlungene Symbiose.

Nackt, wie Gott sie schuf, besteigt sie die Glaskabine ihrer Dusche in der linken Ecke, direkt gegenüber der Tür und dreht den Hahn auf. Augenblicklich prasselt kaltes Wasser von oben auf sie herab. Wie ein Fisch auf dem Trockenen, schnappt sie keuchend nach Luft und senkt mit zusammengebissenen Zähnen den Kopf. Wenigstens ist sie jetzt hellwach. Eilig schiebt sie den Hebel des Thermostates mit zitternden Fingern von Blau auf Rot.

Das herabströmende Wasser wechselt von Antarktis-Eisig zu Körper-Kuschelwarm. Aufatmend lehnt Jojo den Kopf in den Nacken, greift mit geschlossenen Augen nach dem Duschgel, das praktischerweise an einem Chromhaken an der Glaswand hängt und seift sich ordentlich damit ein.

Auch die schulterlangen, braunen Haare.

Warum teures Shampoo kaufen und schwerverdientes Geld verschleudern, wenn Duschgel denselben reinigenden Effekt hat? Außerdem riecht es so gut nach Kokos.

Der warme Wasserstrahl spült augenblicklich den weißen Schaum von Jojo herunter und befördert ihn gluckernd in den Ausguss. Josefine drückt den Hebel der Armatur nach hinten und schneidet damit die Wasserzufuhr ab.

Noch tropfnass greift sie nach dem kleinen, handlichen Glasschieber, der ebenfalls an einem Chromhaken baumelnd, dem Duschgel Gesellschaft leistet und zieht seine schwarze Gummilippe in langen Strichen an allen vier Seiten der Kabine, von oben nach unten. Sie hasst Kalkflecken. Besser gleich dagegen arbeiten.

Endlich steigt Josefine aus der Kabine und fischt sich mit spitzen Fingern eines ihrer tannengrünen Badetücher vom hohen Bambusregal, mit dem sie sich ausgiebig trockenrubbelt. Das nasse Handtuch findet kurz darauf denselben Weg, wie vorhin ihre Unterhose und der Bärchenpyjama. Am Waschbecken greift sie nach ihrer Zahnbürste, fährt prüfend mit dem Daumen über die Borsten (könnte man auch mal ersetzen), quetscht aus der fast leeren Zahnpastatube eine weiß rot gestreifte Wurst drauf und schrubbt sich genau drei Minuten die Zähne.

Stur starrt sie währenddessen auf eine kleine Badezimmeruhr, die sie extra zu diesem Zwecke angeschafft hat und die nun ihr Dasein auf der Spiegelablage fristet.

Nach Ablauf der Zeit, spuckt sie den weißlichen Schaum ins Waschbecken, spült kurz nach, greift neben das Becken, in den Wäschekorb nach dem benutzten Handtuch und reibt damit das Becken trocken.

Sie hasst nicht nur Kalkflecken, sondern auch Zahnpastareste im Waschbecken.

Danach zieht sie sich endlich an. Bewaffnet mit ihrem grünen Föhn, huscht sie ins Schlafzimmer, um sich dort kopfüber die Haare zu trocknen. Warum nicht im Badezimmer? Naja…sie hasst auch Haare auf den Badezimmerfließen. Lief man barfuß darüber, blieben sie einem zwischen den Zehen hängen. Igitt!

Außerdem sieht es auch kacke aus!

Mit Schwung wirft sie ihre Mähne zurück und zuckt kurz zusammen, als jäh ein Schmerz hinter ihrer Stirn aufblitzt, der jedoch sofort wieder verschwindet. Vielleicht sollte sie sich vor der Arbeit noch eine Tablette reinpfeifen?

Doch der Anblick unordentlicher Fransen ihres Teppichs vorm Bett lenkt sie von diesem Gedanken ab. Auf Knien kämmt sie mit ihren Fingernägeln die verworrenen Flusen ihres grüngepunkteten Läufers in Form. Dann schüttelt sie ihr lindgrün bezogenes Kopfkissen auf und schlägt die ebenfalls lindgrün bezogene Bettdecke akkurat zurück. Anschließend tritt Jojo zum Schminktisch und fährt mit dem Ärmel ihres Pullovers kurz über seine Glasoberfläche. Prüfend schaut sie sich im Raum um, nahm den wartenden Föhn an sich, nickt zufrieden, löscht das Licht der kleinen Stehlampe und verlässt das Schlafzimmer. Ihr Weg führt zurück zum Badezimmer, wo sie ihren Föhn wieder an die Halterung neben dem Waschbecken hängt und löscht beim Rausgehen auch diese furchtbare Deckenlampe.

Schnell staubt sie, im Vorbeigehen, mit ihrem Ärmel (!) noch den Esstisch ab, zupft die weißen Rosen in der Vase zurecht und schaute auf die große, runde antik wirkende Wanduhr über der verschnörkelten hölzernen Truhe.

Kurz nach sechs. Sie liegt gut in der Zeit. Wie immer!

Mit einer schnellen Bewegung ihres Fußes, tritt sie auf den Schalter der hohen Standleuchte und taucht den Raum damit in Dunkelheit. Zielsicher, schließlich kennt sie jeden Millimeter ihrer Wohnung, geht sie Richtung Flur, schiebt sich durch den schweren grüntürkisfarbenen Vorhang, den sie gleich beim Einzug angebracht hat, um eventuelle Zugluft abzuhalten und knipst in dem kleinen, quadratischen Vorraum das Licht an. Auch hier klebt eine rundliche und äußerst hässliche Glasleuchte an der Decke. (Die müsste sie auch unbedingt mal austauschen, was sie sofort gedanklich auf eine imaginäre To-Do-Liste setzte, die sie wohl nie umsetzten würde, da sie ja keine Lampen anklemmen kann). Rechts steht eine großzügige Sitztruhe, die ihr gesamtes Schuhwerk beinhaltet. Von dort klaubt sie ihre schwarzen Wildlederstiefeletten hervor, lässt sich auf der Truhe nieder und schlüpft in die Stiefel. Hinter ihr, an der Wand, an einem der zehn verteilten Holzknäufe, hängt ihre wattierte, schwarze Winterjacke und daneben baumelt ihr kleiner schwarzer Knirps (den braucht sie heute aber nicht).

Neben der Truhe parkt (wie immer) ihre schwarze Handtasche, die sie nun aufhebt und sich über die Schulter hängt. Mit einem Griff zum Lichtschalter taucht sie nun auch den kleinen Vorraum in Dunkelheit, öffnet die Haustür, schließt sie hinter sich, dreht zweimal den Schlüssel im Schloss herum und steigt die drei Etagen auf Zehenspitzen runter.

Um viertel nach sechs verlässt sie das Haus.

Jojo hat ihren Zeitplan genau im Kopf. Um sieben fängt sie an. Um acht öffnet der Laden. Sie benötigt genau 32 Minuten bis zu ihrer Arbeitsstelle, einem mittelgroßen Baumarkt. Dort ist sie in der Reklamationsabteilung tätigt. Das heißt, sie hängt entweder am Telefon und beruhigt aufgebrachte Kunden oder sie hämmert auf dem Rechner herum und verschickt unendlich viele Emails an diverse Hersteller. Wie auch immer…von den acht Stunden Arbeitszeit verbringt sie täglich mindestens sechs Stunden auf ihrem Hintern, der im Laufe der Zeit von seiner einstigen Apfelgröße auf die Maße einer Wassermelone angeschwollen ist. So empfindet sie es zumindest. Dazwischen ist sie dem unaufhörlichen Geschnatter ihrer hyperaktiven Kollegin Gabi ausgesetzt, die sie den ganzen Tag mit Informationen versorgte, die kein Mensch wissen wollte. Was sie zum Frühstück hatte.

Das man in Mallorca in einem Hotelpool Kolie-Bakterien gefunden hatte. Warum der blöde, miesepetrige Nachbar über ihr, einen Knall hatte.

Das ihre Mutter im Krankenhaus lag und sich die Gebärmutter entfernen ließ. Das der Jürgen (ihr Freund) im Schlaf furzte. Blablablabla…du liebe Güte…

WER WILL SOWAS WISSEN?

Seit zwei Jahren behält Josefine nun diesen Ablauf bei.

Seit sie von Neunkirchen hierhergezogen ist.

Nichts, absolut Garnichts, ändert sich an Josefines Tagesablauf und nichts bringt sie aus der Ruhe.

