Hope - Lilian Hintermeyer - E-Book

Hope E-Book

Lilian Hintermeyer

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Beschreibung

Es ist der 17. März 2012 und Dorothea steht kurz vor ihrem 80. Geburtstag. Doch seit einiger Zeit wird sie von Träumen geplagt. Beunruhigende Träume. Beängstigende Träume. Träume, die mit klammen Fingern an Dorotheas Büchse der Pandora rütteln, die sie seit 70 Jahren im hintersten Winkel ihrer vernarbten Seele vergraben und vergessen hat. Die furchtbaren Erinnerungen, die sich darin verbergen, katapultieren sie zurück ins Jahr 1934, in die Berge der Rocky Mountains, zu dem Tag, als ihre Geschichte, ihre Erinnerungen den Anfang nahmen. Sie weiß, sie muss sich diesen schrecklichen Ereignissen stellen, auch wenn sie dies nicht will. Am späten Abend des 20. März, am Ende ihres Geburtstages, eröffnet sie ihrer Familie Ungeheuerliches. Sie gesteht, dass sie eigentlich an diesem Tag 82 Jahre geworden ist, dass ihr Name Penelope ist, dass ihre Mutter eine Indianerin war, dass sie einmal eine kleine Schwester hatte und dass sie eine Mörderin ist. Zögernd breitet sie ihrer schockierten Familie nun ihre Vergangenheit aus. Eine Vergangenheit, in der Menschlichkeit keinen Wert besaß, die düsterer war, als die schwärzeste Nacht, aber in der trotz allem ein kleiner funkelnder Stern namens Hoffnung geleuchtet hatte! Hope!

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Seitenzahl: 642

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Alle Personen und die Handlung sind frei erfunden. Auch bei den Örtlichkeiten habe ich künstlerische Freiheit walten lassen und sie entsprechen nie genau dem Original. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Obwohl dies ein Unterhaltungsroman ist, halte ich ihn inhaltlich nicht geeignet für Kinder und Jugendliche unter vierzehn Jahren!

Für Amina

Ich sah dich nur ein einziges Mal und doch

werde ich dich nie vergessen!

Inhaltsverzeichnis

Bosen, den 17.03.2012

19.03.2012

Penelope

Colorado 1934

Sunny

Kindheit Ade

Alptraum

Die Fremde

Verantwortung

Neuigkeiten

Tödliche Gewalt

Hoffnung und Hoffnungslosigkeit

Mut und Mutlosigkeit

Überleben (Teil 1)

Hass

Winter

Der neunte Sommer (Glück)

Wölfe

Die Hölle (Teil 1)

Die Hölle (Teil 2)

Keine Gnade

Überleben (Teil 2)

Tödliche Rache

Die Reise (Teil 1)

Überleben (Teil 3)

Alleine

Die Reise (Teil 2)

Das Ziel vor Augen

Dorothea

21.03.2012

Epilog

Hitze! Das ist das erste was sie fühlt. Panisch reißt sie die Augen weit auf. Feuer! Heißes Feuer! Adrenalin schießt elektrisierend durch ihren Körper. Flucht! Sie muss weg! Doch ihre Füße sind scheinbar fest im Boden verankert. So sehr sie auch ruckelt und zerrt…sie bewegen sich keinen einzigen Millimeter. Die lodernden Flammen vor ihr, ängstigen sie. Die ganze Atmosphäre hat etwas Gespenstisches. Hitzewellen wabern, wie unsichtbarer Nebel um ihren schmächtigen, verbrauchten Körper. Vor ihr steht ein simples, schon fast provisorisches erscheinendes, Holzgerüst. Orangene Flammen züngeln sich gierig durch das untere gestapelte, trockene Geäst vor ihr. Beißende, weißliche Schwaden lassen ihr die Augen tränen. Mit klopfendem Herzen wischt sie sich die nassen Wangen mit ihrem knochigen Handrücken ab und schaut sich um. Um diesen Scheiterhaufen direkt vor ihr (ja, sie denkt es könnte ein Scheiterhaufen sein) stehen dunkle, regungslose Gestalten. Auch die ängstigen sie. Wer waren diese fremden Menschen? Und was wollen sie? Unheimliche Stille liegt über diesem kuriosen Szenario. Eine plötzlich auftretende, sanfte, kühle Brise bauscht ihr leichtes Nachthemd etwas auf und lässt sie kurz frösteln. Schlagartig breitet sich eine unangenehme Gänsehaut über ihren gesamten Körper aus. Der kleine Hügel, auf dem sie sich ganz offensichtlich befindet, scheint von einer erdrückenden Melancholie bedeckt zu sein…fast wie vakuumiert, in einer unsichtbaren, erdrückenden Hülle. Ihre tränenden Augen wandern zum Himmel. Pechschwarz und sternenlos liegt die Nacht, wie ein schweres Tuch, über ihr. Nur die Flammen vor ihr spenden zuckendes, orange gelbes Licht und verwandeln die Schatten der hier versammelten, stummen und stillen Teilnehmer in grotesk tanzende Gestalten auf dem sandigen Boden hinter ihnen. Eine Frau tritt zu ihr. Es könnte aber auch ein Mädchen sein. So genau kann sie das nicht erkennen, denn die Frau, oder das Mädchen, trägt eine hölzerne, geschnitzte Maske vor ihrem Gesicht, so dass nur die Augen im Schein des Feuers funkeln. Ihr Gewand ist genauso merkwürdig, wie dieses ganze Geschehen. Das üppig und äußerst kunstvoll bestickte, fast weiße Wildlederkleid umschließt den schmalen, offensichtlich noch nicht ausgereiften Körper (also doch wohl eher ein Mädchen) und reicht ihr fast bis zu den zierlichen Knöcheln. Ihre Füße sind nackt. Die Zehennägel unlackiert.

Es knackt und zischt dicht neben ihr und sie wendet den Blick wieder zu dem vermeintlichen Scheiterhaufen. Erst jetzt bemerkt sie den eingehüllten Gegenstand darauf. Sie strengt ihre Augen an und betrachtet dieses vermummte Etwas durch die immer stärker werdenden dichten Rauchschwaden. Von der Form her könnte es ein Mensch sein. Sie blinzelt angestrengt. Und wirklich! Da liegt tatsächlich ein Mensch vor ihr und er wird ganz offensichtlich verbrannt. Handelt es sich hier um eine rituelle Bestattung? Oder vielleicht sogar um eine Hinrichtung? Ein eiskalter Schauer überläuft sie und sie zieht fröstelnd die Schultern hoch. Verängstigt schaut sie sich wieder um und betrachtet den Menschenkreis genauer. Alle, wirklich ausnahmslos alle, tragen primitive Kleidung aus Leder. Die Männlichen haben freie Oberkörper, die im Schein des Feuers, nass vom Schweiß, glänzen. Ihre Beinkleider (ja, Beinkleider…das Wort ‚Hosen‘ scheint hier irgendwie nicht Zutreffend zu sein) sind genauso festlich bestickt wie die Knöchel- oder Wadenlangen Kleider der hier anwesenden Frauen. Fast genauso, wie das Kleid des Mädchens, das noch immer vor ihr steht, aber mittlerweile ihre kleine, schmale Hand nach ihr ausgestreckt hat. Und noch etwas haben sie gemeinsam. Sie alle tragen diese eigenartigen, kunstvoll geschnitzten Masken, wie das Mädchen. Und sie alle Starren SIE an. Ob sie Angst hat? Ja, klar. Eine Scheißangst sogar. Sie hat das dringende Bedürfnis, pinkeln zu müssen und ihre Gedärme fühlen sich wie flüssiger heißer Brei an. Was soll das hier? Wo ist sie überhaupt? Und warum ist sie hier? Was wollen die alle von ihr?

Denn dass sie etwas von ihr wollen, scheint sonnenklar. So klar wie die tiefbraunen Augen, die sie durch die Maske des Mädchens, das wartend (?) vor ihr steht, anfunkeln. Tiefbraune Augen…fast schon schwarz…

Etwas klingelt ganz leise in ihr und auf einmal ist ihre Angst schlagartig verpufft und weicht einer, für sie, undefinierbaren Aufregung. Tiefbraune Augen….

Noch immer streckt ihr das junge Mädchen still und reglos und auch irgendwie auffordernd, die schmale Hand entgegen. Zaghaft macht sie einen Schritt nach vorne und legt sachte ihre knochigen, von Gischt verkrümmten Finger, in die Hand des jungen Mädchens. Warme, glatte Finger schließen sich um ihre Eiskalten. Ihr unregelmäßiger Herzschlag beruhigt sich. Das Mädchen dreht sich um, zieht sie mit sanfter Gewalt voran und führt sie im Kreis herum. Vorbei an den verharrenden Gestalten, so als ob sie vorgeführt werden soll…oder vorgestellt…nein, vielleicht eingeführt? Ja! Einführen. So fühlt es sich an. Aber einführen, wohin? Jede maskierte Frau und jeder maskierte Mann nickt ihr kaum merklich zu und streicht ihr einmal, federleicht über die Stirn. Als die Runde beendet ist, wendet sich das junge Mädchen, das sie soeben herumgeführt (eingeführt) hat, zu ihr um und lässt ihre Hand mit einem Mal wieder los. Nun wendet sie sich, noch immer stumm, mit an den Seiten hängenden Armen, dem Scheiterhaufen zu, ignoriert sie jetzt (so fühlt es ich an) und blickt ruhig und regungslos in die Flammen. Ein stiller erhabener Kreis, in dessen Zentrum das Feuer sich immer weiter durch das hölzerne Gestell frisst. Und sie mittendrin in diesem Kreis…doch trotzdem alleine… Das Schlagen ihres Herzens beschleunigte sich wieder. Ihre Füße lösen sich langsam vom Boden und mit unsicheren Schritten bewegt sie sich, wie ferngesteuert, auf den Scheiterhaufen zu. Sie will da nicht hin…alles in ihr scheint sich zu sträuben. Ihre Augen sind weit aufgerissen.

