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Der 12. März 2012! Ein denkwürdiger Tag. Es ist der Tag, an dem ein 15-jähriges Mädchen, namens Lizzy, beschließt, dass sie ihr Leben lieber in der Obdachlosigkeit verbringen will, als weiter der ausgefranste Fußabtreter ihrer alkoholkranken Mutter zu sein. An diesem Tag tauscht sie ihr trostloses und hoffnungsloses Dasein gegen eine ungewisse Zukunft, ebenfalls ohne jegliche Hoffnung. Doch nicht nur für Lizzy ist dies ein denkwürdiger Tag. Nein! Auch für Frau Blumé, eine todkranke, im Sterben liegende alte Frau, die schon lange aufgehört hat, das Leben zu schätzen. So unterschiedlich diese beiden Menschen auch sind, eines verbindet sie dennoch: die Einsamkeit. Doch Lizzys Einsamkeit rührt von ihrer Armut und ihren schwierigen Lebensumständen her. Frau Blumé jedoch hat sich ihre Einsamkeit selbst auferlegt. Und plötzlich prallen diese beiden verschiedenen Charaktere mit voller Wucht aufeinander und das Schicksal beginnt sich unaufhaltsam seinen geheimnisvollen Weg über sieben Etappen zu pflastern. Jeweils begleitet von einem Brief. Also insgesamt Sieben Briefe
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Seitenzahl: 591
Alle Namen und der Abläufe sind frei erfunden. Viele Örtlichkeiten sind fiktiv oder reale Orte wurden von mir künstlerisch angepasst (diese Freiheit habe ich mir zugestanden). Überschneidungen einzelner Schicksale oder Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die einzelnen Gedichte in diesem Buch, sind Werke aus meiner Hand, deshalb wirst du sie auch nirgends finden, außer hier …
Wer sagt, dass es keine Wunder gibt? Manchmal dauert es nur etwas, bis man ein Wunder eben auch als solches erkennt!
Vorwort
Lizzy Müller (Bezirk Kreuzberg)
Geraldine Blumè (Bezirk Charlottenburg/Wilmersdorf)
Die Begegnung
Brief Nummer 1
Brief Nummer 2
Brief Nummer drei
Brief Nummer vier
Brief Nummer fünf
Brief Nummer sechs
Epilog: Brief Nummer sieben
Wir schreiben das Jahr 2012. Genauer gesagt den zwölfte März.
Schauplatz: Eine Großstadt! Es spielt überhaupt gar keine Rolle welche Stadt, denn überall bietet sich uns das gleiche Bild.
Wählen wir einfach mal Berlin. Unsere Hauptstadt. Ich glaube, keine andere Stadt verkörpert besser den brodelnden Schmelztiegel unserer Gesellschaft, wie Berlin.
Tausende, Abertausende Menschen leben hier, wohnen und arbeiten wuselnd, wie kleine, fleißige Ameisen, in den Tag hinein oder vegetieren ohne Hoffnung auf Besserung zusammengepfercht, am Rande des Existenzminimums, auf engstem Raum und versuchen einfach nur zu überleben. Wie dem auch sei…ALLE diese Menschen haben einen sturen Tagesablauf, den sie störrisch mit mehr oder weniger Elan abspulen. Jeder arrangiert sich mit seinem, ihm, vom Schicksal zugewiesenen Leben, so gut er kann. Manche halt einfach nur besser wie andere.
Die Einen sind wahre Überlebenskünstler, die immer versuchen, das Beste aus ihrer jeweiligen Situation zu machen, während die Anderen am Rande der üppige Gesellschaftsscheibe herumkrebsen und permanent jammernd, mit ihrem Schicksal hadern, aber aus verschiedenen (manchmal auch unerklärlichen) Gründen nicht in der Lage sind, etwas daran zu ändern. Vielleicht WILL der Ein oder andere das auch gar nicht.
Doch lassen wir das. Was ich mit diesem kurzen Anriss eigentlich sagen möchte, ist:
Im Großen und Ganzen können wir die Menschen auf dieser Welt in fünf verschiedene Kategorien stecken.
Da haben wir die NORMALOS. Die NORMALOS hechten federnd, ohne nennenswerte Probleme, extrem ambitioniert durch ihr Leben und sind eigentlich ganz zufrieden mit dem was sie erreicht haben.
Dann haben wir die allseits bekannten SCHLEIMER. Diese Gattung schlängelt sich energiesparend ganz bequem und nach Möglichkeit auf Kosten anderer durch ihr Leben und sind ebenfalls mit ihrer Lebensart ganz zufrieden. Warum auch nicht?
Als drittes haben wir die EGALOS (die den größten Teil ausmachen). Wie der Name schon sagt, ist dieser Menschengruppe alles egal, solange ihre (untergeordneten) Mitmenschen das tun, was sie möchten. Wenn sie es nicht tun, werden diese Mitmenschen einfach entsorgt, wie alte Putzlappen und durch frische (willige) Putzlappen…nein…Mitmenschen, ersetzt. Dabei spielt es auch überhaupt keine Rolle, ob es sich dabei um ein Familienmitglied oder nur um den Nachbarn von nebenan handelt.
Die vierte Sparte füllen die BEISSER aus. Tja, die BEISSER…was soll man zu denen sagen? Im Grunde genommen, sagt ihre Bezeichnung ja schon alles. BEISSER sind Leute, die sich, egal aus welcher Schicht sie kommen (ob arm oder reich), unbeirrbar und ohne jegliche Rücksichtnahme ihren Weg durchs Leben und ihre Umwelt pflügen. Dabei hinterlassen sie so einige zerfetzten Seelen und gebrochene Herzen am steinigen Wegesrand. Doch immerhin geben sie sich recht schnell zu erkennen. Also könnte man ja noch rechtzeitig Reißaus nehmen…
Als letztes gibt es noch eine kleine Randgruppe…die NIEMANDS.
Ganz nebenbei bemerkt, eine äußerst sympathische Spezies.
NIEMANDS sind Menschen, die in der Regel schon bei ihrer Geburt die sprichwörtliche Arschkarte gezogen haben.
Aber anstatt zu jammern oder andere für ihr Unglück verantwortlich zu machen, halten sie sich im schattigen Hintergrund und wurschteln sich, meist unbemerkt von allen anderen, durch all die fiesen Fallstricke, die ihnen das Leben tückischer Weise auslegt… vorbei an den NORMALOS, den SCHLEIMERN, den EGALOS und den BEISSERN.
Diese NIEMANDS sind einfühlsam, liebevoll, abgrundtief ehrlich und würden für einen noch ärmeren Schlucker als sie es sind (was kaum möglich ist), ihr letztes Hemd geben.
Mit etwas Hilfe einer anderen Spezies (vielleicht den NORMALOS) könnte aus vielen von ihnen ein wertvoller Teil unserer Gesellschaft werden…möglicherweise eine hervorragende Krankenschwester oder eine liebevolle Kindergärtnerin oder ein gutgelaunter Beamter. Doch niemand nimmt sie so richtig wahr. Niemand erkennt dieses wertvolle Potential, das sie tief in sich verborgen, herumschleppen.
Vielleicht ist es aber auch gar nicht so verkehrt, dass man sie selten wahrnimmt. Wenn man sich die fiesen Eigenschaften der BEISSER einmal betrachtet? Die würden so einen wehrlosen, gutgläubigen NIEMAND einfach plattmachen…ihn sozusagen mit Haut und Haaren vom Antlitz unserer Erde tilgen.
Deswegen tummeln die NIEMANDS sich unbeachtet von allen, am Rande unserer, ach so angesehenen, selbstherrlichen und kultivierten Gesellschaft herum.
Das sind die NIEMANDS. Ich mag sie!
Also…
Unsere, beziehungsweise meine Geschichte, führt uns in zwei völlig verschiedene Stadtviertel, zu zwei völlig verschiedenen Menschen, die im Augenblick noch nicht wissen, wie sehr sie auf den jeweils anderen angewiesen sind. Und glauben sie mir…
keine von beiden würde auch nur den geringsten Drang verspüren, überhaupt in irgendeiner Weisen auf jemand anderen angewiesen zu sein. Jede, dieser beiden Personen, ist auf seine eigene Art und Weise unabhängig, oder meint, es zu sein und jeder der Beiden ist zufrieden mit seinem Soloauftritt. Die Eine, weil sie es will und die Andere, weil sie muss.
Wir reden hier also von einem BEISSER und einem NIEMAND.
Und doch hat das verschlagen lächelnde Schicksal eine gemeinsame Strippe für sie gewebt, in die sie sich nun unwissend langsam und unaufhörlich verstricken.
Was dabei herauskommt?
Nun ja…das erfahren wir jetzt…
Verschlafen öffnete Lizzy die Augen. Einige kecke Wintersonnenstrahlen stahlen sich durch die schmutzigen, schlierigen Fensterscheiben, an deren Ecken, kurz über dem abbröckelnden Kitt, sich filigrane Eisblumen über Nacht gebildet hatten. Die löchrigen, alten, ehemals weißbestickten Gardinen, die traurig versuchten, dem abgewohnten, schäbigen Zimmer einen heimeligen Anstrich zu verleihen, hingen wie zerzauste Haarzotteln ausgefranst herab.
Doch dafür hatte Lizzy schon lange kein Auge mehr. Luxus bedeutete für sie lediglich, ein Dach über dem Kopf zu haben.
Alles andere war völlig nebensächlich. Suchend ließ sie ihre Hand aus dem Bett baumeln, wobei das Wort ‚Bett‘ ziemlich hochtrabend formuliert war. Eigentlich handelte es sich nur um zwei klumpige, alte und fleckige Matratzen, die einfach achtlos übereinander geschoben worden waren und somit einem müden und erschöpften Menschenkörper eine halbwegs weiche Nachtruhe boten. In diesem Fall, Lizzy.