Mit eiligen Schritten, ohne jedoch zu hasten, bahnt sie sich ihren Weg durch die Stadt. An jeder Ampel wartet sie geduldig, bis ihr das grüne leuchtende Männchen signalisiert, dass sie gehen darf. Das alles läuft ganz automatisch, während sie in Gedanken schon, nach der Arbeit durch den Supermarkt hechtet und sich ihr Abendessen zusammenstellt.

Die letzte Kreuzung taucht vor ihr auf und sie schiebt den geplanten Einkauf ein Stück nach hinten. Hier muss sie aufpassen, da die Rechtsabbieger nicht immer auf Fußgänger achten. Hier ist schon der Ein oder andere unschuldige Passant von einem übereifrigen Vollgas-Idioten über den Haufen gefahren worden. Josefine stellt sich dicht an die Bordsteinkante und schaut sich akribisch um. Frei.

Ihr Fuß setzt sich in Bewegung. Dann trifft sie ein weißglühender Blitz an ihrer linken Stirn und sie stürzt, wie ein gefällter Baum, hart zu Boden.

Allerdings fühlt sie den Sturz nicht mehr. Ein gnädiger schwarzer Vorhang blendet all ihre Sinne aus und schwemmt sie hinüber ins Nichts…

*

Karim (und die Handtasche)

Selber Tag, nur eine andere Uhrzeit. Es ist kurz vor zwölf. Ungeduldig drückt Karim auf den Knopf, der ihm endlich einen Fahrstuhl liefern sollte. Seine Augen wandern nach oben, zur leuchtenden Anzeige, die ihm ärgerlicherweise mittteilt, dass der Lift leider auf jeder Etage anhalten muss. Schnaufend prustet er aus. Gerade als er versucht ist, die Treppe zu benutzen, öffnen sich die stählernen Fahrstuhltüren mit einem aufdringlichen ‚Ping‘ kombiniert mit einem sanften ‚Schwwp‘. Schnell steigt er zu, bevor es sich die Türen anders überlegen und drückt auf der leuchtenden Konsole den Knopf für das Erdgeschoss. Ein weiteres ‚Schwwp‘ als die Türen sich schließen und der kleine Kasten Karim pflichtbewusst und leise ruckelnd nach unten befördert. Während der Fahrt versucht er sich zu beruhigen. Was hat seine tollpatschige Mutter denn nun wieder angestellt?

Am Telefon vorhin, sagte sie nur, dass sie in der Notaufnahme auf dem Winterberg war und er sie nun abholen könnte. Er hat noch nicht mal die Möglichkeit gehabt, nachzufragen was sie denn nun hat. Gerade als er Luft geholt hat, legte sie auf. Einfach so.

Sein Herz pocht wie wild in seiner Brust, doch gleichzeitig sagt er sich immer wieder:

Sie hat dich angerufen…also kann es nicht so schlimm sein!

Der Fahrstuhl kommt mit einem Ruck zum Stehen, doch Karims Magen sackt noch ein paar unangenehme Millimeter weiter.

Endlich entlässt ihn die stählerne Fahrkabine aus ihrem klaustrophobischen Verlies und er hechtet aus dem Bürokomplex, wo er als Architekt seine Brötchen verdient, hinaus auf den Parkplatz. Mit eiligen Schritten überquert er die durchstrukturierte Stellfläche, bis er endlich zu vorletzten Reihe kommt, wo er seinen heißgeliebten silbernen Audi geparkt hat. Mit einem eleganten Schlenker seiner Hüfte, gleitet er auf das schwarz gestreifte Polster, umfasst mit beiden Händen das Sportlenkrad, schließt die Augen und atmet ein paarmal kräftig durch. Sein Herzschlag normalisiert sich allmählich. Der Motor röhrt sanft brummend, als er den Zündschlüssel im Schloss herumdreht. Langsam rollt Karim vom Parkplatz und fädelt sich in den fließenden Verkehr ein. Doch seine Gedanken sind bei seiner Mutter.

Warum konnte sie nicht so sein wie andere Mütter? Nein!

SEINE Mutter zieht es vor mindestens einmal alle zwei Monate in der Notaufnahme zu hocken, weil sie mal wieder nicht aufgepasst hat. Hat die alte Frau denn sonst nichts Besseres zu tun?

Mit Schaudern erinnert er sich an den letzten Zwischenfall. Da wollte sie nur die gewaschenen, feuchten Gardinen wieder am Fenster anbringen. Doch anstatt sich, wie jeder normale Mensch es tun würde, eine Leiter zu holen, stellte sich seine Mutter auf einen wackeligen Holztritt. Und was ist dann passiert? Sich das vorzustellen, benötigt man nicht viel Fantasie. Als sie einen winzigen Schritt zu weit nach rechts tat, kippelte das blöde Teil und seine Mutter machte hinter der Couch einen Limbo vom Feinsten. Sie konnte von Glück sagen, dass er gerade in diesem Moment die Haustür aufsperrte um ihr die Einkäufe zu bringen. Er hörte es nur noch rumsen und im gleichen Augenblick plumpsten seine Einkaufstüten zu Boden und er hechtete ins Wohnzimmer, wo er sich erst einmal völlig verdattert umgeschaut hatte. Denn er konnte seine Mutter nirgends entdecken. Erst das aufkeimende Gegacker hinter der klobigen Eck-Couch verriet ihm ihren Aufenthaltsort. Mit einem Blick erhaschte er die Situation. Den klapprigen, umgekipptem Hocker und seine am Boden liegende Mutter. Und was tat sie? Sie lachte. Sie lachte, bis ihr die Tränen kamen. Karim wurde richtig böse, als er der alten Dame vorsichtig aufhalf. Sogar im Auto, auf der Fahrt in die Notaufnahme, schimpfte er ununterbrochen, was seine liebreizende Mutter allerdings nur stillschweigen und schmunzelnd zur Kenntnis nahm.

Gott…sie hätte sich das Genick brechen können! Warum wartete sie denn einfach nicht, bis er da war? Sie wusste doch, dass er kommen würde. Aber nein…so war seine Mutter.

Eigensinnig. Unabhängig, Stur und Stolz. Aber auch optimistisch und äußerst lebensfroh. Wer lachte schon, wenn er sich beinahe fast alle Knochen gebrochen hatte?

Ein leises Lächeln huscht über sein Gesicht. Seine Mutter…ach ja…die ist echt eine unglaubliche Nummer.

Er liebt sie heiß und innig.

Nach einer viertel Stunde biegt er ab und befindet sich auf dem Klinikgelände. Nur zu gut, weiß er, wo er hinmuss.

Es ist ja nicht so, als ob er noch nie hier gewesen wäre.

Dieser Gedanke treibt seinen Blutdruck wieder in die Höhe. Hoffentlich ist es nichts Schlimmes.

Glücklicherweise findet er auf Anhieb eine schmale Parklücke, was zu dieser Zeit einem Sechser im Lotto gleichkommt. Gekonnt manövriert er sein schnittiges Gefährt zwischen zwei parkende Autos, würgt nicht ganz so gekonnt seinen Motor ab und schält sich aus den sportlichen Schalensitzen heraus. Der Eingang der Notaufnahme kommt in sein Visier und ohne nach rechts oder nach links zu schauen, steuert er genau diese Glastüren an, die sich, wie bei einem alten Freund, zum ‚Herzlich Willkommen‘ öffnen. Warme Klimaanlagenluft schlägt ihm entgegen, was er bei diesem Wetter als äußerst angenehm empfindet. Vor einer Woche noch, saß er mit einem T-Shirt auf dem Balkon und hatte den wunderschönen goldenen Oktober mit seinen 24 Grad genossen. Aber an diesem Wochenende ist das Thermostat rapide gefallen und zwingt die Menschen dazu, sich wieder in dick wattierte Ungetüme zu hüllen.

Der unendliche Sommer hat sich endgültig verabschiedet.

Anscheinend auch Karims Laune. Finster dreinblickend marschiert er in den Bereich der Erst-Hilfe.

Normalerweise tummeln sich hier unzählige Menschen, mit schmerzverzerrten oder besorgten Gesichtern.

So auch heute.

Der Geräuschpegel erinnert Karim an einen überfüllten Bahnhof. Unglaublich was manche Leute so anstellten, nur, um der Notaufnahme an einem diesigen und windigen Montag einen Besuch abzustatten. Na ja, seine Mutter gehört auch zu diesen schusseligen Menschen.