Der brennende Schrein ist nicht besonders hoch in seiner Bauweise und die Flammen lecken schon gierig nach dem, in weißes Tuch verhüllten, Leichnam, der oben drauf ruht. Ja, es ist ein Leichnam. Mittlerweile ist sie sich da jetzt ganz sicher. Magisch angezogen, geht sie zögernd weiter nach vorne. Sie kann sich einfach nicht dagegen wehren. Ein Fuß setzt sich zwanghaft vor den anderen. Die Hitze wird schier unerträglich. Ihre vom Alter verblassten Augen beginnen wieder zu tränen, während die ausstrahlende Hitze die Haut ihrer Wangenknochen unsagbar spannen lässt. Angst steigt wieder in ihr hoch. Wird sie etwa direkt in die Flammen hineinlaufen müssen? Ihr Blick schweift über den eingewickelten (einbalsamierten?) Menschen, der heute offensichtlich bestattet wird. Wer ist das? Und warum ist SIE dabei? Verwirrt wandern ihre Augen höher zum Gesicht des Toten, das erstaunlicherweise nicht vermummt ist. Sie tritt noch einen Schritt in die glutheiße Aura des Feuers… sie riecht versengtes Haar (vielleicht ihr eigenes?) und ihr Herzschlag setzt einen Moment aus. Ein erstickter Schrei steckt in ihrer Kehle fest und mit weit aufgerissenen Augen starrt sie in das eingefallene Antlitz vor ihr…

Es ist ihr eigenes Gesicht…

Bosen, den 17.03.2012

Schreiend setzt sich Dorothea auf. Keuchend prustet sie mit aufgeblasen Backen, presst eine Hand fest auf ihre Brust und legt die andere auf ihre glühende rechte Wange. Der Herzschlag in ihrem Brustkorb überschlägt sich fast. Feine Schweißperlen rinnen an ihrer Schläfe und am mageren Rücken, zwischen den hervorstechenden Schulterblättern, hinab. Sie atmet ein paar Mal zittrig durch. Langsam beruhigt sich ihr Pulsschlag etwas und die knöchernen Hände sinken nach unten auf das rotkarierte Federbett. Dort ruhen sie schlaff. Dorotheas Blick wandert zu dem modernen, kleinen, weißen Wecker auf ihrem Nachttisch. Die rot leuchtenden Digitalziffern verraten ihr die genaue Uhrzeit. 3:22Uhr! Nachts! Sie seufzt kurz auf und die eben noch auf der Bettdecke, schlaff liegenden Hände bewegen sich nun langsam nach oben und wischen zittrig den kalten Schweiß von ihrer gerunzelten Stirn. Ein Traum. Es war nur ein Traum gewesen. Aber was für einer. Und es war nicht das erste Mal, dass sie diesen Traum hatte. In den letzten drei Wochen hat sie ihn fast jede Nacht. Nur früher war sie lediglich außerhalb dieses ominösen Zirkels, als Zuschauer anwesend. Heute war es das erste Mal, dass sie mit einbezogen worden war. Naja, wenn man es einbeziehen nennen konnte. Auf jeden Fall war es heute das erste Mal das sie sich IM Kreis befunden hat. Auch durfte sie in den vorhergegangenen Träumen noch nie das Antlitz des Toten, oder besser, der Toten, anschauen. Das war ebenfalls neu. Zu gruselig und erschreckend, wenn nicht sogar grausam war dieser Anblick gewesen. Dorothea hätte nichts dagegen gehabt, wenn ihr dies erspart geblieben wäre. Sie verzieht ihr Gesicht, so als ob sie gleich weinen würde und ruckte dann, schon fast störrisch auf. Nichts desto trotz, ist es ein Traum gewesen. Nur ein Traum!

Müde strampelt sie sich aus der wulstigen Daunendecke heraus, die sich offensichtlich bei ihrem unruhigen Schlaf wirr um ihre Beine und Füße verwickelt hat. Egal wie müde sie ist, ihr Durst ist definitiv größer und ihre dürre Kehle ist staubtrocken. Sie braucht unbedingt ein Glas Wasser. Auf nackten Sohlen schlurft sie in die blitzsaubere Küche ihrer kleinen Einliegerwohnung, nimmt ein sauberes, geriffeltes Glas aus dem Hängeschrank über der Spüle und füllt es mit kaltem, klarem Leitungswasser. Durstig setzt sie an und leert es in drei, vier Zügen. Ein Tropfen rinnt ihr unbeachtet am Kinn herab. Das tut gut.

Mit dem Ärmel ihres Nachthemdes, wischt sie sich über das nasse Kinn. Gedankenvoll starrt sie in das leere Glas in ihrer Hand und stellt es dann zurück auf die Spüle. Der Schweiß an ihrem Rücken trocknet langsam und mit ihm verdunsten auch langsam die beängstigten Eindrücke ihres Albtraums. Sie lacht kurz auf, schüttelt den Kopf, wie um die letzten Erinnerungsfetzten aus ihrem Gedächtnis los zu werden und geht wieder zurück in ihr Schlafzimmer. Seit ihr Mann Harald vor zwanzig Jahren verstorben war, lebt und schläft sie alleine hier. Der Gedanke an Harald treibt ihr direkt die Tränen in die Augen. Sie beide hatten sich ziemlich spät kennengelernt. Eigentlich hatte sie, Dorothea, nie vorgehabt zu heiraten, geschweige denn ein Kind zu bekommen. In ihrem damaligen Job als Krankenschwester fühlte sie sich immer genug ausgelastet und gebraucht. Männer hatten in ihrem Leben keinen Platz und auch keinerlei Bedeutung gehabt. Doch irgendwann, sie war zu diesem Zeitpunkt schon 39 Jahre alt, eine alte Jungfer (wie man damals zu sagen pflegte), da schneite dieser EINE Mann in ihr Leben. Eigentlich schneite er in das Krankenhaus in dem sie arbeitete, um einen Arbeitskollegen zu besuchen. Da war er auch schon 45 gewesen und ewiger, von seinen Kollegen beneideter, Dauersingle. Bei beiden war es Liebe auf den ersten Blick. Und nach einem Jahr hatten sie schon geheiratet.

Schon bald darauf bauten sie sich in diesem kleinen Dorf ein Häuschen, in weiser Voraussicht mit einer winzigen Kellerwohnung (für ihr zukünftiges Kind…natürlich wussten sie damals nicht, dass sie Grit bekommen würden, aber sie hofften halt auf ein Töchterchen) und ungefähr vier Jahre später wurde sie dann endlich schwanger. Grit! Sie machte ihrer beider Leben perfekt. Dorothea meint sich zu erinnern, dass Grit zum gleichen Zeitpunkt kam, als dieser See, fast vor ihrer Haustür, den sie später Bostalsee nannten, gebaggert wurde. Man, das war ein aufsehenerregendes Spektakel. Von Ferne hatte das Tal damals wie ein riesiger Sandkasten ausgesehen. Dorothea freute sich damals schon auf die Zeit, dass sie mit ihrer kleinen Familie einen perfekten Tag am Wasser, mit einem perfekt gepackten, rotkarierten Picknickkorb in Schlepptau, verbringen konnte. Ja, sie waren glücklich gewesen. Sehr glücklich sogar.

Sie waren eine richtig kleine, perfekte Familie. Und das ist nicht geflunkert. Es WAR alles perfekt. Doch allzu früh endete diese perfekte Idylle. 1990 verschwand Harald…er recherchierte damals, im Zuge seiner Reportertätigkeit, an Serienmorden.

Einige Kinder verschwanden zu der Zeit auf mysteriöse Weise.

Er rettete offensichtlich und wohl eher zufällig, einen einzigen Jungen, aber er selbst verschwand einfach. Seine Leiche wurde nie gefunden. Laut Aussage des geretteten (und sehr traumatisierten) Jungen, fiel Harald dem Mörder zum Opfer.

Da war Grit gerade mal 15 Jahre. Mit ihrer Halbwaisenrente, um die sie hart hatte kämpfen müssen, den Mieteinnahmen der kleinen Einliegerwohnung und einem Job als Putzfrau im Kindergarten, den Beruf Krankenschwester hatte sie damals, aus Zeitgründen, an den Nagel gehängt, hielt sie sich und ihr Kind die nächsten zehn Jahre über Wasser. Bis Jasper, ein schneidiger Polizist, ein fester Bestandteil in Grits Leben wurde und sie ihren Traummann mit 25 heiratete. Dorothea hoffte natürlich, dass sich auch bald ein Enkelchen einfinden würde und bot damals einen Wohnungstausch an.

Grit und Jasper (und das hoffentlich baldige zukünftige Enkelkind) oben in der Hauptwohnung und sie (alleine) unten in die kleine Einliegerwohnung, die sie seitdem ihr Zuhause nennt. Was sollte sie auch alleine oben in der großen Wohnung? All das ist nun schon zehn Jahre her! Nun endlich erwarten die beiden endlich in vier Monaten ihr erstes Kind.

Wurde ja auch Zeit! Schließlich ist Grit schon 35! Obwohl sie selbst ihr kleines Mädchen erst mit 45 bekommen hat. Aber SIE hatte ihren Harald schließlich auch sehr spät in ihrem Leben getroffen hatte. Dorothea schnauft leicht abfällig. Doch DIE beiden sind nun seit zehn Jahren verheiratet. Also wirklich!

Dorothea, könnte schon längst Oma sein. Aber die Jugend heutzutage. Da muss ja alles stimmen. Selbstverwirklichung und so ein Käse! Das ist deren Zauberwort. Erst einmal leben und reisen. Die Welt muss man ja gesehen haben, bevor man sesshaft wurde. Man sollte das Leben erst einmal genießen.

Wenn ein Kind da ist, verändert sich doch alles. Als ob das Leben damit vorbei wäre? Dorothea schnauft wieder. Nicht jeder hatte den Luxus, sich sein Leben so zu gestalten, wie er oder sie es möchte. Manchmal war das Leben hart und ungerecht…und manchmal auch grausam. Dorotheas Augen schließen sich traurig. Doch ihre Gedanken verweilen in diesem Augenblick nicht bei Harald….

Den jähen, schmerzhaften Stich in ihrer Seele schiebt sie gewaltsam nach hinten. Dort wo er hingehört. Dort wo er seit Jahrzenten schlummert. Das ist ihre Büchse der Pandora. Und die würde fest verschlossen bleiben!

