Ramayana - Das Mosaik des Schicksals - Timeri N. Murari - E-Book
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Ramayana - Das Mosaik des Schicksals E-Book

Timeri N. Murari

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Beschreibung

Zwei Liebende in den Fängen des Krieges: »Ramayana – Das Mosaik des Schicksals« von Timeri N. Murari jetzt als eBook bei dotbooks. Kimball O'Hara und seine Geliebte Parvati befinden sich auf der Flucht vor Parvatis brutalem Ehemann und seiner hinterhältigen Mutter – und auch ein hochrangiges Mitglied des britischen Militärs ist ihnen auf den Fersen … Doch gerade als sie vermeintliche Sicherheit gefunden haben, bricht der Erste Weltkrieg aus und das Liebespaar ist gezwungen, sich zu trennen. Ob das Schicksal sie wieder zusammen führen wird? Unterdessen ruft Gandhi Inder und Muslime zum gemeinsamen Widerstand gegen die britische Herrschaft um sich. Doch der friedliche Protest wird zum Massaker – und es wird deutlicher als je zuvor: Der Weg zur Freiheit - für Kim, für seine Geliebte Parvati und für Indien selbst – ist noch lang. »Murari fängt die historische Atmosphäre des großen, schillernden Subkontinents ein.« Sunday Express Die Geschichte von Kiplings Helden »Kim« geht weiter! Der farbenprächtige historische Roman »Ramayana – Das Mosaik des Schicksals« von Timeri N. Murari« Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 847

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Über dieses Buch:

Kimball O'Hara und seine Geliebte Parvati befinden sich auf der Flucht vor Parvatis brutalem Ehemann und seiner hinterhältigen Mutter – und auch ein hochrangiges Mitglied des britischen Militärs ist ihnen auf den Fersen … Doch gerade als sie vermeintliche Sicherheit gefunden haben, bricht der Erste Weltkrieg aus und das Liebespaar ist gezwungen, sich zu trennen. Ob das Schicksal sie wieder zusammen führen wird? Unterdessen ruft Gandhi Inder und Muslime zum gemeinsamen Widerstand gegen die britische Herrschaft um sich. Doch der friedliche Protest wird zum Massaker – und es wird deutlicher als je zuvor: Der Weg zur Freiheit – für Kim, für seine Geliebte Parvati und für Indien selbst – ist noch lang.

Über den Autor:

Timeri N. Murari, geboren in Madras, Indien, zog für ein Ingenieurstudium ins Ausland, doch seine Liebe zu Geschichten und Büchern führte ihn schließlich zu einer Karriere als Journalist und Schriftsteller. Er schrieb für renommierte Zeitschriften wie den Guardian und die New York Times und veröffentlichte 18 Bücher, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Heute lebt er mit seiner Frau in Indien.

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine große Indien-Saga, bestehend aus »Sahib – der Palast der Stürme« und »Ramayana – Das Mosaik des Schicksals« sowie die historischen Romane »Die Sterne über dem Taj Mahal« und »Die Gärten von Madras«.

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eBook-Neuausgabe August 2024

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1988 unter dem Originaltitel »The Last Victory« bei New English Library, Kent. Die deutsche Erstausgabe erschien 1995 unter dem Titel »Ramayana« bei Lübbe.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1988 by V.A.S.U. Ltd.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1995 by Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/saikop, Katika, Sensvector, ROYOKTA, Neture Peaceful, anjajuli

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)

ISBN 978-3-98952-313-5

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Timeri N. Murari

Ramayana – Das Mosaik des Schicksals

Die große Indien-Saga

Aus dem Englischen von Ekkehart Reinke

dotbooks.

Widmung

Für meine Schwester PADMINT in Liebe

An seiner Quelle läßt sich der Bach

noch mit einem Zweig umleiten.

Ist er aber zum Fluß angeschwollen,

kann ihn nicht mal ein Elefant überqueren.

– Sa’di

Kapitel 1

Oktober 1910

Beim Frühstück fühlte der Oberst sich höchst einsam. Das einst so angenehme Ritual mißfiel ihm jetzt gründlich. Früher war es die einzige Mahlzeit gewesen, die er gemeinsam mit seinen Kindern eingenommen hatte.

