Die Gärten von Madras - Timeri N. Murari - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Gärten von Madras E-Book

Timeri N. Murari

0,0
4,99 €
1,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wind der Veränderung: Der Fall einer aristokratischen Familie im Indien der 50er Jahre Indien, 1950: Trotz des frühen Todes seiner Mutter wächst der junge Krishna glücklich mit seinen vier Geschwistern im Haus seiner wohlhabenden Großeltern in Madras auf. Doch als Nayana, Krishnas verwitweter Vater, eine Engländerin mit nach Hause bringt, droht die Idylle seiner glücklichen Kindheit zu zerbrechen – denn Victoria Greene will, dass Krishna und seine Geschwister nach westlichen Idealen aufwachsen. Während Nayana, der selbst in Oxford studierte, die neuen Erziehungsmaßnahmen seiner Frau befürwortet, beginnt sich der Lebensweg der fünf Geschwister auf tragische Weise zu entzweien … Zur gleichen Zeit sind die Folgen der vor kurzem erlangten Unabhängigkeit von den Briten im ganzen Land deutlich spürbar – auch für Krishnas Familie, deren Schicksal untrennbar mit den turbulenten historischen Entwicklungen verwoben ist … »Exotisch und berauschend!« The Independent Ein mitreißender Historienroman über das Schicksal einer Familie, eingebettet in das mit Veränderung pulsierende Indien jener Zeit – für Fans von Noah Gordon und des Weltbestsellers »Palast der Winde«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 741

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Indien, 1950: Trotz des frühen Todes seiner Mutter wächst der junge Krishna glücklich mit seinen vier Geschwistern im Haus seiner wohlhabenden Großeltern in Madras auf. Doch als Nayana, Krishnas verwitweter Vater, eine Engländerin mit nach Hause bringt, droht die Idylle seiner glücklichen Kindheit zu zerbrechen – denn Victoria Greene will, dass Krishna und seine Geschwister nach westlichen Idealen aufwachsen. Während Nayana, der selbst in Oxford studierte, die neuen Erziehungsmaßnahmen seiner Frau befürwortet, beginnt sich der Lebensweg der fünf Geschwister auf tragische Weise zu entzweien … Zur gleichen Zeit sind die Folgen der vor kurzem erlangten Unabhängigkeit von den Briten im ganzen Land deutlich spürbar – auch für Krishnas Familie, deren Schicksal untrennbar mit den turbulenten historischen Entwicklungen verwoben ist …

Über den Autor:

Timeri N. Murari, geboren in Madras, Indien, zog für ein Ingenieurstudium ins Ausland, doch seine Liebe zu Geschichten und Büchern führte ihn schließlich zu einer Karriere als Journalist und Schriftsteller. Er schrieb für renommierte Zeitschriften wie den Guardian und die New York Times und veröffentlichte 18 Bücher, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Heute lebt er mit seiner Frau in Indien.

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine große Indien-Saga, bestehend aus »Sahib – der Palast der Stürme« und »Ramayana - Das Mosaik des Schicksals« sowie die historischen Romane »Die Sterne über dem Taj Mahal« und »Die Gärten von Madras«.

***

eBook-Neuausgabe August 2024

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1996 unter dem Originaltitel »Steps from Paradise« bei Hodder & Stoughton, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Das Haus in Madras« bei Bastei Lübbe

Copyright © der englischen Originalausgabe 1996 by Timeri N. Murari

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1999 by Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter erwendung von Shutterstock/Richard Griffin, Katika und AdobeStock/vectorizer88

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)

ISBN 978-3-98952-174-2

***

dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/egmont-foundation. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

***

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Timeri N. Murari

Die Gärten von Madras

Roman

Aus dem Englischen von Eva Malsch

dotbooks.

Widmung

Ganz besonders für Maureen,zum Dank für ihre Hilfe und Ermutigung,in Liebe.

Motto

Die Vergangenheit ist nie vergangen.

William Faulkner

Arjuna: O Krishna, was zwingt einen zu sündigen, sogar gegen den eigenen Willen, als würde man gewaltsam dazu getrieben?

Krishna: Es ist Begierde, es ist Zorn, geboren aus Rajoguna, verzehrend und höchst sündhaft. Und wisse, hier ist jeder ein Feind.

Bhagavadgita

Buch I

1950

Kapitel 1: Die Fremde

Ich bin Krishna. Nein, nicht jener Krishna, der Wagenlenker, der ruhig und gelassen auf dem Schlachtfeld Kurukshetra stand und dem widerstrebenden Krieger Arjuna die Schriften der Bhagavadgita erläuterte. Ich bin ein anderer Krishna, ein ganz normaler achtjähriger Junge, der sich bemüht, möglichst bald neun zu werden. Seltsam, daß sich keiner von uns an das genaue Datum des Ereignisses erinnert. Wir vermerkten es nicht in den Kalendern unserer Gehirne, weil wir es nicht so wichtig fanden. Aber ich entsinne mich ...

Zur schönsten Tageszeit, als die Sonne unterging, kehrte unser Nayana mit einer europäischen Lady aus dem Büro zurück. Es wäre eine gewaltige Untertreibung, würde man behaupten, es hätte uns überrascht. Kein Zauberer hätte ein erstaunlicheres Wunder bewirken können. An diesem Morgen hatten wir Nayana zum Abschied nachgewinkt, wie an jedem anderen Tag. Und er hatte uns nicht vor der Fremden gewarnt, die er zu uns bringen würde.

»Wer ist sie?« flüsterten wir einander zu.

»Das weiß ich nicht«, antworteten wir einstimmig. Verschwitzt und schmutzig von unserem Spiel, hatten wir uns auf die niedrige Brunnenmauer gesetzt. Aber nun sprangen wir, einer nach dem anderen, ins Becken.

»Wer ist sie?« wisperte Anjali noch einmal. Niemand gab ihr eine Antwort. Da wandte sie sich zu mir und legte einen Arm um meine Schultern. »Hat Nayana dir erzählt, daß diese Frau hierherkommen würde?«

»Nein«, erwiderte ich. »Zumindest erinnere ich mich nicht daran.«

Hin und wieder erzählte man mir Dinge, die den anderen Kindern verschwiegen wurden. Aber weil ich ein Träumer war, vergaß ich, die Informationen weiterzuleiten. Alle fragten, was ich träumte, und ich gestand: »Nichts.« Meine flüchtigen Gedanken ließen sich nicht in Worte fassen. Doch jeder schien zu verstehen, daß es vor allem mich betreffen würde, was mit uns geschah.

An jenem Abend, der schon so lange zurückliegt, herrschte zwischen uns eine mathematische und emotionale Harmonie. Meine Schwestern Anjali und Kaveri waren die ältesten, Anjali zwei Jahre älter als Kaveri, und Kaveri zwei Jahre älter als mein Bruder Jagan, der zwei Jahre älter war als ich. Uns alle verband eine enge Freundschaft, und ich glaubte, daran würde sich bis zum Ende unseres Lebens nichts ändern. Im Schlaf und im Wachen verbrachten wir jeden Augenblick gemeinsam. Wir gingen zusammen zur Schule und kamen zusammen nach Hause, spielten miteinander, aßen und badeten und schliefen zusammen. Jeder atmete den Atem des anderen ein, dachte die Gedanken des anderen und träumte seine Träume.

Außer uns beobachteten noch drei Kusinen den Besuch der Europäerin, die Töchter einer Großtante, hübsche Mädchen, schlank und geschmeidig wie Bambusstangen. Sushila, Leela und Valli paßten im Alter zu Anjali, Kaveri und Jagan, fast auf den Monat genau. Nur ich hatte keine Kusine, die meine Altersgenossin gewesen wäre. Die Vettern, die im Haushalt lebten, waren ein paar Jahre älter und bevorzugten die Gesellschaft der Erwachsenen. Alle unsere Vettern und Kusinen und ihre Eltern wohnten bei uns, in der ummauerten Welt unseres Anwesens. Wir bildeten gewissermaßen einen lebenden, von Blutsbanden und Hochzeiten nahtlos ineinander verwobenen Wandteppich. Ein Fremder würde nicht erkennen, wo der eine Faden begann oder wo ein anderer endete.

»Was tun sie?« fragte Anjali und hob mich hoch.

»Sie reden und lächeln sich an ... «

Die Europäerin war etwa so groß wie Nayana, eine förmliche Distanz trennte die beiden. Im grauen Licht konnte ich kaum etwas sehen. Auf den Eingangsstufen stand Vishnu, Thathas Bhouy. Auch er schien Nayana und die Frau verblüfft zu beobachten. Erbost über unser Versteckspiel, rannten die Hunde kläffend über den Rasen zu Nayana, und er schaute zum Brunnen herüber.

»Jetzt kommen sie zu uns«, wisperte ich.

Immer noch in ihr Gespräch vertieft, schlenderten sie zum Brunnen. Die Frau blieb stehen und drehte sich um.

» ... und jetzt schaut sie zum Haus hinüber.«

Sie reckte den Kopf hoch, drehte ihn hin und her. Aber sie würde am Brunnen vorbeigehen und nach zwanzig Metern zurückblicken müssen, um die mittlere Kuppel hinter den hohen Türmen zu sehen.

» ... und jetzt erzählt er ihr irgendwas über das Haus«, berichtete ich, während Vater auf die marmornen Wasserspeier zeigte.

Ich wollte mich von Anjali losreißen und zu Nayana laufen. Aber solange sich die anderen vor der Fremden versteckten, mußte ich bei ihnen ausharren. Anjali stellte mich auf die Füße. Wie Eichhörnchen waren wir im Brunnenbecken gefangen, und wir konnten nicht unbemerkt ins Haus flüchten. Angespannt lauschten wir den Schritten, den klickenden Absätzen auf dem Marmorweg. Plötzliche Stille. Offenbar waren sie am Brunnenrand stehengeblieben. Anjali legte einen Finger an die Lippen.