19.03.2012

„Maminka, hast du auch die Engelberts eingeladen?“ Grit wedelte mit einer ellenlangen Einkaufsliste vor ihrem Blickfeld rum, „Du weißt, die nehmen NUR Biosachen zu sich. Das muss ich wissen!“ Dorothea rümpft abfällig die Nase, reibt sich die kartoffelfeuchten Finger an ihrer alten, blaukarierten Schürze ab und beäugt misstrauisch die Liste in Grits Hand. Gott, hat das Kind eine Sauklaue. Die kann ja kein Mensch lesen! Grit wäre besser Ärztin geworden. Dieser Berufsschlag kommt auch ohne Schönschrift aus. Dorothea seufzt ergeben, „Wo ist denn nur meine Brille abgeblieben?“

Suchend tastet sie den Inhalt des ausgeleierten Schürzenbeutels ab und schaut sich in Grits, momentan wüst aussehender Küche, die um einiges größer ist als ihre eigene, suchend um. Ihre Tochter lacht leicht spöttisch auf und greift in Dorotheas nun mehr weißes Haar (früher hatte es eine wunderschöne goldkupferne Farbe…naja, eher Kupferrot als Gold), doch der Zahn der Zeit (und vielleicht auch die ein oder anderen Sorgen) hatte es schon früh ihrer bezaubernden Farbe beraubt. „Die hast du doch auf dem Kopf! Mensch Mama, du wirst echt alt!“ Grit grinst ihre Mutter liebevoll an und schiebt ihr gefühlvoll das schwarz/silberne Brillengestell auf die Nase. „Ich werde ja auch schließlich morgen 80, meine Liebe...“, kontert ihre Mutter schlagfertig, „…da darf ich mir solch kleine Gedächtnisrülpser ruhig erlauben!“ Sie tätschelt ihrer Tochter amüsiert den Arm und grabscht nach der Einkaufsliste um sie eingehend zu studieren. Ihre Stirnfalten vertiefen sich nach jeder gelesenen Zeile. „Man oh Mann. Das ist aber eine Menge unnützes Zeugs. Brauchen wir das alles wirklich?“ Sie sticht mit ihrem dürren Zeigefinger auf das Blatt Papier, „Hier…den Biosaft kannst du direkt streichen und hier, …den blöden Bioschinken auch!“ Sie reicht die Liste wieder zurück an die wartende Grit, „Wenn die Engelberts kommen, sollen sie essen und trinken was auf dem Tisch steht!“ Sie zwinkert ihrer Tochter verschmitzt zu, „Wir sagen einfach, dass es Bio ist. Glaub mir, den Unterschied merken diese aufgeblasenen Ökofreaks sowieso nicht! Meinetwegen bräuchten die auch gar nicht zu kommen!“ Dorothea stößt einen verächtlichen Schnaufer aus, „Bio, …wenn ich das schon höre…anstatt `Bio` sollten sie `Teuer` draufschreiben! Erinnerst du dich noch an den Bauern, der oben fast am Ende der Straße seinen Hof hatte? Der Mazurek? Weißt du noch?“ Dorothea lehnt sich lächelnd, an die Arbeitsfläche in ihrem Rücken. Grit nimmt ihr die Liste aus der Hand, setzt sich an den Tisch und stützt dort ihr Kinn auf die Hand, „Ja klar…der Bauer Josef mit seinen bösen Gänsen.

Sicher kann ich mich noch an den erinnern.“ Sie kichert in sich hinein, „Man, waren dass fiese Biester. Und trotzdem musste immer ICH die Milch holen gehen!“ Dorothea nickt zustimmend, „Stimmt, aber du warst ja nicht die einzige, die Angst vor diesen Kampfgänsen hatte. Erinnerst du dich noch an das kleine, blonde Mädchen, das manchmal dort zu Besuch war?“ Grit überlegt kurz, „Ich glaube ja…das war doch dem Josef seine Enkelin, die mit ihrer Mutter zu Besuch kam. Da war doch auch ein kleiner Junge dabei…der Bruder, meine ich, oder?“ Fragend kratzt sie sich am Kopf, „Ist der nicht immer hinten im Schuppen bei dem alten Traktor gewesen?“

Dorothea zuckt die Achseln, „Kann sein…auf jeden Fall, in Sachen Bio…“. Grit fällt ihr, gedanklich fast drei Jahrzehnte zurück, ins Wort, „Ja, dieses kleine blonde Mädchen hatte auch eine panische Angst vor den Gänsen…stimmt! Mehr als einmal hat sie laut kreischend ihre kurzen Stummelbeine in die Hand nehmen müssen und ist…schwupp…wie ein geölter Blitz ab!“

Grit kichert leicht abwesend. Dorothea setzt wieder an, „Also, was ich sagen…“, abermals wird sie von Grit unterbrochen, „Wusstest du das dieses Mädchen…“, sie schnippst ein, zweimal mit den Fingern, überlegt mit zusammengekniffenen Augen, „…Mist…mir fällt ihr Name nicht mehr ein…egal…wusstest du, dass sie einmal beinahe gestorben wäre?“ Erstaunt plumpst Dorothea auf den Stuhl neben Grit, „Nee, echt?“ Grit nickt eifrig, „Ja…weißt du nicht mehr? Du hattest mich hochgeschickt um eine Kanne Milch zu holen, da kam sie gerade die Haustür raus. Sie stritt sich, glaube ich, mit ihrem Bruder um den Roller, der an der Wand gelehnt stand.

Ich blieb stehen und beobachtete beide.“ Grit schließt kurz die Augen um die Erinnerung komplett hochzuholen, „Der Roller war viel zu groß für sie und trotzdem nahm sie ihn. Ich dachte noch: Oh, Gott, das gibt bestimmt ein aufgeschlagenes Knie…und dann…peng…sie verreißt den viel zu großen Lenker, der bohrte sich in ihren Bauch und sie sackte wie ein Mehlsack zu Boden.“ Wie zur Unterstreichung der Geschichte, presst Grit ihre Hand auf ihren Magen. Erstaunt schnellt Dorotheas Braue nach oben, „Ach herrje!“

Ganz plötzlich springt Grit vom Stuhl auf, erschreckt damit ihre Mutter und fuchtelt wild mit den Armen, „Ihre Mutter, sie hatte pechschwarzes Haar, das weiß ich noch, kam herausgestürzt und hat sie panisch vom Hofpflaster aufgerafft.

Ich bin dazu gerannt und hab gesehen das die Kleine ganz blau im Gesicht war. Ihre großen Augen waren ganz weit aufgerissen, der Mund stand offen und sie hat keine Luft eingezogen! Echt ein grausiger Anblick.“ Grit schüttelt sich, „Ihre Mutter hat sie angeschrien und hat sie wie wild geschüttelt … Gott, ich weiß nicht mehr wie lange und plötzlich, als ich dachte schon, das war’s…zog die Kleine ganz tief Luft und schrie in einer so grellen Tonlage, dass ich damals glaubte, mir würde das Trommelfell platzen.“

Grit setzt sich wieder und reibt sich mit einer schnellen Bewegung über die Stirn, „War echt knapp kann ich dir sagen.“

„Komisch, weiß ich gar nicht mehr.“ Etwas aus dem Konzept gebracht rollt Dorothea die Einkaufsliste zusammen und wieder auf, „Wie kamen wir denn jetzt zu dem armen kleinen Tollpatsch…ach ja, ihr Opa, Bauer Josef...stimmt...“, sie hebt den Zeigefinger und steht energisch auf, „DER hatte RICHTIGE Biosachen, das kannst du glauben…alles frisch vom Feld oder aus dem Stall…dagegen ist das heutige Zeug das sie ´Bio´ und ´Natur´ nennen, verseuchter Möchtegern-Ökoschmu … alles nur neumodischer Schnickschnack und Geldmacherei. Sonst nix!“ Mit diesen abfälligen und abschließenden Worten dreht sich zu den geschälten Kartoffeln rum, wirft sie mit Schwung in den Topf, den sie vorher schon mit Wasser befüllt hat, stellt den Herd an und den vollen Topf drauf und rauscht mit einem ironischen Tonfall aus der Küche, „Vielleicht sollte ich auch Bio-Klopapier besorgen, damit Herr Bio- Engelbert sich ökologisch korrekt den fetten Bio- Hintern abwischen kann!“ „MAMA...!“

Unter leisem Gegiggel verschwindet Dorothea hinunter in ihre Wohnung und zurück bleibt eine Grit, mit offenem Mund.

Apropos Klo. Dorotheas Blase meldet sich zu Wort und sie verschwindet eilig in ihr Badezimmer. Nachdem sie ihre Notdurft verrichtet, sich die Hände gewaschen, ihre Schürze wieder in Form gezupft und sich im Waschbecken-Spiegel begutachtet hat (für ihre 80 Jahre hatte sie sich doch ganz gut gehalten), öffnet sie die Badezimmertür und tritt in ihren schmalen Flur. Sie horcht auf. Was ist das? Leises Getrommel lässt sie zum Wohnzimmerfenster streben. Spielen etwa fremde Kinder in ihrem Garten? Sie zerrt die opulenten Spitzengardinen zur Seite und späht hinaus. Nein. Dort ist keine Menschenseele. Doch der dumpfe, dunkle Rhythmus bleibt. Sie kann ihn mehr in ihrem Buch fühlen, als hören.

Ihr Blick wandert hoch zur Zimmerdecke. Hat Grit vielleicht das Radio angemacht? Das würde ihr aber gar nicht ähnlichsehen.

Grit verabscheute laute Musik. Hatte sie als Kind schon nicht gemocht. Da muss sie doch mal nachsehen. Energisch schreitet sie zur Verbindungstür ihrer beiden Wohnungen (okay, ihrer Wohnung mit Grits Keller, aber egal), reißt sie auf und lauscht.

Das Trommeln ist noch immer zu hören (und auch zu fühlen).