Ihre tastenden, eiskalten Fingerspitzen erhaschten das alte Handy, das neben den Matratzen auf dem Boden lag. Sie hob es auf und linste verschlafen auf das verkratzte Display. Neun Uhr zweiundfünfzig. Sonntag. Also keine Schule. Nicht, dass es Lizzy wichtig gewesen wäre. Sie ging eh nur noch sporadisch in diesen unnützen Lerntempel. Ihren Lehrern war es auch scheinbar völlig egal ob sie da war oder nicht. Für sie war Lizzy unsichtbar. Es gab sogar Lehrkräfte, die noch nicht einmal Lizzys Gesicht kannten. Geschweige denn ihren richtigen Namen.
Selbst im Klassenbuch fand man sie nur unter `Lizzy`. Dabei trug sie den wunderschönen und sehr klangvollen Namen: Elisabeth!
Lizzy nahm es ihnen nicht übel. Nicht das sie darauf bestand Elisabeth benannt zu werden, nein, sie fand die Schule halt einfach nur doof. Außerdem war sie in den letzten Jahren so oft umgezogen und hatte so oft neue Schulen besuchen müssen, dass die jeweiligen Lehrer kaum eine Chance hatten, sie richtig kennenzulernen.
Lizzy war fünfzehn, fast sechzehn und besuchte (wenn sie denn mal die Schule besuchte), die achte Klasse einer ziemlich heruntergekommenen Gesamtschule. Früher, als die hochtrabende Bezeichnung ‚Gesamtschule‘ noch nicht existierte, hätte man sie als stinkfaulen, dummen Hauptschüler bezeichnet, mit einem gewissen Hang zur Sonderschule. Doch Lizzy war nicht dumm! Im Gegenteil…sie war sogar ziemlich intelligent. Nur hatte sich nie jemand gefunden, der sie lange genug am Wickel hatte, um das zu erkennen. Deswegen bestand auch nie die Chance, ihre Klugheit zu Tage zu fördern.
Durch ihr erzwungenes Vagabundenleben hatte sie irgendwann in den letzten Jahren einfach den Anschluss verpasst und war dann auch prompt zweimal sitzengeblieben. Was an sich nicht dramatisch gewesen wäre…viele berühmte Leute hatten die eine oder andere Ehrenrunde gedreht. Doch diese Leute hatten aber auch irgendwann einen Fürsprecher gefunden, der ihren IQ erkannt und sie dementsprechend gefördert hatte. Das war bei Lizzy halt nicht der Fall. Lizzy war alleine. Auch wenn sie eine Mutter hatte… doch die hatte ihre eigenen Probleme. Sich mit Lizzys Problemen zu beschäftigen, war nicht ihr Ding. Ganz im Gegenteil. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihre eigenen Probleme zu Lizzys Problemen zu machen. Schließlich war in ihren Augen, Lizzy für alles verantwortlich. Nur ihretwegen musste sie ihr heißgeliebtes Flatter- (Party) Leben an den ausgedrückten Zigarettenstummel hängen.
DAS ALLES nur wegen Lizzy!
Vor drei Monaten hatte ihre Mutter sie, wie schon so oft in den letzten Jahren, nachts rüde aus dem Schlaf geschüttelt. Lizzy erinnerte sich nur sehr ungern daran, tat es in diesem Moment jedoch trotzdem.
Eine schwere Schnapsfahne umhüllte Lizzy, als sie schlaftrunken in das aufgedunsene Gesicht ihrer Mutter aufschaute, die ihr lallend mitteilte, „Pack dein Krempel!“
(Nur klang es eher wie: pagn Kreml!)
Lizzy war sich im Klaren darüber was das hieß.
„Müssen wir wieder weg?“ Die Frage klang eigentlich eher wie eine Feststellung. Natürlich mussten sie weg. So wie immer, wenn was schieflief. Und bei Lizzys Mutter lief einiges schief.
„Laber nicht rum…mach…Hubert kommt gleich!“
(Labba nichum Hubba kommleich!)
Lizzy schielte auf ihr Handy. Es war gerade mal kurz nach Mitternacht. Teilnahmslos schälte sie sich aus der Wolldecke und rollte sie, wie schon so oft zuvor, zu einer dicken Wurst zusammen, „Kommt morgen der Gerichtsvollzieher wieder?“
Die Frage war eigentlich nur beiläufig gestellt und von Lizzy auch nicht böse gemeint. Doch Lizzy Mutter schnaufte wie ein Stier, stürmte auf sie zu und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige, „Duuu gleine besserwissische Rozgöare…bass auf was du sags!“
Abrupt dreht sie sich um, schwankte gefährlich, fing sich aber noch gerade rechtzeitig, bevor sie sich die ausgemergelte Hüfte an dem verwohnten Sideboard anstieß und torkelte böse zischend und spuckend aus dem Zimmer. Lizzy stand total schockiert und erstarrt vor ihrem Bett, die eine Hand auf die rot brennende Wange gepresst und schaute ihr mit großen Augen nach.
Was war denn das gewesen?
Ihre Mutter hatte sie noch nie geschlagen.
Vernachlässigt ja. Geschlagen nie.
Was hatte sie denn gesagt? Lizzy war sich keiner Schuld bewusst. Es stimmte doch, dass der Gerichtsvollzieher hier ein und ausging. Warum reagierte ihre Mutter darauf so empfindlich?
Sie verzog das Gesicht und rieb sich die Wange.
So eine doofe Kuh.
Lizzy schnappte sich ihren alten Seesack und stopfte achtlos ihre wenigen Habseligkeiten hinein. Mit einem Ruck an der Kordel zog sie ihn zu. Prüfend schaute sie sich in dem kleinen Raum um, ob sie auch nichts vergessen hatte, nickte resigniert und warf sich den großen Jutesack über die Schulter. Sie war mal gespannt, wo es sie diesmal hin verschlug und welche ihrer sperrmüllverdächtigen Möbel sie begleiten durften. Aus Erfahrung wusste sie, je weniger sie mitnahmen umso schlimmer war die Situation, in der sie sich befanden.
Lizzy kannte den Ausdruck, mit dem andere Leute, Menschen wie sie bezeichneten: Mietnomaden! Kein schöner Ausdruck.
Und doch traf das zu…genau das waren sie. Leute, die anderen Leuten Geld schuldig blieben…viel Geld!
Früher… Lizzy musste ungefähr sechs oder sieben Jahre gewesen sein, hatten ihr die Hänseleien der Nachbarskinder und Mitschüler das Leben ordentlich schwergemacht. Kinder sind da sehr erfindungsreich und grausam. Man hatte ihr immer schon von Weitem angesehen, dass sie arm war. Seit sie denken konnte, musste sie selbst schauen, wie ihre Klamotten sauber wurden…wie sie an gescheite Schulsachen rankam und was sie essen sollte. Je älter sie geworden war, umso schlimmer wurde es. Früher hatte ihre Mutter noch einige lichte Momente im Leben. Und in diesen Momenten kümmerte sie sich auch um Lizzy. Dann nahm sie ihre Tochter in den Arm, herzte sie und nannte sie: meine kleine Prinzessin!
Doch selbst diese wenigen Liebenswürdigkeiten übertünchten nicht die permanente Alkoholfahne, die wie eine aufdringliche Parfumwolke, ihre Mutter umgab.
Am Monatsanfang bekam Lizzy manchmal (selten) auch mal etwas Neues anzuziehen. Aber vor allem bekam sie dann genügend zu essen.
Nur, je älter sie geworden war, umso weniger Interesse schien ihre Mutter an ihr zu haben.
Lizzys Kleider verlotterten langsam und wurden ihr zu klein oder gingen kaputt, so dass sie sich irgendwann gezwungen sah, in der Dunkelheit an den Sammelstellen der Kleidercontainer die Säcke, die davor abgestellt waren, nach tragbaren Textilien zu durchforsten. Und genauso sah sie dann auch aus. Alles war irgendwie zusammengewürfelt. Doch das kümmerte Lizzy wenig. Was sie am Leib trug, hielt sie warm und mehr wollte sie nicht. Wichtiger war, genügend Nahrung zu beschaffen. Lizzys Mutter investierte die meiste Kohle (Sozialhilfe) in Hochprozentiges. Und so lag es an der kleinen Lizzy, mit dem wenigen Restgeld einen Monat lang Essen zu kaufen. Ein sehr schwieriges Unterfang und oft genug musste sie hungrig zu Bett gehen. Lizzys Mutter war eben Alkoholikerin. Aber wenn man sie darauf ansprach, winkte sie nur abwiegelnd ab, „Wegen ein paar Bierchen bin ich noch lange keine Säuferin!“
Lizzy schüttelte sich bei dieser Erinnerung.
Sie seufzte leise und schlurfte, mit ihrem Sack über der Schulter ins Wohnzimmer, „Bin fertig!“ Lizzys Mutter nahm gerade einen Schluck aus einer billigen Kornflasche, wischte sich den Mund mit ihrem Handrücken ab und warf ihrer Tochter aus glasigen Augen einen abschätzenden Blick zu, „Rainer komm leich!“
„Hubert!“ Lizzys Mutter stutzte und rülpste, „Wa?“
Lizzy seufzte innerlich erneut, „Du meinst Hubert…Rainer war der, von letztem Monat.“
Lizzys Mutter kniff die blutunterlaufenen Augen zusammen, „Du häls mich für ne Hure…nich wahr? Meins wohl, wärs was Bessersss…du gleine…“, ein schrilles Läuten unterbrach ihren gehässigen Satz.
Lizzys volltrunkene Mama zuckte zusammen und glubschte mit großen Augen ängstlich an die Haustür. Lizzy jedoch atmete fast erleichtert auf, „Das wird Hubert sein!“ Sie eilte zur Tür um den neuen Lover ihrer Mutter hereinzulassen. Lizzy hasste es, wenn ihre Mutter ausfällig wurde. Sie konnte dann richtig gemein werden. Und das tat weh.