»Krishna!« rief Nayana.

Das überraschte uns, denn nach unserem Kinderprotokoll war Anjali stets die erste, die fremden Besuchern vorgestellt wurde.

»Warum ich?« wisperte ich. »Du mußt mitkommen.« Inzwischen war es dunkel geworden, das Lied der Grillen erfüllte den Abend.

»Das kann ich nicht«, entgegnete Anjali. In ihrer Flüsterstimme schwang Ärger mit, weil sie bei der Begegnung mit dieser Fremden übergangen wurde. »Du mußt allein gehen.« Energisch schob sie mich zu den Stufen.

»Warum wird er zuerst gerufen?« fragte Kaveri verwundert.

Dafür mußte es einen Grund geben. Nayana hielt sich stets an ganz bestimmte Regeln. Aber im Augenblick konnte Kaveri das Rätsel nicht lösen. Erst viele Jahre später verstanden wir, warum Nayana zuerst nach mir gerufen hatte.

Aber während Kaveri beobachtete, wie ich zögernd zu den Brunnenstufen ging, beschloß sie mich zu beschützen und entschied, alle Kinder müßten mich begleiten. »Kommt!« forderte sie die anderen auf. Nur Leela und Valli erhoben sich. Ich blieb stehen und wartete.

»Rührt euch bloß nicht von der Stelle!« flüsterte Anjali ärgerlich. »Wenn Nayana uns sehen will, wird er uns rufen. Mischt euch da nicht ein!«

»Warum muß Krishna allein gehen? Siehst du nicht, wie unglücklich er ist?«

»Es ist doch nur Nayana. Kein Ungeheuer.« Anjali wandte sich zu Jagan, der reglos dasaß, fast gleichmütig. »Was sollen wir tun?«

Er war der einzige, der uns nicht ähnelte. Während wir ovale Gesichter besaßen, hatte er die kantigen Züge unseres Thathas mit dem vorspringenden Kinn geerbt. Er war ein gehorsamer Junge und beklagte sich nie. Im Gegensatz zu uns machte er keinen Ärger. Seine Haut war etwas dunkler als unsere. Darauf wiesen Verwandte, Freunde und Fremde immer wieder hin, und da wurde uns erst bewußt, daß er sich von uns unterschied. Er war Avas Liebling. Seit er die letzte Muttermilch getrunken hatte, verwöhnte sie ihn.

Obwohl er die Dringlichkeit des Problems spürte und sah, daß ich die oberste Stufe fast erreicht hatte, antwortete er nicht sofort. Ava glaubte, er würde gründlich über alles nachdenken und deshalb viel Zeit brauchen. Schließlich erklärte er: »Wir sollten Krishna begleiten.«

Anjali zögerte, sichtlich erbost, weil er nicht sie unterstützte, sondern Kaveri.

»Wollt ihr nicht wissen, wer die Dame ist?« fügte er verschmitzt hinzu.

Das gab den Ausschlag, und alle standen auf, um mir zu folgen. Eng aneinandergedrängt gingen sie zur Treppe, wie eine kleine Chital-Herde, die sich vorsichtig einem Wasserloch nähert.

Kapitel 2: Unser Nayana

Ich hätte auf sie gewartet. Aber Anjali schob mich weiter. Nun war sie neugierig geworden und wollte sehen, was geschehen würde. Ich stieg die restlichen Stufen hinauf. Nur schwach beleuchtet, zeichnete sich die Silhouette des Großen Hauses vor dem bewölkten Abendhimmel ab. Auf der Veranda und in einigen Räumen im Erdgeschoß flackerten Lichter wie sterbende Glühwürmchen. Der Rest lag im Dunkeln. In der Ferne war das kleinere Haus hell erleuchtet. Ringsherum bewegten sich die Schatten vieler Leute.

Obwohl ich zu schüchtern war, um die Europäerin anzuschauen, spürte ich, wie sie mich in der Finsternis beobachtete. Ich sah nur meinen eleganten Nayana. Er trug einen doppelreihigen Anzug aus cremefarbener Seide und hatte ein seidenes Taschentuch in der Brusttasche. Nun trat er vor, und sogar diese wenigen Schritte verrieten athletische Kraft und Stilgefühl.

Wie immer empfand ich in seiner Gegenwart wachsende Zuversicht und fühlte mich getröstet. Seine gestrafften Schultern, genauso geradlinig wie sein Schnurrbart, zeugten von seiner militärischen Ausbildung. Auch von uns verlangte er eine stramme Haltung, und wir bemühten uns, seinen Wunsch zu erfüllen.

»Komm, Krishna!« sagte er, breitete die Arme aus, und ich warf mich an seine Brust.

Ich liebte seinen schwachen salzigen Schweißgeruch, die rauhe Haut am Abend, verglichen mit den glatten Wangen am Morgen, den Duft des Alauns, das er benutzte, um die Blutung kleiner Schnittwunden vom Rasieren zu stillen. Wenn ich alt genug war, wollte ich mir auch so einen geraden Schnurrbart wachsen lassen, an den Enden leicht nach oben gebogen, wie winzige Büffelhörner. Nayana gab mir einen Kuß und ließ mich los. Jetzt sah er die anderen im nächtlichen Dunkel herankommen und runzelte sekundenlang die Stirn. Aber er ignorierte sie und drehte mich herum, so daß ich der Europäerin gegenüberstand. »Das ist Miss Victoria Greene. Miss Greene, das ist Krishna, mein jüngstes Kind.«

Lächelnd kniete Miss Victoria Greene nieder, und ich starrte ihr Haar an, das mich faszinierte. Schulterlang, von zwei Kämmen aus der Stirn gehalten, schimmerte es in einer ungewöhnlichen Farbe, hell wie Sonnenschein. Nur mühsam unterdrückte ich den Impuls, das Haar zu berühren. Vielleicht würde es sich so hart und heiß anfühlen wie Gold. Um ihre roten Lippen, die einen seltsamen Kontrast zu ihrem bleichen Gesicht bildeten, lag ein energischer Zug. Wie ein kleines Tier begann ich zu schnüffeln. Sie roch fremdartig, nicht nach Jasmin, Rosenöl oder Sandelholz, sondern süßer und stärker und ein bißchen nach Schweiß. Während sie mich aufmerksam musterte, wich ich ihrem Blick aus. Ich spürte, daß sie sich meine Zuneigung wünschte. Auch Nayana schien zu hoffen, wir würden uns gut verstehen.

»Oh, wie schön er ist«, sagte sie Nayana.

An solche Schmeicheleien war ich gewöhnt. Fast täglich bewunderten meine Kusinen und Großtanten meine Schönheit, kniffen mich in die Wangen und küßten ihre Fingerspitzen. Am schlimmsten führten sich meine Schwestern auf. Sie behandelten mich wie eine Lieblingspuppe, flochten Bänder in mein Haar und zogen mir Mädchenkleider an. Damit brachten sie mich manchmal in helle Wut.

»Sag ›Hallo‹ zu Tantchen«, befahl Nayana sanft.

»Hallo«, murmelte ich. Da schüttelte sie meine Hand. Ihre Handfläche fühlte sich feucht an, und sie betupfte sie mit einem winzigen Taschentuch. Hastig wischte ich mir die Finger an meinem Hemd ab.

Stumm und unsicher tauchten die anderen aus der Finsternis auf und wandten sich hilfesuchend Nayana zu. Er nannte ihre Namen, und die Frau lächelte alle an. »Wie geht es euch?« Aber sie antworteten nicht.

Statt dessen stieß Anjali ihre Schwester und ihre Kusine Sushila an und wisperte: »Habt ihr ihre Beine gesehen?«

Miss Victoria Greenes Beine waren unterhalb des Knies nackt. Schneeweiß leuchteten sie im abendlichen Dunkel. Die Füße steckten in Sandalen mit hohen Absätzen.

»Schämt sie sich nicht?« flüsterten Kaveri und Sushila. Soviel Bein zeigten nur Schulmädchen in ihren Uniformen. Die beiden hatten Telugu gesprochen.

»Verstehen sie nicht Englisch?« fragte Miss Victoria Greene unseren Vater.

»Doch, natürlich«, erwiderte er und gab den Mädchen das Gefühl, sie hätten ihn mit ihrem Gewisper enttäuscht. »Sagt ›Guten Abend‹ zu Tantchen.«

Aber da Anjali beharrlich schwieg, folgten die anderen ihrem Beispiel. Unsere Kusinen wurden von der Vorstellung ausgeschlossen. Nachdem sie ein oder zwei Minuten lang unbehaglich dagestanden hatten, verschwanden sie im Dunkel und eilten zum Haus. Bei jedem Schritt klirrten ihre Fußreifen.

»Mal sehen, ob ich mir die Namen gemerkt habe.« Miss Victoria Greene spähte in unsere Gesichter. »Kris-hna ist der jüngste, das Baby. Dann haben wir Jag-en, An-jelly – und Cauvery.« Offenbar sprach sie die Namen mit Absicht falsch aus. »Was für schöne Kinder! Die armen Kleinen ... Sicher fällt es Ihnen sehr schwer, sie ganz allein großzuziehen.«

Eine sanfte Brise, die Regenfälle ankündigte, wehte eine Haarsträhne über ihr Gesicht, und sie strich sie nach hinten. Dann schaute sie zum Himmel hinauf. Auch wir blickten nach oben, wie eifrige Beobachtungsposten auf einem Segelschiff. Seit einem Jahr warteten wir auf den Monsun, die Erde war ausgetrocknet, das Gras verdorrt. Allmählich hatte sich der metallisch blaue Himmel zu rauchigem Perlgrau und schließlich zu tiefem Schwarz verfärbt. Donner grollte, Blitze erhellten unsere Gesichter.