›Wenn ich scharf lausche, kann ich sie noch hören‹, dachte er. ›Ihre Stimmen erklingen hier immer noch wie ein fernes Echo. Mal sind es die hohen, schrillen Stimmen kleiner Kinder, mal die tieferen Töne von Erwachsenen. Gott sei Dank leben sie nur in meiner Einbildung. Geister leben nicht. Denn wenn sie es täten und wir könnten sie hören, würde ich auch von den Bergen den Widerhall von Richards Todesschreien vernehmen ... ‹

Er verdrängte diese schmerzvollen Erinnerungen und nahm am Tisch Platz. Es standen nur zwei Stühle da. Die anderen hatte er wegschaffen lassen. Sie hätten nur wieder Kummer in ihm geweckt. Von seinem Platz aus sah er Veranda und Garten vor sich. Er sah einen Jacaranda-Baum, ein Beet Channas und eine Reihe von Töpfen mit Wunderpflanzen. Er konnte die Spatzen auf dem frisch gesprengten Rasen herumhüpfen sehen und hören, wie sich Krähen und Eichhörnchen beschimpften. Zu dieser Tageszeit liebte er Indien am meisten. Da war es noch voller Verheißung und unschuldig wie ein Kind. Gegen Mittag würde es sein wahres Wesen zeigen, uralt und unehrlich.

Abdul stellte die Teekanne auf den Tisch, verbeugte sich und begab sich wieder zu seinem Platz an der rückwärtigen Veranda. Seine weiße Uniform wies von der Morgenarbeit schon Flecken auf. Seitwärts auf einem Tablett lagen die Zeitschrift Englishman und ein lederfarbenes Telegramm. Auch sonntags war der Oberst wie immer korrekt gekleidet und trug einen frischgebügelten Leinenanzug, ein gestärktes weißes Hemd und die Regimentskrawatte. Als Europäer war er der Meinung, daß die Eingeborenen ihn nie anders als in tadelloser Aufmachung sehen durften. Sogar sein militärischer Schnurrbart wurde täglich gestutzt.

Der Oberst beachtete das Telegramm nicht, da er im Gegensatz zu anderen Männern ständig Telegramme erhielt und abschickte. Sie waren seine täglichen Kommunikationsmittel und bedeuteten keine besondere Dringlichkeit. Ungeöffnet ließ er es in die Tasche gleiten. Als seine Kusine Emma erschien, erhob er sich halb und wechselte ein höfliches »Guten Morgen« mit ihr. Abdul brachte eine Terrine Haferflocken. Emma saß dem Oberst kerzengerade und steif wie ein betender Mantis gegenüber. Sie war eine entfernte Kusine, eine ältliche Witwe, die dem Oberst schon seit vielen Jahren den Haushalt führte. Sie lebte ihr eigenes Leben, halb unsichtbar, immer in Reichweite, aber nie aufdringlich. Als Gesellschafterin konnte er sie kaum betrachten. Um das Schweigen nicht peinlich werden zu lassen, hatte er die Gewohnheit angenommen, bei Tisch die Zeitung zu überfliegen.

Ungeduldig schob er den halbgeleerten Teller weg, entschuldigte sich, tätschelte die Hunde und schlenderte auf die Veranda. Seine Gharri wartete, und der Syce hielt ihm die Tür auf. Die Gharri hielt nicht weit entfernt auf der Straße, und er hörte, wie sein Fahrer Sen jemanden losschickte. Der Oberst schob den Kopf aus dem Fenster und sah einen untersetzten Mann mit einem verärgerten, mürrischen Gesicht, der den Kopf des Pferdes hielt.

»Komm her!« befahl er und öffnete die Tür. Der Mann kam hinkend herüber, erklomm die Stufen und hockte sich auf den Fußboden. Sobald die Tür wieder geschlossen war, konnte man ihn von der Straße aus nicht mehr sehen.

»Was ist los?« fragte der Oberst.

»Kim ist uns entwischt«, sagte Madan, ohne den Oberst anzusehen. Dessen Blick machte ihn immer nervös. Die kühlen blauen Augen, die von dichten Augenbrauen und Tränensäcken eingerahmt waren, erinnerten Madan an ein Raubtier. »Und mein Bruder ist tot.«

»Das tut mir leid. Er war ein guter Mann.« Damit meinte der Oberst nur, daß er ihm treu ergeben gewesen war. Diese Eigenschaft stand für ihn an erster Stelle. Madans Bruder war ein grausamer Mann gewesen, gefährlicher als Madan selbst.