Ohne sich um die greinenden Kinder zu kümmern, die quengelig auf den Schößen ihrer Mütter herumturnen, biegt er in den üblichen Gang ein. Hier sitzt seine Mutter immer, wenn er sie abholen soll. Doch heute ist der betreffende Gang leer. Nun ja, nicht wirklich leer. Es sitzen schon Menschen auf dem Flur, die still in sich gekehrt verharren oder leise mit ihren Sitznachbarn wispern. Doch niemand von denen ist seine Mutter.

Knurrig gesellt er sich zu der Gruppe, die sich ziemlich mittig im Gang platziert hat. Einer nach dem anderen wird aufgerufen und kommt verarztet und erleichtert wieder aus dem Behandlungsraum hervor.

Irgendwann steht Karim alleine da. Alle wartenden Patienten sind abgefertigt, doch seine Mutter ist noch immer nicht aufgetaucht.

Verärgert stopft er sich seine geballten Fäuste in die Taschen seines Anoraks und kickt einen imaginären Stein von sich. Gerade als er sich rumdreht, um sich doch an der Information nach dem Verbleib der alten Dame zu erkundigen, fällt ihm eine schwarze Handtasche ins Auge (vor allem die beiden goldfarbenen ‚J‘, die an einem der beiden Griffe baumeln). Verwirrt bleibt er stehen und schaut sich um. Irgendjemand muss sie vergessen haben.

Doch welche Frau würde ihre kostbare Handtasche einfach so vergessen? Frauen trugen aus Prinzip ihr halbes Leben mit sich herum und sind für alle Eventualitäten gerüstet.

Egal ob es sich um einen Kosmetikunfall, einer kotzenden Busnachbarin oder einen nuklearen Krieg handelt.

Für alles haben sie etwas parat!

Er kennt die Handtasche seiner Mutter!

Doch diese Tasche scheint herrenlos. Niemand irrt weinend durch die Gänge und ruft nach ihr. Komisch!

Am besten gibt er sie an der Information einfach ab. Dort kann sie von ihrer verzweifelten Besitzerin ja wieder in Empfang genommen werden. Mit einem Ruck packt er die runden Henkel, erwischt aber nur einen und schon poltert der komplette Inhalt auf das graumarmorierte Linoleum. Ein unflätiger Fluch kam knirschend über seine Lippen. Schnell bückt er sich und versucht das wirre Chaos wieder in seine Lederbehausung zu stecken.

Drei Päckchen Papiertaschentücher. Zwei Lippenpflegestifte (warum zwei?). Fünf (!)

Kugelschreiber. Ein Notizblock. Eine Schachtel Pflaster.

Handcreme. Eine Uhr (gehörte die nicht an den Arm?).

Kopfschmerztabletten. Ein Schlüsselbund. Eine Taschenlampe in Kleinausführung. Ein Tütchen Nägel.

Ein Schraubenzieher. Ein Klebestift. Eine aneinanderhängende Schlange Büroklammern.

Kaugummi. Hustenbonbons. Eine kleine Flasche Wasser.

Und ein braunes, ziemlich neu aussehendes Portemonnaie. Bei diesem hat sich der Druckknopf gelöst und nun liegt es aufgeklappt am Boden. Karim kommt sich vor, als ob er in der Unterwäsche seiner Großmutter wühlen würde. Schnell klappt er den Geldbeutel wieder zu, doch der Name, den die Inhaberin, warum auch immer, mit Kuli, innen fett reingeschrieben hat, kann er nicht übersehen. Josefine Jordan. Schnell stopft er auch dieses letzte Utensil in die Handtasche und richtet sich eilig auf. Nur weg von hier. Im Eilschritt hastet er den Gang entlang, durchquert den Wartebereich bis nach vorne ins Hauptfoyer und stürmt schnurstracks zur Information, die von einer üppigen Blondine besetzt ist. „Entschuldigen sie?“

Die Blondine schaut leicht genervt auf, doch ihr Gesichtsausdruck ändert sich sofort. Ein strahlendes Zahnpasta-Lächeln erhellt ihre Miene, „Kann ich ihnen behilflich sein?“ Augenzwinkern!

Hat die Empfangsdame ihm gerade zugeblinzelt?

Karim schmunzelt in sich hinein. Er kennt seine Wirkung auf Frauen. Seinem Vater hatte er diesen olivfarbenen Teint zu verdanken. Er ist Tunesier gewesen. Und seine Mutter hatte ihm die strahlend blauen Augen vererbt.

Diese Kombination scheint auf Frauen unwiderstehlich zu wirken. Zumindest sorgt es dafür, dass er keinen Mangel an weiblicher Gesellschaft hat. Und auch diese Empfangsdame hat wohl beschlossen sich seinem Charme zu ergeben. Mit einem verschämten Augenaufschlag befeuchtet sie ihre Blassrotgeschminkten Lippen und beugt sich ein klein wenig weiter vor, was ihm den Ausblick in ihr außerordentlich reizvolles Dekolleté erleichtert. Karim tritt dennoch doch leicht irritiert einen kleinen Schritt zurück. Ihm steht nicht wirklich der Sinn nach Flirten. Okay, ein bisschen vielleicht, aber…er sucht…

…ach ja, erstens seine Mutter und zweitens, die Besitzerin der Handtasche. Erleichtert, dass ihm der pralle Busen seines Gegenübers, nicht vollständig zu Kopf gestiegen ist, stemmt er die schwarze Ledertasche auf den Tresen.

„Hallo, ich…!“

Kaum das er den Mund aufgemacht hat, schneit eine rothaarige Furie, eingehüllt in einen riesigen karierten Poncho, herbei, rempelt ihn unsanft und auch sehr unhöflich zu Seite und beugt sich völlig außer Atem zu der Blondine, die sich sofort etwas pikiert zurückzieht, was Rotkäppchen allerdings nicht zu bemerken scheint.

„Ich suche Josefine Jordan. Man hat bei uns auf der Arbeit angerufen und uns mitgeteilt, sie wäre hier. Du lieber Himmel…wir haben uns heute Morgen schon gefragt, wo sie bleibt. Sie ist noch nie zu spät gekommen. Und zuhause ans Telefon ist sie auch nicht gegangen. Was meinen sie, was ich mir heute von der Kundschaft schon alles anhören musste.

Der Chef meinte, ich könnte in der Mittagspause mal hierherkommen und nach den Rechten schauen. Was hat denn unser Mauerblümchen? Ist sie bis Morgen wieder fit? Das hoffe ich…ich fliege nämlich morgen Früh nach Malle. Ich kann auf keinen Fall meinen Urlaub absagen.

Ist alles schon gebucht und bezahlt.“

Die Augen der flirtfreudigen Empfangsdame weiten sich entsetzt und sie wirft Karim einen schon fast flehenden Blick zu, ehe sie sich mit einem kurzen, „Entschuldigen sie einen kleinen Augenblick!“, ihrem Monitor zuwendet.

Karim ergreift die Gunst der Stunde und stippt der redewütigen Rothaarigen auf die Schulter, „Sie kennen Frau Jordan?“

Die angesprochene Frau dreht sich zu Karim um.

Musternd (und auch anerkennend) wandert ihr Blick an dem Mannsbild vor ihr, nach unten und wieder hoch und bleibt schließlich an der schwarzen Ledertasche auf dem Tresen hängen, worauf noch immer Karims Hand ruht.

