Kartons voller Erinnerungen - Lilian Hintermeyer - E-Book

Kartons voller Erinnerungen E-Book

Lilian Hintermeyer

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Beschreibung

Madita und Andreas. Ein wunderschönes Paar. Ihr erstes Zusammentreffen ist ein Paradebeispiel von Amors Treffsicherheit. Doch da gibt es ein klitzekleines Problem. Zum einen, Andreas ist verheiratet und zum anderen, Madita wurde gerade erst von ihrem Verlobten abserviert. Trotz dieser Widrigkeiten verlieben sie sich, beschließen aber, jeder für sich, diese Gefühle zu ignorieren und ihr bisheriges Leben fortzuführen. Bis ein fürchterlicher Schicksalsschlag ihnen die Möglichkeit bietet, doch auf ihr Herz zu hören. Aber auch diesen Wink ignorieren beide gekonnt. Erst als Madita überraschend den Heiratsantrag ihres Ex-Verlobten annimmt, kommt Schwung in die völlig verfahrene Situation. Was niemand ahnt, dass es in dieser romantischen Rechnung eine unbekannte Gleichung gibt, die dem Schicksal etwas nachhilft. Und dann sind da ja auch noch diese ominösen SMS, die zusätzlich für Verwirrung sorgen und die eigentlich gar nicht existieren dürften ...

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Alle Personen und die Handlung sind frei erfunden. Auch bei den Örtlichkeiten habe ich künstlerische Freiheit walten lassen und sie entsprechen nie genau dem Original.

Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Wie oft sagen wir, wenn uns etwas Tolles und Wunderschönes in unserem Leben widerfährt:

Das ist ja wie ein kleines Wunder!!!

Die Betonung liegt auf ‚wie ein‘…

Und warum auch nicht? Wenn sie eine Reihe positiver Zufälle, gepaart mit ein klein wenig Glück, als ‚kleines Wunder‘ bezeichnen wollen, dann tun sie das! Es schadet ja keinem… Das Leben hält manchmal unverhoffte Überraschungen parat und darüber sollten wir froh sein.

Wie das Leben mit Glück, Zufall und Gefühlen jongliert sehen sie an Madita und Andreas.

Als sie sich kennenlernen ist ER verheiratet und SIE wurde gerade abserviert. Keine idealen Voraussetzungen für eine gemeinsame Zukunft.

Doch wenn zwei Menschen füreinander bestimmt sind, wird das Schicksal sich ganz sicher durchsetzen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche!

Diese Geschichte umfasst so ziemlich alles, was das Leben bereithält und um sie haarklein erzählen zu können, müssten wir eigentlich in die Köpfe aller Beteiligten herumschnüffeln und diese Gedanken wie kleine Bausteine zusammensetzen. Wir müssten in ihren kostbaren Erinnerungskartons kramen, den ersten Kuss beiseiteschieben, den Schmerz des Liebeskummers mit einer Küchenrolle aufwischen und wahrscheinlich auch mal etwas unbändigen Zorn an stabile Ketten legen.

Das geht nicht?

Oh doch!

Ich kenne jemanden, der genau diese Kartons voller Erinnerungen bei sich lagert und dort gehen wir jetzt hin. Sie ist wirklich eine äußerst liebenswerte Gastgeberin.

Hey, nicht weglaufen!

Ich habe gerade geklingelt und ich höre auch schon Schritte…

Gastgeberin:

Ja, hallo…das ist aber schön, dass du den Weg zu mir gefunden hast. Ich kann mir auch vorstellen, was dich hergeführt hat. Aber komm doch erst mal rein, meine Liebe…bitte Schuhe abtreten, ich habe heute Morgen gewischt…danke! So, hier entlang und nur nicht so schüchtern. Ich beiße dich schon nicht. Am besten setzten wir uns ins Wohnzimmer. Von dort haben wir einen wundervollen Blick auf den Teich im Garten. Schau, wie schön er ist…findest du nicht auch? Hach…ich liebe das Glitzern der Morgensonne auf der spiegelglatten Oberfläche. Einfach herrlich! Kaffee? Tee? Warte…ich hänge noch schnell deine Jacke auf. So, fertig! Und jetzt lass mich mal raten…du bist bestimmt wegen den Kartons hier, stimmt’s? Tzzz…unglaublich, wie schnell sich deren Besonderheiten herumgesprochen haben. Dabei gehören sie noch nicht einmal mir! Lilian, meine Postbotin hat sie bei meinem Einzug einfach hier abgeliefert, mit der Bitte, ich möge sie eine Weile bei mit Zwischenlagern. Und seitdem verstopfen sie meine Abstellkammer. Diese Lilian wiegelt jeden Morgen ab: Ja, ja…ich komme sie schon noch abholen! Bin echt mal gespannt, wann das sein soll! Natürlich habe ich mal in die Kartons reingelinst und ich war sehr erstaunt, über den Inhalt. Ich rief meine Freundin Jule an und wir stöberten uns weiter durch. Dann kam auch noch Vicky dazu…und dann Senta und dann Erika…tja, und jetzt bist DU gekommen. Und ich freue mich sehr über deinen Besuch und dein Interesse. Am besten gehen wir mal zusammen in die Abstellkammer. Aber Stopp… du musst sehr vorsichtig sein. Das sind nämlich ganz besondere Kartons…es sind Kartons voller Erinnerungen. Und mit Erinnerungen muss man sehr sorgfältig umgehen, zumal sie auch nicht mir gehören. Sie gehören Madita, Andreas, Antonius und so weiter. Am besten nehmen wir ein paar mit ins Wohnzimmer…! So, stell sie einfach neben der Couch ab…vorsichtig…stell dir nur mal vor, was für ein Chaos wir anrichten, wenn der gesamte Inhalt herauspurzeln würde. Vielleicht fangen wir mit dem grüngepunkteten an?

Hmmm…doch ich sollte dir besser erst einmal Madita und Andreas vorstellen, damit du auch weißt, mit wem du es gleich zu tun bekommst. Hier, nimm dir noch ein leckeres Haferflockenplätzchen…sind eben erst aus dem Ofen gekommen…und immer schön das Tellerchen darunter halten…die Krümel…du verstehst? Danke dir! Dann fangen wir mal an und schauen uns zuerst in der Gegenwart um…

Gegenwart (2011)

Madita

Der Glockenturm schlägt. Madita liegt mit herunter gestrampelter Decke im Bett und zählt langsam mit. Elf mal. Durch das weit geöffnete Fenster weht laue Nachtluft. Die zarten, grüngeblümten, leicht gerafften Gardinen bauschen sich sanft in der Brise. Kleine Schweißperlen stehen auf ihrer Stirn. Schweißnasses Haar klebt in ihrem schmalen, im Augenblick etwas verspannten Nacken und kräuselt sich feucht hinter ihren Ohren. Ein einzelner Schweißtropfen rinnt zwischen ihren, im Augenblick, recht vollen Brüsten hinab. Sie ist für jeden noch so kleinen Luftzug, der ihr etwas Abkühlung und Erleichterung beschert, dankbar. Andreas, ihr Mann, rollt sich im Schlaf auf die Seite und strampelt träge ebenfalls das dünne Laken von sich. Madita schielt zu ihm rüber. Sein Atem bleibt weiter ruhig und gleichmäßig. Langsam schwingt sie die Beine aus dem Bett, tastet suchend mit ihren zartrosa lackierten Zehen nach ihren kuscheligen grau, weiß gepunkteten Hausschuhen, schlüpft hinein und stemmt sich vorsichtig, die Hand stützend unter ihren weit vorgewölbten Bauch gelegt, aus dem Bett.

Liebevoll streicht sie über den straff gespannten Stoff ihres blaugestreiften, baumwollenen Nachthemdes. Bald ist es soweit. Bald soll ihr, beider Baby zur Welt kommen. Schwerfällig, die Hände in den Rücken gedrückt, watschelt sie zu dem kleinen, grünen Backenohrensessel neben dem geöffneten Fenster und lässt sich, leise stöhnend, hinein sinken. In letzter Zeit schläft sie schlecht. Da geht es ihr wohl wie so vielen Frauen die ihr erstes Kind erwarten. Tagsüber ist sie abgelenkt mit den Vorbereitungen für den kleinen neuen Erdenbürger...aber des Nachts, wenn alles ruhig ist und scheinbar die ganze Welt im tiefen, verträumtem Schlummer liegt...da keimt Unruhe und Angst vor dem Unbekannten in ihr auf. Werde ich eine gute Mutter sein? Läuft alles glatt bei der Geburt? Ist das Baby gesund?

Eine kleine, steile Falte erscheint zwischen ihren sorgenvoll, geweiteten Augen. Ihr Blick wandert zu Andreas, der seitlich, mit angewinkeltem Bein und einer Hand auf ihrem Kissen ruhend, den Schlaf der Gerechten schläft.

Eine vorwitzige Strähne seines fast schwarzen Haares fällt ihm jungenhaft in die Stirn. Ein Hosenbein seines Pyjamas ist bis übers Knie hochgeschoben und entblößt seine durchtrainierte, behaarte Wade. Sein großer Zeh zuckt ganz kurz. Sie entspannt sich etwas. Ein leises Lächeln huscht über ihr Gesicht. Sie beide sind zwar jetzt schon seit fast einem Jahr verheiratet aber es kommt ihr noch immer wie ein Wunder vor, das sie zueinander gefunden haben. Eigentlich war es auch ein kleines Wunder! Langsam lehnt sie sich im Sessel zurück. Ihr Blick schweift aus dem Fenster in die Ferne. Ihre Gedanken folgen. Zurück in die Vergangenheit. Zu einer Zeit als.. .

Madita (2009)

Das Schicksal nahm seinen Lauf an dem Tag, als sie beschloss ihren kleinen, beschaulichen 500 Seelen Heimatdorf in Hessen den Rücken zuzuwenden und spontan (naja, spontan war vielleicht etwas übertrieben formuliert), sozusagen fast von jetzt auf gleich, nach Berlin zu gehen. Mit knapp 28 Jahre auf dem Buckel, eine gescheiterte, langjährige und urplötzlich beendete, Beziehung hinter sich und einem Kinderzimmer, voller alter verstaubter Erinnerungen, aus dem sie längst herausgewachsen war, überkam sie plötzlich die Abenteuerlust und sie machte sich auf den Weg hinaus in die Welt (zumindest hinaus aus ihrem Heimatkaff).