Auch wenn Lizzy ihre Mutter verachtete, für das was sie tat (saufen)…sie war dennoch ihre Mutter. Lizzy hatte doch sonst keinen. Ihren Vater kannte sie nicht. Wahrscheinlich auch irgendeine besoffene, zugedröhnte Zufallsbekanntschaft. So wie Hubert, Rainer, Klaus, Martin, Chris, Sergej, Bombom (wie der richtig hieß, wusste Lizzy nicht…vielleicht hatte sie ihn auch nur Bombom genannt, weil er ihr immer Bonbons mitgebracht hatte). Den Bombom hatte sie gemocht. Er hatte lustige Augen gehabt und er hatte sogar Job besessen. In den zwei Monaten, die er in ihrem Leben verweilt hatte, war Lizzy auch fast immer satt geworden. Bombom hatte mit ihr gespielt und sie oft auf seinen Knien geschaukelt. Doch Lizzys Mutter hatte sie an einem Abend von seinem Schoß gerissen, sie wie eine Schlenkerpuppe wild geschüttelt und ihn achtkantig hinausgeschmissen. Lizzy wusste bis heute nicht warum. Die Liste der abgefuckten Subjekte die in ihrer beider Leben ein und ausgingen, war unendlich lang. Lizzy hatte irgendwann aufgegeben, sich die Namen zu merken. Namen waren Schall und Rauch.
Hubert stampfte hinein. Seine rote Knollennase schien in seinem sonst fast krankhaft fahlen Gesicht, wie eine Laterne, zu leuchten. Sein Blick surrte radarartig durch den Raum und blieb an ihrer Mutter haften.
Seine fettglänzende Unterlippe schürzte sich nach außen und seine dichten, strubbeligen Augenbrauen zogen sich zusammen. Eine Wolke Achselschweiß und der Hauch von billigem Dosenbier folgte ihm auf den Fuß und breitete sich schlagartig im ganzen Raum aus.
„Fertig?“, fragte er kurz angebunden. Lizzys Mutter nickte grinsend und hielt ihm auffordernd die Flasche Korn hin, „Wir sin soweit, Schazzi!“ Huber schien unter dieser Bezeichnung angeekelt zusammenzuzucken.
Mit einem Ruck zerrte er die Schnapsflasche an sich und nahm einen tiefen Schluck.
Dabei wanderten seine Augen zu Lizzy rüber, die versuchte, sich in der hinteren dunklen Ecke unsichtbar zu machen. Sie mochte diesen Hubert ganz und gar nicht. Er hatte etwas Gemeines und Dunkles an sich.
Der Seesack lag schwer auf ihrem Rücken und sie trat zu ihrer Mutter, „Wir können los!“
Hubert wedelte mit der halbleeren Flasche, „Na dann!“ Er wartete, bis Lizzys Mutter an ihm vorbei war und verstellte Lizzy dann den Weg. Seine Augen glitten abschätzend an ihr herunter, was eine unangenehme, kribbelnde Gänsehaut und leichte Übelkeit bei ihr auslöste. Er grinste anzüglich, „Ich hoffe, du zeigst dich etwas erkenntlich, dafür das ich dich und deine Alte aus diesem Loch raushole!“
Er setzte die Flasche an und nahm noch einen tiefen Zug der klaren, harmlos wirkenden Flüssigkeit. Doch es war Schnaps.
Billiger Fusel, wahrscheinlich von der Tanke.
Lizzy schälte sich an ihm vorbei, darauf achtend, nicht allzu viel von diesem Widerling zu berühren (und zu riechen), „Wir sind dir sehr dankbar für deine großzügige Hilfe!“
Ihre Stimme troff vor Ironie. Hubert schnaufte und nickte zufrieden. Offensichtlich kam Lizzys Abneigung und Sarkasmus gar nicht bei ihm an.
Die lädierte Haustür fiel hinter ihnen ins klapprige Schloss.
Zurück blieben Räumungsklagen, Mahnbescheide, die sich turmhoch stapeln würden, wenn man sie in all dem Chaos zusammensuchen würde und die in Lizzys Leben so selbstverständlich waren, wie die ewig saure Milch im verschimmelten Kühlschrank und der permanent leere, verstaubte Brotkasten, dessen einziger Inhalt eine klitzekleine Spinne war (doch die würde auch bald verhungern).
Das nächste erzwungene Kapitel in Lizzys Leben begann.
Ihre zukünftige Behausung lag in einem ziemlich verrufenen Viertel der Stadt. Hier waren Suff, Drogen und Prostitution an der Tagesordnung.
Lissy schaute sich in der verkommenen und total verdreckten Bude um. Hubert stieß eine Tür zu ihrer rechten Seite auf. Dort lagen, wie in ihrem letzten Heim, zwei vergammelte Matratzen auf dem Boden. Staub, Kippen und Fastfood-Tüten vervollständigten die Einrichtung. Die Luft roch dumpf und abgestanden mit einem unterschwelligen Kacke- und Gammel Aroma. Lizzy hielt automatisch die Luft an, als Hubert sie in die kleine Kammer hineinschob, „Hier knackst du!“
Lizzys Mutter schob sich wankend an Hubert vorbei, „Na siehse…Prinzessjie hat ihr eigenes Reich…was willse denn noch?“ Sie gackerte laut, stieß plötzlich sauer auf, drehte eilig sich um und würgte laut. Ein wässriges, platschendes Geräusch folgte.
„Bäh…du alte Pottsau!“
Hubert zuckte angewidert zurück, boxte der zusammengesunkenen Gestalt, die halb am Boden lag, hart mit der Faust auf den Rücken, zerrte sie dann grob am Kragen hoch und schubste Lizzys Mutter an der dampfenden Kotze vorbei, den Gang hinunter, „Du elende, stinkende Säuferin…dir gehört mal ordentlich der Marsch geblasen!“
Ganz kurz drehte er sich zu Lizzy um, die angeekelt, aber auch besorgt im Türrahmen stand.
Er wies auf die bröckelige, gelbe und stinkende Lache, „Wisch das gefälligst weg…is ja schließlich die Kotze DEINER Alten!“
Mit diesen harten Worten stieß er Lizzys Mutter in den hintersten Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Lizzy schluckte. Ein dicker, fetter Klos in ihrem Hals schnürte ihr fast die Luft ab. Ein gedämpftes Klatschen drang hinter der geschlossenen Tür am Ende des Ganges hervor, gefolgt von einem leisen, abgehackten Schluchzen.
Lizzy schluckte nochmal. Auch ihr war irgendwie zum Weinen zumute. DIES, war mit Abstand die schlimmste Behausung und der schlimmste Kerl, den ihre Mutter jemals angeschleppt hatte.
Doch Lizzy hätte wissen müssen, dass es irgendwann soweit kommen musste und ihre Mutter (mit Lizzy im Schlepptau) ganz unten im stinkenden Morast versank. Die vielen Promille unzähliger Schnäpse, die vielen durchzechten Nächte und der harte Zahn der Zeit hatten aus ihrer Mutter eine verlebte, abgehalfterte, ausgedörrte, hagere Säuferin mit abstoßenden Mundgeruch und eitrigen Ekzemen im aufgedunsenen Gesicht gemacht. Die Auswahl an einigermaßen halbwegs passablen Männern, die sie und die kleine Lizzy spendabel mit durchgezogen hatten, war mit jedem Jahr und jedem Rausch gesunken. Nun blieben nur noch solch üble Kerle übrig, die genau wie ihre Mutter, ganz unten im Lebenssumpf herumkrebsten.
Wie gesagt…das war vor drei Monaten geschehen.
Drei Monate totaler Hölle für Lizzy. Ihre Gedanken kehrten zurück in die Gegenwart.
Sie setzte sich auf und grübelte. SO konnte es doch nicht weitergehen. Im Schlafzimmer am Ende des Ganges klirrten ein paar Flaschen, wohl umgestoßen von einem ungewaschenen, stinkenden Käsefuß. Lizzy ließ das Handy auf den ehemals blauen, ausgefransten Teppich fallen und zog sich seufzend das ungewaschene Bettzeug über den Kopf.
Der muffige, modrige Geruch ihres Federbettes ließ sie fast würgen und sie streckte mit angeekelter Miene ihre Nase wieder ins Freie. Ihre Augen blieben an einer tief herabhängenden, schon schwarz angestaubten Spinnenwebe hängen, die genau über ihrem Kopf baumelte. Sie murmelte so etwas wie ‚abgefuckte Bruchbude‘ und verkroch sich wieder in ihrer stinkenden Betthöhle. Doch ihre Blase drückte und sie müsste eigentlich dringend mal aufs Klo. Wie eine Schildkröte schob sie ihren Kopf wieder nach außen und schielte nachdenklich zu der verschlossenen Tür. Übrigens die einzige Tür in diesem Gammler-Loft, die sich verschließen ließ.
Darüber war Lizzy auch sehr froh. Seit sie acht war, sperrte sie sich nachts ein. Das hielt ungebetenen Besuch fern!
Der Drang zu pinkeln wurde immer größer. Mühselig strampelte sie sich aus ihrer schmuddeligen Schlafstätte. Was solls…früher oder später MUSSTE sie dieses Zimmer ja verlassen. Und sie musste mittlerweile auch wirklich ganz dringend Pipi. Auf eiskalten, nackten Sohlen, die Heizung war mal wieder defekt, wie so vieles hier im Haus, huschte sie zur Tür und legte sachte das Ohr an das Türblatt um zu horchen. Nichts. Sie hörte nichts.
Behutsam drehte sie den verrosteten Schlüssel im ebenfalls verrosteten Schloss herum, immer darauf bedacht, nur ja kein Geräusch zu verursachen. Vorsichtig öffnete sie die Tür und spähte durch den schmalen Spalt den Gang hinunter.
Leer! Keine Menschenseele.
Und auch kein Geräusch, das eine halbwegs wache Menschenseele verursachen würde. Also los. Schnell ins Badezimmer. Oder das, was ein Badezimmer darstellen sollte.
Eigentlich erkennbar nur an dem kleinen Waschbecken und der verdreckten Kloschüssel (der Klodeckel hatte schon bei ihrem Einzug mit seiner Abwesenheit geglänzt). Sauberkeit und Putzmittel waren hier Fremdwörter.
Doch man gewöhnte sich an alles…zumindest konnte man sich zeitweise mit Vielem arrangieren. Lizzy schaute sich beim Eintreten um. Der gesamte Raum strotzte vor Dreck.
Meister Proper würde auf die schmierige Türschwelle kotzen, wenn er sich dieses schmierige Kakerlakenhotel anschauen müsste.