Ihre Augenbrauen kneifen sich fragend zusammen, „Das ist doch Jojos Tasche…an dem Henkel hängen ja ihre Initialen…“, sie schaut ihm misstrauisch in die meerblauen Augen, „…oder?“

Karim nickt kurz und setzt etwas hilflos zur Erklärung an, „Äh…ja…ich…!“

Doch viel weiter kommt er nicht. Die Rothaarige stemmt nun wütend ihre Hände in die Hüften, „Und warum haben mich diese Penner dann hierhergeschickt. Konnten SIE nicht in der Firma anrufen und Bescheid geben. Jetzt geht meine ganze Mittagspause flöten.“

Sie wirft mit gekonntem Schwung ihre Haare in den Nacken und schultert nun ihre eigene Handtasche, „Wissen sie was? Sagen sie Jojo einen schönen Gruß…sie kann ja nix dafür…die Krankmeldung für heute kann sie ja mitbringen und sie soll sich dringend, aber wirklich dringend beim Chef melden!“

Ihre Augenbrauen entspannen sich und ihre Stirn wirkt nun glatt und ebenmäßig, während sie schelmisch flötet, „Mann, sie hätte mir ruhig mal erzählen können, was für ein zuckersüßes Sahneschnittchen sie zuhause hat! Hätte ich ihr gar nicht zugetraut!“

Ein verführerisches Augenzwinkern und schon verschwindet die kleine Plaudertasche. Zurück bleibt ein ziemlich sprachloser Karim. Mit offenem Mund dreht er sich zur Empfangsdame herum, die mit einem leichten Bedauern im Blick, schmollend ihre Unterlippe hervorstülpt. Schade! Vergeben…scheint dieser Gesichtsausdruck zu sagen. Doch bevor Karim ihn richtig deuten kann, verzieht sich der Schmollmund zu einem reserviert freundlichen Lächeln, „Sie müssen rauf zur Neurochirurgie, zweiter Stock! Gehen sie zum Schwesternzimmer und sagen sie einfach nur, sie kommen wegen Frau Jordan. Ich rufe oben an und sag schonmal Bescheid!“

Fast zeitgleich greift sie zum Hörer und wirft Karim noch ein kleines verspieltes Augenzwinkern zu.

Man weiß ja nie. Karim schüttelt ungläubig den Kopf.

Spinnen die hier alle?

Sein Blick streift die vermaledeite Handtasche, die ihm diesen ganzen Schlamassel eingebrockt hat. Dann schluckt er seinen Groll runter.

Wahrscheinlich…nein, ganz sicher kann diese Frau Jordan nichts dafür. Bestimmt sitzt sie völlig aufgelöst in ihrem Zimmer und trauert ihrem Überlebensgepäck hinterher, …wenn sie nicht schon aufgrund dieses Verlustes die Polizei gerufen hat.

Ein siedend heißer Schauer läuft ihm den Rücken runter und er beschließt, sich eilig dieses verdächtigen Mühlsteins zu entledigen. Schnell orientiert er sich an der Informationstafel und begibt sich per Fahrstuhl-Express in den zweiten Stock.

Das fehlt ihm gerade noch. Das glaubt ihm doch keiner, dass er die Tasche unten in der Notaufnahme gefunden hat.

Dazu kommt seine Hautfarbe. Leider ist diese nicht immer von Vorteil. Viel zu schnell wird man heutzutage, bei dieser brisanten, politischen Situation als krimineller Ausländer abgestempelt. Darauf hat er nun echt keinen Bock.

Die Fahrstuhltür öffnet sich und entlässt ihn in einen belebten Flur. Dank seines hervorragenden Orientierungssinnes, findet er schnell das Schwesternzimmer. Doch dort herrscht emsiges Treiben.

Ist etwa Schichtübergabe, oder was? In dem Fall könnte es ein klein wenig länger dauern, was ihn erneut verärgert.

Schließlich hat er noch andere Dinge zu erledigen. Wie zum Beispiel, seine Mutter nach Hause fahren. Ups!

Seine Mutter…die hat er beinahe vergessen!

Das ist aber auch ein Durcheinander heute.

Ungeduldig trommelt er mit seinen schlanken Fingern auf der Theke und versucht, durch aufdringlich gestalteten Blickkontakt Aufmerksamkeit zu erregen, was wiederrum dank seines enorm vorteilhaften Aussehens auch super funktioniert. Keine zehn Sekunden später schippert eine ältere, pummelige Schwester heran, die ihn so was von anstrahlt, dass es ihm schon fast peinlich ist.

„Was kann ich denn für sie tun, junger Mann?“

Aus dem kleinen Büro schiebt sich ein grinsender brauner Lockenkopf, „Jordan, Uschi…das ist der Jordan!“

Das informationsfreudige Curly-Mädchen rutscht wieder zurück und verschwindet somit aus seinem Blickfeld.

Karims konstatierter Gesichtsausdruck, lässt die ältliche Uschi erröten, „Entschuldigen sie…ist viel los heute, einige Neuzugänge…warten sie…!“

Ihre flinken Finger fischen aus einem hohen Stapel eine schmale grünliche Akte, die sie aufschlägt, kurz konzentriert überfliegt und dann wieder zuklappt. Ohne ein weiters Wort verschwindet sie im Hinterzimmer und lässt ihn einfach kommentarlos stehen. Karims Ungeduld wächst und er schaut demonstrativ auf seine teure Titanarmbanduhr. Lange warten muss er allerdings nicht.

Keine zwei Minuten vergehen, da drängt der füllige Körper der Schwester wieder nach vorn. Vorsichtig schaut sie hoch in Karims ausdrucksloses Gesicht, „Es tut mir leid…aber ich kann ihnen noch keine Angaben machen…ihre Frau wird noch operiert!“ Karim zuckt zusammen. Seine Frau? Was soll der Quatsch. Es wird höchste Zeit, dass er mal Tacheles redet.

Er klatschte die schwarze Ledertasche auf den kleinen Tresen, „Die Tasche gehört ihr! Wären sie so freundlich…?“ Sein Blick ist eine einzige Aufforderung, die Schwester Uschi jedoch nicht zu kapieren scheint.

Ihre Miene? Ein großes Fragezeichen.

Karim ist langsam mit den Nerven am Ende. Er will doch nur die Handtasche abgeben, sonst nichts. Die ältere Schwester deutet seinen verzweifelten Gesichtsausdruck völlig falsch. Mit drei großen Schritten ist sie hinter dem Tresen hervorgetreten, nimmt die Tasche vom Tresen, drückt sie Karim wieder in die Hand und legt tröstend den Arm um seine Schultern (was gar nicht so einfach ist, denn Karim ist locker dreißig Zentimeter größer, als die mitfühlende Schwester), „Was sollen wir denn mit der Handtasche, junger Mann? Fahren sie nach Hause und packen ein paar frische Kleider zusammen und bringen die her. Ich schätze mal, dass wir gegen fünf mehr wissen und bestimmt ist dann auch ein Arzt greifbar, der sie über den Zustand ihrer Frau in Kenntnis setzten kann!“

Jetzt platzt Karim endgültig der Kragen, „DAS IST NICHT MEINE FRAU!“

„Oh!“ Schwester Uschi zieht ihren lang gestreckten Arm von seiner Schulter, lacht kurz auf und streicht ihm gütig über den Unterarm, „Das ist doch in der heutigen Zeit kein Problem. Gehen sie jetzt erst einmal nach Hause, trinken in Ruhe einen Kaffee und schauen sie, dass sie am späten Nachmittag wieder hier sind. Ihre, ähm, Freundin …ist bei uns wirklich in guten Händen! Sie können nachher gerne nach mir fragen…“,

sie tippte auf das Namensschild auf ihrer Brust, „…mein Name ist Schwester Uschi…wie Uschi Glas!“ Kichern!

Ohne dass er überhaupt etwas bemerkt hat, steht er mit der Schwester, die ihn geschickt gelotst hat, vor dem Fahrstuhl. Die Tür öffnet sich und Karim wird hineingeschoben, „Vergessen sie nicht die Unterwäsche!“

Ein kurzes Winken und die Fahrstuhltüren schließen sich mit einem pupsenden Geräusch. Karims blaue Augen glotzen total verdutzt auf den schmalen Schlitz der beide Stahltüren trennt.

In seinem Kopf herrscht gähnende Leere, die erst durch die Ankunft im Parterre aufgefüllt wird. Und zwar durch das Klingeln seines Handys. Erschrocken greift er in seine Hosentasche, „JA!“ „Du musst dich nicht wie ein blökendes Schaf melden!“

Seine Mutter.

Erleichtert, endlich mit einem vernünftigen Menschen zu sprechen, keucht er reumütig, „Sorry, Mutti…ich habe…ich bin…ach egal…wo bist du denn überhaupt?“

Die sanfte Frauenstimme am Telefon lachte leise auf, „Ich bin zuhause, mein Lieber. Noah, der Sohn meiner Nachbarin, die Michaela…der ist doch Pfleger in der Kardio und hatte gerade Feierabend. Da hat der Noah mich nach Hause gefahren. Du kennst doch Noah?

Michaelas Sohn?“ Abwartende Stille.

Karims Augen schließen sich müde und er reibt sich über die Stirn, wobei er sich, die daran hängende fremde Handtasche an die Nase schlägt. Dies wiederrum schürt erneut seinen Ärger. Und die Tatsache, dass er eigentlich völlig umsonst hierher gebrettert ist.