Mit einem Rucksack voller Kleider, gut gemeinten Ratschlägen ihrer Mutter und unausgegorenen Träumen im Kopf, sowie ihre gesamten Ersparnisse, fast zweitausend Euro, in den Stiefeln versteckt, wurde sie, als sie nach ein paar Stunden ungemütlichen Rumgeschockels, aus dem Zug stieg, vom Leben in der Großstadtmetropole fast erschlagen. Berlin! Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen...sie, das Landei, das noch nie im Leben die Luft überhaupt irgendeiner Großstadt geschnuppert hatte. Die Ankunft auf dem riesigen Bahnhof...ein klein wenig erschreckend. Nee, nicht erschreckend...etwas einschüchternd vielleicht...ja, das schon.

Staunend, mit offenem Mund wurde sie fast augenblicklich von der emsig herumwuselnden Menschenmenge verschluckt und erbarmungslos durch die riesige Bahnhofshalle geschoben. Summendes Stimmengewirr um sie herum. Fremde Menschen und fremde Gerüche um sie herum. Sie ließ den Blick schweifen.

Aufkeimende Angst und auch etwas Mutlosigkeit schnürten ihr die Kehle zu. Eilig drückten sich, genervt dreinschauende, wild gestikulierende Leute an ihr vorbei...alle offensichtlich mit einem Ziel vor Augen. So ganz anders als sie. Leicht beklommen, mit rasendem Herzen, schlängelte sie sich zu einer der hell gekachelten Außenwände durch, schloss die Augen und atmete erst einmal kräftig durch. Das Geldbündel in ihren Stiefeln drückte unangenehm gegen ihre Ferse. Der prallgefüllte Rucksack, ihr Augenblickliches Leben in Diät-Form, hing schwer an ihrer schmalen Schulter. Ihre Träume zurzeit auf die Größe einer vertrockneten Erbse geschrumpft, überkam sie leichte Übelkeit und auch Zweifel an ihrer Entscheidung. Mein Gott, wie kam sie nur auf eine solch bescheuerte Idee?

Erschöpft lehnte sie sich an die kalten Wandplatten in ihrem Rücken. Ihr Magen knurrte laut und vernehmlich. Vor lauter Aufregung hatte sie doch glatt vergessen zu frühstücken. Madita unterdrückte ein Lachen.

Willkommen in Berlin! Der Stadt ihrer Träume!

Etwas ratlos schaute sie sich um. Erst mal raus aus diesem Rummel. Mutig reihte sie sich wieder in den scheinbar nie versiegenden, endlosen Menschenstrom und ließ sich zum Ausgang treiben. Draußen an der frischen Luft angekommen, beruhigte sich auch schlagartig ihr Puls.

Menschenmassen waren eben nicht so ihr Ding. Die Sonne empfing sie lachend, zusammen mit einer frischen, kühlen Fast-Frühlingsbrise. Sie blinzelte kurz. So, was nun? Erst einmal brauchte sie eine Unterkunft und natürlich zum zweiten einen Job. Naja, ein bisschen Blauäugig hatte sie das ganze schon angegangen. Normalerweise HATTE man bereits einen Job und eine Wohnung, wenn man in eine andere Stadt 'auswanderte'. Aber Madita hatte ihrem Bauchgefühl vertraut und blind alles auf eine Karte gesetzt. Mal schauen, was da herauskam.

Ihr Magen meldete sich wieder, diesmal mit Nachdruck. Laut lachte sie auf.

Nein, zu allererst brauchte sie was zwischen die Zähne. Seitlich vom Bahnhof nahm sie eine kleine Bäckerei wahr. Ihr Magen hatte ihn offenbar auch entdeckt. Sein Knurren klang immer bedrohlicher. Also schulterte sie ihr Hab und Gut und machte sich auf den Weg, vorbei an einem langen Taxistand, wo die im Wagen sitzenden Fahrer sie kurz als potenziellen Kunden musterten oder einfach zeitungslesend ignorierten, bis sie vor der Tür des Miniladens stand und ein verführerischer Duft ihre Geschmacksknospen auf gemeinste Art und Weise kitzelnd reizte.

Mit wässrigem Mund betrat sie die Bäckerei-Filiale. In der Ecke stand ein kleiner, wackliger Zeitungsständer.

Beherzt griff sie sich gleich drei verschiedene Tageszeitungen und bei den Leckereien schlug sie mit zwei Wurstsemmeln und zwei Plunderteilchen zu.

Ihr Vermögen schrumpfte schlagartig um 13,60 Euro. Ein junges Pärchen betrat schwungvoll den kleinen Laden. Lautstark streitend.

"Du gehst mit tierisch auf den Senkel! Wie kann man nur so verklemmt und engstirnig sein?" Der Mann! Sein missmutiger Blick streifte kurz musternd über Madita.

"Du nennst mich engstirnig? Du hast den Nerv mit dieser blonden Barschlampe zu vögeln...in meiner Wohnung... und nennst mich verklemmt und engstirnig?" Die Frau.

Peinlich berührt drückte Madita ihre zwei Papiertüten mit den duftenden Fressalien an sich und versuchte sich an den beiden Streithähnen vorbeizuschieben. DER Rosenkrieg ging sie nun gar nichts an.

"He, du!" Die Frau. Madita verharrte abrupt im Schritt und starrte mit klopfenden Herzen auf den gemaserten Fußboden. "Ja, du, mit dem Rucksack. Was hältst du denn davon?" Eingeschüchtert drehte Madita sich langsam, mit eingezogenem Kopf, zu der erregten hellen Stimme um.

“Meinst du mich?” Ein dünnes Pfeifen begleitete ihren Atem und ihr noch dünneres Stimmchen. Eine junge, überschlanke Frau mit feuerroten, halblangen Haaren und frechem Fransenpony funkelte sie, nickend, mit in die Hüften gestemmten Händen, an.

"Komm, lass doch das Mauerblümchen...!” Die Stimme des Mannes bekam einen schnurrenden Unterton, "Lass uns nach Hause gehen und die ganze Sache vergessen!" Säusel! Säusel! Würg!

"Pah", wütend stach die dürre Rothaarige mit ihrem dünnen, beringtem Zeigefinger auf seine Brust, "Du kannst deine Sachen packen und zu Blondie gehen! Ich will dich in meiner Wohnung nicht mehr sehen!“

Der schnurrende Unterton des Mannes wich einem bockigen knurren, “Das ist auch meine Wohnung!”"Ist es nicht”, zischte Rotschopf, “ Im Mietvertrag stehe nur ich! HA!" Triumphierend richtete sie sich zu ihrer vollen, nicht gerade unbeachtlichen, Größe auf. Wütend starrte der Mann die rothaarige Frau an, "Dann geh ich halt...sieh doch zu wie du die Wohnung alleine bezahlt bekommst!" Grollend und bitterböse dreinblickend schob er seine Freundin (nun wohl eher Ex-Freundin) zur Seite und drängte sich grob an der sprachlosen und ziemlich verdattert dreinschauenden Madita vorbei.

Wow...ein lautstarkes Beziehungsdrama in aller Öffentlichkeit...tzzz...das hätte es in ihrem ‚Dörfli‘ niemals gegeben.Das gäbe ein Getratsche!

Madita schüttelte innerlich, peinlich berührt, den Kopf.

Arme Frau! Doofer Trottel!

"Als ob ich dich brauchen würde...ich kann mir auch einen anderen Mitbewohner suchen!"

Sie wirbelte zur Verkaufstheke herum, pustete sich energisch das kecke Pony aus dem Gesicht und trommelte mit ihren langen, blau lackierten Fingernägeln auf ihrem großen, bunten Shopper, der überdimensional, wie ein riesiges, schlafendes Tier, an ihrer Seite hing. Teilnahmslos schaute die Verkäuferin Rotschopf an...ganz so, als ob sich jeden Tag Leute in ihrem Laden verbal zerfleischen und trennen würden. Madita starrte auf den schmalen, geraden Rücken vor ihr. Sie kratzte allen Mut zusammen und tippte der rothaarigen Frau auf die Schulter, "Entschuldige...!"

Genervt drehte sich die junge Frau herum. Als sie Maditas leicht verängstigten aber wachsamen Blick wahrnahm, wurde ich Blick schlagartig freundlicher, "Tut mir leid, dass du das eben mitbekommen hast. Ich wollte dich da nicht mit reinziehen, aber ich war so...", sie machte eine Faust und biss knirschend die Zähne zusammen, "...ich war einfach nur sooo wütend!"

Sie musterte Madita, "Findest du es etwa übertrieben, dass ich ihn rausgeschmissen habe?" Madita lachte, "Nee, ganz sicher nicht. So einen Hallodri hätte ich auch rausgeworfen!" Die Rothaarige musterte sie nochmals...diesmal etwas verwundert mit hochgezogener Augenbraue, "Hallodri? Gott, das Wort habe ich ja schon ewig nicht mehr gehört...Pisser...Wixer...Scheißkerl...ja...aber Hallodri?" Sie schüttelte lachend den Kopf und strich sich das Pony aus der Stirn, "Du bist wohl nicht von hier!" Mehr eine Feststellung als eine Frage.

"Was darf es sein?" Die monotone Stimme der lethargisch dreinschauenden und offensichtlich gelangweilten Verkäuferin riss beide aus der Unterhaltung. "Ähm...", die Rothaarige nagte überlegend an der Unterlippe, "...ein Eiweißbrot, bitte!" Stumm, mit abgehackten Roboterbewegungen wurde das Brot eingepackt. Der Rotschopf drehte sich wieder zu Madita um und streckte ihr die Hand entgegen, "Ich bin übrigens Lisa, Lisa Berger!"

Automatisch griff Madita nach der angebotenen Hand, "Mein Name ist Madita Kellermann!"