»Endlich!« seufzte sie und musterte die geballten Wolken. »Hoffentlich wird es tüchtig regnen. Das haben wir weiß Gott nötig.«

Damit verriet sie uns, daß sie über das Land Bescheid wußte. Andere Europäerinnen hätten die finsteren Wolken voller Unbehagen betrachtet. Und wenn der Himmel in grellem Weiß leuchtete, träumten sie von den kühlen Bergen Simlas oder Ootys. Aber Miss Victoria Greene kannte den Monsun und seine Bedeutung.

»Das Auto wird Sie nach Hause bringen«, erklärte Nayana und ergriff ihren Arm – eine intime Geste, die meine Schwestern sofort bemerkten. Vielleicht spürte er, wie sie sich versteiften, denn er ließ die Hand rasch sinken und schwenkte seinen weißen Panamahut, um Miss Greene zu bedeuten, sie möge ihm folgen.

»Auf Wiedersehen«, sagte sie. »Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.«

»Jetzt müßt ihr essen und ins Bett gehen«, entschied Nayana.

Die beiden wandten sich ab und schlenderten zur Veranda, auf der die Lichter im immer dichteren Dunkel heller strahlten. Vor der Hintertür wartete Balram, der Chauffeur, neben dem Pontiac. Vishnu stand immer noch auf den Stufen.

»Moment mal!« wisperte Anjali, während wir zum Kleinen Haus gingen, und wir blieben stehen. »Ich will wissen, warum er sie hergebracht hat.« Als unsere Anführerin war sie immer kühn und direkt. Und sie ärgerte die Erwachsenen, weil sie ihnen stets auf die Schliche kam.

Auf leisen nackten Sohlen folgten wir Nayana und Miss Greene, während ihre Schuhabsätze auf dem Marmorweg klickten. In ihrer rechten Armbeuge hing eine schwarze Handtasche, ihre Hüften schwangen hin und her, und das Kleid klebte an ihrem Körper. Nayana sprach mit ihr. Hin und wieder gab sie eine Antwort.

Schließlich blieben sie neben dem Auto stehen, und Balram öffnete schwungvoll den hinteren Wagenschlag. Förmlich schüttelten sich Nayana und Miss Greene die Hände. Dann half er ihr in den Wagen, wobei er ihren Ellbogen kaum berührte. Vom Fenster umrahmt, schaute ihr Gesicht zu ihm auf. Dann rollte der Wagen schnell die lange Zufahrt hinab. Als Nayana die breiten Stufen des Großen Hauses hinaufstieg, traten wir ins Licht.

»Wer ist sie?« fragte Anjali.

Er drehte sich um, musterte uns nachdenklich, und wir sahen unsere Spiegelbilder in seinen Augen – Chokras und Chokris, schmutzig, verschwitzt, barfuß, die Haare zerzaust. Aber er wirkte so elegant und adrett wie eh und je, eine Gestalt aus einer anderen Welt. Wir krümmten unsere Zehen im Staub.

Schließlich erklärte er: »Ich habe gründlich über euch alle nachgedacht. Und sie ist ein Tantchen, das ihr kennenlernen solltet.« Anmutig zog er mit einem Finger seinen rechten Ärmel hoch, um auf seine Armbanduhr zu schauen. »Kommt in zehn Minuten in mein Zimmer.«

»Was ist ihr Jati?« wollte Anjali wissen. Er zögerte kurz, als käme diese normale Frage völlig unerwartet und er wüßte keine Antwort. Wir sind Telugus, und von alters her waren Telugus Schmuckverkäufer. Einst hatten unsere Ahnen die Hände fremder Frauen festgehalten und hübsche Reifen über ihre Handgelenke gestreift. »Victoria Greene ist ein englischer Name«, erwiderte er und stieg leichtfüßig die Treppe hinauf.

Kapitel 3: Das Gespräch

»Warum hat er über uns nachgedacht?« fragte Kaveri.

»Und wieso mußten wir diese Tante kennenlernen?« Anjali seufzte. »Hoffentlich sehen wir sie nie wieder.«

Sie klopfte an die Tür, und Ramdass, Nayanas ehemaliger Offiziersbursche, ließ uns eintreten. Wie immer war der schweigsame hochgewachsene Mann barfuß und untadelig gekleidet, in einer zugeknöpften weißen Jacke und einer weißen Hose mit roter Schärpe. Er sprach fließend Englisch und kümmerte sich um alle Bedürfnisse seines Herrn. Zum Beispiel bereitete er Nayanas britisches Frühstück zu – Speck mit Eiern, Würstchen, Toast und eine Kanne Earl Grey-Tee. Zum Dinner kochte er Mulligatawnysuppe, Hammelkoteletts oder Brathuhn mit Kartoffeln und Vanille- oder Brotpudding. Nayana aß allein in seinem Speisezimmer, und seine Mahlzeiten wurden in seiner eigenen Küche zubereitet, weil Sethu, unser brahmanischer Koch, das unreine Fleisch nicht in seiner Domäne duldete.

Außerdem war Ramdass der Kammerdiener unseres Vaters, hielt dessen Garderobe in Ordnung, bügelte die Kleidung und polierte die Schuhe, bis sie spiegelblank glänzten. Er begleitete Nayana auf seinen Reisen durch die Provinz, zusammen mit einem Träger, zwei Schreibern und vier Peons. Immerhin war Nayana ein hochrangiger Regierungsbeamter, und man erwartete, daß er mit großem Gefolge verreiste.

Wir schlüpften an Ramdass vorbei in Nayanas Wohnzimmer, wo er in einem wuchtigen Ledersessel saß und seine Akten studierte. Inzwischen hatte er sein Jackett ausgezogen. Gummibänder umgaben seine Oberarme, um die Manschetten der Hemdsärmel in der richtigen Länge festzuhalten, und er trug immer noch seine Clubkrawatte. Auf einem Tischchen an seiner Seite stand ein Tablett mit einer Teekanne, einer gefüllten Tasse und einer Platte voll winziger Sandwiches. Auch das gehörte zu seinem Abendritual.

In Reih und Glied postiert, warteten wir. Er las noch eine Weile, wie ein Schuldirektor, der vorerst keine Zeit für seine Schüler findet.

Früher hatte auch meine Amah hier gewohnt. An ihren Dekorationen hatte sich nichts verändert. Die geblümten Vorhänge, die Sitzgruppe, die Antiquitäten, die Gemälde, die Porzellanvasen, die täglich mit frischen Blumen gefüllt wurden. In der Luft hing immer noch der Duft ihres Parfums. Zumindest bildete ich mir das ein. Immer wieder schaute ich zur Schlafzimmertür und hoffte, sie würde plötzlich aus ihrem Versteck auftauchen.

Im Schlafzimmer standen zwei verschlossene Almirahs, voll von ihren Saris und Cholis,Padavas und Pantoffeln und Kosmetika gefüllt. Und mit all ihren Juwelen. Wenn die Mädchen heirateten, würden sie diese kostbaren Erinnerungsstücke erben. Aber wir Jungen würden leer ausgehen.

Endlich legte Nayana die Akten beiseite, schaute uns an und lächelte sichtlich erfreut. Anjali hatte dafür gesorgt, daß wir präsentabel aussahen – die Gesichter und Hände gewaschen, die Haare gekämmt.

»Warum ich euch mit Miss Greene bekannt machen wollte ... «

»Ich mag sie nicht«, fiel Anjali unserem Vater ins Wort.

»Laß mich ausreden, Anjali«, bat er geduldig und ignorierte ihren Schmollmund, »und zieh keine voreiligen Schlüsse. Miss Greene ist eine gebildete Dame, eine Schriftstellerin aus einer sehr guten britischen Familie. Ihre Artikel wurden im Blackwood’s Magazine, im Illustrated Weekly und im Statesman veröffentlicht. Natürlich vermißt ihr alle eure Amah ebenso schmerzlich wie ich. Deshalb habe ich gründlich nachgedacht. Mir fehlt die Zeit, euch bei den Hausaufgaben zu helfen und auf eure Kleidung zu achten ... «

»Das können wir selber«, entgegnete Anjali. »Und Ava sorgt gut für uns. Nicht wahr?« Sie wandte sich zu uns.

»Ja«, bestätigten wir einstimmig.

»Aber Ava ist sehr beschäftigt«, fuhr Nayana fort. »Im Morgengrauen steht sie auf, geht als letzte zu Bett, und sie muß diesen großen Haushalt führen und täglich Essen für hundert Leute zubereiten. Deshalb kann sie euch nicht bei den Hausaufgaben helfen. Außerdem ist sie ungebildet.«

»Sie kann lesen und schreiben, auch in Englisch«, protestierte Anjali erbost.

»Das meine ich nicht. Gewiß, sie hat sich selber einiges beigebracht. Und das bewundere ich. Aber in ihrer Jugend wurden die Frauen schon mit zwölf verheiratet, so wie sie mit Thatha, und sie konnte nicht allzu viele Erfahrungen sammeln. Auch Thatha ist sehr beschäftigt. Deshalb möchte ich Miss Greene einstellen. Sie soll euch bei den Schularbeiten und anderen Dingen helfen.«

»Bei welchen Dingen?« fragte Anjali.