Deswegen fällt seine Antwort auch ungewohnt schroff aus, „Nein, kenne ich nicht. Und eigentlich ist es mir auch egal wer dieser Noah ist. Ich stehe im Augenblick auf dem Winterberg, im Foyer, eine wildfremde Handtasche klebt wie Kuhscheiße an mir und niemand will sie haben. Des Weiteren halten mich alle für verheiratet und verlangen von mir, meiner Frau Unterwäsche mitzubringen. UND DAS ALLES VERDANKE ICH DIESEM DÄMLICHEN, BESCHEUERTEN NOAH!“

Kochend vor Zorn beendet er den Anruf und schneidet seiner, mehr als verdutzten Mutter einfach das Wort ab.

Das Handy verschwindet in seiner Hosentasche. Ohne einen weiteren Gedanken an dieses absurde Gespräch zu verschwenden, stürmt er aus der weitläufigen Vorhalle und bemerkt noch nicht einmal den bewunderten Blick der jungen, vollbusigen Empfangsdame.

(Was für eine vertane Chance!)

Doch bereits am Auto übermahnt ihn sein schlechtes Gewissen. Er hat noch nicht mal gefragt, was seine Mutter denn eigentlich hat und warum sie in die Notaufnahme musste.

Tief beschämt zieht er den Kopf zwischen seine Schultern, öffnet verstimmt die Autotür, schmeißt die Handtasche unsanft auf den Rücksitz und drängt sich in den ausgehöhlten Sitz. Hier bleibt er erst einmal ein paar Minuten sitzen und hängt seinen Gedanken nach.

Was soll er denn jetzt tun?

Umständlich schielt er über seine Schulter und mustert das schwarze Ungetüm, das sich wie ein schlafendes Opossum auf seinem Rücksitz aalt.

Dann schaut er wieder zur Frontscheibe hinaus, die nun langsam von innen beschlägt. Ganz automatisch dreht er die Lüftung an und beobachtet, wie die herausströmende Luft, die Scheibe von unter her wieder aufklärt. Mit noch immer nachdenklicher Miene startet Karim seinen Audi und rollt im Schritttempo vom Parkplatz. Keine halbe Stunde später steht er vor dem Haus seiner Mutter. Auf dem Beifahrersitz ruht mittlerweile ein üppiger gelb weißer Nelkenstrauß, den er auf der Herfahrt in einem winzigen Blumenladen erstanden hat. Die mag seine Mutter besonders gerne. Mit unsicherer Miene beugt er sich ein klein wenig nach vorn und linst an der vertrauten Hausfront empor. Im ersten Stock brennt Licht, obwohl es früher Nachmittag ist.

Das ist das Wohnzimmer, wie Karim weiß.

Von der Stärke der Beleuchtung ausgehend, vermutet er, dass die opulente Stehleuchte in der Ecke neben dem Fenster, brennt. Mit einem leisen Aufseufzen greift er sich das Entschuldigungs-Bukett und krabbelt umständlich, damit er mit den langstieligen Blumen nicht am Türrahmen hängenbleibt, aus seinem Wagen. Betont laut schlägt er die Autotür zu und schaut erwartungsvoll zum beleuchteten Fenster hoch. Vielleicht hört seine Mutter ja, dass er kommt. Doch die Gardinen hängen stur und reglos hinab. Karim seufzt wieder und tritt seinen reumütigen Gang zum mütterlichen Haus an. Gerade als er den kleinen, runden Klingelknopf drücken will, wird die schwere Haustür von innen aufgerissen und er blickt in das Gesicht einer fremden, alten Dame.

Nun ja, nicht ganz fremd. Es ist Michaela, die Nachbarin.

Und die zupft ihn lachend von der ‚Herzlich Willkommen‘-Fußmatte ins heimelige Haus hinein und schiebt ihn weiter den Flur entlang. Karim schnüffelt unauffällig. Riecht er Johannisbeerlikör? Haben die beiden etwa einen gepichelt?

„IRMTRAUT…DEIN JUNGE IST DA?“ Von oben ertönt Gegacker.

„ICH HOFFE ER IST BESSER GELAUNT, ALS VORHIN AM TELEFON!“

Diesmal kichert Michaela wie ein junger alberner Backfisch, „Na geh schon!“

Trotz der Aufforderung zu gehen, hält sie ihn am Ärmel fest, „Aber erspar dir jeden Kommentar über den Likör!

Den hat deine Mutter echt nötig gehabt, so blass wie sie war. Verstanden?“ Karim verkneift sich ein Grinsen und nickt, „Ich bin blind wie eine Fledermaus. Versprochen!“

Die zupackende Hand, löst sich und die rotbackige Nachbarin gibt den Weg nach oben augenzwinkernd frei.

Du liebe Güte…wieviel haben die beiden denn schon intus?

Oben, im Wohnzimmer empfängt ihn seine Mutter, hoheitsvoll wie eine Filmdiva. Ihre dick verbundene Hand ruht auf ihrem Schoß, was Karims schlechtes Gewissen wieder voll aufflammen lässt. Mit betretender Miene geht er eilig rüber zu Couch, drückt seiner Mutter ein Küsschen auf die pergamentartige Wange und haucht leise in ihr Ohr, „Tut mir leid, Mutti!“ Der mitgebrachte Strauß wechselt den Besitzer und Irmtraud, seine Mutter schnüffelt an den bauchigen Blütenköpfen.

Dabei tätschelt sie ihrem Sohn die Wange, so wie sie es früher immer getan hat, wenn er etwas ausgefressen hatte und anschließend wie ein geprügelter Hund zu ihr kam.

Ihr lächelndes Gesicht legt sich in tausend kleine Fältchen, „Ach, schon gut, du kleiner Miesepeter…setz dich und leiste uns ein klein wenig Gesellschaft!“

Karim folgt der Anweisung, strippt sich aus seinem Anorak, den er nachlässig über den Sessel hängt und fläzt sich neben seine Mutter, wobei er schon fast anmutig seine langen Beine übereinanderschlägt. Seine Augen befingern neugierig die Hand seiner Mutter, „Und? Was hast du da fabriziert?“

Michaela gesellt sich dazu, nachdem sie Karims Jacke rüber ins Esszimmer gebracht und gleichzeitig den Blumen einen Vasenparkplatz zugewiesen hat und nimmt auf dem gegenüberliegenden Sessel Platz. Augenblicklich klinkt sie sich in das bestehende Gespräch ein, „Deiner Mutter sollte man sämtliche Messer abholen. Irgendwann schlitzt sie sich noch den Hals auf!“

Karim fragender Blick wandert zwischen seiner Mutter und der eifrig nickenden Michaela hin und her. Seine Mutter schaut ein bisschen peinlich berührt auf ihre Hand, „Ich wollte doch nur eine Orange schälen…sonst nichts!“ Und wie um ihre Unschuld zu beweisen, fügt sie hinzu, „Die Schale war aber sowas von blöd. Also habe ich fester gedrückt…der Saft ist herausgespritzt, mir voll ins Auge und dann ist das Messer einfach so abgeglitten und …peng…voll in den Handballen!“

Schon fast stolz hält sie ihrem Sohn, die Mullverpackte Hand entgegen, „Vier Stiche, mein Lieber…vier Stiche…cool, nicht?“ Karim schaut zu Boden und unterdrückt ein Lachen. Erstens kennt er nur einen Menschen, der eine Apfelsinenschale als blöd bezeichnet und zweitens…das Wort ‚Cool‘ aus dem Mund seiner alten Mutter, klang wirklich saukomisch. Doch schnell fängt er sich und schnappt sich die angebrochene Likörflasche vom Tisch, wofür er einen bösen Blick von Michaela einkassiert. Mit einem entwaffneten Lächeln schaut er in die Runde, „Ist der nur für euch oder kann ein armer Wandersmann auch ein winziges Schlückchen bekommen?“

Irgendwann wagt er nebenbei einen Blick auf seine Armbanduhr. Es ist kurz nach fünf.