»Wer hat ihn getötet?«

»Kim. Ich hab es mit eigenen Augen gesehen. Er hätte mich auch getötet. Aber ich konnte noch flüchten.«

»Jemanden einfach zu töten, ist nicht Kims Art. Dafür kenne ich ihn zu gut, wie meinen eigenen Sohn. Wenn er getötet hat, muß er einen Grund gehabt haben.«

»Mein Bruder hat seinen Begleiter getötet, den dunkelhäutigen Dünnen.«

»Narain«, sagte der Oberst seufzend. »Narain stand Kim nahe. Ja, dafür würde er jemanden töten. Und die Frau?«

»Er hat sie aus dem Inselpalast befreit. Es war noch ein dritter Mann dabei. Zuerst hab ich ihn nicht gesehen, aber als ich die Treppe von der Festung runterlief, kam er aus dem Dunkeln. Er trug ein Schwert. Oberst-Sahib, Sie haben mich nicht vor ihm gewarnt.« Madan war gekränkt über diesen Mangel an Vertrauen. Der Mann hätte ihm beinahe das Schwert in den Leib gerammt.

»Von dem wußte ich nichts. Beschreibe ihn!«

»Er ist so groß und dünn wie ein Storch, hat eine Brille auf und ... «

Der Oberst bedeutete ihm zu schweigen. Isaac Newton! Newton war sein Geheimdienstchef in Bombay. Wie war er nach Ranthambor gekommen? Er konnte Kim und Narain nicht vom Gefängnis Tihar gefolgt sein. Oder hatte Narain seinem Onkel von Delhi aus telegrafiert, sich dort mit Ihnen zu treffen? Bestimmt nicht. Also hatte Newton von Bombay aus Madan und seinen Bruder verfolgt. Das stellte seine Treue in Frage. Für diesen Verrat verdiente Newton eine Strafe. Nicht sofort, aber dann, wenn es an der Zeit war.

»Hat er mit Kim gesprochen?« fragte der Oberst, in der Hoffnung, er habe es nicht getan.

»Ich weiß es nicht, Oberst-Sahib. Sie haben mich zu zweit angegriffen, und ich bin Ihnen nur um Haaresbreite entkommen.«

»Sie haben dich aber gesehen?«

»Ich glaube, ja.«

Der Oberst fühlte sich machtlos. Er wollte sich die offensichtliche Wahrheit nicht eingestehen. Wenn Newton und Kim sich getroffen hatten, dann wußte Kim jetzt, daß Madan sein, des Obersten Mann war. Madan hatte Kim vor Jahren in Bombay angeschossen. Zugegeben, es war ein unglücklicher Zufall gewesen, aber Kim hätte tot sein können.

»Hat Kim dich erkannt? Oder war es noch dunkel?«

»Es war ganz früh am Morgen, Oberst-Sahib. Man konnte nicht die Hand vor Augen sehen.«

»Was macht das für einen Unterschied?« sagte der Oberst laut zu sich selbst. Er war jetzt überzeugt, daß Newton ihn verraten hatte. Und Kim wußte nun, daß Madan sein Mann war. »Es ist ein Jammer, daß dein Bruder getötet wurde. Er war ein guter Mann und kein Dummkopf wie du. Kannst du Befehle entgegennehmen?«

»Befehlen Sie mir, Oberst-Sahib! Ich werde keinen Fehler mehr machen. Wünschen Sie, daß Kim getötet wird? Dann werde ich es tun.«

»Nein, nein, nein, du Dummkopf! Ich habe nie gewünscht, daß Kim getötet wird. Ich habe deinem Bruder befohlen, zu warten, Kim zu beobachten und ihm zu folgen. Statt dessen läßt er sich umbringen, und jetzt weiß Kim, daß du für mich arbeitest. Geh dorthin zurück, wo du ihn aus den Augen verloren hast! Er hat die Frau bei sich und kann nicht so schnell vorwärtskommen, als wenn er allein unterwegs wäre. Du mußt herausfinden, in welcher Richtung sie geflüchtet sind. Danach erstattest du mir Bericht. Er darf nicht einmal den Verdacht haben, daß du ihm folgst. Hast du verstanden?«

»Ja, Sahib. Aber er wird nicht mehr in Ranthambor sein.«

»Das weiß ich«, sagte der Oberst. Er mußte sich zusammennehmen, um seine Verärgerung nicht zu zeigen. »Es genügt, wenn du die Leute fragst. Sie werden dir alles sagen. Er hat die Frau bei sich. Viele werden sie gesehen haben. In diesem Land gibt es keine Geheimnisse, die nicht entdeckt werden. Er wird sich wahrscheinlich nach Norden gewandt haben. Dort kennt er das Land, und dort hat er viele Freunde. Viele!«

»Ich brauche Geld«, sagte Madan.