Aber weder lauter noch leiser. Dorothea stampft langsam (ihre Hüftartrose und vor allem ihr Schienbein machen ihr doch an manchen Tagen ziemlich zu schaffen) nach oben. Auch dort kann sie das eintönige Getrommel vernehmen. „GRIT…? HAST DU DAS RADIO AN?“ Keine Antwort. Dorothea betritt das großzügige und akkurat aufgeräumte Wohnzimmer mit der futuristisch anmutenden weißen Wohnwand und lässt die Augen durch den Raum schweifen. Der Fernseher an der Wand? Aus! Die Anlage in der Ecke hinter dem unechten (pfui!)

Ficus? Aus! Wo kommt denn nur dieses vermaledeite Getrommel her? Das raubt einem ja den letzten Nerv. Ihre Füße bewegen sich in Richtung Küche. Vielleicht das Küchenradio? Sie späht hinein. Doch außer dem Blubbern der kochenden Kartoffeln kann sie dort nichts hören. „GRIIIT…“ Sie versucht es erneut. Doch wieder erhält sie keine Antwort.

Verwirrt steuert sie die Haustür an und reißt diese mit Schwung auf. Frische Luft und ein paar verirrte Sonnenstrahlen empfangen sie, zusammen mit einer leeren Einfahrt. Grits Auto steht nicht mehr vor der Garage. Also ist sie weg.

Wahrscheinlich zusammen mit der langen Liste einkaufen. Das nervtötende Getrommel hält an. Ihr scheint jedoch, als ob sich der Rhythmus verdoppelt hätte. Dorothea klappert alle Zimmer in Grits Wohnung durch. Nichts. Dann stellt sie sich wieder vor die Tür, lauscht angestrengt und versucht dort, die Ursprungsquelle auszumachen. Von irgendwoher muss es doch kommen! Und dann plötzlich…ist es weg. Einfach so verstummt. Unsicher lugt Dorothea um die Ecke in den Vorgarten und setzt die Inspektion, mit ihren leicht trüben Augen, auf der Straße fort. Keiner da. Ratlos streicht sie unbewusst ihre Schürze glatt und geht wieder hinein. Vielleicht ist ja nur ein Auto mit aufgedrehtem Bass hier vorbeigefahren.

Sowas hat sie schon öfter erlebt.

Der Benni von gegenüber war mittlerweile genauso. Der hatte die Musik in seinem kleinen blauen Golf immer sooo laut, dass sogar die Scheiben seines armen Kleinwagens erbärmlich vibrierten. Sie schätzte, wenn der Bengel nicht eine dieser dunkel getönten Folien innen an die Scheiben geklebt hätte, würden diese in tausend winzig kleine Teile zerspringen. Dabei war er früher mal ein so süßer kleiner Fratz gewesen. Der Benni. Früher. Mit seinen blonden Locken hatte er sie immer an einen dieser berühmten Engel von Raffael erinnert. Jetzt ist sein Haupt kahl rasiert. Nicht der des Engels, sondern der von Benni. Bäh! Dorothea schüttelt den Kopf. Die jungen Leute heutzutage scheinen ja schon halb taub zur Welt zu kommen.

Sie geht zurück in die chaotische Küche, beginnt mit dem Spülen und vergisst diesen Vorfall.

Für den Augenblick.

*

Penelope

20.03.2012

Heute ist Dorotheas großer Tag. Ihr 80. Geburtstag. Lautes Geklapper aus der oberen Etage hat sie aus ihrem unruhigen Schlaf gerissen. Offensichtlich werkelt Grit schon wieder fleißig in ihrer hochmodernen Superglanz-Küche herum. Eigentlich sollte Dorothea auch bereits oben sein und helfen (was ihr ein Blick auf die Uhr verriet…8:22 Uhr). Doch die letzten drei Nächte haben sie ganz schön geschlaucht. Jede Nacht derselbe bescheuerte Traum. Jede Nacht um dieselbe Uhrzeit. 3:22 Uhr!

Und doch bleiben ihr an jedem Morgen nur, wie zerschelltes Porzellan, Bruchstücke, einzelne Brocken, im Gedächtnis, die sie aber, wie jeden Tag, schnell zur Seite fegt und vergisst.

Sie hat schließlich was Besseres zu tun, als olle Träume den lieben langen Tag mit sich rumzuschleppen und zu analysieren.

Traumdeutung! Ha! Was für ein Mumpitz! Dorothea kann sich ein Gähnen nicht verkneifen. Müde reckt sie ihre starren Glieder, kämpft sich quälend langsam aus ihrer warmen Betthülle, zieht die Rollläden nach oben und begutachtet erst einmal das Wetter. Es scheint ein schöner Tag zu werden.

Passend für den heutigen Frühlingsanfang. Dorothea öffnet etwas umständlich das Fenster und nimmt erst einmal einen tiefen Zug frischer Morgenluft zu sich. Ein bisschen kühl ist es noch. Sie fröstelt, also schließt sie das Fenster schnell wieder.

Dann humpelt sie ins Badezimmer. Blödes Bein. Verflixte Hüfte.

Heute würde sie mal eine Minute länger, so richtig warm duschen. Die Wärme tut ihrem malträtierten Knochengerüst bestimmt ganz gut. Fünfzehn Minuten später schiebt sie die Duschabtrennung auf und verlässt, gemeinsam mit neblig, wabernden Dampfschwaden, das Badezimmer. Mit einer frisch gestärkten (diesmal rotgepunkteten) Schürze bestückt, betritt sie wenig später Grits Küche. „Guten Morgen, mein Schatz! Wo kann ich anpacken?“ Grit dreht sich lächelnd zu ihrer Mutter herum und sofort verschwindet das eben noch freundliche Gesicht und weicht einer besorgten Miene, „Du siehst aber nicht gut aus.“ Dorothea gluckst, „Du bist morgens auch keine Schönheit, meine Liebe!“ Sie lacht und drückt ihrer Tochter einen Schmatzer auf die Wange, „War nur Spaß. Also…“, sie klatscht unternehmungslustig in die Hände, „…was liegt an…in welchen Nahrungsmitteln darf ich meine schrumpeligen Hände versenken?“ Skeptisch beäugt Grit ihre Mutter und deutet mit ihrem mayonnaiseverschmiertem Zeigefinger auf einen Stapel Karotten, „Die müssen noch gewaschen und gerieben werden!“ „Okidoki, Boss!“ Und schon wendet sie ihre ganze Aufmerksamkeit dem zu bearbeitenden Hasenfutter zu. Grit linst nochmal zu ihrer Mutter rüber, „Geht es dir auch wirklich gut?“ Dorothea hebt beschwichtigend die Hände nach oben, „Jaaa, es geht mit wirklich gut. Ist bestimmt nur die Aufregung gewesen, dass ich letzte Nacht so schlecht geschlafen hab.

Aber wir zwei gönnen uns nachher ein klitzekleines…“, sie hält Daumen und Zeigefinger einen Spalt auseinander, „…Schlückchen Sekt. Das bringt meinen alten Motor bestimmt wieder zum Schnurren! Wo ist die Reibe?“

Nach einer halben Stunde schweigsamen Nebeneinanderarbeitens horcht Dorothea auf. Schon wieder diese leisen Trommeln. Sie dreht sich zu Grit um, „Hörst du das?“ Grits Finger verharren bewegungslos zwischen dem Kochschinken und dem Spargel, den sie gerade darin einrollt, „Nein, was denn?“ Dorothea lauscht angestrengt, „Na dieses Geräusch…Trommeln oder so was?“ Grit spitzt die Ohren, „Nee, ich hör nix!“ Dorothea schiebt sich neben Grit um besser aus dem Küchenfenster schauen zu können, „Ist bestimmt wieder der halbstarke Bengel von gegenüber. Benni.

Der hat die Musik in seinem Auto immer so laut!“

Grit lacht beherzt auf, „Ja, das stimmt. Irgendwann fliegen dem die Scheiben noch raus!“ Sie beugt sich nun ebenfalls vor, öffnet das Fenster auf Kipp und lauscht wieder, „Aber ehrlich, Maminka…ich hör überhaupt nichts!“ Resigniert dreht sich Dorothea um und greift nach einem dunkelbraun gesprenkelten Geschirrtuch, das zufällig auf dem Esstisch liegt, um sich die Hände daran abzuwischen. Ihr Blick wandert runter zu ihren Fingern und bleiben am braunen Tuch haften. Braun.

Braun. Dunkelbraun. Nein! Tiefbraun, fast nachtschwarz… Ihr stockt der Atem. Mit einem Mal wird ihr ganz schummrig.

Das rhythmische Trommeln wird lauter. Ihre Stimme ein heiseres, kaum hörbares, Flüstern, „Hörst du es nicht?“

Wankend tastet sie nach einem der vier Küchenstühle und sinkt schwer atmend darauf nieder.

Sofort kniet sich Grit besorgt vor sie, „Mama…ist wirklich alles in Ordnung?“ Sanft streicht ihr Handrücken über die faltige Wange ihrer Mutter, „Ich wusste doch, dass es dir nicht so besonders geht, heute. Du bist ganz bleich…warum gehst du nicht rüber ins Wohnzimmer und legst dich etwas hin?“ Sie schaut sich in der Küche um, die in unzubereiteten Lebensmitteln ertrinken zu scheint, „Das schaff ich schon alleine. Außerdem kommt Jasper gleich vom Bäcker. Dann kann er mir ja helfen!“ Sie greift ihre Mutter unter den Arm und hievt sie vorsichtig hoch. Dorothea gibt sich geschlagen, zumal das Getrommel ihr mittlerweile ziemliche Kopfschmerzen verursacht, „Ja, vielleicht sollte ich mich doch noch etwas hinlegen.“ Etwas verlegen befreit sie sich, aus dem helfenden Griff ihrer Tochter, „Aber ich geh runter…zu mir…da bin ich wenigstens nicht im Weg und ihr könnt in aller Ruhe arbeiten.“ Unendlich langsam setzt sie sich in Bewegung und schiebt sich vorsichtig in Richtung Flur. Sie zeigt auf die Verbindungstür, „Die können wir ja aufstehen lassen!“ Ihr war der besorgte Blick ihrer Tochter nicht entgangen.

Mit einem, hoffentlich nicht allzu gequältem Lächeln fügt sie hinzu, „Wenn was ist, kann ich ja rufen!“ Grit zögert, „Aber soll ich nicht…?“ „Nein…“, Dorothea schnitt ihrer Tochter mit einem Handwisch das Wort ab, „…ihr habt echt genug zu tun.