Lachend schüttelte Lisa, Maditas Hand, "Kellermann, hm? Wie in Dirty Dancing! Urlaub bei den Kellermanns…", frotzelte sie grinsend mit belustigt blitzenden Augen und strich sich wieder das widerspenstige Pony aus dem Gesicht. Lisa schob, noch immer grinsend, die abgezählten Münzen über die Theke, bezahlte und packte ihr Brot in den übergroßen Shopper, "Schön dich kennengelernt zu haben, Madita Kellermann.

Vielleicht trifft man sich ja mal. So groß ist Berlin auch wieder nicht." Sie lächelte noch einmal kurz und trat aus der Tür.

Madita schaute ihr hinterher. Aufregung, Scham, Unsicherheit und Angst färbten ihre Wangen rot. Ohne großartig weiter zu überlegen, stürzte sie Lisa hinterher, nach draußen, "Warte mal!" Lisa schaute sich überrascht um.

Etwas kurzatmig kam Madita vor ihr zum Stehen und trippelte verlegen von einem Fuß auf den anderen. Wenn sie hier in Berlin wirklich einen Neuanfang wollte, musste sie ihren überschüchternen Schatten einfach mal rücksichtslos platt walzen und nach vorne preschen."Was ist, Madita Kellermann?" Amüsiert beobachtete sie Madita. Was für ein komisches Mädchen!

Madita kratzte all ihren, zugegebener Maßen, mickrigen Mut zusammen, "Du sagtest doch eben...", sie zeigte auf den kleinen Laden hinter sich, "...ich meine, vorhin, im Laden...bei deinem Streit mit...naja, du weißt schon wem...hattest du erwähnt das du eventuell...ich meine vielleicht habe ich dich auch falsch verstanden...nicht das du denkst ich würde das ausnutzen wollen...!" Hilflos hob sie beide Arme, schüttelte den Kopf und quälte ein schiefes Lächeln hervor.

Lisa schaute demonstrativ auf ihre billige, abgeschabte Armbanduhr, "Ich will dich ja nicht hetzen, aber ich würde ganz gerne heute noch nach Hause kommen!"

Madita schaute Lisa unsicher von unten herauf an, "Was ich eigentlich fragen wollte...hast du das mit dem Mitbewohner ernst gemeint oder hast du den...den...Wixer...nur veräppeln wollen? Wie wäre es denn mit einer Mitbewohnerin?"

Lisa taxierte die junge braunhaarige Frau mit den wadenhohen Stiefeln und dem riesigen, prallen Rucksack, "Nein...der Hallodri...", sie setzte das Wort mit ihren Fingern in imaginäre Gänsefüßchen und grinste, "...fliegt raus, sobald ich heimkomme!" Beiläufig betrachtete sie ihre Fingernägel und guckte prüfend in den leeren, azurfarbenen Himmel.

"Naja...", druckste Madita, "...ich suche halt was...zum Wohnen und so...ich kann auch meinen Mietanteil bezahlen...falls du Angst haben solltest, dass du kein Geld bekommst...ich suche allerdings auch einen Job...klar", sie lacht unsicher, "...und ich bin sauber, kann kochen, bügeln und schraube auch immer die Zahnpastatube zu!" Lisa prustete los.

"Ach ja, ...und ich pinkele im Sitzen!", beendete Madita etwas atemlos und leicht schmunzelnd ihre Ausführung. Giggelnd hielt Lisa sich den Bauch.

Lachtränen kullerten über ihre schmalen Wangen, "Hör zu, Madita...",

sie schniefte kurz, "...ich suche keinen Ehepartner. Nur einen Mitbewohner...oder auch Mitbewohnerin!"

Sie wischte sich über die feuchten Augen. Eine feine, dunkle Tuschespur zog sich nun neben den Augen bis in den Haaransatz.

"Du kannst dich echt gut anpreisen!" Sie drehte sich um und ging. Madita blieb verdattert stehen. Nanu? War das nun ein Ja oder Nein?

Lisa schaute über ihre Schulter, "Na los...komm schon, Madita Kellermann...oder willst du da Wurzeln schlagen?" Das ließ sich Madita nicht zweimal sagen, schulterte ihren schweren Rucksack und eilte ihrer zukünftigen Mitbewohnerin nach. Lisa bugsierte Madita um die Ecke zu einer der wenigen, engen Parkreihen, die wirklich jede Stadt vorzuweisen hatte und blieb vor einem quietschgrünen Clio stehen. "Das ist Froggi, mein treuer Begleiter!"

Stolz zeigte sie auf das (hoffentlich) rollende Gefährt und tätschelte liebevoll das zerkratzte und leicht eingedellte (?) Dach.

Madita blinzelte kurz und schluckte, "Man, das brennt einem ja Löcher in die Augäpfel! Der ist ja...”, sie suchte nach Worten, “...der ist ja sehr ...speziell!” Mühsam drängte sie die Tränen zurück, die ihr spontan beim Anblick der extrem grellen Farbe in die Augen schossen. Sie wollte ihre neue Mitbewohnerin nicht schon in den ersten zwei Minuten vor den Kopf stoßen...aber Lisas treuer Weggefährte ließ wirklich keinen Zweifel an deren mangelndem Geschmack (was Halodri auch bewiesen hatte). Was sie wohl in ihrem zukünftigen zuhause erwarten würde?

Lisa kichert nickend, "Stimmt, aber glaub mir...im Parkhaus muss ICH meinen Wagen nicht suchen!" "Das glaub ich dir auf Anhieb!", kicherte Madita übermütig und lugte wagemutig ins Innere des abenteuerlichen Gefährtes.

Rosa Plüschbezüge und Unmengen von Fastfood-Abfall zierten großzügig Polster und Boden. Lisa sperrte den Kofferraum auf, "Schmeiß dein Zeug einfach rein!" Sie selbst warf ihren großen bunten Shopper achtlos in die hintere Höhle ihres Wagens wo er einem platten Ersatzrad, einer zerknautschten Luftmatratze, zwei Eimern Farbe und ungefähr zwanzig leeren Coladosen, Gesellschaft leistete. Madita quetschte ihren Rucksack und die Zeitungen dazu."Dann lass uns mal heimfahren, Mitbewohnerin!"

So begann ihre ungleiche WG.

Lisa steckte sich eine Zigarette an, blies den Qualm durch das halb heruntergekurbelte Fenster, schob den Gang krachend rein und fuhr los...direkt hinein in das atemberaubende Großstadtdschungel-Verkehrsgetümmel. Beeindruckend und auch angsteinflößend. Aber daran würde sie, Madita sich irgendwann gewöhnen. Hoffte sie zumindest.

"So, Madita Kellermann...kann ich dich Madi nennen?", ohne eine Antwort abzuwarten quatschte sie munter weiter, puhlte blind im Seitenfach der Fahrertür herum, zauberte zwei Streifen Kaugummi hervor, (bot einen Madita an, die dankend ablehnte...weiß der Geier wie alt diese Dinger schon waren), schob sich den Streifen in den Mund, ließ das Papier achtlos zu Boden segeln und kaute knatschend auf ihrem Kaugummi herum, "Du willst also einfach mal so Berlin erobern. Lass mich raten...gescheiterte Beziehung...habe ich recht?"

"So in etwa", Madita betrachtete staunend das bunte, hektische Großstadtleben. Ihr Hunger war vorerst wie weggeblasen. Es schien, als sei sogar ihr Magen völlig geflasht.

"Von wo kommst du denn?"

Madita winkt ab, "Ach, aus einem klitzekleinen Kaff bei Hasselroth...das liegt in Hessen!"

"Und was arbeitest du?" bohrte Lisa Kaugummi knatschend weiter, ohne den Verkehr aus den Augen zu lassen, weiter.

"Ich bin Floristin...naja, zumindest hoffe ich, dass ich hier auch als Floristin arbeiten kann. Ansonsten nehme ich alles was Geld einbringt!" Leicht erschrocken schlug sie sich auf den Mund und errötete verlegen, “Naja, fast alles!”

Lisa warf ihr einen amüsierten Seitenblick zu, nahm einen kräftigen Zug an ihrer Zigarette, ließ eine kleine Kaugummiblase platzen und schnippte die Asche aus dem kleinen geöffneten Spalt aus ihrem Fenster. Die blecherne Autokolonne schwappte, mit Froggi mittendrin, in Intervallen vorwärts."Und was machst DU so?", erkundigte sich Madita neugierig.

Lisa schob den Ärmel ihrer groben bräunlichen Strickjacke nach oben und entblößte einen bunt tätowierten Unterarm, "Ich bin Tätowiererin...unser Laden in dem ich arbeite war auf einer Tattoo- Messe in Leipzig...von dort komme ich gerade!"

“Ohne Kleider...ich meine...du hast doch gar keinen Koffer bei dir.”

“Den bringt mein Chef mit zurück...ich musste früher los...wegen...dem Arsch halt!” Sie schnaubte verächtlich und bog in eine etwas schmalere Straße ab.

Die modernen Klotzgebäude wurden durch schmalere, nicht ganz so hohe, grautriste Häuser ersetzt. Lange Autoreihen parkten rechts und links zwischen hilflos wirkenden, noch kahlen Alleebäumen am Straßenrand.

Interessiert schaute sich Madita ihre neue Umgebung an. Mit einem Mal, "HALT!" "Warte, ich kann hier nicht...!" "DOCH...HALT AN...!" "Gleich!"

Lisa fuhr noch ein Stückchen und quetschte sich in eine dieser typischen, enorm schmalen Stadtparklücken. Kaum das sie standen, schlängelte Madita sich aus dem Auto und lief den Gehweg zurück.

"WO WILLST DU DENN HIN...MADITA...MADI...!" Lisa schnallte sich kurzerhand ab und stieg halb aus dem Wagen und schaute über Froggies malträtiertes Dach, Madita hinterher, die weiter hinten, in einem rot gestrichenen Haus verschwand.

Lisa steckte sich noch eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und setzte sich abwartend auf die Bordsteinkante. Irgendwann muss Madi ja wieder rauskommen. Zwei Zigaretten und einem Halsbonbon mit Kirschgeschmack (ebenfalls aus den tiefen Sphären der Wagentür) später erschien Madita wieder. Glücklich strahlend, sprang sie Richtung Lisa und Froggie...wie ein kleines Mädchen, strahlend, von einem Bein aus andere hüpfend. Lisa stemmte sich hoch und klopfte sich den Straßenstaub von der stark verwaschenen Jeans. "Was war denn das?"