Der Oberst gab ihm eine Handvoll Rupien. Madan zählte sie sorgfältig. Dann schlüpfte er hinaus und verschwand in der Menge. Der Oberst hoffte, Madan werde nicht mehr tun, als er ihm befohlen hatte. Er war halsstarrig und rachsüchtig, während sein Bruder diszipliniert und gefährlich gewesen war, ein nützliches, aber nicht vollkommenes Werkzeug. Kim hatte ihn also getötet. Er hätte gern gewußt, wie Kim, der ein frommer Mann war, sich nach dieser Tat fühlen mochte.

›Was wird Kim jetzt denken? Er wird meine Pläne kennen und glauben, ich hätte mich gegen ihn gestellt. Er wird nicht verstehen, daß ich keinem Menschen, nicht einmal ihm, die Treue halten darf, sondern allein der Krone. Um unsere Ziele zu erreichen, muß ich mich der Menschen bedienen, selbst wenn ich gezwungen bin, sie zu hintergehen und ihren Tod herbeizuführen. Ich muß ihm diese Treue verständlich machen. Er muß begreifen, daß das Indien, das er liebt, nur vor dem Chaos bewahrt werden kann, wenn es weiterhin von England beherrscht wird. Sobald er das verstanden hat, kann ich ihn sicherlich zurückgewinnen. Dann wird er wieder mir und damit der Krone dienen.‹

Der Oberst hoffte inbrünstig, daß Kim ihm nicht verloren sei. Seine Kinder liebt man aus väterlichem Pflichtgefühl, aber wie steht es mit einem fremden Kind? Kim war sein drittes Kind und stand ihm näher als die beiden anderen, weil er es sich selbst ausgesucht hatte. Seine Zuneigung zu Kim war frei von Pflichtgefühl, sie kam aus dem Herzen. Sein Schmerz über Kims Treuebruch war stärker, als wenn er getötet worden wäre. Denn der Tod schließt immer Vergebung ein. Der Oberst hatte ihn ausgewählt und seine Erziehung überwacht. Kein Fürst konnte glücklicher gewesen sein.

Zugegeben, er hatte es zu seinem eigenen Vorteil getan. Der Oberst brauchte Kim. Er brauchte seine Fähigkeit, ein Inder zu sein und kein Engländer, der einen Inder spielte. Und er war des festen Glaubens, daß Kim auch ihn brauchte, um ihn daran zu erinnern, daß er ein Brite war, und ihn vor einem frühen Tode im Elend zu bewahren. Der Oberst hatte ihn zur Treue zu sich und der Krone erzogen. Sie hatten das Große Spiel an der Nordwestgrenze gut gespielt.

Doch dann hatte ein neues Spiel begonnen, und er hatte Kim gegen Indien ausgespielt. Er hatte geglaubt, er hätte Kim seiner natürlichen Mutter, der Mutter Indien, entwöhnt. Das war ein Fehler gewesen. Der Oberst hatte ihn aufgefordert, seine Wahl zu treffen, und ihn dann gegen seine eigenen Landsleute eingesetzt. Doch von einem Punkt war er überzeugt: Kim war sich seiner Identität noch immer nicht sicher. War er Inder? Oder Engländer? Kim schwankte zwischen beidem. Und er war viel zu wertvoll, als daß der Oberst ihn leichten Herzens aufgeben konnte. Er mußte ihn finden und ihn wieder umwerben, wie er es getan hatte, als er den gutaussehenden, frechen Jungen zum erstenmal erblickt hatte. Damals war Kim mit einem alten Lama durchs Land gewandert. Jetzt, da Indien sich zu verändern begann, brauchte er Kim mehr denn je.

Dem Oberst fiel das Telegramm ein. Er riß es auf in der Erwartung, eine Nachricht in Codeschrift vorzufinden. Statt dessen erlebte er eine freudige Überraschung. Im geschützten Inneren seiner Gharri lächelte er erfreut.

GLÜCKWUNSCH ZUR ERHEBUNG IN DEN RITTERSTAND STOP WURDE SOEBEN IN DER EHRENLISTE ANLÄSSLICH DES KÖNIGLICHEN GEBURTSTAGS BEKANNTGEGEBEN STOP SCHLAGE VOR ERSTES SCHIFF NACH ENGLAND ZUR ENTGEGENNAHME DES RITTERSCHLAGS ZU NEHMEN STOP BRAUCHE IHRE ANWESENHEIT AUCH FÜR WICHTIGE BESPRECHUNGEN STOP MORLEY.