Schlimm genug, dass ich im Augenblick nicht helfen kann. Aber in einer Stunde bin ich bestimmt wieder fit.“ Sie haucht ihrer Tochter einen Kuss zu, „Halb so schlimm, Mädchen…ich bin schließlich 80 und keine 28 mehr.“ Müde wankt sie die nicht allzu steile Treppe hinab, mit dem Wissen, das der besorgte Blick ihrer Tochter noch an der Verbindungstür klebt. In ihrem heimeligen Wohnzimmer angekommen, verharrt sie erst einmal. Im Türrahmen stehend, wandern ihre Augen ziellos durch den Raum. Über den wuchtigen Eichenschrank (massiv und sehr teuer gewesen damals). Über ihren hübsch geblümten Ohrensessel mit passendem Schemel davor (ein Geschenk von Harald zu ihren 10. Hochzeitstag). Über den Glastisch (der sie maßlos ärgert, mit seinem ewigen Staubfilm).

Über die Fotos (Reliquien einer vergangenen Zeit) an der Wand, über dem alten Fernseher (kein Flachbild). Den beigefarbenen Teppichboden mit dem sanften Rautenmuster, den sie sich selbst ausgesucht hatte, als sie dieses Quartier damals bezog.

Damals, als Harald gestorben war und sie alleine zurückgelassen hat. Ihre Pflanzen auf der breiten Fensterbank (alle von Hand großgezogen und liebevoll umsorgt).

Mit gesenktem Kopf betritt sie den eben gemusterten Raum, ein tiefer Seufzer dringt aus ihrer Brust und sie lässt sich in den urig, bequemen Ohrensessel fallen. Mühsam hebt sie ihre Beine auf den Schemel und ihr Kopf sinkt zurück. Die Augen weit geöffnet, starrt sie die Decke an. Fröstelnd zieht sie den Kopf zwischen ihren Schulterblättern ein. Sie schließt schmerzhaft die Augen und eine Träne rinnt unbemerkt an ihrer Wange herunter. Hilflos klappt sie den Mund auf und zu, schlägt fast verzweifelt die Hände vor die Augen und wiegt sich apathisch vor und zurück, „Bitte nicht...bitte nicht…bitte nicht…geh doch einfach weg! Lass mich!“

Doch die Büchse der Pandora hat sich bereits lautlos geöffnet und eine scheinbar endlose Flut von Erinnerungen bricht wie ein wütender Orkan über sie herein!

Wie lange sie dort gesessen hat, kann sie nicht sagen. Doch als sie sich mühsam hochstemmt, scheint ein tonnenschwerer Fels auf ihren zerbrechlich wirkenden Schultern zu lasten.

Ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigt, dass gerade mal knapp zwanzig Minuten vergangen waren. Zwanzig Minuten! Sie seufzt. Genug um ALLES zu verändern. Gerade als sie sich ihren hellgrauen Pashmirschal von der Garderobe im blümchentapezierten Flur klaubt, erscheint Jasper in der Verbindungstür, die ja noch immer offensteht. „Ich soll schauen wie es dir geht? Alles in Ordnung?“ Verwirrt blinzelt er ihren Schal an, den sie sich gerade um die Schultern legt.

„Gehst du weg? Soll ich dich irgendwo hinfahren?“ Er zeigt mit dem Daumen hinter sich, zur aufsteigenden Treppe, „Grit hat gar nicht gesagt, dass du noch wegmusst!“

Dorothea winkt betont lässig ab, „Nee, lass mal Junge…sag Grit, dass ich nur etwas frische Luft schnappen bin.“ Sie versucht sich an einem schelmisch wirkenden Grinsen, „Das wird wahrscheinlich die Letzte sein, die ich heute bekommen kann, ehe das niedere Volk zum katzbuckeln angeschwänzelt kommt!“ Jasper nickt verstehend und zwinkert ihr verschwörerisch mit seinen braunen, lustig funkelnden Augen zu, „Ich werde Grit sagen, dass du eingenickt bist.

Das verschafft dir locker mal eine gute halbe Stunde, bevor der Kontrollfreak runtergeschlichen kommt!“ Schon will er sich auf dem Absatz rumdrehen, als Dorothea ihn blitzschnell am Arm packt. Erstaunt schaut er erst seinen ergriffenen Arm und dann seine kleine, hutzelige Schwiegermutter an. Immerhin war er mit seinen fast 1 Meter 90 fast zwei Köpfe größer als Dorothea.

Solch kraftvolles zupacken hätte er der alten Dame gar nicht zugetraut. Sofort verwandelt sich der Klammergriff in ein sanftes Armtätscheln, „Bist ein guter Junge, Jasper, ein wirklich guter Junge!“ Mit diesen Worten verlässt sie ihre Wohnung und zurück bleibt ein leicht verdattert dreinblickender Schwiegersohn, der sich verwundert den Unterarm reibt. Alte Leute konnten manchmal schon recht eigenartig sein.

Kurz bevor das von Jasper, angekündigte Aufweckkommando erscheint, betritt Dorothea leise wieder ihre Wohnung. Gerade noch kann sie ihren Schal aufhängen und ins Wohnzimmer gehen, da hört sie schon das Trippeln heruntereilender Turnschuhschritte. Dorothea runzelt die Stirn. Konnte das Mädel nicht mal anständiges Schuhwerk kaufen. Schließlich arbeitet sie doch als Chefeinkäuferin bei einem bekannten Schuhimperium (dessen Namen sich Dorothea aber einfach nicht merken konnte oder wollte). Immer schlappte sie mit diesen ordinären Tretern durch die Weltgeschichte. Aber es ist ja egal was die Mama sagt. Tzzz. Demonstrativ gähnt sie laut und dehnt sich das Kreuz, als just in diesem Moment ihre Tochter mit besorgter Miene auf der Bildfläche erscheint, „Du bist wach?“ Dorothea nickt, ignoriert krampfhaft die verhasste, sportliche Besohlung ihrer Tochter und schluckt jeglichen Kommentar dazu runter. Stattdessen geht sie betont lässig zum Fenster, tut so, als ob sie den Vorgarten inspizieren würde und reibt sich den Nacken, „Ich bin doch tatsächlich in diesem blöden Sessel eingenickt.

Dabei weiß ich doch, dass mir hinterher immer der Hals wehtut!“ Sie setzt ein entschuldigendes Lächeln auf und tritt auf ihre Tochter zu, „Tut mir leid Schatz. Ich wollte dich nicht mit der ganzen Arbeit alleine lassen. Du bist bestimmt völlig fertig.“ Entspannt legt Grit ihrer Mutter den Arm um die Schultern und drückt sie kurz liebevoll an sich, „Halb so wild.

Jasper war wirklich eine enorme Hilfe. Wir sind auch schon fast fertig.“ Sie neigt grübelnd den Kopf etwas zur Seite und schürzt die Lippen, „Nein…eigentlich SIND wir fertig. Jasper muss nur noch die Torte vom Bäcker…“, erschrocken schlägt sie sich auf den Mund, „…oh, Mist, die hätte ja eine Überraschung für dich sein sollen!“ Dorothea verkneift sich ein Lachen, „So, so. Ein Geburtstagskuchen…dann hoffen wir mal, dass da keine 80 Kerzen drauf sind. Sonst gehen nämlich beim auspusten sämtliche Rauchmelder im Haus an und wir können zum Schluss noch die Feuerwehr beköstigen.“ Unter lautem Gelächter schreiten sie gemeinsam nach oben. Dort im Gang kommt ihnen auch Jasper entgegen, bekleidet mit einer koketten, weißen Spitzenhalbschürze (ein Geschenk von Dorothea an Grit), „Ahhh…königliche Hoheit hat hoffentlich wohl geruht?“ Verschwörerisch zwinkert er Dorothea heimlich zu. Diese zwinkert zurück, „Ja, mein kleiner Lakaie und nun wünschen wir, ein heißes, anregendes Bohnengetränk im grünen Salon zu uns zu nehmen!“ Damit rauscht sie hoch erhoben Hauptes an ihrem kichernden Schwiegersohn vorbei, knufft ihm nebenbei scherzhaft in die Rippen und marschiert in Grits Wohnzimmer. Grit natürlich hinterher. Jasper deutet einen äußerst fragwürdigen Kratzfuß an und verbeugt sich tief, „Wie die Damen wünschen“, und verschwindet eilends in die Küche zur Kaffeemaschine, die seit heute Morgen um fünf im Dauerbetrieb ist. Der Ehrentag verläuft genauso, wie Dorothea es von ihrem siebzigsten Geburtstag in Erinnerung hat.

In der großen Küche steht das Buffet. Für die Getränkeversorgung ist Jasper zuständig und Grit läuft wie ein emsiger gestreifter Brummkreisel (sie trägt ein schwarz/weiß gestreiftes T-Shirtkleid mit Strass Steinchen in Herzform, vorne im Brustbereich) von einem zu anderen (natürlich in Turnschuhen, die sie allerdings heute, zur Feier des Tages, ziemlich hochtrabend Sneakers nennt…aber es sind Turnschuhe, basta) und bietet eifrig kleine h`ordeuvres an.

(Eine wirklich pikfeine und hochtrabende Bezeichnung, für fingergerechte Häppchen!) Die Haustür steht seit 13 Uhr permanent offen um Luft und Gäste hinein zu lassen. Trotzdem klingeln die Besucher, bevor sie Geschenk, Küsschen und Glückwünsche bei Dorothea abladen. Apropos Dorothea. Die hat Jasper im Wohnzimmer geparkt und dort thront sie mit einer kuscheligen Decke über den Knien, wie es sich für alte Leute ziemt, in einem bequemen Schaukelstuhl, aufgehübscht von Grit, mit Rouge und Lippenstift und eingehüllt in Seidenschal und duftendem Jasminparfum. So vergeht Stunde um Stunde. Gratulanten kommen und gehen. Essen und Getränke verschwinden in verschiedenen Mägen. Smalltalk hier, langweilige Erläuterungen dort (wen interessierte schon der entzündete Fußnagel von Karl Uhl).