Freudestrahlend klatschte Madita in die Hände, "Du wirst es nicht glauben...", sie lachte hell auf, "...ich habe einen Job!"

Ungläubig glubschte Lisa sie an, "Wie? Job?"

Hektisch wedelte Madita mit beiden Händen auf das rot gestrichene Haus aus dem sie gerade eben kam, "Ich kann am Montag in 'Angela's Blumenwunder' anfangen!"

Lisa schielte verdutzt an Madita vorbei, "Da ist ein Blumengeschäft? Wusste ich gar nicht." "Doch!"

Glücklich strahlte sie Lisa an und winkte sie zu Froggie, "Komm, jetzt können wir weiter!" Madita plumpste in ihren Beifahrersitz und schaute Lisa erwartungsvoll an. Die stand ruhig grinsend, mit vor der Brust verschränkten Armen weiter auf dem Gehweg. "Was ist, Lisa...?"

Unsicher knibbelte Madita an ihrer Nagelhaut. Schlechte Angewohnheit.

"Nichts...!" Lisa grinste weiter und schüttelte auf einmal mit dem Kopf und lachte laut auf, "Du bist unglaublich, Madi...noch keine zwei Stunden in Berlin und du hast eine Wohnung und...", sie macht eine kleine künstlerisch/theatralische Pause, "...und du hast eine Arbeit direkt vor deiner Haustür!" Noch immer lachend fuhr sie sich durch das rot gefärbte, schulterlange Haar, das ist echt DER Hammer!" Madita zuckte nur grinsend mit den Schultern, "Nein...ich nenn es Schicksal!"

Neugierig schaute sich Madita um, "Hier wohnst du also?"

Lisa ging um Froggie herum, öffnete den Kofferraum, kramte ihren bunten Shopper heraus und zeigte vor sich auf das vierstöckige, graubraune Gebäude, "Nein...hier wohnen WIR!"

Grinsend stieg Madita also wieder aus und zerrte ihren Rucksack aus den Tiefen des Kofferraums, "Na, dann los...auf ins neue Leben!"

Wie wahr!

Schnell ist das wenige, aber dennoch sperrige Gepäck schnaufend in den dritten Stock verfrachtet. Lisa sperrte auf, "TARA!", einladend streckte Lisa die Hände aus, "Hereinspaziert!" Sich neugierig umschauend betrat Madita ihr neues Zuhause. Der Duft von kaltem Zigarettenrauch, Jasmin und WC Reiniger empfing sie. Ein Geschwader Wollmäuse war ebenfalls zur Begrüßung an den Fußleisten angetreten. In ihrer euphorischen Stimmung, beschloss Madita, die überquellenden Aschenbecher und das schmutzige Geschirr überall, zu ignorieren. Lisa schob sie an einem Wäschehaufen vorbei, ins Wohn-, Esszimmer, "Na, wie findest du es?"

Trotz der eingeschränkten Haushaltshygiene strahlte der Raum erstaunlicherweise eine wohnliche Atmosphäre aus. Nicht so schlimm wie sie befürchtet hatte. Bunt zusammen gewürfelte Möbelstücke ergänzten sich mit ausgesuchten Flohmarktantiquitäten. Große Pflanzenarrangements standen verteilt im Wohnbereich und schienen sich, obwohl bedeckt mit einer zarten Staubdecke, sichtlich wohlzufühlen.

"Komm, ich zeig dir erst mal dein Zimmer!" Lisa hakte sich bei Madita unter und zog sie zurück in den Flur, kickte beiläufig ein paar ausgetretene, versiffte Turnschuhe zur Seite und öffnete eine der drei Türen, „Das ist eigentlich Hallodris Büro...er ist Schriftsteller...zumindest meint er einer zu sein...", sie betrat den Raum und fegte achtlos ein Stapel Papiere vom Schreibtisch in einen, auf dem Boden stehenden, leeren Karton, "...aber ich habe noch nie was von ihm gelesen und ich glaube auch sonst keiner...so ein dämlicher Schaumschläger!"

Sie stemmte energiegeladen die Hände in die Hüften, "In einer Stunde könnte es hier ganz anders aussehen...sieh mal...", sie zeigte auf die rechte Wandseite, "...da ist auch eine Schlafcouch!"

Sie stieß ein grunzendes Lachen aus, "Meistens hat der Penner hier seinen Rausch nach einer durchzechten Nacht ausgeschlafen. Also müssten wir es desinfizieren!" Auch dort stapelten sich undefinierbare Papierhaufen.

Lachend schnippte sie auch diesen Stapel runter und ließ sich auf das erstaunlich ansehnliche Sofa fallen.

"Wie gefällt es dir?" Madita unterzog das Zimmer einer genauen Musterung. Langsam drehte sie sich im Kreis. Ja, mit etwas Farbe und ein paar Pflanzen, schönen Kissen und einem flauschigen Teppich könnte sie sich hier sehr wohl fühlen. Theatralisch spuckte sie in die Hände, "Dann lass uns mal klar Schiff machen!" Das ließ sich Lisa nicht zweimal sagen. Mit geballter Frauenpower entrümpelten sie den Raum, packten Hallodris ganzen Krempel in Kisten, die sie, rücksichtsvoll wie sie waren, unten in der Hauseingangsnische stapelten.

Der nächste Tag war ein Samstag. Also genug Zeit um dringend benötigte Renovier- Utensilien und Deko zu kaufen und die Bude auf Vordermann zu bringen. Und genau das taten sie dann auch. Ab Montag begann der Ernst des Lebens.

Montagmorgen, pünktlich um acht Uhr morgens, bei strahlend blauem Himmel understen wärmenden Sonnenstrahlen, stand Madita vor 'Angela's Blumenwunder'. Ihr Magen kribbelte, so aufgeregt war sie. Frühstück hatte sie keins runter bekommen. Wurde wohl langsam zur Angewohnheit.

Schnell rieb sie ihre schwitzigen Handflächen an der alten Jeans trocken und klopfte an die mit buntem Butzenglas verzierte kleine Holztür an. Im Inneren erschien ein schwankender Schatten, dann ist das knacken und klicken eines aufschließenden Schlosses zu hören und mit leisem Gebimmel öffnet sich die Tür. Eine etwas ältere, kleine, pummelige Brünette mit tausend Lachfältchen um die Augen, blitzte Madita fröhlich an. Angela Wesely. Ihre neue Chefin.

"Komm herein, Schätzchen...komm schon." Sie griff nach Maditas Schulter und zog sie über die Schwelle, "Keine Angst...ich beiße nicht...zumindest nicht am ersten Arbeitstag." Sie stieß ein kleines gackerndes Lachen aus.

Erstaunlich energisch wurde Maditas Hand geschüttelt.

Jede Wette, wenn sie jetzt nach unten schauen würde, könnte sie bestimmt einen verhornten, mit feinen Schnitten übersäten, grünlich verfärbten Daumen sehen. Typische Floristen-Finger eben! Schwerer Blumenduft liegt in der Luft und streichelt vertraut ihre Seele.

"Nun komm schon, Kind...gehen wir nach hinten, erst mal einen schönen starken Kaffee trinken." Angela Wesely setzte sich in Bewegung. Ihr leicht humpelnder Gang ließ auf ein Knie oder Hüftproblem schließen. Als ob sie Maditas Gedanken hätte lesen können, legte sie eine pummelige Hand (die mit dem grünlich verfärbten Daumen) seitlich an den Oberschenkel und ächzte, "Mein Knie bringt mich noch um. Ein Segen, dass du hier arbeiten willst. Ich suche nämlich schon lange eine fähige Mitarbeiterin...", sie seufzte und ließ sich, da sie beide mittlerweile in der hinteren Stube angekommen waren, einer Art Küche oder Aufenthaltsraum, auf einen dick gepolsterten Stuhl sinken, "...aber sobald sie hören, was sie alles machen sollen...", sie schnaubte abfällig, "...sind sie spätestens nach zwei Tagen wieder verschwunden."

Sie atmete einmal tief durch und rieb ihr schmerzendes Knie, "Und ich kann einfach nicht mehr so wie ich will!" Sie zeigte auf eine Kaffeemaschine in der Ecke, in der schon frisch gebrühter, kochend heißer, starker Kaffee auf morgenmüde, gähnende Lebensgeister wartete. Zwei geblümte Keramikbecher standen schon auf der hellgrünen Wachstischdecke. Eilig schenkte Madita ein und setzte sich zu ihrer Chefin an den kleinen runden Tisch. Angela nahm einen kräftigen Schluck des dampfenden Gebräues und verzog keine Miene beim Runterschlucken. Offensichtlich hatte ihre neue Chefin nicht nur Hornhaut an den Händen, sondern auch in der Speiseröhre!

Madita schwächte ihren Kaffee mit etwas Milch ab und schaute Angela erwartungsvoll an. Diese beugte sich etwas nach vorne, darauf achtend ihr Knie nicht allzu stark zu knicken, "Also Madita...meine größte Sorge ist mein Lieferdienst. Wir haben zwar nicht jeden Tag und auch nicht unbedingt Unmengen zum ausliefern...in der heutigen Zeit muss man halt flexibel sein...", sie musterte Madita mit zusammengekniffenen Augen, "...aber ich muss wissen ob du auch bereit bist, auszuliefern."

Madita hielt dem stechenden Blick stand, "Haben sie denn einen Wagen, mit dem ich fahren kann, Frau Wesely?" Angela nickte.

"Nun denn...dann kann ich auch ausliefern!" Madita nahm einen großen Schluck Kaffee und verbrannte sich prompt die Kehle. Hustend fächelte sie sich Luft in den Mund, was natürlich völlig zwecklos war. Lachen hievte sich Angela auf, füllte ein Glas mit kaltem Leitungswasser und reichte es Madita, die es in einem Zug runterstürzte.

"Dann los, Mädchen...ich besorge gleich den Vertrag und du kannst dich derweil hier umschauen und dich mit allem vertraut machen."