John Morley war Kolonialminister für Indien. Vor drei Jahren hatte er Indien besucht, um mit Lord Minto Gesetzesreformen auszuarbeiten. Morley wollte mehr Inder in den Beratungsausschüssen des Gouverneurs haben, die bis dahin exklusiv Briten vorbehalten waren. Die Gouverneure der indischen Provinzen waren beinahe Vizekönige und regierten autoritär, denn sie hatten gegenüber den Beschlüssen der Ausschüsse das Vetorecht. Die Inder, die bei noch stark eingeschränktem Wahlrecht hineingewählt wurden, waren reiche Landbesitzer oder Universitätsabsolventen. Sie würden nur als Aushängeschilder dienen.

Lord Minto und den Mitgliedern im Rat des Vizekönigs und des indischen Verwaltungsdienstes war es zudem gelungen, auch dieses liberale Gesetz zu unterlaufen. Sie sorgten dafür, daß Inder nur in die Stadträte gewählt wurden. Immerhin mußte die indische Regierung zugestehen, daß Mr. Morley einen Inder in den Rat des Vizekönigs berief. Während Morleys Aufenthalt in Indien war der Oberst für Lord Minto eine große Hilfe bei dessen erfolgreichem Widerstand gegen die Reformen gewesen. Daher kam seine Erhebung in den Ritterstand nicht gänzlich unerwartet.

Beim Betreten des weitläufigen Irrgartens des Writer’s Building, dem Verwaltungszentrum der indischen Regierung, merkte der Oberst, daß bereits alle Bescheid wußten. Männer schüttelten ihm die Hand, klopften ihm auf den Rücken und schlugen vor, das Ereignis zu feiern. Die Inder verbeugten sich ehrerbietig. Beides nahm der Oberst mit gleichbleibender Höflichkeit und Bescheidenheit entgegen.

In seinem Büro verließ ihn die gehobene Stimmung. Er hatte niemanden, der seine Freude wirklich mit ihm teilte. Er fühlte sich leer. Wie beim Frühstück hatte er das Empfinden, unter Fremden zu leben, und wieder bedauerte er zutiefst, daß Richard tot war. Er stellte sich vor, wie Richards Gesicht vor Freude gestrahlt hätte. Er hätte laut gejubelt und getanzt, und sie hätten die ganze Nacht zusammengesessen und Champagner getrunken. Der Oberst lächelte kurz und wurde gleich wieder ernst. Richard würde es nicht mehr erfahren.

Der Oberst setzte ein Telegramm an Elizabeth auf, die sich an Bord ihres Schiffs befand:

WURDE MIT DER ERHEBUNG IN DEN RITTERSTAND GEEHRT STOP WERDE SOBALD WIE MÖGLICH NACH ENGLAND REISEN STOP ANKUNFTSDATUM UND NAME DES DAMPFERS WIRD TELEGRAFISCH MITGETEILT STOP IN LIEBE VATER.

Er war nicht sicher, was seine Tochter denken würde. Sie hatten sich mit bitteren Worten getrennt, denn sie war über seinen ungeheuerlichen Betrug sehr wütend gewesen.

Der Oberst verdrängte die Gedanken an seine Tochter. Er hatte einen Berg von Arbeit vor sich. Wenn er vom Kolonialminister nach London gerufen wurde, so hatte das einen Grund. Sie wollten einen Bericht von ihm haben. Nach seinen Empfehlungen als Chef des politischen Geheimdienstes würden der Kolonialminister und die britische Regierung eine langfristige Politik für Indien entwerfen.

Er forderte Akten an, und obwohl er die meisten kannte, las er noch einmal aufmerksam die Geheimberichte seiner Agenten, der Polizei, politischer Informanten und der Sekretäre aller Ministerien. Er arbeitete den ganzen Tag ununterbrochen und nahm sich nicht mal die Zeit zum Mittagessen. Ein Bote brachte ihm ein Sandwich und eine Kanne Tee. Als der Tag zur Neige ging, hatte er einen ganzen Block mit Notizen gefüllt. Müde, aber zufrieden, lehnte er sich zurück. Er glaubte, das Muster der zukünftigen politischen Entwicklung in Indien vor sich zu sehen. Und er hatte eine Formel gefunden, die London anwenden konnte, um diese Entwicklung zu gewährleisten.