Okay, nicht alles ist öde…sie hat auch sehr viel Spaß zwischendurch und erfährt auch so manch Pikantes! (Die heimliche Knutscherei der Helga vom Tennisplatz zum Beispiel, letztes Jahr an der Kirmes, hinterm Friedhof, mit dem Bäckergeselle, das bleibt aber unter uns. Die sind nämlich beide verheiratet! Nur nicht miteinander! Aha!) Und doch wird alles so unglaublich ermüdend je später der Tag. Dorothea ist froh, wenn dass alles endlich rum ist. Ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigt kurz vor sechs. Uff.

Das müsste es nun eigentlich schon fast gewesen sein.

In Gedanken geht sie die Besucher durch. Ja…sie vermisste in der heutigen Besucherflut keinen einzigen ihrer Freunde und Bekannten. Sogar die Engelberts sind gegen drei, im aufgedonnerten Sonntagsstaat, aufgekreuzt. Und sie haben Eier, Saft und Schinken verdrückt…und das nicht zu knapp…obwohl es nicht Bio war (ha…hat ihnen aber keiner gesagt). Das lockt nun doch ein klitzekleines hämisches Grinsen auf ihr Gesicht. Erschöpft, aber auch ein bisschen zufrieden sinkt sie im Schaukelstuhl zurück und schließt nur mal kurz die Augen. Dabei muss sie doch tatsächlich ein paar Minütchen eingenickt sein. Als ihr jemand die Hand auf die Schulter legt, zuckt sie erschrocken zusammen und reißt die Augen auf, „WAS?“ Sie schaut hoch und blickt geradewegs in Grits Augen, „Ach du bist es. Gott, hast du mich erschreckt.

Entschuldige…ich habe wohl etwas gedöst.“ „Du hast Besuch, Mama!“ Dorothea gackert vergnügt, „Natürlich habe ich Besuch. Ich habe den ganzen Tag schon Besuch!“ Grit tritt einen Schritt zur Seite und gibt den Blick auf einen älteren Herrn frei, der sich sichtlich unwohl in seiner Haut fühlt.

Dorothea stutzt, kneift die Augen zusammen und nimmt den Herrn ins Visier. Siehe da! Er ist tatsächlich gekommen. Ihre Miene entspannt sich und lächelnd streckt sie die Hand nach ihm aus, „Ich freue mich, dass sie gekommen sind.“ Sie winkt ihn näher zu sich und deutet auf den klobigen schwarzen Ledersessel neben sich, „Nehmen sie doch Platz, Pastor Feldmann. Ich werde sie schon nicht beißen.“ Mit einem unsicheren Blick auf Dorothea, fasst er sich ein Herz und sinkt seufzend in das tiefe Polster, „Also Frau Meyer…ich war schon sehr erstaunt als sie heute Morgen vor meiner Haustür gestanden haben und mich einluden.“ Grits Kopf, mit dem kurzen blonden Haaren, flog zu Jasper herum und ihre Lippen formen lautlos ‚heute Morgen`? Jasper zuckt verlegen mit den Schultern und verkrümelt sich eilig in die Küche. Grit entschuldigt sich kurz und düst hinterher.

Doch all das prallt an Dorothea ab. Liebenswürdig wendet sich dem Pastor zu, „Darf ich ihnen was zu trinken anbieten und ein or…ordöf…pfff…ein Häppchen zum Knabbern, Herr Pastor?“

„Naja, zu einem Gläschen Sherry würde ich nicht nein sagen.“

„Ah…Sherry…gute Wahl…da nehme ich auch einen!“ Sie schenkt dem Geistlichen wieder ein äußerst liebenswürdiges Lächeln und schreit in Richtung Küche, „WENN IHR MIT DEM GETRATSCHE FERTIG SEID, WÜRDET IHR DANN LIEBENSWÜRDIGERWEISE DIE FLASCHE SHERRY UND ZWEI GLÄSER FÜR DEN PASTOR UND MICH BRINGEN?“ Der Geistliche zuckt aufgrund der Laustärke leicht in seinem Sessel zusammen. Dann mustert er aus den Augenwinkeln die alte Dame neben ihm. Natürlich kennt er sie. Er kennt fast alle seine Schäfchen. Aber Frau Meyer war noch nie eine Kirchgängerin gewesen. Im Gegenteil. In den letzten Jahren, bei verschiedenen Dorfveranstaltungen und Festen hatte sie ihm immer deutlich zu verstehen gegeben, was sie von Gott und der Kirche hielt. Nämlich nichts.

Umso erstaunter war er, als es heute Morgen an seiner Haustür schellte. Er hatte noch weißen, dickflockigen Rasierschaum im Gesicht, als genau DIESER resolute Drache vor ihm stand und ihn doch tatsächlich heute zu ihrem 80.

Geburtstag einlud. Was ihn noch mehr verdutzt hatte, war die Aussage, er möge aber bitte erst nach 18 Uhr kommen. Bevor er eine Antwort geben konnte, hatte sich Frau Meyer bereits auf dem Absatz rumgedreht und war gegangen. Das Ganze war ihm äußerst schleierhaft und doch hatte die menschliche Neugier gesiegt. Also sitzt er nun hier und harrt der Dinge die kommen würden. Und er ist sich sicher, DAS Dinge kommen würden.

In der Zwischenzeit fauchte Grit ihren Mann in der Küche an, „Wie, sie war heute Morgen beim Pastor. Was wollte sie denn dort? Hast du mir nicht gesagt, sie würde schlafen? Wann wolltest du mir das denn sagen?“ Beschwichtigend hebt Jasper die Hände hoch und verzieht sich aber vorsichtshalber hinter einen Küchenstuhl, „Reg dich doch nicht so auf, Schatz. Sie wollte doch nur kurz frische Luft schnappen. Und ich hatte keine Ahnung, dass sie zu dem Kirchenfritzen rennt. Und überhaupt…sie war doch gerade mal eine halbe Stunde weg.“

Grit schnauft erbost und schließt das gekippte Küchenfenster.

Auf dem Land machte man das so. Es könnte ja sein, dass ZUFÄLLIG ein Nachbar vorbeikommt und einige Gesprächsfetzen in den falschen Hals bekommt und schon war man Thema Nummer eins im Dorftratsch. Als das Fenster zu ist, giftet sie weiter, „Aber du hast gesagt, sie schläft. Du hast mich angelogen!“ Jasper senkt zerknirscht den Kopf, „Mensch Grit, sie wollte doch nur kurz raus. Sie ist doch kein kleines Kind!“ In diesem Moment schwebt Dorotheas Gekreische mit dem Wunsch nach Alkohol und Gläsern, in die Küche.

Erleichtert huscht Jasper an den Küchenschrank und zerrt zwei fein geschwungene, kleine Sherrygläser heraus. Grit funkelt ihn noch kurz erbost an und trabt mit hochrotem, säuerlichem Gesicht in den Vorratsraum neben der Küche, um das gewünschte Gesöff zu Tage zu fördern. Grinsend greift Jasper nach der Flasche und haucht seiner Frau einen Kuss auf die Stirn, „Ich hab dich trotzdem lieb, meine kleine Kratzbürste.

Nicht böse sein!“ Und schon verschwindet er rüber ins Wohnzimmer. Raus aus der Schusslinie seiner Frau. Die würde sich schon abregen. Aber manchmal übertreibt sie es wirklich mit ihrer Fürsorge. Dorothea ist schließlich eine erwachsene Frau und mehr als dreimal sieben alt.

Da musste Grit nicht wie eine Mutterglucke ständig hintendran sein. Das war manchmal schon fast peinlich!

Im Wohnzimmer wird Jasper (und der Sherry) schon sehnlichst erwartet. Nach der überlauten Promilleforderung herrscht nun Stille im Raum. Fast schon eine peinliche Stille. Pastor Feldmann wartet und Dorothea braucht Alkohol um sich Mut anzutrinken und schweigt deswegen ebenfalls. Umso erleichterter ist sie, als Jasper, ihr Schwiegersohn, endlich mit Likör und Gläsern hereinrauscht, „Et voila!“ Gekonnt setzt er die kunstvoll ziselierten Gläser auf einem kleinen schmiedeeisernen Servierwagen ab, gießt schwungvoll ein und rollt das mickrige und auch gefährlich wackelnde Gefährt an die beiden schweigsamen Menschen heran, die offensichtlich verlegen in sämtliche Richtungen starren, nur nicht in die, ihres Gegenübers. Erleichtert greifen beide gleichzeitig nach ihrem Getränk, prosten sich zu und nippen großzügig. Der Pastor wischt sich leicht über seine vollen Lippen, „Hmm…ein wirklich guter Tropfen!“ Dorothea pflichtet ihm bei, „Ja…lecker!“

Hilfesuchend wendet sie sich ihrem Schwiegersohn zu, „Nimm doch noch zwei Gläser und setzt euch zu uns.“

Sie schielt an ihm vorbei in die Küche, aus der es mächtig rumorte. Offensichtlich räumt Grit bereits auf. Dabei sollte sie hier sein. Demonstrativ fuchtelt sie mit ihrem halb vollen Gläschen Richtung Küche, „Das können wir doch auch Morgen noch machen!“ Ihr bettelnder Blick klebt förmlich an Jasper.

Dem bleibt das natürlich nicht verborgen. Natürlich fragt er sich warum Dorothea diesen Geistigen herbeizitiert hat und nun offensichtlich zusätzlichen Beistand braucht, aber er ist klug genug nicht zu fragen. Stattdessen nickt er eifrig, „Du hast recht…genehmigen wir uns einen. Kann ja nicht schaden. Nicht wahr?“ Die Frage geht in Richtung Pastor.

Der schüttelt den Kopf und nickt gleichzeitig, „Kommen sie nur.