Umständlich knotete Lizzy die Kordel, die als provisorischer Gürtel ihrer zerschlissenen Pyjamahose diente, auf, streckte ihren nackten, knochigen Hintern über die demolierte Klobrille, immer darauf achtend, dass kein keimverseuchtes Kunststoffteil ihrer bloßen Haut zu nahekam und verrichtete in angestrengter, gebückter Haltung ihre Notdurft.
Laut plätschernd klatschte der Urinstrahl in die braungeränderte, urinsteinverseuchte Kloschüssel. Ängstlich starrte sie zur Badezimmertür. Hier war KEIN Schlüssel, der ihr einen ungestörten Aufenthalt sichern konnte. Eine Diele im Flur knarrte.
Unvermittelt hielt Lizzy erschrocken die Luft an. Auch ihr Urinstrahl stockte. Ihr Magen krampfte sich nervös zusammen und ihre Augen hingen wie gebannt an der klebrigen Türklinke.
Eine weitere Diele knarzte.
Lieber Gott…lass es bitte Mama sein!
Der Griff bewegte sich langsam und leise quietschend abwärts.
Lizzy schluckte hart.
Scheiß auf den Rest Pipi.
Mit zwei schnellen Handgriffen zerrte sie die Hose nach oben und knotete mit zitternden Fingern in Nullkommanix die Kordel fest zu. Ächzend schwang die Tür auf.
„Na schau mal einer an. Unser Prinzeschen muss auch mal auf den Thron!“ Eine widerliche Alkoholfahne, gemischt mit dem Gestank monatelanger ungeputzter Zähne, weht ihr in Wellen entgegen. Angeekelt wand sich Lizzy um und betätigte die Klospülung, die müde gurgelnd einen Teil ihrer Hinterlassenschaft wegspülte. Ihr Magen verknotete sich weiter unangenehm.
Wie sie diesen Hubert hasste.
Fest biss sie auf die Zähne und machte einen kleinen Schritt zum Waschbecken. Dabei schaute sie demonstrativ auf ihre Hände, als sie den kalkverseuchten Wasserhahn aufdrehte und sich unter dem spuckenden Rinnsal notdürftig die Hände wusch. Innerlich bis auf das Äußerste angespannt, knurrte sie schmallippig, „Verpiss dich!“ Eiskaltes Wasser perlte an ihren zitternden Fingern herab, „Hast du nicht irgendwo noch ne halbleere Flasche rumstehen, die du kippen kannst?“
Lizzy schnickte betont locker die Hände ab, wischte die restliche Nässe einfach an ihrer Schlafhose ab (ein Handtuch gab es natürlich nicht) und drehte sich dem verhassten Mann zu.
Hubert grinst sie schmierig mit seinen gelben Zähnen an, rieb sich mit seinen Händen, deren lange Fingernägel schwarzen Halbmonde krönten, über den freien, pickligen und aufgedunsenen Oberkörper und lehnte sich betont lässig an den Türpfosten. Damit versperrte er ihr den Ausgang, was er auch wohl beabsichtigte, „Na, na…warum so zickig?“
Mit der anderen Hand kratzte er sich den Hodensack in seiner urinfleckigen, ausgeleierten Unterhose. Lizzys Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie schluckte. Nur keine Angst zeigen.
„Wo ist meine Mutter?“ Huberts Kopf ruckelte wie auf einem kaputten Scharnier Richtung Flur, „Die Alte schläft wohl noch ihren Rausch aus!“ Sein Kopf wackelte auf seinem dürren Hals zurück und sein Blick glitt ungeniert über Lizzys jungen, unverbrauchten Körper. Seine Zungenspitze schnellte nach vorne und leckte über die spröde Unterlippe. Ein Mundwinkel schob sich spöttisch nach oben und entblößte gelbe, nikotinverfärbte Zahnstumpen, „So schnell wird der alte Besen nicht wach!“
Seine blutunterlaufenen Augen blieben an Lizzys noch kleinen, aber festen Brüsten kleben und er leckte sich abermals über die Lippen. Lizzys Magen rebellierte und sie unterdrückte hastig den hochkochenden Würgereiz, der sie zu überrollen drohte.
Hubert stieß sich vom Türrahmen ab und machte einen winzigen Schritt auf Lizzy zu, „Wir könnten doch ein kleines, bisschen Spaß haben…was meinst du, Prinzessin?“
Mit seinen dürren, kalkweißen Beinen tat er noch einen weiteren Schritt auf Lizzy zu und sie wich instinktiv einen Schritt zurück.
Ihr Puls raste mittlerweile.
Seine schwielige Hand streckte sich gierig nach ihr aus (in Lizzys Kopf erschien eine Karikatur eines dumpfen Zombies) und sein dämliches Grinsen verbreiterte sich, „Nur ein bisschen spielen…wir beide…du und ich…wir brauchen deiner Mutter ja nichts zu sagen…“, er schaute prüfend kurz hinter sich und drehte sich dann wieder zu Lizzy, „…und außerdem…“, er stieß ein wieherndes, grausames Lachen aus, bei dem es ihr eiskalt über den Rücken lief, „…außerdem hast du dich noch nicht erkenntlich gezeigt, dafür das ich dich und die alte Schabracke nebenan…“, er zeigte mit dem Daumen hinter sich, „…hier bei mir wohnen lasse!“ Unverhofft packte er zu, umfasste derb ihre linke Brust und quetschte unsanft die zarte Brustwarze. Lizzys Verstand klinkte sich aus und machte ihrem mittlerweile ausgeprägten Überlebensmodus Platz. Mit voller Wucht schleuderte sie seine schwitzende Hand von ihrem Körper und stieß ihn kraftvoll vor die wabbelige Brust.
Hubert strauchelte und riss überrascht die Augen auf. Damit hatte er wohl überhaupt nicht gerechnet! Mit wild rudernden Armen kippte er unbeholfen nach hinten, riss dabei den verschimmelten, blauen Plastikvorhang von der angerosteten Stange, so dass ein Dutzend spröder, verblasster Plastikringe, laut knatternd, wie eine Gewehrsalve, von der Halterung absprangen und lustig in alle Richtungen hüpften.
Sein rechtes Bein hob dabei fast tänzerisch anmutend ab und blieb über dem oberen Wannenrand hängen. Mit einem dumpfen ‚Klönk‘ schlug Huberts Hinterkopf zeitgleich auf die gekachelte Wand und anschließend auf die verkalkte Armatur.
Beide spindeldürren Beine reckten sich schlagartig senkrecht nach oben und spreizten sich dann, wie zum Spagat weit in der Luft. Noch einmal grunzte er und kam schließlich regungslos in der fleckigen Wanne zum Liegen. Ganz kurz riss er noch einmal sein rechtes Auge auf, dann sank sein kahler, widerlicher Schädel benommen zur Seite. Speichel troff aus seinem Mundwinkel und ein dünnes Blutrinnsal lief über seine Brust.
Der war allerdings von einem aufgeplatzten Eiterpickel, wie Lizzy mit laut klopfendem Herzen feststellte. Sie starrte das menschliche Wrack in der Wanne an, dann hechtete sie kurz entschlossen mit einem riesigen Satz aus dem verdrecktem Badezimmer, kickte beim Rausrennen noch einen der abgesprengten Plastikringe durch den dunklen, schmuddeligen Flur, sprang in ihr Zimmer und drehte sofort den Schlüssel im Schloss herum.
Das laute, verschließende Klicken brachte ihr rationales Denken wieder zum Vorschein. Rücklings, mit dem Kopf an das ramponierte Türblatt gelehnt, schloss sie schwer atmend die Augen. Ihr Herz raste noch immer wild.
Was nun?
Die malträtierte Brust schmerzte und Lizzy rieb sachte über die brennende Brustwarze. Tränen stiegen in ihr hoch.
Verzweifelt schluckte sie ein aufkeimendes Schluchzen hinunter. Sie wartete noch eine Minute und versuchte sich mit tiefen Atemzügen zu beruhigen. Dann horchte sie. Von draußen drang kein Geräusch herein. Ganz offensichtlich hatte sie Hubert ausgeknockt.
Nur, für wie lange? Und was würde geschehen, wenn er wieder zu sich kam?
Langsam schaute sich Lizzy in ihrem Zimmer um. Ihr Blick wanderte über den Kleiderhaufen in der Ecke (einen Schrank hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht besessen).
Dazwischen lagen ein paar eselsohrige Schulsachen und ihre ausgelatschten Turnschuhe, die unter einem übergroßen Sweater hervorlugten. Ihre Augen schweiften weiter über die provisorische Schlafstätte und die kahlen Wände, an denen nur noch an vereinzelten Stellen ein paar Tapetenfetzen traurig herabhingen. Der ganze Schmutz und Dreck, der überall hing und sogar wabernd die dumpfe Raumluft zu verseuchen schien, wurden Lizzy plötzlich zu viel.
Ohne großartig nachzudenken, schnappte sie sich ihren alten Seesack (ein Geschenk ihres unbekannten Vaters, wie ihre Mutter mal im Suff behauptet hatte) und stopfte in Windeseile ein paar Klamotten und persönlichen Kleinkram hinein. Dann zog sie sich ihre Turnschuhe, ihre ausgeleierte Jeans und ihren Secondhand-Sweater an, der auch mal wieder eine Wäsche vertragen könnte, schob sich eine rotblau karierte ausgefranste Wollmütze über ihr blondiertes Haar (blondierte Haare fetteten nicht so schnell, hatte sie den Eindruck) und öffnete das Fenster. Glücklicherweise befand sich Huberts Wohnung nur im ersten Stock. Im tristen Vorgarten türmte sich ein kleiner, grauer Schneehaufen. Der würde ihren Sprung abfedern, hoffte sie. Mit Schmackes warf sie den Sack hinaus, kletterte auf die morsche Fensterbank und warf noch einen letzten Blick zurück.
Sie würde nie wieder zurückkehren…das wusste sie.
DIESES Leben war für sie von nun an ganz klar vorbei.