»Nun, ihr müßt lernen, wie man sich in der Öffentlichkeit benimmt, wie man gutes Englisch spricht und mit Europäern verkehrt. Unser Volk wurde sehr lange unterdrückt, und wir müssen unsere Minderwertigkeitskomplexe überwinden. Dabei kann sie euch helfen.«

»Will sie uns lehren, wie wir noch besser werden als sie selbst?« fragte Anjali listig.

»Niemand muß besser oder schlechter sein.«

»Aber sie ist unsere Dienerin.«

»Sie wird eure Gouvernante sein. Keine Dienerin.«

»Wieviel wirst du ihr bezahlen?« fragte Kaveri. Sie interessierte sich sehr für Geld, und es fiel unserem Thatha oft schwer, ihr die Sovereigns zu entlocken, die sie ihm schuldete.

»Das ist eine Sache zwischen Miss Greene und mir.«

»Wieso brauchen wir sie, um unsere Hausaufgaben zu machen?« fragte Jagan. »Vielleicht solltest du einen Brahmanen als Privatlehrer engagieren. Diese Dame versteht nichts von unserem Lehrplan.«

»Sicher kann sie euch helfen.«

»Aber ich will keine europäische Memsahib werden«, verkündete Anjali. »Ich bin Inderin und stolz darauf. Wahrscheinlich willst du mich mit einem Europäer verheiraten.«

»Du wirst dir deinen Mann selbst aussuchen«, betonte Nayana sanft. »Bis dahin haben wir noch viel Zeit. Und du sollst auch keine europäische Memsahib werden. Euer Thatha und ich sehen die Zukunft mit verschiedenen Augen. Wir mögen unsere Unabhängigkeit von den Briten gewonnen haben, aber jetzt gibt es kein Zurück. Wir müssen dem Weg folgen, den sie uns gewiesen haben, und ich glaube, da ihr Kinder die englische Sprache beherrscht und die westlichen Sitten kennt, seid ihr anderen gegenüber im Vorteil. Später sollt ihr in Oxford oder Cambridge studieren. Darauf wird euch Miss Greene vorbereiten.«

Nach dieser – für Nayanas Verhältnisse – sehr langen Rede schwiegen wir eine Weile.

Dann sagte Anjali: »Ich will Medizin studieren. Und zwar hier. Dann heirate ich. Also brauche ich diese – diese Miss Greene nicht.«

»Warum stellst du keine Inderin ein?« wollte Jagan wissen.

»Weil es keine Inderinnen gibt, die als Gouvernante arbeiten könnten«, erwiderte Nayana. »Außerdem wüßte sie nicht, was sie euch beibringen sollte. Und von einer Anglo-Inderin würdet ihr die falschen Dinge lernen.«

»Wann fängt sie an?« fragte ich, voller Angst vor ausgedehnten Schulstunden.

»Bald.« Nayana erhob sich, und wir waren entlassen. Offensichtlich stand sein Entschluß fest. Die Gouvernante würde uns ganz in seinem Sinn erziehen. Vermutlich mußte ich einen Anzug und eine Krawatte tragen, ein Topi und vielleicht sogar ein Monokel.

»Und Sushila, Leela und Valli?« fragte ich. Unsere Kusinen waren unsere besten Freundinnen. Wenn sie uns halfen, die neue Gouvernante zu ertragen, würden wir es sicher schaffen.

»Für ihren Unterricht ist Miss Greene nicht zuständig. Die Mutter eurer Kusinen ist noch am Leben und sorgt für sie.«

»Aber wir dürfen auch weiterhin mit ihnen spielen?« fragte Jagan.

»Natürlich.«

Ich musterte Anjalis ärgerliches Gesicht. Die Lippen zusammengepreßt, schien sie nur mühsam einen Wutanfall zu unterdrücken. Kaveri runzelte erwartungsvoll die Stirn. Freute sie sich etwa auf die neue Gouvernante? Und Jagan schaute genauso verwirrt drein, wie ich mich fühlte. Der Gedanke, daß sich unser Leben verändern würde, mißfiel mir, und ich wollte nicht auf die Gesellschaft meinen Kusinen verzichten.

Abrupt stürmte Anjali aus dem Zimmer, und Nayana seufzte tief auf.

»Du liebst uns doch, Nayana?« Diese Frage stellte Kaveri unserem Vater immer wieder, vor allem, wenn irgend etwas Wichtiges geschehen würde, und deshalb war er nicht überrascht.

»Selbstverständlich«, versicherte er. »Ich liebe euch alle.«

»Auch Anjali?« fragte sie skeptisch.

»O ja. Manchmal ist sie schwierig und eigensinnig. Aber ich liebe sie.«

Seine Antwort schien Kaveri zu enttäuschen, denn sie wünschte, er würde uns uneingeschränkt lieben. Trotzdem tröstete uns die Erkenntnis, daß er seine Entscheidung nur aus Liebe zu uns getroffen hatte.

Kapitel 4: Die Frauen des Haushalts

»Was ist eine Gouvernante?« fragte ich meine Ava. Da sich ihr Kinn verkrampfte, erwartete ich, sie würde die Beherrschung verlieren.

Die Frauen und die Kinder hatten sich im Kleinen Haus versammelt, um über Miss Victoria Greene zu diskutieren. Wort für Wort hatten Anjali und Kaveri unser Gespräch mit Nayana wiederholt.

»Ist das so was Ähnliches wie ein Gouverneur oder ein Generalgouverneur oder ein Vizegouverneur?«

Die Titel hatte ich aus meinen Geschichtsbüchern. So nannte man die Männer, die Königreiche regierten, Madras, Bengalen, Punjab und die anderen indischen Provinzen, jede von ihnen fünfundzwanzigmal so groß wie ihr eigenes winziges Großbritannien. Sie trugen komische Kleider und fließende Roben und posierten auf ihren Gemälden und Fotos so steif wie Statuen. In den alten Geschichtsbüchern stand, sie hätten uns mit ihren Reformen und Moralgesetzen vor unserer unzivilisierten Lebensart gerettet.

Unser erster indischer Generalgouverneur war C. Rajagopalachari gewesen, und er trug unsere übliche Kleidung, weiß und schlicht. Auch in anderer Hinsicht war er uns vertraut, unser Nachbar, ein Freund der Familie. Manchmal saß er mit Thatha auf der Veranda, und sie diskutierten über Politik oder anderes, und wenn sie in der Stimmung waren, analysierten sie die Veden oder rezitierten Sanskrit-Verse, die sie sich zuwarfen, als wären es Pingpong-Bälle. Aber am 26. Januar 1950 war unser Land eine Republik geworden, und Präsident Rajendra Prasad hatte ihn abgelöst.

»Nur eine Dienerin«, zischte Ava.

»Nein«, widersprach Kaveri, »eine Gouvernante hilft den Kindern bei den Hausaufgaben und gibt ihnen Unterricht.« Wir alle starrten sie an, und sie fügte stolz hinzu: »Das habe ich in einem Wörterbuch gelesen.«

»Jedenfalls brauche ich keine Gouvernante, und das habe ich Nayana auch gesagt«, erklärte Anjali entschieden.

»Eine Dienerin«, behauptete Ava hartnäckig. »Was will sie euch denn beibringen? Bei mir lernt ihr alles, was ihr wissen müßt. Notfalls können wir einen Privatlehrer einstellen.«

Sie zeigte auf mich. »Sag doch mal das englische Alphabet auf!«

»A, b, c, d, e, f, g«, begann ich in monotonem Singsang.

»Seht ihr? Er braucht keine Gouvernante.« Dann fügte Ava auf englisch hinzu: »Unsinn. Verdammter Unsinn.«

Nachdem wir gebadet hatten, glänzte unsere Haut wie polierter Bernstein. Jagans Haar war glatt gekämmt, aber meins begann sich schon wieder zu kräuseln. Wir vier und unsere Ava Uma saßen mit gekreuzten Beinen auf der Schaukel, einem großen Teakholzbrett, das an schweren Ketten von den Deckenbalken herabhing. Hinter uns kauerte ein Diener, stieß die Schaukel behutsam an, und so schwangen wir in den Hof hinaus und wieder zurück.

Links und rechts von Ava hockten Anjali und Kaveri mit dem Rücken zu ihr. Abwechselnd flocht sie die Haare der beiden und schlang einen Stiel Malipublüten hinein. Die anderen Frauen waren damit beschäftigt, die zierlichen weißen Blumen um Bambusstengel herumzuwinden, um sie dann in ihr Haar zu stecken. In der Luft schwebten köstliche Düfte nach Seife, Blüten, Kokosnuß-Haaröl und Sandelholz.

Meine Ava war klein und rundlich und hatte eine Hakennase, in der zwei goldene Stecker glitzerten. Manchmal waren sie mit Rubinen oder Smaragden besetzt, aber sie zog die reine Schlichtheit von Diamanten vor. Wir verglichen sie mit einem freundlichen Vogel, einer Taube oder vielleicht einem Papagei, je nach den verwirrenden Farben ihrer Saris. Wenn wir uns schlecht benahmen, attackierte sie uns mit ihrem scharfen Schnabel. Trotz ihres Alters konnte sie genauso schnell laufen wie wir, wann immer sie uns einfangen mußte. Ihr Lachen klang heiser und musikalisch. Und es machte ihr großen Spaß, Witze zu erzählen.

Nach ihrem abendlichen Puja in unserem Tempel hielt sie hof, entweder auf der Veranda des Großen Hauses oder im Innenhof des Kleinen. Während sie die Blumen zu Girlanden flocht, lauschte sie den neuesten Klatschgeschichten, die ihr Nachbarn oder Besucher erzählten.