Die Zeit ist ja wie im Flug vergangen. Amüsiert betrachtet er die beiden ältlichen Damen, die mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen in vergangenen Zeiten schwelgen. Still, um keine Unruhe in die entstandene Erinnerungsblase reinzubringen, erhebt er sich. Sofort springt Michaela auf, „Du willst schon fahren?“

Nun setzt seine Mutter einen bittenden Dackelblick auf, dem Karim normalerweise nicht widerstehen kann, „Och, Junge…musst du wirklich schon los? Du bist doch gerade erst gekommen.“ (Von wegen! Sie weiß genau, wie lange ihr Sohn schon da ist!) Ihr anfänglich bettelnder Blick wechselt zu Neugier, „Du hast mir auch noch gar nicht erzählt, was heute Mittag im Krankenhaus los war. Von wegen verheiratet und so…!“

Die Nachbarin ruckt auf und spitzt wissbegierig ihre Ohren. Wer ist verheiratet? Karim zuckt innerlich kurz zusammen (das hat er schon fast vergessen), winkt aber äußerlich gelassen ab, „Ach das…ich habe überreagiert…hatte ein bisschen Stress auf der Arbeit!“

Er beugt sich zu seiner Mutter und drückt sie kurz an sich, „Außerdem ist die Story nur halb so interessant, wie sie klingt. Ich erzähl sie dir ein andermal, okay?“

Michaela senkt enttäuscht den Kopf und huscht, damit man ihr die Enttäuschung nicht direkt ansieht, ins Esszimmer um Karims Anorak holen. Dann bringt sie ihn zur Tür (vielleicht hofft sie auf zusätzliche Informationen?), „Kommst du morgen nochmal?“

Karim nickt, ist mit seinen Gedanken aber schon an seinem Auto, „Natürlich!“

Michaela nickt ebenfalls und backt gedanklich schon einen Kuchen für Morgen, den sie mitbringen will.

Natürlich wird sie auch da sein!

Die Dämmerung hat schon eingesetzt, was aber an so einem verhangenen Tag nicht viel zu bedeuten hat. Es ist den ganzen Tag schon nicht richtig hell geworden.

Prüfend schaut er wieder auf seine Uhr. Viertel nach fünf.

Unruhig windet Karim sich auf dem Sitz. Er hat das Gefühl, als ob ihn gleich die schwarze Ledertasche von hinten in den Nacken springen würde. Vorsichtshalber (was für ein Quatsch) dreht er sich um. Die fremde Tasche lungert, wie eh und je, auf dem Rücksitz herum und gibt keinen Mucks von sich.

Brummend dreht er sich wieder nach vorn, „Ist doch nur eine doofe Handtasche!“ Missmutig startet er den Motor.

Er hat vor, direkt nach Hause zu fahren. Doch irgendwie will sein Fuß einfach nicht das Gaspedal nach unten drücken. So sitzt er bestimmt fünf Minuten im Auto.

Langsam aber sicher muss ihm was einfallen, sonst kommt die kleine Klatschbase seiner Mutter herausgesprungen und durchlöchert ihn mit Fragen (die er nicht beantworten kann oder will).

Vielleicht könnte er ja…

Mit klopfenden Herzen greift Karim hinter sich und zerrt das schwarze Ledervieh nach vorn, auf seinen Schoß.

Vorsichtig, als ob er einen Beutel Klapperschlangen vor sich hat, greift er in die Tiefen der fremden Handtasche und fischt mit spitzen Fingern das Portemonnaie hervor.

Ohne großartig nachzudenken (sonst überlegt er es sich anders) klappt er die Geldbörse auf und zieht den Ausweis hervor. Seine Hand zittert und irgendwie fühlt er sich wie ein Verbrecher, was er natürlich nicht ist.

Er muss doch nur den Namen und die Adresse erfahren, damit er die Handtasche dort abliefern kann. Eine braunhaarige Frau, so um die 30 (vielleicht 35) schaut ihm mit ernster Miene entgegen.

Passbilder sind ja sowas von Scheiße!

Sein Blick sucht den Namen und die Adresse.

Er überfliegt kurz die Daten…das ist ja in Burbach, gar nicht so weit von ihm weg. Er wohnt ebenfalls in Burbach. Na wenigstens muss er dann keine Stadtrundfahrt veranstalten.

Irgendwie erleichtert macht er sich auf den Weg. Keine fünfzehn Minuten später parkt er seinen Audi vor dem fremden Haus und blickt prüfend die rote Hausfassade hoch. Komm, Karim…bring es hinter dich…einfach nur klingeln…die Sachlage aufklären…Tasche abgeben und dann gleich abdampfen!

Mutig springt er aus dem Auto und strebt zur Haustür, an der acht Klingelknöpfe ihm mitteilten, dass hier acht Mietparteien wohnen.

Akribisch liest er die Namen von unten her.

Da…die oberste…Jordan J. Das muss sie sein.

Gespannt läutet er und wartet. Nichts.

Er drückt wieder auf den Knopf und wartet erneut. Doch es tut sich einfach nichts. Soll er? Oder lieber doch nicht?

Karim entscheidet sich für: er soll!

Schließlich kann er für den ganzen Schlamassel nichts.

Niemand hat ihn zu Ende reden lassen. Niemanden hat es interessiert, dass er EIGENTLICH mit der ganzen Sache, sprich, Frau Jordan, nichts zu tun hat! Aber als guter Bürger ist es schließlich seine Pflicht, die Handtasche unversehrt seiner Besitzerin wieder zurückzugeben. Er kann sie ja einfach in den Wohnungsflur schieben, ohne wirklich die Wohnung zu betreten. Umständlich wühlt er in der Damenhandtasche herum, bis seine suchenden Finger den klimpernden Schlüsselbund erhaschen. Wie selbstverständlich probiert er die Schlüssel durch (Gott sei Dank ist es gleich der zweite) und sperrt auf. Neugierig späht er in den hohen Hausgang und beginnt langsam, die Stufen nach oben zu erklimmen.

Die Wände können mal den ein oder anderen Pinselstrich vertragen, stellt er fest. Außerdem riecht es in der ersten Etage fürchterlich nach Knoblauch, der sich hinaufzieht, bis unters Dach. Dort stehen in dem langgezogenen Flur zwei Schränke an der einen Wand, flankiert von zwei Bäumchen, die allerdings an Haarausfall, beziehungsweise an Blattausfall, leiden (Knoblauchvergiftung?), wie man unschön an dem verteilten Laub am Boden erkennen kann.

Ihnen gegenüber befinden sich zwei Haustüren.

Welche gehört nun Frau Jordan?

Genau in diesem Moment öffnet sich die hintere Haustür und entlässt eine schmale, kleine Blondine in den Gang.

Sie bleibt abrupt stehen und reißt erstaunt, aber auch fragend, ihre grell geschminkten Augen auf, als sie Karim sieht, „Hoppla…suchen sie jemanden?“

Was soll Karim darauf sagen? In einer hilflos wirkenden Geste hält er die schwarze Ledertasche, wie ein Schutzschild, vor sich und sagt nur, „Jordan!“

Die blonde Frau lacht erleichtert, „Ach, die Jojo!“

Unbewusst streift ihr Blick die vordere Haustür und zieht dann ihre eigene Tür ins Schloss, „Ich wusste gar nicht, dass Josefine einen Freund hat!“ Ein neugieriger, aber auch anerkennender Blick huscht über seinen Körper.

Karim lächelt leicht verkrampft, „Ist vielleicht im Augenblick auch noch etwas übertrieben ausgedrückt!“

Wieso lügt er denn jetzt?

Frau Jordans Nachbarin schiebt sich an ihm vorbei und schenkt ihm dabei ein breites Grinsen, „Na dann viel Spaß…sagen sie unserer kleinen Geheimniskrämerin einen schönen Gruß!“

Karim nickt wie ein Roboter und stakst zur ersten Haustür. Um Zeit zu schinden wühlt er scheinbar suchend in seiner Jackentasche, während er über seine Schulter schielt. Die Blondine winkt ihm noch kurz zu und verschwindet laut stampfend, die Stufen nach unten, hinaus aus Karims Blickfeld. Karim atmet erleichtert auf und probiert wieder die Schlüssel durch.

Mit einem Mal gibt das Schloss nach, schnalzt leise und die Tür öffnet sich bereitwillig.

„Hallo?“ Karim drückt die Tür mit den Fingerspitzen vorsichtig weiter auf, „Hallo? Ist jemand da?“ Keine Antwort. Er probiert es noch einmal.

Niemand kann ihm vorwerfen, er hätte es nicht probiert, „Kuckuck! Klopf, Klopf…Hallihallo…!“ Doch kein Ton dringt aus der dunklen Wohnung. Karim bückt sich und schiebt die Handtasche in ihr Zuhause. Nachdenklich betrachtet er das zerknautschte Teil. Dann steht er ganz plötzlich auf, tritt schnell ein und schließt die Tür hinter sich. Karim, was tust du da? Was soll er hier schon tun.