Angela Wesely griff nach ihrer Jacke, die an der Garderobe neben einem kleinen, mit Comicaufklebern übersäten Kühlschrank hing, drehte sich noch einmal kurz um und schnaubte kurz amüsiert "Und nenn mich um Himmels Willen Angela!" Sie schnaubte amüsiert, “Tzzz...Frau Wesely! So was aber auch!” Dann schwankte sie seemännisch zur Tür hinaus.

Madita grinste in sich hinein.

Der Laden gefiel ihr und ihre Chefin schien unter ihrer leicht burschikosen Schale ein wahrer Engel zu sein. Schnell trank sie aus, suchte und fand eine, natürlich grüne, Arbeitsschürze und zog sie probeweise an. 'Angela's Blumenwunder' prangte schräg über der Brust. Die Halsschlaufe und die seitlichen Bänder zum zubinden bestanden aus aneinandergereihten Margeritenblumen. Natürlich keine echten.

Wissbegierig betrat sie den Verkaufsraum und durchstöberte ihren neuen aber dennoch vertraut wirkenden Arbeitsplatz. Sie nahm den gesamten Blumen und Pflanzenbestand unter die Lupe. Nichts dabei was ihr fremd war. Alles war außerordentlich gut gepflegt. In der Ecke stand eine kleine, alte Holztheke. Dort befand sich auch die Kasse. Die interessierte sie allerdings nicht sonderlich. Was ihr Interesse geweckt hatte, war ein kleines Regal dahinter, an der Wand. Zwei wunderschön gestaltete Ordner lagen darauf.

Madita nahm einen zur Hand und blätterte kurz durch. Traumhafte Blumengebinde und florale Geschenkkörbchen waren als Muster abgebildet. Preis auf Anfrage. Aha!

Völlig vertieft setzte sie sich auf den Kassentresen und blätterte weiter. Ihre Chefin besaß wohl nicht nur einen grünen Daumen (kleine Wortspielerei, haha), sondern auch viel Phantasie.

Für alle Gelegenheiten gab es ein, dazu passendes Gebinde. Sogar für Kinder war einiges dabei. Wer jetzt denkt, auf Kindergeburtstagen oder anderen Kinderveranstaltungen hätten Blumen nichts zu suchen, der kannte die durchgeknallten Städter nicht und hatte auch noch nicht diese witzige Kreativität ihrer Chefin noch nicht zu Gesicht bekommen. Madita war zutiefst beeindruckt. "Gefallen sie dir?"

Erschrocken fuhr Madita hoch, klappte den Ordner zu und schwang sich sofort von der Theke runter. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass Angela schon zurück war. "Das ist fantastisch!". Sie schlug mit der flachen Hand auf den Deckel der Mappe, "Das ist wirklich fantastisch!"Irrte sich Madita oder bekam Angela wirklich rote Bäckchen?

Offensichtlich verlegen grummelte sie Madita's Lob einfach weg, "Komm, ich zeig dir die Bestellbücher, den Auftragskalender und alles andere was du wissen musst. Und dazu zwängen wir uns, natürlich nur sehr widerwillig und unter Protest...", sie strich über ihren runden Bauch und lachte herzhaft, "...einen Kirschkäsekuchen rein!" Madita wurde schlagartig ernst, "Aber bitte nur zwei schmale Stücke für mich, ich bin allergisch gegen Käsekuchenkalorien!" Prompt prusten beide drauflos. Sich noch die Lachtränen aus dem Gesicht wischend fragte Madita, "Hören wir eigentlich die Türbimmel, wenn wir hinten im Büro sind?"

"Ach Schätzchen, heute ist Montag...Ruhetag!"

"Ach so!" Das musste sie in ihrer Aufregung völlig übersehen haben.

Um vier Uhr nachmittags wankte sie leicht benommen nach Hause. Ihr Schädel vibrierte von den ganzen Zahlenkolonnen, Bestellzettel, Bestellanzahl, Abrechnungen und Auftragsbearbeitungen. Von wegen Floristin. In diesem Fall war sie auch Lieferservice, Ideenumsetzer, Tippse, Saftschubse, Buchhalter und ganz nebenbei halt auch Blumenverkäuferin.

So viele Aufgaben hatte sie an ihrer alten Arbeitsstelle nicht gehabt...aber sie war Feuer und Flamme und vor allem Willens zu ackern.

Todmüde bog sie um die Ecke und stolperte prompt über Hallodris Krempel.

So ein Blödmann!

Oben angekommen, sperrte sie die Haustür auf und horchte. Nichts.

Entweder schlief Lisa oder sie war gar nicht da. Hoffentlich hatte sie an die Milch gedacht, die sie hatte kaufen sollen. Ein heißer Kakao wäre jetzt wirklich das einzig wahre. Langsam schob sich Madita in den Flur, schnalzte ihre Schuhe in die Ecke und ging auf Socken in ihr Zimmer, in dem es noch immer nach frischer Farbe und neuem Teppich roch. Erschöpft, aber doch irgendwie aufgekratzt fiel sie auf die Schlafcouch, nur um gleich darauf wieder aufzuspringen. Nee, schlafen konnte sie jetzt nicht. Sie brauchte jemand zum Quatschen. Apropos quatschen...ihre Mutter musste sie auch dringend anrufen!!!

Also streckte sie den Kopf wieder aus ihrem Zimmer, "Lisa?" Vielleicht war sie ja doch da? "Lisa, bist du da?" Keine Antwort. Schade! Vorsichtshalber suchte Madita einmal die Wohnung ab.

Aber kein Stück Lisa in Sicht! Aber an die Milch hatte sie gedacht.

Hm...Kakao...oder doch heiße Milch mit Honig. Da würde sie heute Abend bestimmt schlafen wie ein Baby!

Sie schaute sich um. Zuvor hatte sie aber doch noch einiges zu erledigen.

Wenn schon keiner zum Labern da war, konnte sie sich wenigstens anderweitig nützlich machen. Und später würde sie auch noch ihre Mutter anrufen. Versprochen!

Drei Stunden später kam Lisa nach Hause. Hastig sperrte sie die Tür auf. Die Pizzaschachtel mit dem Abendessen für sie beide, verbrannte ihr fast die Fingerkuppen.

Trotzdem blieb sie erst einmal fassungslos stehen und starrte den Flur an.

Sie schnupperte unsicher. Irgendein Fleur de Dingsbums-Raumduft waberte durch den klinisch reinen Flur. Verdutzt klimperte sie mit den Augen, aber der heiße, fettige Karton erinnerte sie sehr schnell wieder an ihre schmerzenden Finger. Eilig hastete sie in die Küche und stellte die Schachtel schnell ab. Dann ging sie zurück ins Wohn-, Esszimmer. Selbst dort verschlug es ihr die Sprache. Keine vollen Aschenbecher. Kein herumliegender Müll.

Kein schmutziges Geschirr. Keine Krümel auf dem Boden, die bei jedem Schritt unter den Schuhen geknirscht hatten. Kein Staub...sogar die Pflanzenblätter erstrahlten in einem satten Grünton. Noch nicht mal ein einziges Kleidungsstück lag herum. Halt. Stopp. Doch. Dort, auf der Couch lag noch was. Aber da steckte Madita noch drin. Sachte geht Lisa rüber, beugte sich zu ihr runter und rüttelte Madita sanft an der Schulter, " Wach auf, kleine Heinzelfrau. Essen ist da!" Unter lautem Gestöhne, Geächze und Gestrecke schlug Madita die Augen auf und blickte in ein paar äußerst belustigt dreinschauender Augen, "Ich glaube, ich muss dich doch heiraten!" Lisa sprang auf, beugte sich etwas nach vorne und fuhr probeweise mit dem Finger über den weißen Bilderrahmen über der Couch, auf der Madita gerade lag. Nichts. Staubfrei! Sie sah sich um. Wie offensichtlich auch der Rest der Wohnung! Kein einziges Staubkörnchen war zu entdecken. "Wann hast du denn das alles gemacht? Ich dachte, du warst arbeiten?"

"War ich auch", Madita gähnte ausgiebig, "Angela hat mich aber um vier nach Hause geschickt. Da waren wir schon fertig. Eigentlich hatte der Laden ja auch zu. Ruhetag!" Sie streckte und dehnte sich, "War eigentlich auch gut so. So konnte sie mir in aller Ruhe alles zeigen." Sie wurschtelte sich von der Couch hoch und gähnte nochmals, "Und da keiner da war, der mit mir reden wollte, habe ich kurzerhand eine heftige Diskussion mit dem Putzeimer und dem Wischer angefangen", sie blinzelte Lisa zu, "Und ich kann dir sagen, dass beide erstaunlich engagiert waren...du kannst sehr stolz auf sie sein!"

Ein freundschaftlicher Rempler beförderte Madita wieder zurück auf die Couch. Lisa plumpste unsanft neben sie, "Das ist ja irre...danke...aber...",

verlegen kratzte sie einen imaginären Fleck mit dem Fingernagel von ihrer Jeans, "...du...ich weiß...ich bin etwas schlampig...!“ Madita kaschierte ein aufkeimendes Lachen unter einem kräftigen Räusperer und nimmt Lisa spontan in den Arm, "Du bist nicht schlampig...nur etwas...naja...sagen wir...etwas chaotisch Unorganisiert...sonst nichts!"

Madita stand auf und strich sich das vom Schlaf verwuschelte Haar glatt, „Du kannst die Wäsche nachher aufhängen, wenn die Waschmaschine fertig ist." "Wir haben eine Waschmaschine?"

Madita griff sich lachend ein Sofakissen und ging damit auf Lisa los.

Kichernd hielt sich Lisa die Arme vors Gesicht, "WAR NUR EIN SCHERZ...NUR EIN SCHERZ! ICH HABE ESSEN MITGEBRACHT.... FRIEDEN, FRIEDEN..."

Und während beide sich das mittlerweile lauwarme italienisch belegte Fladenbrot zu Leibe führten, hörten sie durch das gekippte Esszimmerfenster einen aufheulenden Motor vorfahren. Neugierig lugten sie aus dem Fenster nach unten. Ein kleiner alter Sprinter mit undefinierbarem Schriftzug an der Seite war herangerauscht. Hallodri am Steuer (armer Sprinter). Nun denn! Hallodri kam wohl endlich mal seinen Schrott abholen. Wurde ja auch Zeit! Lisa und Madita warfen sich einen belustigten Blick zu, fingen gleichzeitig an zu lachen, klatschten sich ab und aßen dann gemütlich weiter.