Ich bin froh, wenn ich mich mal mit meinen Schäfchen unterhalten kann, zu denen ich sonst kaum Zugang habe!“ Er setzt an, süffelt aus und hält bittend sein Glas zu Jasper, „Auf einem Bein kann man doch nicht stehen!“ Da müssen nun doch alle lachen. Natürlich kommt Grit auch noch dazu. Ihre Wut ist ziemlich schnell verraucht. Ihr Mann hatte ja Recht. Vorhin, in der Küche. Sie konnte ihre Mutter ja schlecht bevormunden und außerdem ist sie sowas von neugierig und möchte natürlich unbedingt erfahren, warum ihre Mutter so ganz plötzlich seelischen oder besser gesagt kirchlichen Beistand braucht. Und ehrlich gesagt, ist dieser Pastor Feldmann auch ganz in Ordnung. Seine roten Pausbäckchen lassen ihn auch ganz menschlich und nett erscheinen. So sitzen denn nun alle vier im Wohnzimmer, scherzen, lachen und süffeln dabei rötlich funkelnden Sherry (Schlehe), außer Grit, die hält sich an alkoholfreien Sekt mit Multisaft. Schließlich ist sie schwanger und somit ist Alkohol natürlich tabu für sie. Das tut ihrer guten Laune aber keinen Abbruch. Man braucht schließlich keinen Sprit um lustig zu sein. Mittlerweile ist der Abend hereingebrochen und die Nacht klopft schon vorsichtig ans Fenster. Dorothea schaut hinaus. Eine dunkle, sternenlose Nacht. Es wird Zeit. Langsam muss sie anfangen. Auffordernd schiebt sie ihr leeres Glas zu Grit. Erstaunt schnellen deren Augenbrauen nach oben, „Das ist schon dein drittes Glas, Mama. Willst wohl heute einen draufmachen, was?“ Kichernd füllt sie das leere Glas und reicht es vorsichtig balancierend, zurück an ihre Mutter. „Nein, nicht unbedingt…“, Dorothea lächelt etwas schief, „…aber ich brauche etwas Mut für das was ich vorhabe!“ Amüsiert rappelt sich Jasper vom Fußboden hoch, auf dem er es sich bequem gemacht hat, „Dann hol ich am besten noch Nachschub. Das scheint ja eine interessante Nacht zu werden.“ Pastor Feldmann reibt sich den Bauch, „Ach, wenn sie gerade in der Küche sind...sind noch von diesen leckeren russischen Eiern da, von denen die Engelberts immer so schwärmen?“ Dorothea schnauft auffällig laut, was ihr einen fragenden Blick vom Pastor einbringt. Sie winkt lässig ab, sagt aber nichts dazu. Die Engelberts! Tzzz! Jasper ignoriert das kurze Intermezzo. Sich seiner Gastgeberpflichten erinnernd, huscht er schnell in die Küche „Natürlich, ich bringe auch noch ein paar andere Häppchen mit… sind ja noch genug da!“ Grit kuschelt sich an die Beine ihrer Mutter, „Was hast du denn noch vor heute Abend!“

„Das wirst du noch früh genug erfahren, Kind!“ Damit leert sie, den Blick zu Decke gewandt, ihr drittes Glas. Als alle vorbildlich versorgt sind, beugt sich der Pastor nun zu Dorothea, „Nun, Frau Meyer…seien sie mir nicht böse…aber ich würde zu gerne wissen, WARUM sie mich heute eingeladen haben. Sollten sie vielleicht doch zum christlichen Glauben zurückgefunden haben oder brauchen sie nur meinen Rat als Kirchenmann? Denn dass es einen Grund hat, WARUM ich heute hier bin, davon bin ich überzeugt!“ Er lehnt sich gespannt zurück und schiebt sich genüsslich einen Zwiebel- Cracker in den Mund.

Grit, die mittlerweile zu Kirschsaft mit Sprudel, gewechselt und sich den Mund mit Schinkenröllchen (nicht Bio!) vollgestopft hat, stimmt ihm nuschelnd zu, „Ja, Maminka, warum haschd du den Paschdoa eingeladen. Früher warn dir diesche Kirchenfutzis… …schuldigung Herr Paschdoa…doch völlig egal.“

Pastor Feldmann winkt nachsichtig lächelnd ab und wischt sich kleine Krümel von der Hose. Jasper hat es sich wieder auf dem Boden neben seiner Frau gemütlich gemacht und nickt ebenfalls beifällig, „Ja, Dorothea…das würde mich auch mal interessieren. Woher der christliche Wandel?“ Drei neugierige Augenpaare ruhen nun auf Dorothea. Und die weiß, nun gibt es kein Zurück. Leises, sanftes Trommeln erklingt in ihren Ohren. Sie lehnt sich zurück und nippt noch einmal kräftig an ihrem vierten Sherry, „Also gut…fangen wir an!“

Sie zupft sich die Decke auf ihren Knien zurecht und rückt sich in eine bequeme Position. Das kann ein langer Abend werden.

Ihr Blick senkt sich zu Boden und sie schließt kurz die Augen um etwas Kraft zu tanken, die sie bitter nötig hat. Dann hebt sie den Kopf und schaut jedem einzelnen fest in die Augen.

„Mein Name ist nicht Dorothea Meyer. Zumindest nicht ursprünglich. Ich heiße in Wirklichkeit Penelope, Penelope O´Donnel und ich stamme eigentlich aus Amerika…genauer gesagt aus Colorado.“

Sie pausiert kurz und spricht dann mit fester Stimme weiter, „Ich werde heute auch nicht 80 Jahre, sondern 82. Meine Mutter ist Indianerin und ich habe eine Schwester…“, sie stockt kurz und ihr Blick wandert von einem zum anderen, „…und ich bin eine Mörderin.“

Stille! Fragende, ratlose Blicke!

Jasper räuspert sich und rappelt sich auf, „Möchte jemand noch was trinken? Ich brauch nämlich noch was!“ Damit dreht er sich auf dem Absatz rum und verschwindet mit hölzernen Bewegungen in den Abstellraum neben der Küche, wo ihr diverser Alkoholvorrat beherbergt wird. Grit schaut ihm nach, schüttelt verwirrt den Kopf und erhebt sich ebenfalls, „Mama, was soll das? Das ist nicht lustig!“ Jasper erscheint mit einer Flasche Korn und drei Gläsern. Mit einem entschuldigenden Blick auf seine Frau und ihren leicht vorgewölbten Bauch, setzt er sich wieder auf den Boden, „Wer braucht?“ Pastor Feldmann, ziemlich blass um die Nase und Dorothea nicken.

Jasper schenkt aus und verteilt. Im nu sind alle drei Gläser leer.

Seine Augen saugen sich an seiner (fremden?) Schwiegermutter fest, die seinem stechenden Blick ausweicht und sich etwas unwohl in ihrem Schaukelstuhl windet und dabei das unruhige Herumgerenne ihrer Tochter im Auge hat, „Also, Dorothea…sag mir jetzt einfach, dass dies ein verrücktes Gruselmärchen zum Abschluss deines Geburtstages sein sollte!“ Kläglich schaut Dorothea/Penelope ihren Schwiegersohn an und schüttelt kaum merklich den Kopf.

Eindringlich beugt sich Jasper vor, „Du weißt, ich bin Polizist?“

Wieder kann Dorothea/Penelope verschüchtert nur leicht nicken. Grit verhält kurz in ihrem rumtigern und stemmt die Hände in die Hüfte, „Mutter…!“ Dorothea/Penelope zuckt zusammen. Grit nannte sie nur `Mutter` wenn sie extrem sauer war. Grit setzt wieder an, „Mutter, ich bitte dich…du willst uns doch nicht wirklich erzählen, dass du einen Menschen abgemurkst hast?“ Jasper klingt sich wieder ein, „Dorothea…du bezichtigst dich gerade einer schweren Straftat! Weißt du eigentlich was das heißt? Und überhaupt!

Penelope? Amerika? 82 Jahre? Was soll das alles?“ Er springt auf und schließt sich dem tigern seiner Frau an.

Dorothea/Penelope schielt ängstlich zu Pastor Feldmann. Was hält er denn von der Sache? Der sitzt leicht zusammengesunken in dem wuchtigen Sessel und hält die Hände im Schoß gefaltet. „Pastor?“ Vorsichtig stippt sie ihn an.

Keine Reaktion. Doch plötzlich hallt seine donnernde, dunkle Stimme durch den Raum, „HINSETZTEN!“

Grit und Jasper stocken abrupt ihren nervösen Eierlauf und starren den Pastor erschrocken an. Dieser hebt den Kopf, die Hände noch immer locker im Schoss gefaltet und fordert die beiden in ruhigem Ton auf, „Bitte, Herr und Frau Braun!

Nehmen sie wieder Platz und beruhigen sie sich.“

Er wendet sich nun Dorothea/Penelope zu, die seinen Blick dankbar erwidert, „Ich bin sicher, dass ihre Mutter eine Erklärung für all das hat und ich bin der Meinung, dass sie diese Chance auch bekommen soll. Meinen sie nicht auch?“ Die Frage ist an Grit und Jasper gerichtet. Betroffen schauen beide unter sich und setzen sich still wieder auf den Boden. Jasper genehmigt sich noch einen Korn. Grit knibbelt an ihrem Daumennagel. Der Pastor nimmt Dorotheas/Penelopes faltige und knotige Hand in seine und streichelt sie beruhigend, „Frau Meyer… …bitte…erzählen sie weiter!“ Dorothea/Penelope schluckt krampfhaft und nickt, „Also…ich werde sterben…“, weiter kommt sie nicht. Empört war Grit aufgesprungen und zeigt anklagend auf ihre Mutter, „Sag mal, hast du sie noch alle?“ Jetzt schwillt auch Dorotheas/Penelopes Kamm. Sie wirft wütend die Decke von sich, springt mit drohendem Zeigefinger auf und ihre Stimme bebt förmlich vor Zorn, „SO nicht, mein Fräulein. Du wirst dich jetzt sofort auf deine knochigen vier Buchstaben setzten, den vorlauten Schnabel halten und mir gefälligst zuhören. Ist das klar?“

Grit sackt augenblicklich mit großen Augen auf den Teppich.

Jasper beugt sich zu ihr rüber, „Mach bloß was sie sagt, sonst lyncht sie dich!“ Er kichert nervös.

„UND DU…“, Dorothea/Penelope bückt sich zu ihm und bringt ihr Gesicht ganz dicht vor seines, „…du hörst auf blöde Witze zu machen! Klar?“ Sie erhebt sich wieder und spürt sofort einen ziehenden Schmerz in ihrer Hüfte und in ihrem Bein.