Schließlich benötigt die arme Frau Jordan Kleider zum Wechseln! Oder nicht? Er ist nur hilfsbereit, sonst nichts! Und mal unbeobachtet in einer fremden Wohnung rumschnausen, kann auch interessant sein, nicht wahr, Karim? Maul halten!

Tastend sucht er den Lichtschalter zu seiner Rechten.

Augenblicklich strahlt Licht von der Decke auf ihn herab und beleuchtet die skurrile Szenerie.

Er befindet sich in einem kleinen quadratischen Flur. Da!

Eine Bewegung rechts von ihm! Erschrocken ruckt er herum und zuckt gleichzeitig ertappt zusammen. Doch im selben Moment beschimpft er sich selbst als ausgemachte Memme. Das ist doch nur sein Spiegelbild!

Karim wirft einen Blick nach unten und stellt fest, dass er gerade auf einem dicken, rechteckigen Teppich steht, der sich anscheinend aus (gefühlten) tausend kleiner brauner Filzkugeln zusammensetzt. Links, an der Wand sind Haken angebracht und an einem baumelt einsam ein kleiner, schwarzer Knirps. Unter den Garderobenhaken steht eine große Holztruhe, mit einem beigefarbenen Sitzkissen. Karim schaut nun vor sich und starrt direkt auf eine hellbraune Baumstamm-Tapete. Das Stammmuster wird rechts, in der Ecke, abgeschnitten von einem schwer wirkenden grüntürkisfarbenen, gestreiften Vorhang. Dieser versperrt ihm auch den Blick auf die weiteren Wohnräume. Ohne große Scham (jetzt ist er eh schon in der Wohnung), schiebt er den farbenfrohen Stoff zu Seite, fingert rechts an der Wand entlang, bis er den Lichtschalter auch dort betätigen kann und betritt ein sanft erleuchtetes Esszimmer, das nahtlos in ein Wohnzimmer übergeht.

Unsicher macht Karim einen Schritt nach vorne und dreht sich einmal um die eigene Achse. Zu seiner Rechten hat er zwei weitere Türen ausgemacht. Zielsicher will er drauflos stürmen und bleibt prompt mit seinem Kopf an einer, von der Decke hängenden Blumenampel kleben, deren Inhalt, ein langarmiger Efeu, sich in seinen Haaren verfängt. Leicht anwidert windet er sich aus dem Grünzeug heraus.

Warum müssen Frauen immer und überall Blumen reinklatschen? Er selbst vergnügt sich seit Jahren mit einem einzigen mickrigen Kaktus! Das genügt ihm auch völlig.

Nachdem er der unschuldigen Pflanze noch einen bösen Blick zugeworfen hat, drückt er die angestrebte Tür auf.

Ups! Badezimmer! Schnell schließt er die Tür wieder, jedoch, nicht ohne vorher noch einen Hauch von Kokos in die Nase zu bekommen. Karim mag exotische Düfte.

Aber er lässt sich nicht aus dem Konzept bringen.

Schließlich ist er hier, um eine Aufgabe zu erfüllen.

Weiter geht es, vorbei an einer Eckvitrine, zur nächsten Tür. Auch diese öffnet er hoffnungsvoll, klatscht aber augenblicklich und leicht entsetzt das Türblatt wieder zu.

Was für eine stupider Kochtempel!

Abrupt wendet er sich wieder dem Esszimmer zu und rempelt dabei gegen eine hohe Stehlampe, die bedenklich in Schieflage gerät. Schnell fängt Karim die kippende Lampe auf und stellt sie wieder sorgfältig hin.

Wo kommt die denn auf einmal her?

Blöd, wenn man sich nicht auskennt! Er geht zwei Schritte weiter ins Esszimmer hinein und lugt um die Ecke, ins Wohnzimmer. Direkt neben ihm, geht noch eine Tür ab.

Viel Auswahl bleibt jetzt ja nicht mehr. Das kann nur das Schlafzimmer sein. Karim seufzt, drückt langsam die Klinke nach unten und schiebt die Tür vorsichtig auf. Wer weiß schon, was sich hinter diesem Zugang verbirgt. Er hat keine Lust, hier irgendetwas zu zerstören.

Zögernd fingert er auch hier an der rechten Innenwand herum, bis er den Lichtschalter gefunden hat. Klack. Ein Deckenstrahler reagiert und erleuchtet ein, in weiß grün gehaltenes Schlafzimmer. In der hinteren rechten Ecke steht, nicht zu übersehen, ein großer dreitüriger Kleiderschrank. Dorthin führt ihn sein Weg. Schließlich braucht die Dame des Hauses Kleider. Nicht wahr?

Ohne zu zögern reißt er alle drei Schranktüren auf und späht hinein. Hm! Was soll er mitnehmen?

Mit zusammengekniffenen Augen inspiziert er den Inhalt, zieht zielstrebig einen Jogginganzug, eine Jogginghose, zwei T-Shirts, eine Weste und einen leuchtend gelben Sweater hervor. Alle Teile wandern auf den Boden hinter ihm. So, und was noch?

Die Uschi -Stimme aus der Klinik scheppert spröde, wie eine alte zerkratzte Platte, in seinem Hinterkopf:

Unterwäsche…vergessen sie die Unterwäsche nicht!

Karim seufzt, „Unterwäsche. Klar.“

Er tritt einen Schritt zurück um sich einen Gesamtüberblick zu verschaffen. Ganz unten stehen geflochtene Körbe, aus denen diverse Kleinteile quellen.

Kleinteile, die Karim normalerweise sehr mochte…an Frauen…und nicht in Schränken. Ergeben kniet er sich hin und zieht den ersten Korb ein Stück hervor. Socken!

Socken sind gut! Gleich fünf Paar finden den Weg zu dem textilen Haufen hinter ihm. Nächster Korb. Unterhosen!

Slip wäre falsch formuliert. Dies sind Unterhosen!

Mit zwei Fingern angelte er die Oberste raus und hält sie mit ausgestrecktem Arm, vor sich.

Verwaschenbabyblau. Passend für den Po einer Big-Mama. Zumindest ist das seine Meinung. Ohne weitere Begutachtung zerrt er vier weitere Unterhosen hervor und wirft sie ohne einen weiteren Blick daran zu vergeuden, hinter sich. Dritter Korb. BHs. Gütiger Himmel.

Ihm schwant Schlimmes. Auch hier zupft er das oberste Teil hoch und betrachtet die farblose baumwollene Busenbekleidung. Wie furchtbar! Der nächste BH, an dem er zerrte, verhakte sich in den Flechten des Korbes und Schwupps…der ganze Inhalt ergießt sich auf seinen Schoß. Oh Mann, schlimmer geht immer.

Ohne hinzusehen, packt Karim die Sachen und fühlt…ähm…Spitze? WAS? Verblüfft schaut er nun doch runter und ein winziges süffisantes Lächeln umspielt seine Mundwinkel.

Holla, die Waldfee! Na sieh mal einer an. Unsere kleine graue Maus scheint gar nicht sooo grau zu sein.

Ein Hauch von roséfarbener, zarter Spitze gleitet durch seine Finger, hinein in den Korb. Ihm folgt ein silberglänzender Satinbüstenhalter. Als nächstes schieben sich seine Finger in einen schwarzen Netz- Body. Karim schluckt. Wow! Aber…schnell weg. Das geht ihn rein Garnichts an.

Doch sein böser Gewissenszwerg im Kopf piekt ihn mit seinem spitzen Dreizack: Bestimmt liegen unter den Liebestötern ein paar hübsche Tangas. Guck doch mal!

Karims Hand streckt sich schon zitternd aus, doch…STOP!

Als ob er sich verbrüht hätte, zieht er seine Hand augenblicklich zurück, greift stattdessen nach den ollen Büstenhaltern und türmt sie zusammen mit alten, ausgeleierten Sport-BHs in ihren Korb, den er flugs wieder im Schrank verschwinden lässt. Mit einem lauten Knall schließt er alle Türen und atmet tief durch.

Was du hier tust, ist abgrundtief schlecht. Wirklich schlecht! In der Unterwäsche einer fremden Frau rumschnüffeln.

Karim, schäm dich!

Er fühlt sich auch wirklich hundsmiserabel. Ziemlich betröppelt rutscht er auf seinen Knien herum und betrachtet den Kleiderhaufen vor ihm.