Am nächsten Morgen, punkt halb neun, stand Madita geschniegelt und gestriegelt, umrahmt von einer gestärkten Schürze, im Laden. Angela saß hinten im Büro und erledigte ein paar Schreibarbeiten. Madita schaute sich im Laden um, "Angela...hast du gestern die Efeuampeln im Schaufenster gegossen?" "Nein, ich bin mit meinem blöden Knie das Trittleiterchen nicht raufgekommen!" "Ok, ich mach's dann gerade!"

Madita schnappte sich das kleine Dreierstüfchen unter dem Kassentresen, nahm die immer gefüllte blaue Gießkanne aus der Ecke und krabbelte nach oben. Mitten im Gießen ertönte das Türglöckchen.

"Guten Tag! Hallo?" Eine sonore Männerstimme.

"Ja, Moment, ich bin hier oben!"

Schritte hinter ihr. Ein paar kräftige Männerhände schlossen sich plötzlich fest um ihre Taille, "Immer vorsichtig, junge Frau. Die meisten Unfälle passieren im Haushalt!"

Madita lachte, “Ich bin nicht zuhause, sondern auf der Arbeit...”, stieg dann aber doch mit der männlichen Unterstützung in ihrem Rücken, die drei Stufen nach unten und drehte sich noch immer lachend zu dem zuvorkommenden Kunden um.

"Womit kann...", sie stockte mitten im Satz. Zack! Ein Blitz. Ein Donner!

Fantastische, hellgraue, unglaublich faszinierende Augen schienen sie festzunageln. Der eindringliche Blick versengte förmlich ihre Haut. Seine Hände, die noch immer leicht ihre Mitte umfassten, brannten durch den Stoff auf ihrer Haut. Ein wohliger Schauer überlief sie, eine Gänsehaut zog sich über ihren Rücken und ein umwerfendes Lächeln traf sie mitten ins Herz, "...ich ihnen helfen?", vervollständigte sie hauchend ihren Satz. Heiße Röte schoss ihr in die Wangen. Dieser Mann...Wow...der haute sie glatt vom Sockel.

Er ließ sie los, so als hätte er sich verbrannt und trat hastig einen Schritt zurück, "Ähm...eine Baccararose...mit etwas Krautgedöns." Er fummelte wirr mit seinen Händen in der Luft herum, "Oder wie sie das Zeugs halt nennen." „Ja...natürlich!"

Mit zitternden Fingern fischte sie eine der edlen, langstieligen Rosen aus einem Wassereimer, "Ist die recht?"Ein kritischer Blick, "Ist die auch frisch?"

Empört richtete Madita sich auf, "Wir haben nur frische Blumen!"

Abwehrend hob er lachend beide Hände, "Ich weiß, ich weiß...Angela hat immer herrliche Blumen...und auch immer frische...ich wollte sie nur etwas aufziehen." Er zwinkerte ihr zu. Auf wackeligen Beinen stakste Madita steif neben die kleine Holztheke. Dort befand sich eine alte Arbeitsplatte, an der große und kleine blumige Grüße zu einem liebevollen Kunstwerk geschnürt wurden. "Sie kennen Angela?" Beiläufig gefragt.

Automatisch begannen ihre zierlichen Hände damit, die einzelne Blume künstlerisch gekonnt, in Szene zu setzen. Sie konnte seinen Blick wie Nadeln im Nacken spüren.

"Ja sicher...ich komme fast jede Woche oder alle zwei...und sie? Sind sie eine neue Angestellte?" Er schnaufte kurz, ohne ihre Antwort abzuwarten, "Hoffentlich bleiben sie länger als all die anderen Faulenzer. Angela braucht dringend jemand der ihr unter die Arme greift und zuverlässig ist...zumal sie endlich mal ihr Knie in Ordnung bringen lassen sollte!"

Entrüstet wirbelte Madita mit ihrem fertigen Kunstwerk herum.

"ICH bin keine Faulenzerin! Und JA, ich BIN die neue Angestellte!"

"Ups...", leicht betreten blickte er runter auf seine glänzend, polierten Lederschuhe, "...da bin ich wohl mit beiden bestrumpften Füssen in einem Fettnapf gelandet...tut mir leid…“, er strich sich durch das fast schwarze Haar, „...ich mache mir nur etwas Sorgen um Angela...", er schaute sich in dem kleinen Geschäft um, "...wäre echt schade, wenn sie ihren Traum hier...", er zeigte auf die Blumenpracht, "...aufgeben müsste!"

Etwas besänftigt legte Madita die Blume auf den Tresen und wickelte sie in hübsches, zartrosa gestreiftes Papier ein, "Schon gut...aber ich sag ihnen was...ich mag Angela und ihre herrlichen Arbeiten und ich mag diesen Laden und ich habe ganz sicher nicht vor, einfach zu verschwinden und Angela hängen zu lassen...das ist nämlich nicht meine Art! So!

Das macht dann vierfünfzig!"

Er lachte und legte fünf Euro auf den Tresen, "Das glaub ich ihnen sogar. Mit ihrer reizenden kratzbürstigen Art passen sie hervorragen zu Angela."

Madita's Puls stieg sofort auf hundertachtzig, "Ich bin nicht...", er hob leicht den Finger, schüttelte grinsend den Kopf, lupfte einen imaginären Hut und verabschiedete sich, "Sagen sie Angela einen schönen Gruß." Und weg war er. „So ein Schnösel, so ein...", wutentbrannt wirbelte sie herum und rannte dabei fast ihre Chefin über den Haufen, "...hast du das mitbekommen...dieser...eingebildete...hach...!" Angela lachte laut auf, "Ach Madita, reg dich doch nicht auf. Das war Dr. Kramer. Er ist Kinderchirurg im St. Joseph Krankenhaus. Ein seeehr netter Mensch. Hat unglaublich viel Humor!" Lachend wackelte sie an Madita vorbei.

Madita schnaubte, "Hat er nicht...er ist...er ist...", die Stelle an ihrer Taille, wo seine Hände gelegen hatten, brannte noch immer. Das Bild hellgrauer Augen, die lustig blitzten, erschien vor ihrem inneren Auge. Heiße Röte kroch ihren Hals hinauf, als sie des wachen, aufmerksamen und auch ahnenden Blickes ihrer Chefin gewahr wurde. Schnell flüchtete sie aufs Klo.

Oh, oh, oh.

Da musste Angela aber schnell eingreifen, bevor es zu spät war, "Du Madita..., wenn du willst, bediene ich ihn ab jetzt. Er kommt nämlich einmal die Woche oder so, zu uns...", sie lauschte, "...seit drei Jahren", sie lauschte wieder, "...und kauft immer eine Rose für seine Frau!" Peng!

Die Klotür wurde leise aufgesperrt, "Er ist verheiratet?"Mitfühlend nickte Angela. Madita straffte ihren Rücken, atmete einmal tief ein und wieder aus, "Ist schon gut...alles kein Problem...ich mach das schon." Sie schluckte trotzig, "Aber ein bisschen eingebildet ist er schon!" Angela lachte herzhaft, nahm sie in den Arm und schob sie in den Verkaufsraum zurück, "Ja, Mädel...vielleicht ein klitzekleines bisschen...!"

Den Rest des Tages war Madita stellenweise allerdings doch recht schweigsam. Diese Schweigsamkeit hätte am Abend auch Lisa mitbekommen...wenn sie denn da gewesen wäre. War sie aber nicht. So bekam sie auch den unruhigen Schlaf ihrer Mitbewohnerin nicht mit, die sich im Traum von hellgrauen, hypnotisierenden Augen und großen warmen Händen verfolgt sah.

Die nächsten vier Wochen hatte sie allerdings Glück. Kein einziges Mal lief ihr dieser arrogante Kerl über den Weg. Der Gedanke, dass ihre Chefin sie vielleicht just zu dem Zeitpunkt, als er kam, wegen einer Lieferung fortschickte, kam ihr gar nicht. Naja...ahnen tat sie es schon...aber das war auch gut so. Somit konnte ihr Herz, zusammen mit ihrem überaus realistischen Verstand, die aufflammenden und verwirrenden Gefühle in aller Ruhe zusammenlegen, verschnüren und verpacken und anschließend in einer gut verschweißten Kiste in die hinterste Ecke ihrer Seele verfrachten.

Was sie nicht ahnte, dieser Tag war der Startschuss für ihr Schicksal.

Gegenwart (2011) Madita

Ein ziehender Schmerz im Rücken zupft Madita überraschend aus ihren Erinnerungen. Die Nachtluft hatte merklich abgekühlt. Der Schweißfilm auf ihrer Haut ist mittlerweile getrocknet und hat einer feinen Gänsehaut, die sich über ihren ganzen Körper zieht, Platz gemacht. Leicht fröstelnd zieht sie die Schultern hoch. Vorsichtig schält sie sich langsam aus dem Ohrensessel.

Mit kleinen Schritten schlurft sie, ihre beiden Hände in ihr schmerzendes Kreuz gedrückt, zur Schlafzimmertür, an deren Innenseite ihr Morgenmantel hängt. Eines der wenigen Kleidungsstücke zurzeit, dass ihren unförmigen Körper problemlos aufnehmen kann, ohne gleich hilflos in den Nähten zu ächzen. Leise raschelt der weiche Stoff, als sie hineinschlüpft. Behutsam öffnet sie die Tür. Das leise knarren der Scharniere lässt sie kurz innehalten.

Sie wirft einen Blick zurück auf das Bett.

Tiefe Atemzüge und die unveränderte Liegeposition verraten ihr, dass Andreas noch immer tief und fest schläft. Schnell huscht sie nach draußen und zieht die Tür gefühlvoll hinter sich zu. Nur das leise klicken des einrastenden Schlosses ist zu hören. Ein weiterer ziehender Schmerz! Leise schnaufend stützt sie sich an der gegenüberliegenden Wand ab... bis der Schmerz abgeklungen ist. Dann watschelt sie, leicht schwankend, den Flur entlang, an dem noch jungfräulichen Kinderzimmer vorbei, bis in die Küche.