Ciao Mama…
Lizzy sprang aus dem Fenster hinaus und betrat damit eine neue, unbekannte und auch unsichere Zukunft.
Am anderen Ende der Stadt, in einer gehobenen Wohnsiedlung, wurschtelt Helen in der gut sortierten Küche herum und bereitete murrend ein Frühstück für ihre Arbeitgeberin zu. Ein warmes Croissant, frisch aus dem Ofen und schwarzen Tee mit zwei Spritzern Zitrone und einem mittelgroßen Kandiszuckerstück (braun), separat in einem kleinen Glasschälchen serviert. So wie jeden Morgen. Und dass nun fast schon seit dreißig Jahren. Genauso lange, wie Helen hier wohnte, denn vor dreißig Jahren hatte Frau Blumè sie nämlich als Haushälterin angestellt. Helen erinnert sich nur ungern daran. Sicher, sie war damals froh gewesen, diese Stelle bekommen zu haben. Doch sie hatte einen hohen Preis dafür bezahlt.
Und wenn sie ehrlich zu sich war, hatte sie Frau Blumè ihr Verhalten von damals, immer noch nicht verziehen.
Auch nicht nach 30 Jahren.
Helen war damals knappe 25 gewesen und hatte schon eine vierjährige Tochter. Vera. Ein blondgelockter Sonnenschein.
Veras Vater war ein One-Night-Stand. Eine äußerst fragwürdige Tatsache, damals. Helen litt außerdem unter Legasthenie (auch heute noch), hatte keine abgeschlossene Ausbildung und auch keinen blassen Schimmer wie sie im Leben bestehen sollte. Und so dümpelte sie von einer Putzstelle zur nächsten und hangelte sich zwischenzeitlich mit Sozialhilfe durch.
Als sie in der Zeitung dieses vielversprechende Inserat fand, hätte sie Purzelbäume schlagen können. Eine Stelle als Haushälterin in einem gehobenen Singlehaushalt. Unterkunft vorhanden. Flexibilität vorausgesetzt. Helen hatte sich sofort beworben.
Beim Vorstellungsgespräch hätte sie allerdings auf ihre innere Stimme hören sollen. Die schlug nämlich äußerst schrill Alarm.
Doch Helen hatte nicht nur an sich, sondern auch an Vera zu denken gehabt.
Und da sie nun mal keine Beauty-Lady war und auch sonst keinem gängigen Schönheitsideal (158cm/96 Kilo statt 175cm/58 Kilo) entsprach, waren die Möglichkeiten einer Heirat und ein Stief- Papa für Vera äußerst gering.
Und immer wieder auf den Ämtern um ein bisschen Geld zu betteln, nagte extrem am Selbstwertgefühl (von dem sie eh nicht viel besaß).
Also ignorierte sie die innere, bimmelnde Alarmglocke und preiste sich in höchsten Tönen an. Als Frau Blumè ihr die Bediensteten -Wohnung im Keller des Hauses zeigte, rückte Helen dann endlich mit der Wahrheit raus und erwähnte auch Vera. Die Grand Dame des Hauses sagte zunächst einmal…nichts. Sie schaute nur streng. Ihre Habichtsaugen saugten sich förmlich an Helens Pfannkuchengesicht fest.
„Ein Kind!“ Mehr sagte sie nicht.
(Aber es klang, als ob sie gesagt hätte: ein Scheißhaufen!)
Helen schluckte irritiert, nickte verunsichert und fing nun auch an ihre Tochter anzupreisen. Was für ein liebes Kind sie sei und so ruhig. Man würde sie nicht hören und wäre ja so folgsam.
Erregt plapperte sie einfach wild vor sich hin.
Dabei lief sie die ganze Zeit, wie ein junger, verwirrter Welpe hinter Frau Blumè her, die sich nach Erhalt der Information, auf dem Absatz herumdrehte und wieder hoch in ihre Wohnung gestakst war.
Helen natürlich hinterher.
Ihr Mut versank damals jedoch im Erdboden, als Frau Blumè die Haustür öffnete und mit ihrem langen Zeigefinger kommentarlos nach draußen deutete. Helen war am Boden zerstört, hatte tief geseufzt und verzagt den Rücktritt angetreten. Höflich knickste sie (Knickste!), umklammerte eisern den Henkel ihrer altmodischen, aber sauberen Handtasche und trat mit hängendem Kopf zur Tür hinaus.
Als sie das Zuschlagen der Tür erwartete, erklang stattdessen die schneidende Stimme der Hausherrin, „Am Ersten fangen sie an und sehen sie zu, dass sie sich und ihr…“, demonstrative Pause, „…ihr Kind, sich unten häuslich eingerichtet haben. Der Schlüssel wird ihnen in den nächsten Tagen zugestellt!“ Rums!
Erst dann schlug die Tür zu und schloss eine perplexe Helen aus der hoheitsvollen Villa aus. Himmel, war sie damals aus dem Häuschen gewesen. Zuhause hatte sie mit Vera gefeiert und sie hatten große Pläne gemacht. Den bissigen Wurm in ihren Eingeweiden hatte sie weiterhin ignoriert. Sie hatte Frau Blumè damals für äußerst großzügig gehalten.
Helens Erinnerung kehrte in die Gegenwart der Küche zurück und sie schnaubte grunzend, „Großzügig…pah…von wegen!“
Sie klapperte lauter als sonst mit dem Geschirr und wetterte weiter, „…eine bösartige, alte Schachtel ist sie, sonst nichts.
Wenn sie nur widerliche Sticheleien verteilen kann, dann ist sie glücklich!“ Als sie energisch den Tee eingoss, schweiften ihre Gedanken zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt. Sie arbeitete damals seit ungefähr zwei Jahren hier, da zitierte sie die Dame des Hauses in den Salon, dort wo sie früher immer ihren Tee eingenommen hatte. Mit klopfendem Herzen hatte Helen etwas außer Atem den Raum betreten. Sie war heute ein paar Minuten später dran als sonst.
Vera hatte etwas gequengelt und wollte nicht mit dem Kindergartenbus fahren. Überhaupt fand das Kind den Kindergarten saublöd.
Immerhin sollte sie in diesem Jahr eingeschult werden und im Kindergarten waren doch nur kleine Babys. SIE hingegen war doch schon groß. Helen hatte alle Mühe gehabt, sie an diesem Morgen aus dem Haus zu bekommen. Bestimmt hatte der Drachen sie bestellt um sie zurechtzuweisen. Helen schluckte und blieb vor Frau Blumè stehen, „Es tut mir sehr leid, Frau Blumè…es wird bestimmt…“, Frau Blumè winkte genervt ab, „Papperlapapp…setzten sie sich, Helen!“
Sie deutete auf den zierlichen Ohrensessel schräg neben sich.
Helen schaute verwirrt, „Aber…!“
Wieder wurde sie unterbrochen, „Hinsetzen, Helen!“
Frau Blumè mochte kein Rumdrucksen und keine Widerworte.
Am besten, man gehorchte sofort.
Also huschte Helen eilig zum Sessel und ließ sich auf der äußersten Kante nieder. Sie schwieg. Wenn Frau Blumè etwas vom Stapel lassen wollte, brauchte sie keine Aufforderung.
So auch an diesem Tag.
„Nun, Helen…wie geht es denn der Kleinen?“ Mit spitzen Fingern griff sie nach ihrer fein ziselierten Teetasse, führte sie mit abgespreiztem, kleinem Finger, an den Mund und nippte vorsichtig. Helen knetete nervös ihre Fäuste im Schoß, „Vera geht es gut!“
Bloß nicht fragen, warum Frau Blumè das wissen wollte.
Helen biss sich auf die Zunge, um genau DAS zu vermeiden.
Frau Blumè nippte wieder an ihrem heißen Tee, stellte dann geziert die Tasse wieder zurück auf das barocke Beistelltischchen und lehnte sich mit gefalteten Händen zurück.
Scheinbar zufrieden. Scheinbar…
Doch Helen wurde das Bild einer Spinne, die auf ihre Beute lauerte, nicht los. Ihre Nervosität wuchs mit jeder Sekunde, in der Frau Blumè schwieg.
Das Ticken der altersschwachen Standuhr in ihrem Rücken, dessen schweres Messingpendel Helen einmal in der Woche polieren musste, hallte laut durch den Raum. Helen schluckte.
Frau Blumè lächelte Honigsüß, „Sie geht bald zur Schule, nicht wahr?“ Helen nickte unsicher. Frau Blumè nickte ebenfalls, doch eher nachdenklich, legte einen Finger an ihre Stirn und fuhr fort, „Wenn ich mich recht entsinne, leiden sie an einer Lese- und Schreibschwäche?“
Helen zuckte betroffen zusammen und nickte unangenehm berührt. Sie mochte es nicht, wenn jemand sie auf ihre Lernschwäche ansprach. Wieder entstand eine unangenehme, fast greifbare Stille.
Frau Blumè beugte sich vor, „Hörnchen?“
Helen stutzte verblüfft, “Was?“
Ach herrje. Frau Blumè hasste Gegenfragen.
Doch die gut frisierte Frau Blumè lächelte weiter und hielt ihr auffordernd das kleine Silbertablett mit den ofenwarmen Hörnchen entgegen, „Nehmen sie sich ein Hörnchen…sie sind noch ofenwarm!“ Helen griff automatisch zu und dachte sich dabei: Natürlich sind sie ofenwarm. Ich habe sie eben selbst aus der Röhre genommen und serviert. Was soll das alles hier?
Doch sie sagte nichts. Unsicher hielt sie das kleine, fettige Hörnchen wie ein königliches Zepter vor sich und grinste dümmlich, „Danke, Frau Blumè!“
Frau Blumè nickte großzügig, ignorierte krampfhaft die Krümel auf Helens Schoß und lehnte sich wieder bequem in ihrem Ohrensessel zurück, „Ich habe mich informiert, liebe Helen.
Wussten sie, dass Legasthenie vererbbar ist?“
Beschwichtigend hob sie sofort beide Hände nach oben, „Nicht das dies auch in ihrem Fall sein muss…aber…!“
Sie pausierte demonstrativ um ihre Worte wirken zu lassen und griff wieder geziert nach ihrer Teetasse. Helen glotzte nur.