Rings um die Schaukel saßen unsere Kusinen und Großtanten am Boden, ein Regenbogen aus Seide und Juwelen. Jetzt grollte der Donner unentwegt, wie die Meeresbrandung, und die Frauen mußten einander anschreien, um sich Gehör zu verschaffen. Aber der Wind wehte die Stimmen zum schwarzen Himmel hinauf. Immer wieder zuckten Blitze und beleuchteten die Farbenpracht. Die elektrischen Lichter begannen zu flackern. Da die Dienerschaft wußte, daß sie bald erlöschen würden, hielten sie Kerosin- und Öllampen bereit.

»Wäre ich ihr doch begegnet!« klagte Ava. »Wie sieht sie aus?«

Anjali rümpfte die Nase, und Kaveris Mundwinkel zogen sich nach unten.

»Ganz gut«, antwortete Anjali. »Aber weil es dunkel war, konnten wir ihr Gesicht nicht richtig sehen.«

»Welche Farbe hat ihr Haar?« fragte Chandu, die etwas abseits vor einer Säule saß. Sie war Avas Schwägerin, mit ihrem Bruder Devarajulu verheiratet, eine hübsche gertenschlanke Frau. Wenn man ihren Körper betrachtete, konnte man kaum glauben, daß sie drei Söhne und die vollbusige, vitale Ava nur eine Tochter geboren hatte.

Auch Chandu funkelte vor Juwelen. Sie trug dicke goldene Arm- und Fußreifen. An ihrer Nase und den Ohren glitzerten Diamanten. Nach Avas Ansicht zeigte die Schwägerin den Reichtum ihres Ehemanns viel zu deutlich. Devarajulu war der Dubash für Dickenson & Co, der Tabakfirma. Mit Thathas Hilfe hatte er die angesehene Position eines offiziellen Dolmetschers und Vermittlers zwischen der Firma und den Einheimischen bekommen. Jedes britische Unternehmen brauchte einen Dubash. Auf einen solchen Mann hörten die Herrscher, und er konnte uns mit seiner Macht schaden oder nützen.

»Wahrscheinlich rosa«, meinte Kusine Indira, Avas Kusine zweiten Grades. »Einmal sah ich eine Europäerin mit rosa Haaren und einer roten Schleife.«

»Rosa Haare! Wie albern!« fauchte Ava, und ihr Zorn verblüffte uns alle. Neuerdings schien sie die arme Kusine Indira zu verabscheuen, und wir wußten nicht, was diese feindselige Haltung bewirkt hatte.

»Als wärst du dabeigewesen!« Auch Chandu besaß eine scharfe Zunge. »Aber ich schaute aus dem Fenster und sah ihr rotes Haar. Alle Europäerinnen haben rote Haare. Wie Möhren!« Die ganze Versammlung kicherte.

Von diesen beiden Attacken eingeschüchtert, senkte Kusine Indira errötend den Kopf. Ich mochte sie. Da sie nur wenige Jahre älter als Anjali war, hätte sie gern mit uns gespielt. Doch dazu fehlte ihr die Zeit. Sie stammte aus Eyruli, dem Dorf unserer Ahnen, das hundertfünfzig Meilen entfernt im Norden lag. Wie ihr Sari aus billiger Baumwolle und der fadendünne Thali verrieten, war sie eine arme Verwandte. Ihr Mann Kumar arbeitete als Schreiber im Büro eines einheimischen Anwalts. Ich hatte gehört, er sei vor der Hochzeit Witwer gewesen, und man hatte Kusine Indira gezwungen, ihn zu heiraten.

»Also, welche Farbe hat ihr Haar?« fragte Ava.

»In der Dunkelheit sah es weiß aus«, erwiderte Kaveri.

»Nein, eher gelb, wie Gold«, widersprach ich. »Sie ist so groß wie Nayana. Und sie roch fremdartig. Das gefiel mir nicht. Und ihre Hand war feucht.«

»Warum hast du ihre Hand berührt?« fragte Ava und runzelte die Stirn.

Hätte sie es früher gewußt, wäre ich in den Tempel geschleppt und gereinigt worden. Sie schaute zum bedrohlichen Himmel auf. Es war zu spät. Außerdem war Gopalan, unser Prohit, nach Hause gegangen, und der Tempel war geschlossen. Morgen früh würde sie das Versäumnis nachholen.

»Weil sie meine Hand schütteln wollte«, erklärte ich.

»Was für ein verdammter Unsinn!« schimpfte Ava auf englisch und mahnte: »Tu das nie wieder!«

»Und sie trug überhaupt keinen Schmuck«, bemerkte Anjali.

»Doch«, verbesserte Kaveri ihre Schwester. Das tat sie oft und gern. »Über der linken Brust trug sie eine Brosche, einen runden schwarzen Stein mit Diamanten.«

»Das ist kein Schmuck«, verteidigte sich Anjali. »Jedenfalls trug sie weder Gold noch Diamanten oder Smaragde, und dieses schwarze Ding sah ziemlich billig aus.«

»Europäerinnen tragen niemals richtigen Schmuck«, verkündete Ava, stopfte ein Paan in ihren Mund und neigte sich zu Kaveri, deren scharfen Augen sie vertraute. »Aber was am wichtigsten ist, tragen sie an den Händen. Hatte sie irgendwelche Ringe?«

Beide Mädchen versuchten sich an die Hände der Frau zu erinnern. Schließlich schüttelten sie die Köpfe. »Das wissen wir nicht. Warum?«

»Weil gewisse Ringe verraten, ob sie verheiratet sind, wie unsere Thalis und Zehenringe.«

»An welcher Hand?« fragte Anjali.

Ava zögerte. Da sie nicht unwissend erscheinen wollte, riet sie: »An der rechten.«

»Aber die Mutter meiner Freundin Patricia trägt ihren Ehering an der linken Hand«, wandte Kaveri ein.

»Diese Miss Greene ist eine halbe Anna?« fragte Ava.

»Nein, sie ist keine Anglo-Inderin«, entgegnete Anjali, »sondern eine Europäerin.«

Patricia und ihre Mutter waren blond und hatten blaue Augen, aber Anglo-Inderinnen, und Patricias Vater arbeitete bei der Eisenbahn.

»Warum an der linken Hand?« fragte Chandu. »Die ist unrein. An dieser Hand würde keine Frau ein so heiliges Schmuckstück tragen.«

Während die Frauen über die rechte oder die linke Hand stritten, wurden sie kurzfristig vom Thema abgelenkt. Ich überlegte, wie wenig wir über die Menschen wußten, die Indien zwei Jahrhunderte lang regiert hatten.

Schließlich beendete Ava die Diskussion. »Und wie alt ist sie?«

»Sehr alt«, antwortete ich.

»Nicht besonders alt«, widersprach Anjali. »Bei Europäerinnen läßt sich das schwer feststellen.«

»Ihre Beine waren nackt«, sagte Jagan unvermittelt.

Im schockierten Schweigen, das diesen Worten folgte, wünschten Anjali und Kaveri, sie hätten diese Bemerkung gemacht. Gierig hatten beide darauf gewartet, die skandalöse Tatsache bekanntzugeben, und nun war Jagan ihnen zuvorgekommen. Er besaß keinen Sinn für Dramatik und wählte immer den falschen Moment, um irgend etwas Wichtiges zu erzählen. Nun grinste er glücklich und war stolz, weil man Notiz von ihm nahm.

»Nackt?« wisperte Großtante Lakshmi, Avas jüngste Schwester. »Von den Hüften bis zu den Zehen? Wie konnte sie so herumlaufen?«

»Nein, nicht von den Hüften bis zu den Zehen ... «, erwiderte Anjali hastig.

»Nur unterhalb der Knie«, ergänzte Kaveri, während Anjali Luft holte, um weiterzusprechen.

»Und sie hat sehr häßliche Beine«, betonte Anjali.

»Schneeweiß, mit bemalten Zehen«, berichtete Kaveri triumphierend.

»Und das soll eine Gouvernante sein? Wie kann man meine Enkelkinder einer Frau anvertrauen, die einer so niedrigen Kaste entstammt?«

»Wenigstens wird sie meine Kinder nicht unterrichten«, bemerkte Großtante Lakshmi sanft. »Zum Glück hat er sie gar nicht mit ihnen bekannt gemacht.« Sie war größer als ihre Schwester, eine königliche Erscheinung, mit der gleichen Hakennase, aber sie strahlte eine heitere Gelassenheit aus, die Ava fehlte. Natürlich mußte Großtante Lakshmi keinen riesigen Haushalt führen. Das war Avas Domäne und ihre größte Sorge.

Gleichmütig akzeptierten Großtante Lakshmi und ihre Familie, was ihnen Tag für Tag serviert wurde. Srinivasin, Großtante Lakshmis Ehemann, war nicht reich. Jeden Morgen fuhr er mit der Tram zu seiner kleinen Druckerei in Georgetown. Das Geld für die Druckerpresse hatte er sich von Thatha geliehen und seine Schulden inzwischen fast abbezahlt.

Ava fühlte sich hin und her gerissen. Einerseits wollte sie Nayana verteidigen, andererseits mußte sie zugeben, daß es unhöflich gewesen war, die Mädchen auszuschließen. Sie beschloß zu schweigen. Bedrückt biß sie in ihre Lippen und grämte sich wegen der Engländerin.

»Was immer er tut, er hat seine Gründe«, fuhr Großtante Lakshmi fort.

»Warum hat diese Miss Greene von armen Kindern gesprochen, um die sich niemand kümmert, Anjali?« fragte Ava.

»Hat sie das wirklich gesagt?«

»Ja«, bestätigten Anjali und Kaveri wie aus einem Mund. Beide schienen zu glauben, sie hätten diese Worte gehört.