Sie knipst das Licht über dem Herd an, dreht sich um und watschelt an den Schrank gegenüber. Mit der einzelnen, winzigen Lichtquelle im Rücken, erhascht sie einen Blick auf ihren wankenden und mächtigen Schatten. Ein leichtes Lächeln kräuselt ihre Lippen. Genauso hatte Angela's Gang vor der Knie- OP ausgesehen. Damals hatte sie sich noch liebevoll darüber lustig gemacht und heute? Heute läuft sie selbst so! Ihr Lächeln vertieft sich.

Angela! Im Laufe der Zeit hat sich die anfängliche Sympathie rasch vertieft und ist gewachsen.

Heute ist sie zwar auch noch ihre Chefin, aber sie ist auch mittlerweile fast zu einer Ersatzmutter geworden. Da sie selbst unverheiratet und kinderlos ist, ist es ihr offensichtlich nicht schwergefallen, ihre ganze Zuneigung Madita zukommen zu lassen.

Madita's Mutter, Lieselotte, von allen aber nur Lotte genannt, ist darüber sehr froh. So weiß sie ihrer Tochter in liebevollen mutterähnlichen Händen.

Schließlich kann Lotte sich nicht so um ihre Tochter kümmern, wie sie das eigentlich wollte. Zu einen war die Entfernung doch etwas zu groß, um mal eben einen Sprung rüber zu machen und zum anderen ist da Heinz. Ihr Mann. Madita's Vater. Er leidet an Demenz und sie lässt ihn nur ungern alleine zuhause. Eigentlich LÄSST sie ihn nicht alleine zuhause. Im Augenblick ist es noch nicht so schlimm, Zumindest war es das die ganze Zeit nicht. Bisweilen hat er nur kurze Gedächtnisaussetzer aber nun? Immer häufiger entfallen ihm die Namen einzelner Gegenstände und einmal fand Lotte ihn im Garten und er wusste nicht was er dort sollte, geschweige denn wie er dorthin kam. So traut sie sich nicht mehr weg. Lotte hat das eine ganze Zeit versucht vor Madita zu vertuschen, aber Madita ist schließlich nicht auf den Kopf gefallen und die Gespräche mit ihrem Vater am Telefon verlaufen schon lange nicht mehr so wie früher. Es tut schon weh zu sehen, wie der eigene, immer so lebenslustige, Vater langsam zerfiel und ihre Mutter darunter leiden musste. Umso mehr schätzt sie die wenigen, spärlichen Besuche ihrer Mutter.

Madita nimmt einen Becher aus dem Schrank, Milch aus dem Kühlschrank, geht mit beidem zum Herd, füllt einen viertel Liter Milch in den Milchtopf und erhitzt ihn.

Gedankenverloren starrt sie in die weiße Brühe. Ganz plötzlich hat sie das Bedürfnis mit jemandem zu reden. Sie schaut auf die Küchenuhr über der Tür. Kurz nach zwei. Nee, da kann sie keinen anrufen. Lotte, ihre Mutter, würde wohl einen Herzanfall bekommen, wenn auf einmal mitten in der Nacht das Telefon klingeln würde. Außerdem könnte sie ihren Vater wecken und das will sie nicht. Und Lisa? Die würde wahrscheinlich panisch mit Froggie (ja, der lebt immer noch) hierher gerast kommen und alles rebellisch machen. Die stellte sich in den letzten Wochen wie eine Mutterglucke an.

Angela? Ja, die könnte sie anrufen! Die hat die Ruhe weg! Aber Angela ist im Moment auf einer zweiwöchigen Kreuzfahrt im Mittelmeer unterwegs und wird erst in vier Tagen wieder hier sein. Tja, Pech halt!

Die Milch köchelt langsam hoch und Madita nimmt sie rasch vom Herd. Sie füllt ihren Becher, süßt mit Honig, den sie in letzter Zeit immer griffbereit auf der Arbeitsfläche, neben dem Kaffeeautomaten stehen hat. Sie ist im Augenblick verrückt nach Honig! Honig und diese abgefahrenen Minifleischklopse mit Senffüllung! Da könnte sie drin baden! Ein prüfender Blick in den Kühlschrank...schade...keine da!

Zusammen mit der heißen Milch schlendert sie in das neue Kinderzimmer.

Im fahlen Mondlicht kann man die Farben nicht erkennen, aber Madita weiß, dass hier gelb und grün vorherrscht. Bis auf die rechte Seitenwand.

Die ist weiß! Nur das winzige Kinderbett, mit dem Bärenhimmel und der Bärenbettwäsche, und ein Riesenteddy mit gelber Schleife um den Hals, stehen dort. In der gegenüberliegenden Ecke ruht ein uriger Schaukelstuhl auf einem grünen, extraflauschigen Teppich.

Genau dort setzt sie sich hin. Leicht schaukelnd betrachtet sie die weiße Wand vor sich. Die hatte sie reserviert. Je nach dem, was das Baby wird, kommt dort das handgemalte Bild eines lustigen, knuffigen Autos oder eine entzückende, tanzende Ballerina hin. Liebevoll streichelt sie ihren großen, runden Bauch. Sie selbst tendierte zu der putzigen Ballerina. Na klar!

Das Ziehen in ihrem Rücken verschlimmerte sich langsam. Aber noch ist es nicht so schlimm, dass sie Andreas wecken müsste. Sie hat noch Zeit.

Versonnen lehnt sie sich im Schaukelstuhl zurück, nippt an ihrer gesüßten Milch, vertieft sich in die, im Mondschein funkelnden Knopfaugen des großen Teddybären und versinkt langsam wieder in der Vergangenheit.

Gastgeberin:

Und dort gönnen wir ihr dann auch mal Ruhe. In ihrem Zustand sollte sie noch etwas Kraft tanken. In ein paar Minuten wird sie auch etwas eindösen. Versprochen!

Lassen wir sie...

Jetzt hast du zumindest mal einen kleinen Einblick erhalten, wer Madita ist. Kleine verrückte Nudel, nicht wahr? Wenden wir uns nun Andreas zu. Dem Hauptakteur dieser Geschichte.

Ups...der schläft noch immer. Macht nix. Kramen wir einfach mal etwas in seinen Kartons herum. Die hier, da stehen seine Namen darauf. Was haben wir den hier? Ist er das? Warte! Mein erstes Fahrrad? Nein! Und dieser?

Klassenfahrt nach Tirol? Auch nicht! Weihnachten '90?

Nee! Ah hier...jetzt habe ich den richtigen Erinnerungskarton. Warte! DEN nehmen wir auch und DEN.

Und DEN auch!So! Komm, lass uns anschauen, was in Andreas Köpfchen so abgespeichert ist. Also...Andreas...

Erinnerung (2008) Andreas

Sssssssst....ssssssst....sssssssst....das Handy vibrierte auf dem blitzsauberen Glastisch im Wohnzimmer. Andreas sang lautstark unter der Dusche und bekam davon nichts mit. Heiße Dampfschwaden waberten durch das Badezimmer und beschlugen den Spiegel. Die Dusche wurde abgedreht.

Das Rauschen des Wassers und der schräge Gesang verstummten. Die Schiebetür wurde aufgeschoben und tropfnass stieg Andreas heraus. Gut gelaunt rubbelte er sich mit einem großen, flauschigen Badetuch trocken und marschierte in seinem ansehnlichen Adamskostüm nach nebenan, ins Schlafzimmer. Leise summend suchte er ein blaues Hemd, eine legere Jeans, Strümpfe und ein paar engen Shorts, die Marianne, seine Frau, sehr an ihm mochte, aus ihrem gemeinsamen, begehbaren Schrank heraus.

Heute war Sonntag und er wollte seine Frau mit einem Picknick im Park überraschen. Ein paar Stunden Schlaf nach der Nachtschicht hatte er ja bekommen. Marianne hatte sich heute Morgen still und heimlich aus dem Haus geschlichen, um ihn nicht aufzuwecken. Wie immer Sonntagmorgen.

Den Sonntagmorgen verbrachte sie, auch immer, im 'Berlinium', das Lokal ihrer Eltern. In den letzten Jahren hatte sich diese Lokalität zu einem richtigen Geheimtipp gemausert und konnte sich schon fast den Titel 'Szenelokal' an die Brust heften. Ihr Bruder Antonio, ein, dem Aussehen nach, italienischer Adonis, und sie halfen dort. Naja...eigentlich schmissen sie den gesamten Laden alleine. Ihre Eltern hatten sich in Hamburg eingenistet und genossen so etwas ähnliches, wie einen Ruhestand und kamen nur noch selten für eine kurze Stippvisite vorbei. Antonio machte überwiegend die Buchhaltung, half aber beim Bedienen (und flirten) aus, wenn Not am Manne war und Marianne war für die Live Akts verantwortlich. Die ganze Woche über hängte sie im Internet rum, immer auf der Suche nach coolen Musikbands. Der Sonntagmorgen hatte sich im Laufe der Zeit zum Probevorspieltag entwickelt. Marianne war da echt gut darin und hatte ein Händchen mit den empfindlichen Musikern und traf auch immer den richtigen Ton bei denen...und der Musik. So fand sie immer richtig gute Newcomer, die dann Samstagabend im 'Berlinium' ihre Live-Auftritte hatten. Mit nassem, straff zurück gekämmtem Haar betrat Andreas die hochmoderne, lackglänzende, Küche und inspizierte den großen, doppeltürigen Kühlschrank. Alles da! Paula, die Seele des Hauses, ihres Zeichens Haushaltshilfe, war ein echter Juwel. Seit Mariannes und Andreas Hochzeit vor drei Jahren und dem gleichzeitigen Einzug in ihre kleine Villa hier, schwang sie nun das Zepter im Hause Kramer. Mit ihren tiefliegenden Augen, den Hängebäckchen und ihren ständig nach vorne gedrückten Schultern sah sie zwar immer wie eine angriffslustige Dogge aus, aber sie hatte ein Herz aus Gold. Und Andreas hatte es nie bereut sie eingestellt zu haben. Eigentlich hatte er Paula haben wollen, weil er dachte das er und Marianne bald einen Stall voll Kinder haben würden. Aber irgendwie hatte sich dieses Thema nie so richtig ergeben. Immer kam etwas dazwischen...entweder bei ihr mit der Arbeit oder bei ihm mit der Arbeit. Er seufzte. Er hätte ja schon ganz gerne ein Baby. Aber das hatte er nicht alleine zu entscheiden. Traurig verdrängte er den Gedanken und wand seine Aufmerksamkeit wieder dem Inhalt des Kühlschrankes zu. Vor ein paar Tagen hatte er Paula in seinen Plan eingeweiht und sie gebeten, die Leckereien so nach und nach, ganz unauffällig zu besorgen, so dass Marianne von alle dem nichts mitbekam. Das war ihr wohl gelungen.