Er stand auf und schaute aus dem Fenster. Die Dunkelheit draußen war wie Samt, bestickt mit Tausenden flackernder Lichter. Seine Büroangestellten und Boten warteten geduldig im Vorzimmer. Er hatte sie ganz vergessen. Nun entließ er sie für heute. Das Writer’s Building war bereits menschenleer. Seine Gharri wartete an der Vortreppe, und er stieg ein.

»Nach Haus, Sahib?« rief Sen vom Bock herunter.

»Nein. Dalhousie Lane.«

Die Gharri fuhr an einem dunklen Herrenhaus vor. Nur hinter einem Fenster brannte Licht. Der Oberst ging hin und klopfte an die Fensterläden. Sie öffneten sich, Lichtstreifen fielen auf ihn. Dann wurden die Läden wieder geschlossen. Er ging zur Hintertür und trat ein.

»Oberst-Sahib, ist es nicht sehr bequem, daß ich immer für Sie zu Haus bin?« Sushila lachte. Er beugte sich vor und berührte ihre Wange mit den Lippen. Ihre Haut war glatt und seidenweich, und er atmete den feinen Duft von Sandelholz und Jasmin ein. Ihr schwarzes Haar schillerte im Lampenlicht. Sie nahm seine Hand und führte ihn in ihr Zimmer. Auf dem Bett verstreut lagen Bücher. »Sie haben mich seit Wochen nicht besucht.«

»Hatte leider viel zu tun.« Er nahm das Glas mit Whisky und Wasser entgegen. Ihr Ehemann hatte nur den besten Scotch und war im Begriff, sich damit zu Tode zu saufen. Vom Tag ihrer von der Familie arrangierten Hochzeit an hatten sie getrennt gelebt, sie in Kalkutta, er auf seiner Teeplantage, die dreihundertzwanzig Kilometer von der Stadt entfernt lag. Er war noch ein junger Mann, würde aber wegen seiner Zügellosigkeit bald tot sein. Der Oberst hatte ihn einmal überprüfen lassen, nur als Vorsichtsmaßnahme.

»Ach, welch eine undankbare Aufgabe, ein Empire zu regieren! Werden wir Eingeborenen Ihre Leistung je zu würdigen wissen, Oberst Sahib?«

Er runzelte die Stirn. Ihr ovales Gesicht war von einer unschuldigen Schönheit, die ihn sofort angezogen hatte, als er ihr bei der Gartenparty in der Residenz des Vizegouverneurs zum erstenmal begegnet war. Noch immer konnte er sein Glück nicht fassen. Sie hatte in Gesellschaft anderer indischer Damen an der Abschiedsparty für Lord Curzon teilgenommen und ihn so sanft und freundlich angelächelt, daß er zuerst glaubte, er bildete sich das nur ein. »Sushila, manchmal bist du zu kühn. Ich weiß nie, in was für einer Stimmung du bist. Zuweilen bist du sanft und gefügig. Aber jetzt willst du mich provozieren.«

»Oberst, niemand könnte Sie provozieren. Ich habe nur die Leistung der Briten beim Regieren dieses Landes erwähnt. Wenn sie uns überlassen wäre, würde ein Chaos entstehen.«

»Allerdings«, stimmte er ihr zu und sah, wie sie lächelte. Wieder spürte er den Spott unter ihrer äußeren Sanftheit. Sie hatte gewollt, daß er ihr zustimmte. Er lachte. »Du bist also in deiner politisch-freiheitlichen Stimmung. Es wird nicht dazu kommen, meine liebe Sushila. Ihr braucht uns, und wir brauchen euch. Wir regieren euch nur, weil ihr es uns gestattet. Wenn das Volk sich erhöbe, wären wir viel zu wenige, um euch im Zaum zu halten. Aber ich bin nicht hergekommen, um über Politik zu sprechen.« Er hielt inne und sagte dann: »Ich wurde in den Ritterstand erhoben.«

Sie zeigte echte Freude, klatschte in die Hände, stürzte sich auf ihn, küßte seine Wange und verweilte dann lange auf seinen Lippen.