DER Gedanke war ihr noch nie gekommen. Vera und Legasthenie. Sie musste ja am eigenen Leib erfahren, wie schwierig das Leben war, wenn man nicht richtig lesen und schreiben konnte. Was, wenn es Vera genauso gehen würde?
Natürlich konnte Frau Blumè jeden einzelnen Gedanken von Helens Gesicht ablesen. Helen war wie ein offenes Buch, weder verlogen, noch durchtrieben. Jegliche Falschheit lag ihr fern.
Und das wusste Frau Blumè.
Eilig führte sie ihre Tasse zum Mund, um ein triumphierendes Lächeln zu verbergen.
Offensichtlich war ihr plump ausgeworfener Köder geschluckt worden…und dass, mitsamt Widerhaken! Nachdem sie ein Schlückchen schwarzen Tees (mit zwei Spritzern Zitrone) zu sich genommen hatte, stellte sie die zarte Porzellantasse wieder auf der kleinen Untertasse ab, beugte sich vor und legte der geschockten Helen eine Hand auf das Knie, „Aber selbst, wenn es so sein sollte, liebe Helen, sie müssen nicht alleine mit dem Problem fertig werden. Es gibt Menschen die ihnen und der Kleinen helfen können. Schließlich wollen wir ALLE doch nur das Beste für das Kind.“
Frau Blumè beugte sich geziert noch ein Stück vor und schaute Helen geradewegs in die verängstigt blinzelnden Augen, „Das stimmt doch, dass wir ALLE das Beste für IHR Kind wollen. Nicht wahr?“ Helen nickte eingeschüchtert. Natürlich wollte sie das Beste für ihre Tochter.
Frau Blumè lehnte sich wieder ein Stück zurück und setzte wieder ihr ‚Ich-möchte-freundlich-sein-Lächeln‘ auf, „Sehen sie, Helen und aus diesem Grund habe ich das hier für sie besorgt.
Und keine Panik wegen den Kosten. Ich habe schon mit dem Direktor gesprochen…er ist ein Freund der Familie…es ist alles schon geregelt und es wird sie nur ein Viertel ihres Gehaltes kosten. Aber das ist ja kein Thema. Sie wohnen ja hier im Haus und das bisschen was sie zum Essen brauchen, ist ja kaum der Rede wert. Da bleibt noch genug über. Den Rest würde ich natürlich übernehmen. Die Zukunft unserer Nachkommen sollte doch nicht vom schnöden Geld abhängig sein. Ich tu das doch wirklich gerne.“
Sie erhob sich, als Zeichen, dass das Gespräch für sie beendet war, zog die sprachlose Helen aus dem Sessel und legte ihr etwas steif, einen Arm um die Schulter, „Sie müssen mir nicht danken, meine Liebe, das ich an die Zukunft IHRER Tochter denke. Glauben sie mir…WIR WOLLEN ALLE NUR DAS BESTE!“
Helen nickte benommen und presste das Stück Papier, das Frau Blumè ihr in die Hand gedrückt hatte, zusammen mit dem bröseligen Hörnchen, von dem sie noch nichts abgebissen hatte, an sich. Nachdrücklich wurde sie von ihrer Chefin an die Salontür geleitet und etwas ruppig nach draußen in die Empfangshalle geschoben, „Und nun husch…wieder an die Arbeit!“
Und tatsächlich trippelte Helen total benommen und überrumpelt, brav davon.
Die lange zurückliegende Erinnerung verpuffte erneut und ließ eine äußerst wütende Helen in der Gegenwart zurück, die gerade eine frische Zitrone auspresste, „Die Unterlagen fürs Internat waren das…jawohl…sie wollte meine kleine Vera nur loswerden. Sonst nichts. Von wegen…“, sie äffte ihre Chefin nach, „…wir wollen doch alle nur das Beste für die Kleine…“,
verächtlich schnaubte Helen, „…nicht einmal hat sie den Namen meiner Tochter ausgesprochen…nicht ein einziges Mal!“
Boshaft tat sie drei Spritzer Zitrone in den schwarzen Tee, schnappte sich das edle, hölzerne Tablett und machte sich auf den Weg nach oben in die Schlafgemächer der resoluten Hausdame.
In letzter Zeit kränkelte die alte Dame und nahm ihren Tee und das Frühstück deshalb im Bett ein. Auf der Treppe nach oben, immer vorsichtig das Tablett balancierend, versank Helen in ihrer dritten Erinnerung an diesem Morgen.
Wie hatte sie, Helen, damals gelitten, als ihr kleiner Sonnenschein schließlich auf dieses Internat ging.
Auch Vera vergoss bittere Tränen beim Abschied. Wie klein und verletzlich sie ausgesehen hatte, als sie da in der Empfangshalle der Villa gestanden hatte, mit ihrem neuen Schulranzen (ein Geschenk von Frau Blumè).
Immer wieder musste sie ihrer kleinen Tochter versprechen, jeden Abend anzurufen und sie in den Ferien nach Hause zu holen. Dann hupte das Taxi (auch von Frau Blumè organisiert) und Vera stieg mit verheulten Augen ein.
Helen würde nie den verzweifelten Blick ihrer Tochter und ihr tapferes Lächeln vergessen, als der Wagen losfuhr. Als das cremefarbene Taxi schon längst nicht mehr zu sehen war, stand sie noch immer vor dem Haus und winkte weinend. Es hatte sich angefühlt, als ob ihr jemand gerade mit aller Gewalt das Herz aus der Brust gerissen hätte.
Warum hatte sie sich damals überhaupt dazu breitschlagen gelassen? Wie hatte der alte Drachen sie dazu überreden können, dass sie ihren Engel fortschickte?
Helen war nun schon fast oben auf dem Podest angekommen, schniefte kurz und murmelte für sich selbst, „Na, weil diese furchtbare Frau einem, so gekonnt, Honig ums Maul schmieren kann und weil ich eben ein lebensunerfahrenes Küken war, das sich nicht zur Wehr setzten konnte. Genau deswegen!“
Frau Blumè hatte damals gekonnt ihre rhetorischen Daumenschrauben an den richtigen Stellen platziert. Geschickt hatte sie Helen mit der Aussage manipuliert, „Sehen sie Helen, das ist die beste Schule…eine Eliteschule…die Klassen sind klein gehalten und die Lehrer gehen besonders einfühlsam auf jedes Kind ein, egal welche Schwächen es hat. In einer normalen Schule würde ihr Kind NIEMALS so viel lernen, wie dort. Sie wollen doch nicht, dass ihre Tochter einmal denselben Weg gehen muss, wie sie ihn gehen mussten, oder? Bestimmt möchten sie viel mehr für ihr Kind. Und da ist DIESE Schule genau das richtige!“
Dann hatte sie sich einen Holundersherry bei Helen bestellt und sich hinter der Tageszeitung verkrochen.
Helens Gedanken sammelten sich wieder. Sie stand nun an der Schlafzimmertür, schob das Tablett auf einer Hand zurecht und klopfte mit der anderen an.
„Kommen sie schon rein…oder meinen sie, ich schlafe noch um diese Uhrzeit!“ Ein keuchender Hustenanfall beendete den unwirschen Satz. Helen verdrehte genervt die Augen und drückte sich mit dem Frühstück auf dem Arm ins Zimmer.
„Ziehen sie doch endlich die Vorhänge auf. Man kann ja die Hand vor Augen nicht sehen!“
Das war natürlich völlig übertrieben. Durch die Schlitze der schweren Übergardinen fiel sehr wohl fahles Tageslicht. Helen stellte das Tablett auf dem kleinen Beistelltischchen, ähnlich dem, unten im Salon, ab und schritt energisch zu den Fenstern, wo sie mit Schwung die beiden dicken, schweren, dunkelbraunen Stoffbahnen an den breiten Fenstern zurückschob. Kalte Wintersonne erhellte augenblicklich den schon fast herrschaftlich wirkenden Raum. In der Mitte des Zimmers, direkt gegenüber der zweiflügligen Zimmertür stand das große Doppelbett. Dort kauerte eine dürre Gestalt, wie eine lauernde Krähe. Frau Blumè.
Helen wusste, dass die alte Dame jeden ihrer Handgriffe mit Argusaugen verfolgte. Das tat sie immer. Mit gewohnten Griffen kippte sie das schmale Fensterteil und ein Schwall eisiger Morgenluft bahnte sich seinen Weg ins mollige, warme Schlafzimmer.
„Sind sie wahnsinnig? Soll ich mir etwa den Tod holen?“
Helen seufzte innerlich und schloss das Fenster wieder, „Ein bisschen frische Luft würde ihnen ganz guttun. In dieser warmen, stickigen Luft kann man ja kaum atmen.“
Helen wand sich um, faltete die Hände vor ihrem gewölbten Bauch und schaute rüber zu dem wuchtigen Bettgestell.
Erschrocken zuckt sie gleich darauf zusammen und eilte sofort rüber, „Um Himmels Willen…Frau Blumè…sie sehen heute furchtbar aus!“ Frau Blumè grunzte abfällig, „Sie sind auch keine Schönheit, Helen!“
Die alte Dame hustete wieder und krümmte sich dabei erbärmlich.
Helen legte die Hand auf die faltige Stirn der alten Dame, die von einem kalten Schweißfilm überzogen war, „Soll ich den Arzt rufen?“
Frau Blumè funkelte sie böse an und unterdrückte krampfhaft den nächsten Hustenanfall,“ „Was soll ich mit dem Quacksalber? Der sagt mir eh nur das ich alt bin und kassiert für diese Allerweltsfeststellung noch mein schwer verdientes Geld!
Papperlapapp…mir geht’s gut!“
Mühsam stemmte sich die alte Frau in ihrem Federbett hoch.