»So was ärgert mich maßlos. Nicht einmal nach all den Jahren wissen die Europäer, wie wir leben. In ihrer Welt bewohnen kleine Familien winzige Bungalows. Solche Fotos habe ich in Zeitschriften gesehen. Und wenn sie alt sind, sterben sie allein. Wie kann diese Frau behaupten, niemand würde sich um euch kümmern? Was ist mit mir? Und mit eurem Thatha? Mit all euren Großtanten und Vettern und Kusinen? Sorgen wir nicht alle für euch? Wenn ihr euch freut, teilen wir euer Glück. Und wann immer ihr traurig seid, leiden wir mit euch. Wenn ihr weint, trösten wir euch. So leben wir seit tausend Jahren, und so haben wir überlebt. Weil bei uns keiner allein lebt oder allein stirbt.«

Voller Bewunderung für Avas gerechten Zorn nickten die anderen. Sie ballte ihre kleinen Hände. So wütend hatten wir sie noch nie gesehen, und wir rückten näher zu ihr, um sie zu besänftigen.

»Was hat sie sonst noch gesagt?« fragte sie.

Daran versuchten wir uns vergeblich zu erinnern. Anjali berichtete, wie Miss Greene unsere Namen ausgesprochen hatte, und erntete schallendes Gelächter. Nicht einmal unsere Namen konnten sie nach zweihundert Jahren aussprechen, und die Namen unserer Städte hatten sie ihren steifen, stolzen Zungen angepaßt.

»Warum bringt er sie hierher?« rief Ava in scharfem Ton, und das Gelächter verstummte.

»Weil wir so werden sollen wie die Engländer«, erklärte Anjali, »Memsahibs und Sahibs, die in Oxford studieren.«

»Die Briten sind verschwunden, wir haben sie rausgeworfen und unsere Unabhängigkeit gefeiert ... « Abrupt verstummte Ava und senkte den Kopf. »Ram, Ram, hätte Rani doch niemals ... « Der Satz blieb unvollendet, die Worte schienen in ihrer Kehle steckenzubleiben. »Nie werde ich verstehen, warum mein einziges Kind, meine schöne Tochter in so jungen Jahren, so weit entfernt vom Heim unserer Ahnen ... « Wir alle schwiegen und respektierten ihren Schmerz. »Ausgerechnet in Lahore, in diesem verfluchten neuen Land! Ihre Asche versank im eisigen Wasser des Ravi, in einem Muslim-Fluß, der durch ein Muslim-Land strömt. Nun hat der Fluß seine Heiligkeit verloren, er gehört nicht mehr zur Mutter Indien, und ich kann keine Pilgerfahrt unternehmen, um an seinem Ufer ein Puja für mein Kind darzubringen.« Ihre Tränen wirkten so frisch, als wäre die Tragödie erst an diesem Morgen geschehen. »Und ein grausamer Gott hat mir nicht einmal erlaubt, meiner Tochter im Augenblick ihres Todes beizustehen!«

»Wenigstens waren Bharat, Kaveri und Krishna bei ihr«, versuchte Großtante Lakshmi sie zu trösten.

»Was nützt mir das?« fragte Ava erbost. »Ich war nicht da, um sie in die Arme zu nehmen. Und niemand wird mir jemals erzählen, was sich ereignet hat. Immer wieder fragte ich Bharat: ›Was sagte sie? Wie sah sie aus? Mußte sie leiden?‹ Die letzten kostbaren Minuten im Leben meiner Tochter fehlen mir. Was erzählt er denn schon? ›Zwei Tage lang lag sie im Koma und erwachte nicht mehr.‹« Sie schaute Kaveri an, dann mich. »Und diese beiden bleiben stumm.«

Damals war ich fast vier Jahre alt gewesen, ein kleines Kind mit kurzer Vergangenheit. Was immer ich beobachtet oder gehört hatte, verbarg sich in einem dunklen Abgrund. Meine Erinnerungen reichten nur vier Jahre zurück.

Hartnäckig schüttelte Kaveri den Kopf – bei jeder Frage, die Ava ihr stellte. Ob sie irgend etwas wußte, konnten wir unmöglich feststellen. Jedenfalls genoß sie es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, und indem sie ihr Geheimnis hütete – mochte es existieren oder nicht –, erregte sie immer wieder Avas Interesse.

Als unsere Amah Rani den Tod gefunden hatte, waren Anjali und Jagan zu Hause bei den Großeltern gewesen.

Kapitel 5: Unser Karta

Respektvoll verstummten wir, als Thatha die Schwelle überquerte. Der Wind hatte das silberne Haar über der goldgeränderten Brille in seine Stirn geweht. Ohne hinzuschauen, warf er einen hellroten Kricketball in die Luft und fing ihn auf. Unsere Augen folgten den hypnotischen Gesten seiner langen, geschickten Finger.

Hinter ihm stand Vishnu, ein Silbertablett mit einer runden gelben Gold Flake-Zigarettendose und einer Streichholzschachtel in den Händen.

»Was ist hier los?« fragte Thatha lachend. »Halten die Frauen Kriegsrat? Darf auch ein Mann daran teilnehmen?«

»Also weißt du, was wir besprechen«, bemerkte Ava, nicht sonderlich erfreut über seine Ankunft. Seit einiger Zeit begegnete sie ihm ärgerlich und ungeduldig. Vielleicht zerrte die lange Ehe an ihren Nerven.

Thatha ignorierte ihren scharfen Ton. »Ja, es geht um die Memsahib, die uns besucht hat.«

»Nicht uns«, erwiderte Chandu, »nur die Kinder.«

Als er zur Schaukel ging, machten ihm die Frauen Platz, die am Boden saßen. In seinen feinen Lederpantoffeln bahnte er sich behutsam einen Weg zwischen den Gestalten, von seinem Jiba und dem Dhoti aus zitronengelber Baumwolle umweht. Er schob mich beiseite, setzte sich und trat kräftig gegen den Boden, um der Schaukel neuen Schwung zu geben. An seiner Kleidung hing Zigarettengeruch. Auch der Duft seines Rosenwassers stieg mir in die Nase. »Wie heißt diese Memsahib?« fragte er Anjali.

»Miss Victoria Greene.«

»Victoria, die Siegerin. Der Name stammt aus dem Lateinischen, abgeleitet von vincere – siegen. Während seines Englischstudiums an der Universität von Madras hatte er Latein gelernt, aus reiner Neugier. Er glaubte, die alten Sprachen würden einem helfen, die neuen besser zu verstehen. »Wird sie uns erobern und übertrumpfen?«

»Jedenfalls ist sie sehr groß!« schrie Jagan.

»Und grün? Ihr Name bedeutet eine Farbe.«

»Nein, weiß«, kicherte Kaveri.

»Wirklich nicht grün? Sie müßte etwas dunkler sein als das da.« Lachend beugte er sich vor, um an Anjalis knöchellangem Padava und Chokia zu zupfen. Sie waren aus hellgrüner Seide, mit zierlichen goldenen Mangos bestickt. Auch Kaveri trug eine ähnliche Kleidung, aber in Gelb. »Was wissen wir sonst noch? Oder sollte ich sagen, was bilden wir uns ein?«

Mit patriarchalischer Autorität schaute er sich um. Hin und wieder blieb sein Blick besitzergreifend auf vertrauten Gesichtern haften. Jede Frau und jedes Kind hatte einen angestammten Platz am Boden und im Haushalt. Und Thatha war unser Karta. Von ihm hing unser Wohl und Wehe ab. Nun schenkte er uns ein gütiges Lächeln. Die Lichter spiegelten sich in seinen Brillengläsern und verwandelten seine Augen in Goldmünzen.

Um den Donner zu übertönen, äußerten wir mit erhobenen Stimmen unsere Meinung. Ernsthaft hörte er zu, wie ein Richter, der Zeugenaussagen lauscht. Dann warteten wir auf sein Urteil. Er wandte sich zu Vishnu, nahm eine Zigarette aus der Dose und ließ sich von seinem Diener Feuer geben. »Du hast auf der Veranda gestanden. Worüber sprachen sie? Das mußt du uns erzählen.«

Vishnu war ein kleiner rundlicher Mann mit vorzeitig ergrautem Haar, das er über der Stirn zu einer Tolle kämmte. Noch nie hatte er die Beherrschung oder die Geduld verloren, und er wirkte immer überaus freundlich. Er kleidete sich so ähnlich wie Thatha. Aber seine Sachen bestanden aus handgewebter Baumwolle. Am linken Handgelenk trug er ein kupfernes Armband. Obwohl er uns diente, war er entfernt mit uns verwandt, der Sohn des Schwagers der Schwester von Thathas Onkel, und er entstammte einem ärmeren Familienzweig. Schon als kleiner Junge war er in unseren Haushalt gekommen.

»Wie soll ich das wissen?« fragte er ärgerlich. »Sie unterhielten sich auf englisch, was ich bereits erwähnt habe, und das verstehe ich nicht.«

»Ah, mea culpa«, erwiderte Thatha. »Hätte ich dich doch in eine bessere Schule geschickt ... «

»Was ich weiß, genügt mir. Jetzt brauchen wir die Engländer nicht mehr zu verstehen, nachdem sie uns verlassen haben. Auch ihre Sprache werden wir im Meer versenken.«

»Was für ein guter Nationalist du bist! Ja, wir müssen uns von der schmutzigen Vergangenheit reinigen«, meinte Thatha, belustigt über Vishnus patriotischen Eifer. Der Mann war ihm treu ergeben, diente ihm als Auge und Ohr und berichtete ihm alles, was in seinem Großen Haus geschah.