»Oberst Sir Creighton-Sahib. So wirst du doch dann angeredet?«

»Ja«, bestätigte er. Er wollte sie nicht berichtigen, das hätte ihre Freude nur getrübt. »Ich habe den ganzen Tag darauf gewartet, herzukommen und es dir sagen zu können. Ich wußte, daß du die einzige bist, die sich wirklich mit mir darüber freut. Du freust dich doch, nicht wahr?«

»Natürlich freue ich mich. Und ich habe auch ein besonderes Ritterschaftsgeschenk für dich.« Sie brachte ihm ein dünnes, in Seide eingewickeltes Päckchen, überreichte es ihm und hatte Mühe, ihre kindliche Erregung zu unterdrücken. Er löste den Knoten und fand ein Häufchen spröder Papiere darin. Vorsichtig nahm er eines der Blätter heraus. Es war mit persischer Schrift bedeckt, und das zweite Blatt bestand aus einem schönen Aquarell. Es zeigte einen prächtig gekleideten Mann, der, umringt von Höflingen, unter einem goldenen Thronhimmel saß. »Dies sind die Gedichte des Kaisers Jahangir. Eine Freundin hat sie mir beschafft. Nur wenige Exemplare haben die Jahrhunderte überlebt, und sie sind sehr wertvoll.«

»Jahangir.« Ehrfürchtig flüsterte der Oberst den Namen des Großmoguls und hielt behutsam die Gedichte in der Hand. Er stellte sich den Kaiser vor, wie er auf seinem Silberthron saß und sie niederschrieb. Dann hüllte er das Päckchen wieder ein und drängte es ihr auf. »Jahangir! Nein. Du darfst sie mir nicht schenken. Sie sind viel zu wertvoll.«

»Aber ich liebe dich, und ich möchte, daß du sie bekommst. Sie sind mein Geschenk dafür, daß du mir so oft in meiner Einsamkeit Gesellschaft geleistet hast. Bitte, Jack, es ist nur ein kleines Geschenk.«

Widerstrebend und doch voller Stolz nahm er das Päckchen an. Nach ihrem ersten Zusammentreffen hatte sie erfahren, daß es sein Hobby war, Gedichte auf urdu und auf persisch ins Englische zu übersetzen. Bei dieser liebevoll betriebenen Beschäftigung fühlte er sich Indien enger verbunden. Dann kam er sich wie ein Teil seiner unendlichen Geschichte vor.

»Ich werde sie wie meinen Augapfel hüten. Hast du sie übersetzt?«

»Dieses Vergnügen habe ich dir überlassen. Komm, laß uns keine Zeit vertrödeln! Es ist so lange her, daß du hier warst.«

Später lag der Oberst zufrieden neben Sushila. Bei jedem Atemzug roch er ihr Sandelholzparfüm. Er schwelgte in der Wärme ihres Körpers. Er dachte, was für ein Glück ihm zuteil geworden war, da er sie besaß. Sie vermittelte ihm das Gefühl, zu Indien zu gehören, ein Teil dieses Landes zu sein. Sein ganzes Leben hatte er in Indien verbracht. Und manchmal fühlte er sich schon wie ein Inder und der verwobenen Geschichte des Landes zugehörig. Zu anderen Zeiten fühlte er sich zu seiner Verblüffung wie ein völlig Fremder. Seine Gedanken gingen zu Elizabeth. Er hatte gehofft, daß bei der Rückkehr nach der Ausbildung in England ihre Liebe zu dem Land ihrer Kindheit neu entflammen würde. Doch nach Richards Tod und dieser katastrophalen Geschichte mit dem jungen Peter Bayley sah sie keinen anderen Ausweg, als nach England zu fliehen.

»Weißt du, mir fehlt Elizabeth«, sagte er und war über dieses Geständnis selbst überrascht. »Du als Frau mußt doch ahnen, was in den Herzen anderer Frauen vorgeht. Glaubst du, daß sie mir verzeihen wird?«

»Irgendwann vielleicht. Für einen so klugen Mann, wie du einer bist, war es sehr dumm von dir, ihr zu verschweigen, daß deine Frau noch lebt. Hat sie dich wirklich so sehr gehaßt?«

»Ja. Sie war eine schreckliche Frau. Sie betrog mich und die Kinder. Eine Ehe ist doch etwas Heiliges. Elizabeth konnte einfach nicht begreifen, daß ihre Mutter dieses Treuebündnis gebrochen hat.«

»Ja, immer sind wir Frauen die Schuldigen, nicht wahr?«

»Ergreifst du ... Partei für meine Frau?«

»Nein. Ich kenne ja ihre Version der Geschichte nicht, sondern nur deine. Aber die Männer beherrschen uns nach ihren Regeln, und wenn wir sie brechen, werden wir bestraft. Doch wenn es den Männern gefällt, dann ändern sie ihre Regeln beliebig wieder. Weißt du, wovor du wirklich Angst hat? Daß Elizabeth denken könnte, ihre Mutter sei im Recht und du im Unrecht.«

»Hoffentlich nicht«, sagte der Oberst mit Nachdruck. »Ich glaube, daß Elizabeth es schließlich einsehen wird. Was meinst du, wie lange es dauern wird?«

»Das kann ich dir nicht sagen, Jack. Sie scheint ein Mädchen mit starkem Willen zu sein. Du mußt versuchen, sie umzustimmen.«

»Ich habe ihr heute ein Telegramm geschickt und ihr mitgeteilt, daß ich bald in England sein werde, um den Ritterschlag zu empfangen.«

Sushila richtete sich auf und sah auf ihn hinab.