Man sah ihr an, wieviel Anstrengung es sie kostete, doch das tat ihrem Zorn keinen Abbruch. Helen versuchte es noch einmal, „Aber…!“
Augenblicklich unterbrach sie die krächzende Stimme vom Bett, „Nix aber…diese Nulpen halten sich doch alle für Götter in Weiß und wollen doch immer nur das eine…mein Geld!“
Schwer atmend sank sie wieder zurück in ihr dickes Daunenkissen. In ihrer Brust rasselte es laut. Helen begann sich ernsthaft Sorgen zu machen, „Aber Frau Blumè…“, versuchte sie zu beschwichtigen, „…sie sehen wirklich elend aus!“
Die alte Dame hustete wieder und ihr Gesicht lief dabei rot an.
Dann keifte sie weiter, „Ich bin zweiundachtzig…was erwarten sie…natürlich sehe ich nicht aus wie ein frisch erblühtes Dotterblümchen…geben sie mir schon…“, der fast weißhaarige Kopf kippte unverhofft zur Seite und die Augen verdrehten sich unnatürlich nach oben, bis fast nur noch das Weiße zu sehen war. Ein lautes, schleimiges Röcheln drang aus der faltigen Kehle. Panisch riss Helen die Augen auf, ihr Herz pochte wie wild und sie rüttelte geschockt am Arm der alten Frau. Nichts.
Keine Reaktion.
Ihre schmerzenden, rheumageplagten Glieder ignorierend, hechtet sie zum altmodischen, mit grünen Brokatsamt bezogenen Telefon (mit Hörer und Gabel) und wählt den Notruf.
Keine Zehn Minuten später traf der Krankenwagen mit dem Notarzt ein. Helen, die schon an der schweren Eichenholztür gelauert hatte, riss diese auf und zerrte den Arzt wild plappernd am Arm die Treppe nach oben, „Du lieber Himmel…sie war auf einmal weg…bums…mitten im Satz…ihre Lippen sind schon ganz blau…schnell…!“
Der Arzt befreite sich erst einmal aus dem Klammergriff der aufgebrachten Haushälterin, „Immer mit der Ruhe…“, und schob sich an Helen vorbei ins Schlafzimmer. Routiniert nahm er mit schnellem Griff seine Utensilien aus dem orangefarbenen Koffer und begann mit der Untersuchung. Derweil verharrte Helen mit bangem Blick dahinter und starrte ihm über die Schulter, „Ist sie etwa…?“ Sie traute sich gar nicht, den Satz zu beenden.
In diesem Moment öffneten sich die wässrig blauen Augen der alten Dame und ein bitterböser Blick traf die zitternde Haushälterin, „HATTE ICH NICHT GESAGT, KEIN ARZT, SIE DÄMLICHES TRAMPEL?“
Der Notarzt wich erschrocken und auch etwas irritiert zurück.
Dann fing er sich, tätschelte beruhigend die fleckige, pergamentartige Haut auf Frau Blumès Arm, „Das hat ihre Perle schon richtiggemacht.
Wir werden sie mit in die Klinik nehmen, damit wir sie richtig untersuchen können. Ihr Blutdruck macht mir Sorgen!“
Frau Blumè kniff die Lippen zusammen bis nur noch ein schmaler Strich zu erkennen war. Man merkte wie es in ihr kochte und brodelte. Ihre weißen, buschigen Augenbrauen hatten sich zornig zusammengeschoben, „WER SIND SIE ÜBERHAUPT UND WAS GEHT SIE MEIN BLUTDRUCK AN?“
Ihr galliger Blick traf Helen, „WARUM HABEN SIE NICHT DR.
MEISER ANGERUFEN, SIE DUMME PUTE?“
Sie keuchte schwerfällig. Der Arzt zog etwas pikiert seine Augenbrauen nach oben, „Beruhigen sie sich doch. Sie…“,
weiter kam er nicht. Frau Blumè war voll in Fahrt.
„ICH BERUHIGE MICH WANN ICH WILL UND WIE ICH WILL. IST DAS KLAR? UND WENN MEIN BLUTDUCK DURCH DAS DACHGESCHOSS SCHIESST UND ICH EINEN HERZINFARKT BEKOMME, DANN IST DAS MEINE SACHE, VERSTANDEN, SIE JUNGER SCHNÖSEL?“
Erschöpft von diesem Wutausbruch schloss sie die Augen.
Ihr Gesicht war schweißüberströmt und sie schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen, nach Luft. Ungerührt verstaute der junge Arzt sein Stethoskop wieder im Koffer, „Wenn sie sich weiter so aufregen, kann ich einen bevorstehenden Herzinfarkt wirklich nicht ausschließen…“, er lächelte die alte Dame gewollt liebenswürdig an, „…so oder so…wir werden sie jetzt mitnehmen!“ In diesem Moment erschienen die beiden Sanitäter mit einer Trage, packten die laut, zeternde Dame drauf, zurrten die Haltegurte fest und trugen sie nach unten in den wartenden Rettungswagen. Helen und den Notarzt im Schlepptau.
Kurz bevor sich die Türen des Transporters schlossen, bäumte sich Frau Blumè noch einmal auf. Ihr wirres, weißes Haar stand wie steife Binsen von ihrem Kopf ab, „UND DENKEN SIE AN DIE ÜBERGARDINEN IM WOHNZIMMER.
WENN ICH ZURÜCKKOMME, SIND SIE GEWASCHEN!
FEINWASCHMITTEL UND…!“ Klack!
Die Türen fielen zu und schnitten jedes weitere, befehlsgewohnte Wort der alten Frau ab. Ein mitfühlender Blick der Sanitäter streifte Helen, die sich mit ihrer Schürze den Angstschweiß von der Stirn wischte. Mit zitternder Hand packte sie den jungen Arzt am Arm, „Sie wird doch wieder…oder?“
Die Sorge um ihre verschrobene Chefin (vielleicht auch die Angst um ihren Arbeitsplatz) verliehen ihrer Stimme einen schrillen Unterton. Verständnislos beugte sich der Arzt ein wenig nach unten zu Helen und schaute ihr leicht ungläubig in ihre tränengefüllten Augen, „Sie mögen diesen Drachen doch nicht etwa?“
Helen zuckte hilflos mit den Schultern und schnäuzte in ihre, von Schweiß und Tränen, durchfeuchtete Kittelschürze, „Naja…weiß nicht. Sie ist doch schon seit über dreißig Jahre meine Chefin…und außerdem…hat sie doch sonst niemanden!“
Nach dieser Aussage trat sie abrupt den Rückzug an, stakste die Treppe nach oben und ließ leise die schwere Holztür ins Schloss schnappen.
Frühe Abenddämmerung senkte sich herab. Die kalte Luft hatte sich noch mehr abgekühlt und blies nun eisig durch die Straßen der Stadt. Fröstelnd und dicke Atemwolken vor sich herschiebend, zog Lizzy die gefütterte Kapuze ihres alten Sweaters über ihr Strickmützengekröntes Haupt. Den ganzen Tag hatte sie in der Stadt, bei den Einkaufscentren herumgelungert und sich hin und wieder dort aufgewärmt.
Immer auf der Hut vor ihrer Mutter, Hubert oder der Polizei.
Doch niemand hatte sie angesprochen. Es schien fast so, als wäre sie unsichtbar. Das war gut so, aber auch ein bisschen frustrierend. Im Grunde genommen hieß das, dass niemand sie vermisste. Traurig, oder. Da sie nicht den Drang verspürte, wieder nach Hause zu gehen (nur um festzustellen das ihre Mutter ihre Abwesenheit noch nicht einmal bemerkt hatte) musste sie sich Wohl oder Übel einen Schlafplatz besorgen. Ihre Füße trugen sie quer durch die City und brachten sie irgendwann zu einer typisch vorstädtischen Gartenlaubenkolonie.
Zu dieser Zeit lag natürlich alles verlassen da. Die Saison begann erst in zwei, drei Wochen. Obwohl…, wenn die Temperaturen nicht bald stiegen, könnte es sogar noch länger dauern, bis hier der Trubel begann. Niemand fror sich gerne den Arsch ab nur um ein paar Knollen in der Erde zu verstauen, die dann irgendwann im Spätsommer bunte Blumenköpfe tragen sollten.
Lizzy nagte angespannt an ihrer Unterlippe und schaute sich verstohlen um. Niemand da. Ihr Blick wanderte über die kleinen, aber doch irgendwie heimelig wirkenden Häuschen.
Ihr war klar, dass sie sich strafbar machte, wenn sie über den Zaun kletterte und sich unbefugt hier Zutritt verschaffte.
Eigentlich wollte sie das nicht. Doch der eisige Wind, der mittlerweile kräftig durch die noch kahlen Bäume pfiff und in Ermangelung einer Schlafstätte, blieb ihr wohl nichts anderes übrig. Alles war besser, als nach Hause zu gehen. Und überhaupt…sie wollte ja auch nichts klauen. Sie brauchte nur eine winzige, windgeschützte, sichere Unterkunft zum Übernachten. Mehr nicht. Noch einmal schaute sie in die verlassene Runde, warf dann entschlossen ihren Seesack über den halbhohen Jägerzaun und schwang sich selbst hinterher.
Eine Laube nach der anderen klapperte sie ab, bis sie schließlich eine kleine, nicht mehr ganz neue Hütte fand, deren unvorsichtiger Besitzer kein Schloss angebracht hatte. Glück für Lizzy. Ein trockenes Lachen, halb geschluchzt, drängt sich aus ihrem Hals. Die Erleichterung war ihr deutlich anzumerken. Sie hatte schon befürchtet, diese eiskalte Nacht unter einer Brücke verbringen zu müssen. Doch das Schicksal hatte wohl Mitleid mit ihr. Aufatmend trat sie ein und zog leise die Tür hinter sich zu.
Sie fand eine sehr bescheidene Behausung vor. Langsam bewegte sie sich in die Mitte des Raumes, denn die Hütte bestand in der Tat nur aus einem Raum. Lizzy lachte kurz auf.
Was hatte sie denn erwartet? Das ‚Ritz‘ oder was?
Sie konnte froh sein, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Neugierig musterte sie die Einrichtung. Viel gab es da ja nicht zu sehen. In der rechten Ecke konnte sie die Umrisse einer Essecke ausmachen. Direkt daneben eine Küchenzeile (okay, ein Kühlschrank, ein Gasherd und eine winzige Spüle). Lizzys Blick streifte das kleine Sprossenfenster, links neben ihr.