Und in was, bitte schön, soll er die Sachen einpacken?

Karim rappelt sich auf und schaut sich um. Doch er traut sich nicht mehr, weiterzusuchen. Wer weiß schon, über was er sonst noch stolpern würde.

Karim will es, ehrlich gesagt, gar nicht wissen. Deswegen klaubt er den ganzen Haufen einfach zusammen, stürmt zur Tür, fummelt mit dem Ellbogen das Licht aus und verlässt fast fluchtartig den Ort seiner Schande. Dabei stolpert er über einen Teppichsaum und knallt brutal gegen den Esstisch. Die Tischkante bohrt sich hart in seinen Magen und der Kleiderhaufen fliegt im hohen Bogen über die Tischplatte. So abrupt der Atemluft beraubt, sieht er vor sich, praktisch in Augenhöhe, die kleine, bauchige Glasvase wanken und…umkippen.

Blumenwasser ergießt sich gluckernd auf den Esstisch.

Ein unheilvolles rollendes Geräusch…

Gleich darauf macht es ‚Klirr‘ und die eben noch hübsch bestückte Vase zerschellt zusammen in einem Rosenmeer, am Boden. Verzweifelt schließt Karim die Augen.

Wie war das? Kleine Sünden straft Gott gleich? Offensichtlich ist an diesem Spruch wirklich etwas dran!

Ächzend richtet er sich auf und reibt mit leicht verzerrtem Mund, seinen malträtierten Bauch. Herrje, was für eine Sauerei. Das kann er unmöglich so zurücklassen. Er wirft einen Blick nach rechts, zur Küchentür und verzieht abermals das Gesicht. Doch es hilft alles nichts. Er muss saubermachen. Also trottet er in den hässlichsten Raum, der ihm je unter die Augen gekommen ist, nimmt den noch hässlicheren, roten Unterschrank ins Visier und zieht am Griff, um die Schranktür zu öffnen.

Schwupps! Ungläubig starrt er auf den losen Griff in seiner Hand und schaut noch ungläubiger, mit offenem Mund, auf die Schranktür, die nun zwei verwaiste Löcher aufweist. Heilige Scheiße! Hat sich denn heute alles gegen ihn verschworen? Das gibt es doch nicht.

Langsam aber sicher brodelt die Wut in ihm hoch.

Was ist das hier denn für eine verkackte Bruchbude? Wenn er hier fertig ist, hat er wahrscheinlich alles in Schutt und Asche gelegt und diese Jordan würde ihn mit einer Flut von Klagen überrollen.

Völlig genervt schmeißt er den abgerissenen Griff auf den dazugehörigen Schrank und stampft zu Spüle. Hier rüttelt Karim erst vorsichtig an dem Griff. Fest.

Wenigstens etwas. Mit einem Ruck zieht er die Tür auf und linst prüfend hinein.

Im gleichen Moment könnte er sich selbst in den Arsch beißen. Hier liegen, in trauter Zweisamkeit, der Handfeger samt Schaufel und kuschelt seelenruhig mit einer Packung Küchenrollen. Karim beißt knirschend die Zähne zusammen und zerrt beides an Tages-, bzw.

Küchenlicht. Bewaffnet mit dem gefundenen Reinigungsutensilien, stakst er wieder zurück ins Esszimmer. Dort wischt er erst einmal den Tisch trocken.

Dann hebt er vorsichtig die Rosen auf und legt sie auf dem Tisch ab. Mit dem kleinen Handfeger schiebt er die Überreste der Vase auf die Schaufel.

Hoffentlich hat er alle Scherben erwischt.

Vorsichtig balanciert er die zerbrochene Fracht in die Küche, schaut sich um und entdeckt den Mülleimer links an der Wand, neben dem altertümlichen Herd und könnte vor Wut schon wieder aus der Haut fahren. Der Deckel steht halb offen und die Mülltüte quillt fast über.

Karim schnauft wie ein gereizter Stier. Behutsam, was absolut nicht seiner jetzigen Verfassung entspricht, legt er die Kehrschaufel am Boden ab, stapft zur Spüle und sucht Mülltüten. Und tatsächlich findet er gleich drei Rollen.

Und warum, verflixt nochmal, kann diese unmögliche Frau dann nicht mal die Tüten wechseln?

Mit einem Ruck reißt er an der perforierten Naht und schüttelt die Tüte auf. Dann zerrt und ruckelt er an der vollen Tüte im Eimer, die ziemlich festsitzt. Einmal noch und…schon ergießt sich stinkender Abfall auf dem Küchenboden. Karim geht in die Knie und haut sich die Stirn auf das Laminat.

Immer und immer wieder…bis er sich keuchend aufrichtet und still, mit erstaunlich ruhiger Hand die frische Tüte in den Eimer stopft. Anschließend nimmt er sich eine weitere Tüte und schöpfte mit der Scherbenschaufel, den verstreuten Müll hinein. Ohne eine Miene zu verziehen, geht er ins Esszimmer und kehrt mit der Küchenrolle zurück. Ein paar Blätter weicht er unter dem Küchenkran auf. Damit beseitigt er die klebrige Schweinerei auf dem Fußboden, von der er gar nicht wissen will, was es ist. Karim wundert sich selbst, wie ruhig er im Augenblick ist.

Vielleicht steht er ja unter Schock?

Mit der Mülltütenrolle bewaffnet, begibt er sich wieder ins Esszimmer. Eine Plastiktüte nach der anderen füllt sich mit Kleidung. Insgesamt vier an der Zahl. Dann schnappt er sich im Vorbeigehen, die ruinierten Rosen, sticht sich noch in den Finger, was Karim mittlerweile aber ziemlich kalt lässt und verfrachtet die geknickten Blumen ebenfalls im Müll. Mit einem Ruck knotet er die Mülltüte zu, löscht das Licht, packt zusätzlich die vier Kleidertüten und wuchtet alles in den Flur. Dort fällt ihm die schwarze Lederhandtasche ins Auge.

Die Hauptverantwortliche! Die Wurzel allen Übels! Die geöffnete Büchse der Pandora! (neben Noah, dem Flachbrettbohrer).

Am liebsten würde Karim sie mit den Zähnen zerfleischen und in Millionen Stücke reißen. Doch stattdessen begnügt er sich mit einem Tritt, was die Tasche allerdings nicht zu beeindrucken scheint.

Er entschließt sich, sie ebenfalls mitzunehmen, hängt sich den widerspenstigen Übeltäter über die Schulter, schließt die Haustür hinter sich ab und verlässt die fremde Wohnung und das fremde Haus.

Nun muss er nur noch zuschauen, dass er die Klamotten ins Krankenhaus bekommt und dann…Leute…Arschlecken…Klar?

Noch immer Karim und die Handtasche…

Wütend packt er die fünf Tüten und die anhängliche Handtasche in den Kofferraum und klappt ihn zu. Doch halt. Mit einem Aufstöhnen schließt er den Kofferraum wieder auf, zerrt die Mülltüte hervor und legt sie einfach an der Haustür ab. Ist ja schließlich nicht sein Müll!

Anschließend setzt er sich in sein Auto, startet und fährt mit quietschenden Reifen los.

Ein befriedigendes Geräusch!

Zwanzig Minuten später. Es ist mittlerweile kurz vor sieben. Am Ende mit seiner Geduld sucht er sich eine Parklücke, steigt aus und öffnet den Kofferraum. Durch Zufall entdeckt er seine Sporttasche, die er schon seit Wochen sucht. Ohne Umschweife stülpt er den stinkenden Inhalt raus und leert die prallen Kleidertüten in die nun freie Sporttasche. Ist ihm doch egal, wenn alles kreuz und quer darin herumfliegt. Er will endlich nach Hause!

Bepackt mit SEINER Tasche, die IHRE Kleidung beherbergt, stürmt er die Klinik und begibt sich ohne Umschweife in den zweiten Stock, die Neurochirurgie, während er gleichzeitig ein Stoßgebet zum Himmel schickt, dass die Uschi-Schwester noch da ist. Am Tresen des Schwesterzimmers kommt er schlitternd zum Stehen.

Keuchend schaut er sich um, „Hallo? Schwester Uschi?

Sind sie da?“

Die Tür zum Nebenraum öffnet sich und heraus kommt…eben NICHT Schwester Uschi, sondern eine andere, ihm unbekannte Schwester. Höflich lächelnd kommt sie heran, „Kann ich ihnen behilflich sein?“