»Was sollen wir tun?« seufzte Ava. »Immerhin sind wir für Ranis Kinder verantwortlich.«

Nun schwieg Thatha sehr lange. Besorgt musterten wir sein Gesicht und versuchten, seine Gedanken zu lesen. »Ja, das stimmt«, bestätigte er schließlich. »Aber sie sind eher seine Kinder als unsere. Ich werde mein Bestes tun, um ihn von seinem Entschluß abzubringen. Vishnu, sag Bharat, ich würde ihn bald besuchen.«

Geschäftig eilte Vishnu davon, und Thatha schob eine Hand in die Seitentasche seines Jiba. Als er sie wieder hervorzog, war die Faust fest geschlossen. »Was ist da drin?« fragte er mich.

»Eine Rupie«, antwortete ich und versuchte, seine Finger zu lockern.

»Rat noch einmal«, schlug er lachend vor. »Wenn du richtig rätst, gehört es dir.«

»Diamanten.«

»Nein.« Kichernd beobachteten die Kinder, wie ich seine Faust zu öffnen suchte, und die Erwachsenen lächelten.

»Gold.«

Jetzt öffnete er die Faust, und auf seiner Handfläche lag ein goldener Sovereign. Erfreut hielt ich ihn hoch, und die anderen jammerten, weil sie auch einen wollten. Da zog Thatha drei weitere Goldstücke aus seiner Tasche. Anjali, Kaveri und Jagan nahmen die Münzen mit dem Profil der englischen Königin Victoria auf der einen Seite und dem britischen Löwen auf der anderen entgegen. Bald würde Thatha das Geld zurückverlangen. In einer Woche oder in einem Monat. Dann würde er erklären, es sei nur eine Leihgabe gewesen, und die Münzen würden wieder in seiner Tasche verschwinden.

Früher, vor der Unabhängigkeit, war er Mitglied und Gesetzgeber des Nationalkongresses gewesen. Er hätte sogar ein Ministeramt in der Regierung während der britischen Herrschaft übernehmen können. Doch das hatte er abgelehnt mit der Begründung, er würde nichts erreichen, solange die Briten gegen alles Einspruch erheben könnten. Nachdem wir unsere Unabhängigkeit gewonnen hatten, strebte er wie Gandhi die Auflösung des Nationalkongresses an. Statt dessen rissen die Kongreßmitglieder die Macht an sich, und das enttäuschte ihn zutiefst. Deshalb hatte er sich aus der Politik zurückgezogen. Aber er spendete der Partei immer noch beträchtliche Summen.

Thatha blies einen Rauchring in die Luft, und ich schob einen Finger hindurch. Inzwischen hatte sich der Wind gelegt. In der drückenden Schwüle brach uns der Schweiß aus allen Poren. Die schwarzen Wolken verdichteten sich, der Donner grollte gedämpft. Doch die Blitze beleuchteten immer noch unsere Gesichter. Ich stieg von der Schaukel und setzte mich auf den Boden, den Sovereign in der Hand.

Schüchtern nahm Jagan den Kricketball aus Thathas Fingern und las die goldene Inschrift vor. »Jas Lillywhite, Froud & Co, London and Tonbridge.« Dann versuchte er den Ball so zu umfassen wie Thatha, aber seine Hand war zu klein. Trotzdem schien es ihn zu befriedigen und zu trösten, den Ball festzuhalten. Er übergab Ava den Sovereign. Geistesabwesend knotete sie ihn einem Zipfel ihres Saris fest.

Obwohl Thatha schon über sechzig war, hielt er sich täglich mit Yoga und Kricket fit. Einmal hatte Nayana mir zugeflüstert, Thatha sei ein so mächtiger Yogi, daß er sein Herz zum Stillstand bringen und wieder schlagen lassen könne. Natürlich hatte ich Thatha gefragt, ob das stimme. Statt zu antworten, hatte er nur gelächelt. Aber eine Woche später führte mich Vishnu in Thathas Zimmer.

Nur selten durften die Kinder sein Allerheiligstes betreten. Auf leisen Sohlen schlich ich hinein und umklammerte Vishnus Hand. Zuvor hatte er mich ermahnt, keinen Lärm zu machen. Der Raum war der größte im Haus, mit breiten Glastüren, die auf Thathas Privatbalkon führten. Neben einer dieser Türen stand ein langes Messingteleskop auf einem Dreifuß, himmelwärts gerichtet.

Begierig versuchten meine Augen, jede Einzelheit aufzunehmen, denn dieses Zimmer war ein Kinderparadies. Auf einer Werkbank reihten sich Tiegel und Flaschen mit farbigen Pulvern und Flüssigkeiten aneinander. Man hatte mir erklärt, Thatha könne Gold herstellen. Aber dafür fand ich keinen Beweis. Hohe Regale enthielten zahlreiche Bücher, und manche stapelten sich am Boden. Dazwischen lagen Zeitungen, Kricket- und Hockeyschläger. In einer Ecke stand ein großes Radio, und ich entdeckte noch andere Geräte, teilweise auseinandergenommen, aus verschiedenen Metallen, mit Drähten drumrum. Verschiedene Gerüche erfüllten den Raum – Zigarettenrauch, Bücherstaub, die beißenden Aromen seiner Experimente. Nicht einmal Ava kam oft hierher. Sie lebte im Kleinen Haus, er im Großen.

Die Augen geschlossen, mit gekreuzten Beinen, saß er auf seinem Bett, einer Binsenmatte zwischen Bücher- und Zeitungsstapeln. Vishnu legte einen Finger an die Lippen. Auf Zehenspitzen gingen wir zu Thatha.

Behutsam legte Vishnu meine Hand auf Thathas Brust. Ich spürte keinen Herzschlag, und seine Haut fühlte sich trocken und kalt an. Aber dann erwärmte sich seine Brust, und er öffnete die Augen. Er sah mich nicht, denn sein Blick richtete sich nach oben. Lautlos führte Vishnu mich hinaus und schloß die Tür hinter uns.

Am späteren Abend sah ich Thatha wieder, und er fragte, ob ich seine Brust oberhalb des Herzens berührt habe. Das bestätigte ich, und er erklärte mir, er könne sein Herz für fünf Minuten zum Stillstand bringen, aber nicht länger, sonst würde er sterben. Natürlich erzählte ich den anderen, was ich erlebt hatte, und sie wollten ebenfalls spüren, wie Thathas Herz zu schlagen aufhörte. »Mal sehen«, sagte er, und bald dachten sie nicht mehr daran.

Zweimal pro Woche ließ er sich mit einem Öl massieren, das aus den Blättern des Niembaums gewonnen und nach einem speziellen ayurvedischen Verfahren hergestellt wurde. Es verlieh seiner Haut den Glanz alten Goldes.

Nach dem langen, hastigen Fußmarsch zum Großen Haus und wieder zurück kam Vishnu schweißgebadet ins Zimmer, einen fest zusammengerollten schwarzen Schirm in der Hand. »Chinna Iyer sitzt in seinem Büro, und er sagt, du kannst ihn jetzt sehen oder nach dem Dinner auf der Veranda.«

»Gehen wir jetzt zu ihm.« Thatha stand auf und nahm Jagan und mich bei der Hand. Dann neigte er sich zu Ava, damit die anderen seine Worte nicht hörten, und der Donner half ihm. »Vielleicht hat Bharat Geschmack am weißen Fleisch gefunden. Jene Jahre in England haben die Gewohnheiten vieler junger Inder verändert. Angeblich schenken die Engländerinnen in ihrer Heimat ihre sexuelle Gunst den dunkelhäutigen Männern viel freizügiger als hier. Und einige junge Männer aus guten Familien sind mit den Töchtern ihrer Vermieterinnen oder Barmädchen nach Indien zurückgekehrt.«

»Aber er hat Rani geheiratet«, erwiderte Ava, »sobald er wieder hier war.«

»Das stimmt. Andererseits – fünf Jahre sind eine lange Zeit für einen Mann um die Vierzig, und er wird nicht immer enthaltsam leben. Wie du weißt, interessieren sich viele Mütter junger Töchter für ihn.«

»Um seine körperlichen Bedürfnisse kümmere ich mich nicht«, entgegnete sie in scharfem Ton. »Ich will nur die Kinder schützen – und das Andenken unserer Tochter.« Verbittert fügte sie hinzu: »Warum kann er nicht Witwer bleiben? Wozu braucht er eine Frau?«

»Warten wir ab, was er mir sagen wird.«

»Vergiß nicht, zurückzukommen und uns alles zu erzählen!« rief Chandu.

»Natürlich nicht.« Jagan und ich folgten ihm zur Tür.

Kapitel 6: Spiel mit dem Monsun

Vishnu begleitete uns und beleuchtete mit einer Laterne unseren Weg durch das pechschwarze Dunkel. Zu unseren Füßen flackerte ein kleiner gelber Lichtkreis. Nur wenige Lampen brannten im Großen Haus, es war zwischen den Bäumen und Büschen kaum zu sehen.

Am Himmel kämpften die Pandavas gegen die Kauravas. Bhima schleuderte seinen gezackten Donnerbolzen durch das Wolkenheer, und Arjuna warf seinen dröhnenden Streitkolben zu ihm hinüber. Kreischend jagte Krishnas Wagen von einem Ende des Himmels zum anderen, zwischen klirrenden, funkensprühenden Schwertern und Schilden. Wie Ava mir erzählt hatte, wiederholte sich bei jedem Monsun die große Schlacht aus dem Mahabharata, und ich glaubte, Männer fechten und sterben, Rache üben und ihren Treueeid halten zu sehen.

Während wir über den Rasen schlenderten, hielt Jagan die Hand unseres Großvaters fest, und ich umklammerte Vishnus Finger. Jagan hatte den Ball mitgenommen und schwatzte mit Thatha über Kricket. Hoch oben tobte die Schlacht. Aber die Phantasiebilder, die ich damit verband, wurden vom Gedanken an eine Bemerkung Thathas verdrängt.