Aber das ignoriert sie. Pastor Feldmann lächelt still in sich hinein. Drache bleibt halt Drache. Aber er war gespannt wie ein Flitzebogen was diese erstaunliche Frau Meyer oder O´Donnel oder wie auch immer, noch auf Lager hat. Er steht auf und ist Dorothea/Penelope beim hinsetzten in den Schaukelstuhl behilflich. „Danke Pastor!“ Der Geistliche gluckst leise, „Nennen sie mich doch Eddi. Ist nicht so steif wie Pastor Feldmann oder Herr Pastor.“

Dorothea/Penelope lächelt dankbar und legt ihm die Hand auf die Schulter, „Aber nur, wenn sie mich auch beim Vornamen nennen!“

Er zwinkert ihr mit seinen warmen, braunen Augen zu, „Und welcher wäre das?“ Dorothea/Penelope schließt kurz die Augen und horcht in sich hinein. Ein sanfter Zug bildet sich um ihren Mund und ihr Gesicht wirkt mit einem Mal unglaublich weich und jung. Die hellblauen Augen öffnen sich, „Penny…meine Schwester hat mich immer so genannt!“

Grit stöhnt und schüttelt fast verzweifelt den Kopf. Jasper rempelt sie kurz an und kippt den zweiten Kurzen hinunter.

Eddi, der Pastor setzt sich wieder. Grit hat mittlerweile angefangen, am unschuldigen Teppich herum zu zupfen, was Dorothea/Penelope bemerkt. Sie streckt einen Fuß aus und unterbricht diese sinnlose Aktion, „Lass das, Schatz. Du ruinierst nur die ganze Auslegware!“ Trotzig beendet Grit ihr zerstörerisches Werk und verschränkt beide Arme vor der Brust. Jasper scheint sich etwas gefangen zu haben. Mit ruhiger Stimme erklärt er, „Dir ist klar das Mord nicht verjährt. Als Polizist müsste ich das melden!“ Grit zuckt zusammen, sagt aber nichts. Eddi mischt sich wieder ein, „Nur mal langsam mit den jungen Pferden.“ Er hebt beschwichtigend die Hände, „Es muss hier nichts überstürzt werden, junger Mann.“ Dann beugt er sich leicht zu Grit, die angefangen hat, sich sanft hin und her zu wiegen, „Frau Braun? Grit?“ Grit hebt den Blick. Er ist tränenverschleiert. Ihre Mundwinkel zucken, „Es ist alles eine Lüge…alles eine Lüge…!“ Ein lautes Schluchzen löst sich aus ihrer Brust und sie weint hemmungslos. Seit sie schwanger ist, hat sie sowieso ziemlich nahe am Wasser gebaut. Hilflos nimmt Jasper seine Frau in die Arme und verteilt böse Blicke an die anderen beiden Anwesende, „Schscht, Schatz…es wird alles gut!“ Tröstend streichelt er seiner Frau über den Rücken.

Unkontrolliert bricht es aus Grit heraus und sie stößt ihren Mann hart gegen die Brust, „Nichts wird gut…Garnichts. Mein ganzes Leben ist eine Lüge.“ Sie zeigt anklagend auf ihre Mutter, „Das hast du doch gerade gehört. Meine Mutter Dorothea heißt nicht Dorothea…ihre Eltern…MEINE GROSSELTERN…waren dann wahrscheinlich auch gar nicht ihre Eltern, geschweige denn meine Großeltern, …wenn ihr Name falsch ist, dann ist ihre Hochzeit mit meinem Vater ungültig, ergo stimmt mein Name nicht…ergo ist unsere Hochzeit auch ungültig! Und auf einmal hat sie einen Menschen auf dem Gewissen?“

Sie wirft den Kopf an seine Schulter zurück und schluchzt erbärmlich. Bestürzt kniet Eddi sich zu runter zu ihr, „Aber, aber…es gibt bestimmt für alles eine plausible Erklärung und ich bin mir sicher, dass die Ehe ihrer Mutter und auch IHRE Ehe korrekt und legal sind. Warum lassen sie ihre Mutter denn nicht alles erzählen? Dann wird sich bestimmt alles aufklären.“

Grit schnieft und wirft ihrer Mutter einen verzweifelten Blick aus geröteten Augen zu und flüstert, „Maminka…wer bist du?“

Dorothea/Penelope bricht es fast das Herz, ihre Tochter so zu sehen. Ungeachtet ihrer schmerzenden Hüfte, kniet sie sich neben Grit und nimmt sie in den Arm, „Ich bin deine Mutter, mein Schatz und ich liebe dich von ganzem Herzen…so wie es dein Vater getan hat und so wie deine Großeltern es getan hätten, wenn sie dich noch hätten kennenlernen dürfen…was ihnen aber leider nicht vergönnt war.“ In Dorothea/Penelopes Hals, sitzt ein dicker unangenehmer, Klos und sie muss hart schlucken. Schwerfällig erhebt sie sich und nimmt wieder im Schaukelstuhl Platz. Fest schaut sie in die Runde.

„Hier geht es nicht unbedingt darum, dass ich eine Mörderin bin. Diese Tatsache ist nur ein kleines Teil in einem großen Puzzle…ja fast schon eine Randerscheinung. Ich habe euch das nur gesagt, weil es leider Teil meiner Geschichte ist. Ihr wollt wissen wer ich bin?“

Stolz hebt sie den Kopf, „Ich bin Penelope O´Donnel, Tochter des Iren Arthur O´Donnel, Tochter von Strahlender Sonne und geliebte Schwester von Hope!“ Ein wehmütiges Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht und ihr Kinn senkt sich langsam auf ihre Brust, „Und darum geht es. Um Hope.“ Ihr Blick wandert in die Ferne und tiefe Melancholie ergreift sie, „Niemand wusste von ihr…keine einzige Menschenseele und ich möchte, nein ich MUSS diese Erinnerung weitergeben…sonst war ihr Leben umsonst… versteht ihr? Ich möchte, dass ihr wisst, das es ein Mädchen namens Hope gegeben hat und dass sie sehr geliebt worden ist…“, ihre Stimme bricht, „…das bin ich ihr schuldig!“

Sie schaut ihrer Tochter ins Gesicht, „Kannst du das verstehen, Liebling?“ Betroffen erwidert Grit den Blick ihrer Mutter und fragt leise, „Wo ist Hope!“

Eine Träne löst sich aus Dorotheas Augenwinkel, „Tot!“

Bestürztes Schweigen.

Dorothea/Penelope schließt die Augen. Ihre Miene verzieht sich schmerzhaft, als sie ihre langen, vergrabenen Erinnerungen herbeiruft. Grit wirft Jasper einen unsicheren Blick aus ihren rotgeränderten Augen zu und zieht, sehr undamenhaft, die Nase geräuschvoll hoch. Unsicher rutscht er ganz nah zu ihr und legt seinen Arm fest um sie. Sein Blick wandert, schon fast hilfesuchend, zum Pastor. Dieser nickt ihm kurz beruhigend zu und räuspert sich leise, was sich in dieser greifbaren Stille wie ein Donnergrollen ausmacht.

Dorothea/Penelope zuckt ein klein wenig zusammen und öffnet ihre, von unzähligen Fältchen umgebenen, Augen, die sie innerlich schon auf ihre Vergangenheit gerichtet hat.

Als sie zu sprechen beginnt, hat ihre Stimme einen hellen, kindlichen Unterton…

*

Colorado 1934

Der Daddymann

Der Frühling (ihr Geburtstag) war ins Land eingezogen und sie war gespannt, ob sie ein Geschenk bekommen würde.

Verstohlen schielte sie zu der werkelnden Frau am Kamin.

Deren emsige Gesten ließen nicht darauf schließen, dass ihr bewusst war, wie aufgeregt das Kind in ihrem Rücken herumzappelte. Ein lautes Poltern ließ Penny aufhorchen. Sie spitzte die Ohren und rutschte mühsam vom kippeligen Stuhl herunter. Ihre kurzen Stummelbeinchen steckten in einer durchgescheuerten, selbstgenähten Stoffhose. Gerade als sie fragend zum prasselnden Kamin schauen wollte, wo Sunny mit einem schmiedeeisernen Topf zugange war, flog mit lautem Krachen die schwere Holztür nach innen auf und gab den Blick auf einen hünenhaften, vermummten Mann frei.

„WO IST MEIN KLEINER WONNEPROPPEN?“ Erwartungsvolles und gespanntes Schweigen…dann…

„Daddy, Daddy…!“ Laut glucksend lief Penny auf diesen Mann zu. Lange Arme mit Riesenpranken breiteten sich aus und hoben sie in schwindelerregende Höhe. Dann wurde sie an einen, mit nassem Schneematsch bedeckten, dicken Wildledermantel gedrückt. Ein wildes, zugewuchertes Gesicht näherte sich ihrer kindlichen Wange und hinterließ einen kalten Schmatzer darauf. Mit ihr auf dem Arm stapfte er in den Raum und ließ sich auf einem grob gezimmerten Stuhl am rauen Tisch, an dem sich Penny schon oft an diversen Körperteilen, einen Holzsplitter eingefangen hatte, nieder. Der Schnee auf dem Mantel begann augenblicklich in der warmen Stube zu schmelzen und durchnässte ihre dünne Hose mit kaltem Schmelzwasser. Eine Welle Gänsehaut zog sich über Pennys Beine, was ihr im Moment aber völlig egal war, „Hast du mir was mitgebracht, Daddy?“

Erwartungsvoll glänzende Kinderaugen wanderten hoch zu dem bärtigen Gesicht, dessen buschige, feuerroten Barthaare sich verbreiterten, was Penny als Lachen deutete. Bevor sie eine Antwort bekam, fühlte sie, wie zwei warme Hände sie vom eiskalten, nassen Schoß hoben, zum Kamin trugen und dort sachte absetzten. Sunny! Penny schaute hoch zu ihrer Mutter, die wiederrum zu ihrem Daddy schaute und mit dem Finger leicht vorwurfsvoll auf ihn deutete, „Schnee!“