Sorgfältig packte er den runden Picknickkorb mit dem rotkarierten Futter, den Paula, in weiser Voraussicht, schon im Vorratsraum, neben der Küche parat gestellt hatte. Marianne würde Bauklötze staunen. Er war schon fast an der Haustür, als ihm die Decke einfiel. Wo sollten sie denn sonst drauf sitzen? Hastig eilte er ins Wohnzimmer und krallte sich eine kuschelige Decke von der Couch. Dabei fiel sein Blick auf sein Handy, das er in der Nacht, als er nach Hause kam, achtlos auf dem kleinen Glastisch neben der wuchtigen Ledercouch, abgelegt hatte. Es blinkte. Während er vollgepackt ans Auto trabte las er noch schnell die Nachricht.

Soll ich uns was vom Chinesen mitbringen? Kuss *M*Ah, Marianne! Er grinste. Nein, mein Engel. Der Essensexpress ist schon unterwegs! Ohne zu antworten, steckte er das Mobilteil hinten in seine Jeanstasche, huschte zurück, sperrte die Tür hinter sich zu, schwang sich, mitsamt köstlichen Fressalienkorb in sein silbernes Cabrio und fuhr los.

Punkt dreizehn Uhr stand er seitlich vom Eingang des 'Berlinium' und pünktlich um fünf nach eins kam Marianne heraus. Die Sonne blendete sie kurz. Sie schirmte die Augen etwas ab und starrte aufs Display ihres Handys.

"Hallo, kleines Butterblümchen...Lust auf einen kleinen Imbiss mit einem einsamen Mann?" Verlockend schaukelte er mit dem Picknickkorb. Lachend drehte sie sich zu ihm um, zwinkerte kurz gegen das gleißende Sonnenlicht und fiel ihm um den Hals, "Ich habe gerade nachschauen wollen ob du zurückgeschrieben hast...was für eine Überraschung", sie lachte und stopfte das Mobilteil achtlos in ihre kleine Handtasche zurück, die mit den niedlichen Nieten an der Seite, "Ich hätte doch was vom Chinesen mitbringen können!" Sie linste schnell unter den karierten Stoff des Korbes, "Aber das hier sieht eindeutig verlockender aus. Gehen wir zu meinem Park?" Sie zeigte über die breite, vielbefahrene Straße. Gegenüber lag eine kleine Grünanlage, die man mit viel Phantasie Park nennen konnte.

Immerhin gab es dort ein paar Bänke zum hinsetzten, ein paar große Bäume die Schatten spendeten, eine halbwegs passable Wiese und einen kleinen Teich. Dort verbrachte sie oft nach der Arbeit mit dem ein oder anderen Angestellten die Mittagspause und hörte sich deren Probleme an. Er nickte, "Mit dir würde ich sogar auf einer Verkehrsinsel picknicken, wenn es sein müsste!" Sie hakte sich bei ihm unter und zog ihn übermütig mit sich.

Mühsam, hielt er mit ihr Schritt. Leicht außer Atem blieben sie an der Ampelkreuzung steh, die sie noch von dem kleinen städtischen Park trennte.

"Man könnte meinen, du hättest Kohldampf!" Wie zur Bestätigung knurrte Mariannes Magen, "Und ob...ich hatte nur einen läppischen Kaffee heute Morgen. Nur einen.…" Als die Ampel grün zeigte, spurteten sie rüber, quer über den Gehweg, lachend ein paar Passanten ausweichend und stürmten über den Kiesweg, der sich durch die Anlage zog, auf die kleine Wiese. Zwischen zwei hohen Tannen ließen sie sich nieder, den Teich ein Stück vor sich im Blickfeld. Andreas breitete die gefaltete Decke auseinander, die er zuhause beinahe vergessen hätte und mit einem tiefen Seufzen ließen sich beide darauf sinken. Kichernd schoben sie sich die Schals enger um den Hals. Es war zwar temperaturmäßig schon etwas milder als noch vor ein paar Tagen, aber die Luft besaß noch einen winzigen Stich der bissigen Winterkälte. Obwohl es Sonntagmittag war und herrliches Wetter die Menschen nach draußen zu locken versuchte, war hier nicht sehr viel los. Das war ihnen nur recht. Lachend fütterten sie sich gegenseitig mit den verschiedensten Leckereien und turtelten wie frischverliebte Teenager. Ein alter, weißhaariger, gebeugter Mann, mit einer kleinen Plastiktüte in der Hand, kam ihnen auf dem Kiesweg von der anderen Seite her, entgegen. Sein trauriger Blick streifte sie kurz, dann wendete er sich dem Ententeich zu. "Oh, oh, ich glaube, das ist für den alten Herrn etwas zu heftig!" Lachend richtete sich Andreas auf und knöpfte sein Hemd wieder zu. Marianne steckte sich noch eine der köstlichen, süßen Trauben in den Mund und schaute rüber zu dem Alten.

Der hatte sich mittlerweile am Teichufer niedergelassen und warf kleine Brotbrocken, die er aus seiner mitgebrachten Tüte fischte, ins Wasser.

Obwohl “Enten füttern verboten” war, wie ein kleines verblasstes Schild drohte. In Windeseile schwammen ein halbes Dutzend Enten herbei und fielen zankend und laut schnatternd über das gespendete Futter her.

"Der ist fast jeden Tag hier!" Mariannes Blick wirkte etwas nachdenklich, "Er ist alleine!" Verdutzt über den melancholischen Tonfall seiner Frau stutzte Andreas, "Woher willst du das wissen?" „Babette, unsere Küchenhilfe, kennt ihn. Sie fährt oft im selben Bus mit ihm hierher und da ist sie irgendwann mal mit ihm ins Gespräch gekommen. "Seufzend lehnte sie sich zurück, steckte sich einen langen Grashalm in den Mundwinkel und erzählte mit leiser Stimme weiter, "Vor ungefähr dreißig Jahren ist seine Frau gestorben...", sie richtete sich wieder auf, schlang die Arme um ihre Knie, "...und seitdem ist er alleine!" Etwas unsicher lachte Andreas, "Er wird doch zwischendurch mal eine Freundin gehabt haben?" Marianne schüttelte den Kopf, "Nein...er hatte nie eine andere Frau...seit er Rentner ist, sitzt er fast jeden Tag hier und füttert diese dämlichen Enten." „Dann muss er sie aber wirklich sehr geliebt haben...ich meine nicht die Enten, sondern seine Frau!" Sein Blick wanderte von dem alten Mann rüber zu Marianne. Die funkelte ihn erbost an, "Ich finde das doof!" Fragender Blick seinerseits, " Warum findest du es doof, wenn man sich bis in den Tod treu ist?“

Trotzig erwiderte sie seinen Blick, "Ich finde es nicht doof, wenn man zusammenlebt und sich dann bis in den Tod treu ist...ich finde es doof, wenn man alleine alt wird und denkt man müsste alleine bis in den Tod treu bleiben", sie schnaubte erregt, "Denkst du, seine Frau hätte gewollte, dass er dreißig Jahre und noch länger, seines Lebens alleine verbringt? Nein!", hilflos wedelte sie mit den Armen, "Ich glaube nicht, dass sie so egoistisch gedacht haben wird!" Sie atmete einmal heftig aus und beruhigte sich wieder. Zärtlich nimmt sie seine warmen Hände in ihre, "Andreas, Schatz...,

wenn mir etwas passieren würde...ich weiß nicht...", sie zuckte mit der Schulter, "...morgen vielleicht...glaubst du, ICH würde von dir verlangen alleine zu bleiben oder würdest du wirklich die nächsten dreißig, vierzig oder sogar fünfzig Jahre alleine verbringen wollen?" Stumm starrte Andreas auf ihre ineinander geschlungenen Hände. Er schluckte, "Warum haben wir eigentlich kein Kind, Marianne!"

PENG!!! Baff, mit offenem Mund glotzte sie ihren Mann an. Er zog ihre Hand an seine Lippen und hauchte einen Kuss darauf.

"A.…Andreas", stotternd klappte ihr Mund auf und zu. Sein Grinsen fiel etwas schief aus, "ich weiß, das ist es ein blöder Zeitpunkt...und ich weiß, wir haben da nie so richtig drüber gesprochen...aber...!" Sein flehender Blick kreuzte den ihren, "Was hältst du davon?"

Sie zog ihre zitternden Finger aus seiner Hand und räumte langsam und bedächtig die Reste des Picknicks zusammen.

"Marianne? Schatz?" Seine Stimme schwankte ängstlich.

Sie wendete sich ihm zu, hob den Blick, in ihren Augen schimmerten ungeweinte Tränen und ein breites, unsicheres Grinsen erschien auf ihrem Gesicht, "Dann sollten wir machen, dass wir heimkommen und keine Zeit verlieren!" Überglücklich riss er sie in seine Arme, übersäte ihr Gesicht mit tausend kleinen Küssen. Lachend wehrte sie ihn ab und strich sich hastig und leicht verlegen, dass leicht zerzauste, blonde Haar wieder glatt. Ein ernster Schatten huschte so schnell über ihr Gesicht, das man ihn hätte übersehen können...Andreas übersah ihn...

Fröhlich half er ihr geschwind beim Zusammenpacken, "Dann wäre ich auch nicht alleine...", er schaute zu dem alten Greis rüber, sein Blick wurde weich "...so wie er!"