»Was hast du mit ›Fleisch‹ gemeint, Thatha?«

»Frauen sind Fleisch«, erwiderte er lachend und wußte, daß ich den Sinn seiner Worte nicht verstand. »Wenn du älter bist, wirst du herausfinden, was ich meine.«

Unter der Verandalampe blieben wir stehen, und Thatha zeigte meinem Bruder, wie man den Kricketball hochwerfen mußte.

Nach zwei Töchtern war Jagan der erste Sohn gewesen, und das Große Haus hatte seine Geburt bejubelt. Ava und Amah unternahmen mit den beiden Mädchen und dem Baby Jagan eine Pilgerfahrt nach Tirupati und baten die Priester, ein besonderes Dankgebet an den Gott Venketeswara zu richten. Drei Tage verbrachten sie in einem spartanischen Quartier nahe dem Tempel und versanken in ihrer Frömmigkeit. Jagan wurde unentwegt geherzt und geküßt, Thatha schenkte ihm eine Goldkette, und seine Schwestern vergötterten ihn.

Zwei Jahre später wurde ich geboren, und die Familie konzentrierte ihre Liebe auf mich. Aber ich hatte meinen älteren Bruder von Anfang an bewundert, war ihm auf Schritt und Tritt gefolgt, und seit wir gemeinsam zur Schule gingen, standen wir uns sehr nahe.

Plötzlich trat ein Diener aus der Finsternis und flüsterte Vishnu etwas zu.

»Das Auto, das sie weggebracht hat, ist noch nicht zurückgekehrt«, verkündete Vishnu.

Überrascht blickte Thatha auf. Dann zuckte er die Achseln. »Vielleicht wohnt sie in Bombay. Wer fährt den Wagen?«

»Balram«, erwiderte Vishnu.

»Wenn er zurückkommt, soll er sich bei mir melden. Falls er jemals wieder auftaucht.«

Wir betraten das Große Haus nicht durch die schwere Teakholztür. Tag und Nacht stand sie weit offen. Jeder Türflügel enthielt acht geschnitzte Tafeln. Darauf war die Legende des Gottes Ganesha dargestellt, der Sohn Shivas und Parvatis, der vier Hände und einen Elefantenkopf hat. In einem Alkoven über dem Eingang befand sich eine marmorne Ganesha-Statue, kindergroß, die auf einer winzigen Ratte ritt. Er war unser Chowkidar, der uns beschützen sollte. Jeden Tag beteten wir, er möge niemals schlafen.

»Der Monsun spielt mit unserem Leben – mal sehen, wie wir gewinnen können.« Nachdenklich schaute Thatha zum Himmel hinauf, als versuchte er abzuschätzen, wieviel Wasser die dicken Wolken bargen. »Wenn es ein guter Monsun ist, werden die Baumwollpreise fallen – und sämtliche anderen Preise, denn dann gibt es alles im Überfluß. Und wenn es ein schlechter Monsun ist, steigen die Preise.«

Thatha rebellierte gegen die Strenge, die das Wesen seines Vaters, eines perfekten Bürokraten, teilweise bestimmt hatte. Den anderen Teil, den Poeten, der das Große Haus erträumt hatte, einen Mann voll geheimer Leidenschaften, bewunderte der Sohn.

Mein Urgroßvater Perumal hatte das Große Haus zu bauen begonnen. 1882 war ihm das Land von Rippon, dem Gouverneur der Provinz Madras, zugeteilt worden. Perumal hatte das Dorf unserer Vorfahren 1870 verlassen, um der Regierung zu dienen. Damals war er neunzehn gewesen. Dank seiner exzellenten Englischkenntnisse und harter Arbeit wurde er der Privatsekretär des Gouverneurs. Als Anerkennung für seine Verdienste beim Verfassen der Verwaltungsgesetze der Stadt hatte ihm Lord Rippon das Grundstück im Dorf Kilpauk geschenkt, fünf Meilen vom Fort entfernt.

In der Eingangshalle des Großen Hauses hing Perumals lebensgroßes Ölporträt, das einen überdurchschnittlich großen, etwas zu dünnen Mann zeigte. Er trug eine lange, geschlossene schwarze Jacke zu seinem Dhoti, den er wie eine Hose geschlungen hatte. Über dem schmalen, strengen Gesicht mit den furchtlosen Augen leuchtete ein schneeweißer Turban. Aber hinter seinem tiefen Ernst verbarg sich der Geist eines Poeten, inspiriert von europäischen und indischen Geschichtsbüchern und Zeichnungen in britischen Zeitschriften, die ihn zum Entwurf seines Hauses anregten. In seinem Büro hatte er großen Wert auf Präzision gelegt. Doch bei der Gestaltung seines Heims ließ er seiner Phantasie freien Lauf. Leider sah er das fertige Gebäude nicht, denn er starb im selben Jahr wie Königin Victoria, und mein Thatha mußte es vollenden.

Beinahe hätte das Große Haus einen Namen erhalten. Aber vor über fünfzig Jahren war einem Bauarbeiter die Marmortafel aus den Händen gefallen, die an der linken Säule vor dem Haupteingang angebracht werden sollte. Sie zerbrach in drei Stücke, und die Astrologen prophezeiten, es würde Unglück bringen, eine neue Tafel herstellen zu lassen. Und so war die rechteckige Vertiefung in der Säule, die für die Namenstafel bestimmt, leer geblieben. Spinnweben, Staub, welke Blumen und Blätter sammelten sich darin.

In unserer Kindheit hatten wir geglaubt, die Erdachse und der Äquator würden sich durch das Zentrum des Hauses erstrecken. Zwei Generationen unserer Familie wurden in den oberen Schlafzimmern geboren, und wir fühlten uns diesen Mauern eng verbunden.

Wir wanderten durch den Garten zum Osteingang. Auf der Seite Hauses, an die der Tennisplatz grenzte, lag Nayanas Privatbüro. Die Lampen brannten, die Tür des Vorzimmers war geöffnet. Als wir ankamen, erhob sich ein Regierungspeon in weißer Uniform mit einer diagonalen roten Schärpe über dem Oberkörper von seinem Stuhl und verneigte sich mit zusammengelegten Händen zum Namaste.

Nayanas Sekretär Anantharaman stand hinter seinem Schreibtisch auf und grüßte ebenfalls mir einem Namaste. Auf der Stirn des stämmigen Mannes prangten die drei senkrechten Streifen von Vishnus drei Schritten. Neun Männer saßen ihm auf aneinandergereihten Stühlen gegenüber. Ständig warteten Bittsteller vor Nayanas Büro.

»Gleich wird der Herr erscheinen«, verkündete Anantharaman. »Er mußte einem Ruf der Natur folgen.«

»Warum sagen Sie nicht, daß er aufs Klo gegangen ist?« fragte Thatha. »Sie drücken sich immer so umständlich aus. Vielleicht sollte Vishnu Ihnen eine Tasse Kaffee bringen.«

»Sir, ich habe bereits mein Tiffin eingenommen.«

»Wie immer.« Thatha genoß es, den orthodoxen Brahmanen zu necken, der niemals auch nur ein Glas Wasser von der niedrigen Kaste dieses Haushalts annahm. In seinen Augen zählte der Reichtum nichts. Infolge seiner Herkunft war er uns überlegen. Thatha und Nayana hielten nichts vom Kastensystem, und wir Kinder übernahmen ihre Geisteshaltung. »Vermutlich würden Sie eher sterben, als hier etwas zu trinken oder zu essen.«

»Ja, wenn es so sein soll.«

»Indien wird sich ändern und das Unterste zuoberst kehren.«

»Dann werde ich mich bereits im Ruhestand befinden, Sir, und Indien kann machen, was es will.« Er war erst vierzig, schien aber anzunehmen, er würde die Veränderung während seiner Amtszeit nicht mehr miterleben.

»Warten wir, bis der Herr den Ruf der Natur beantwortet hat«, sagte Thatha, und wir folgten ihm in Nayanas Büro.

Kapitel 7: Die Kunst des Geldes

In der Mitte des großen Raumes stand ein Empire-Schreibtisch, unter dem Ventilator, der an einem Deckenbalken aus dunklem Teakholz hing. Der weiße Marmorboden verstärkte den strahlend hellen Eindruck. Um die Nachtluft einzulassen, waren die hohen Fenster geöffnet. Dicke Lehmmauern hielten die Hitze fern. An einer Wand hing eine bunte Karte der Provinz Madras, an einer anderen eine zweite, die das ganze britische Indien zeigte. Die einzigen persönlichen Gegenstände meines Vaters waren das gerahmte Wappen des Balliol Colleges und sein Offizierspatent, von König George VI. unterzeichnet – ein »Königspatent«, kein einfaches »Vizekönigspatent«, wie er uns erklärt hatte. Darauf war er sehr stolz, ebenso auf die schöne verschnörkelte Inschrift, die auch seinen Namen enthielt: Eyruli Bharat Naidu.

Während Jagan und ich uns den Kricketball zuwarfen, saß Thatha in Nayanas rundem Sessel mit den krummen Beinen, dessen Sitzfläche sich wie eine Schallplatte drehen ließ. Auf der anderen Seite des Schreibtisches standen fünf Stühle mit geraden Rückenlehnen für Besucher.

Nayana war jetzt stellvertretender Landwirtschaftsminister im sehr jungen Staat. In zwei Jahren würde der Minister, Magister Sivaraman, ein Cambridge-Absolvent, in den Ruhestand treten und seinen Posten meinem Vater überlassen.