Die Dämmerung hatte sich mittlerweile vom Abend verscheuchen lassen und dabei das restliche Tageslicht fast komplett aufgesaugt. Zurück blieb nur ein heller Halbmond, dessen zaghaftes Licht lediglich für graue Schatten reichte.
Tastend fingerte sie die Wand neben der Tür ab. Da! Der Lichtschalter.
Ihr Zeigefinger drückte den Schalter nach unten. Im selben Augenblick wurde ihr klar, dass jegliche Erleuchtung in diesem Gebiet, sie verraten würde. Ihr Herzschlag setzt für eine Sekunde aus…puh…das Licht ging nicht! Natürlich nicht. Der Besitzer wird die Sicherung rausgedreht haben. Warum sollte er das auch nicht tun? Immerhin hielt er sich im Winter hier ja nicht auf. Lizzys Puls beruhigte sich allmählich und sie fand sich mit der Dunkelheit ab. Sie würde sowieso hier nur schlafen.
Was brauchte sie da Licht? Müde legte sie den Seesack ab und ging zur Essecke, wo sie sich erschöpft fallen ließ. Prüfend drückte sie das Schaumpolster ab. Nicht sonderlich weich, aber auch nicht knochenhart. Für eine Nacht würde es gehen. Als sie sich an der langen Wange der Eckbank ausstreckte, berührte ihr Kopf etwas Weiches. Neugierig befingerte sie das Teil. Eine Wolldecke. Der unebenen Struktur nach, eine selbstgehäkelte Wolldecke. Was für ein Glück sie doch hatte. Lizzy lächelte, entfaltete das Plaid, breitete es genüsslich über ihren ruhebedürftigen Körper aus und schloss die Augen. Doch sie war zu aufgewühlt um direkt einzuschlafen. Ständig kreisten ihre Gedanken um die vergangenen Stunden.
Hatte ihre Mutter schon bemerkt, dass Lizzy weg war? Oder war sie wieder so zugedröhnt, dass sie mal wieder absolut nichts mitbekam?
Wenn sie dann doch irgendwann feststellen würde, dass ihre Tochter fort war, würde Lizzy ihr fehlen? Würde sie sich um sie sorgen? Oder wäre ihr Lizzys Verschwinden sogar recht?
Immerhin hatte sie ihre Tochter schon unzählige Male im Suff als ballastschweren Fehltritt bezeichnet. Naja, sie hatte es schon anders formuliert…ihre Bezeichnungen waren: Klotz am Bein oder Mühlstein am Hals oder auch unnötiger Fresser…und diese Bezeichnungen waren noch recht nett formuliert. Ihre Mutter konnte sehr erfinderisch und malerisch in ihrer Wortwahl sein, wenn ihre Kumpels Gin und Wodka sie anstachelten.
Lizzy seufzte schwer. Dann wanderten ihre Gedanken zu Hubert und eine Welle der Übelkeit drohte über ihr zusammenzuschlagen. Sie schluckte hart um den säuerlichen Geschmack aus dem Mund zu bekommen.
Das widerliche Badezimmererlebnis hätte böse ins Augen gehen können.
Es war zwar nicht das erste Mal, das Lizzy sich der Avancen von Muttis Lebensabschnittsgefährten erwehren musste, aber mit Abstand das knappste.
Sie wagte sich gar nicht auszumalen, was hätte passieren können. Der saure Geschmack in ihrem Mund verstärkte sich und sie atmete tief ein und aus. Trauer breitete sich in ihr aus.
Kein einziges Mal hatte Mama ihr geholfen.
Lizzy fühlte sich schlagartig unendlich einsam und ein unangenehmer Schauer überlief sie.
Sie war in der Tat völlig auf sich alleine gestellt und das eigentlich schon seit Jahren. Nur heute Abend wurde ihr das endlich bewusst. Sie würde niemals zurückkehren…sie konnte niemals zurückkehren. Nur…was sollte sie tun?
Etwa auf der Straße leben? Heimatlos? Obdachlos?
Eisern zwinkert sie die aufsteigenden Tränen zurück.
Selbstmitleid half ihr in diesem Moment nicht weiter und außerdem war sie hundemüde. Sie würde sich Morgen Gedanken machen, wie es mit ihr weitergehen sollte. Morgen war schließlich auch noch ein Tag. Ihr fiel ein kleines Sprichwort ein…wer hatte ihr das einmal gesagt? Ein Lehrer? Egal…es lautete: wenn sich irgendwo eine Tür verschließt, geht irgendwo anders eine Tür auf…oder so ähnlich.
Lizzy gähnte und schloss die Augen. Ihr Magen fing an zu grummeln. Ihr letzter Gedanke:
Mist, ich hätte doch noch ne Stulle einpacken sollen.
Dann schlief sie mit einem nagenden Gefühl im Bauch und eisigen Zehen ein und fiel in einen unruhigen Schlaf, indem sie von zugenagelten, höhnisch lachenden Türen träumte.
Stöhnend wurde Lizzy am nächsten Morgen wach. Es war Montag, der 13. März und sie hatte Hunger. Ihre Füße fühlten sich wie Eisklötze an und ihre Finger waren starr und taub vor Kälte.
Ja, klar…die Heizung war ja auch kaputt…
Unverhofft richtete sie sich auf und schaute sich in der fremden Umgebung um. Von wegen Heizung kaputt…sie hatte überhaupt keine Heizung. Sie war seit gestern ohne festen Wohnsitz!
Willkommen in der Realität, kleine Lizzy.
Ein ironisches Lächeln verzog ihre Lippen und sie schob die gehäkelte Decke (ja, sie war wirklich selbstgehäkelt, wie sie nun feststellte) von sich. Ihr ganzer Körper fühlte sich steif an und versuchte gegen jegliche Bewegung zu rebellieren. Dennoch rutschte sie vorsichtig von der Eckbank und ging, abgehakt, wie eine Marionette, zum Fenster. Ihre Zehen fingen an zu kribbeln und ihr Atem bildete kleine Dampfwölkchen in der Luft.
Unbewusst hob sie die kalten Finger an ihre ebenfalls kalten Lippen und hauchte warme Luft in die Handflächen. Die Nacht hatte eine feine, weiße Puderschicht draußen auf dem Kiesweg und den Büschen hinterlassen. Und dass, obwohl der Frühling mit seinen osterglockenbeschlagenen Hufen schon fast an der Pforte kratzte.
Mit einem Gefühl der völligen Zerschlagenheit streckte und dehnte sie ihren schmerzenden Rücken und schaute sich um.
Einen Kaffee! Einen heißen Kaffee! Dafür würde sie im Moment (fast) ihre Seele verkaufen.
Vielleicht hatte der Besitzer ja irgendwo Instantkaffee oder was Ähnliches. Sie beäugte die wenigen Schranktüren und kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe. Sollte sie mal kurz reinlinsen?
Dann schüttelte sie entschlossen den Kopf. Nein, sie würde hier nichts anrühren. Sie war dankbar, dass sie hier hatte schlafen können, aber sie würde den netten Besitzer nicht auch noch beklauen. Schließlich war sie ja keine Diebin, sondern nur obdachlos!
Energisch schüttelte sie ihre durchgefrorenen Gliedmaßen durch, legte die selbstgehäkelte Decke (hübsch…mit gelben Blüten) wieder akkurat zusammen und drapierte sie so, wie sie sie vorgefunden hatte, in der Ecke der Sitzbank.
Niemand würde je erfahren, dass sie jemals hier gewesen war.
Entschlossen hob sie ihren Seesack an und warf ihn über ihre Schulter. Dann trat sie nach draußen und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Ein wenig bange schaute sie sich um. Doch natürlich war auch an diesem frühen Morgen keiner in der Gartenkolonie. Außer ihr und einem krächzenden Raben (der bestimmt auch hungrig war) schien niemand hier zu sein.
Erleichtert seufzte sie auf, ruckelte ihren Seesack in eine bequeme Position und entfernte sich rasch vom Ort ihres Verbrechens. Zurück blieben ein paar Fußspuren, die jedoch bald im Laufe des Vormittags wegtauen und verschwinden würden.
Nach ungefähr einer Stunde lockeren Fußmarsches durch den klaren, mittlerweile sonnigen, aber dennoch eisigen Morgen, befand sie sich wieder im Stadtzentrum. Die Bewegung hatte ihre Gliedmaßen erwärmt, so dass sie nicht mehr fror.
Immerhin etwas.
Aber sie war extrem hungrig und hatte kaum einen Cent in der Tasche um sich etwas zu kaufen.
Ihre Gedanken wanderten wieder nach Hause zu ihrer Mutter.
Hatte sie ihr Verschwinden JETZT bemerkt? War die Polizei schon auf der Suche nach ihr? Immerhin war sie nun eine jugendliche Ausreißerin! Unwirsch schob sie diesen Gedanken wieder von sich. Sie wollte nicht daran denken. Ein Zuhause gab es nicht mehr. Basta. Ihr knurrender Magen lenkte sie ab. Das wichtigste für heute war: wo bekam sie eine kleine Mahlzeit her?
Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal etwas gegessen?
Sie überlegte kurz…hmmm…heute war Montag…gestern nichts…ach ja! Sie schnipste mit den Fingern.
Samstag…da hatte sie nachmittags zwei Burger. Bei dem Gedanken an die leckeren, saftigen Fleischfladen, mit der würzigen, leckeren Soße, lief ihr schlagartig das Wasser im Mund zusammen und sie schluckte umständlich. Ein hektischer Büroangestellter (das schloss sie aus der abgewetzten Aktenmappe) überquerte die Straße und warf Lizzy einen schrägen Seitenblick zu. Zumindest kam es ihr so vor.
Misstrauisch schielte sie ihm nach. Warum glotzte der so blöd.
Lizzy überquerte ebenfalls die Straße und wich einer Mutter mit Kind aus. Das Kind trug einen bunten lustigen Schulranzen auf dem Rücken und biss gerade in eine Wurstsemmel. Doch nicht die Semmel fesselte Lizzys Aufmerksamkeit. Der Schulranzen!!!