»Wie lange bleibst du weg? Du wirst mir fehlen.«

»Nicht lange. In England fühle ich mich immer unwohl. Werde ich dir wirklich fehlen?«

»Selbstverständlich. Wer sonst sollte mich dann lieben?«

Der Oberst wäre gern bis zum Morgengrauen geblieben, aber seine Zeit war jetzt begrenzt. Bevor er nach England abreiste, hatte er noch eine Menge Arbeit zu bewältigen. Um Mitternacht fiel Sushila in Schlaf. Er kleidete sich beim flackernden Lampenlicht an und verließ das Haus. Die Gharri wartete am Tor. Aber der Oberst ging an ihm vorbei und trat ins Dunkel. Im Näherkommen hatte er gesehen, wie sich ein Mann erhoben hatte.

»Was hast du gesehen?« fragte der Oberst den Polizisten.

»Ich selber habe nichts gesehen, Oberst-Sahib.«

»Paß weiter gut auf!« Der Oberst bestieg die Gharri, Jahangirs Gedichte fest in der Hand. Zufrieden lächelte er ins Dunkel, nicht über Sushilas schönes Geschenk, sondern weil kein anderer Mann sie inzwischen besucht hatte. Er wußte nicht, wie er reagieren würde, wenn er jemals entdecken sollte, daß sie außer ihm noch einen anderen Liebhaber hatte. Nachdem ihn einmal eine Frau betrogen hatte, fürchtete er ständig, es könnte wieder geschehen.

Kapitel 2

Oktober 1910

Körperlich hatte Kim keine Schmerzen. Er litt seelisch. Seine Umgebung nahm er kaum wahr, nicht einmal die Frau, die er an einen sicheren Ort trug. Sie lag still, atmete kaum und war so leicht wie ein Kind. Er liebte sie und befürchtete, daß ein böser Zauber ihr den Tod bringen würde. Aber selbst diese Furcht konnte ihn nicht dazu bringen, sich schneller zu bewegen.

Nur einen anderen Menschen hatte er in seinem Leben geliebt. Einen Mann, dem er gehorcht und den er geachtet hatte wie einen Vater. Er hatte von Kims Kindheit an sein Schicksal gelenkt und ihn zum Agenten des Empire gemacht. Doch jetzt hatte Kim erfahren, daß dieser Mann ihn absichtlich manipuliert und verraten hatte. Aus der begünstigten Stellung eines Sohnes war er abrupt zum winzigen Stein im Großen Spiel der Empire-Herrschaft herabgestuft worden. Kim stand noch immer unter Schock. Die Wunde saß tief. Er wehrte sich, an Verrat zu glauben, wußte aber, daß er tatsächlich verübt worden war. Die trübe Landschaft spiegelte seine Verzweiflung wider. Er zweifelte schon an seinem eigenen Wert. Aber wem wäre es nicht so ergangen, nachdem er auf solche bittere Weise verstoßen worden war?

›Ich war dem Oberst-Sahib treu. Ich war dem Empire treu. Und ich habe beiden treu gedient. Aber dann kam für mich die Zeit, zwischen ihnen und Indien zu wählen. Ich wählte Indien. Der Fehler liegt weder ganz auf seiten des Oberst-Sahib noch auf meiner Seite. Wir dienen beide demselben Land, aber mit unterschiedlichen Zielen. Ich habe mich geändert. Ich schulde dem Oberst und dem Empire nicht länger blinden Gehorsam. Dieser Abschnitt meines Lebens ist zu Ende. Ich habe einen Vater verloren, und ich habe eine Berufung verloren.‹

Aus großer Höhe wachte Jatayu, in weiten, die halbe Erde umspannenden Kreisen schwebend, über Kim. Brahma hatte Jatayu nach seinem Heldentod im Kampf gegen den Dämon Ravana Unsterblichkeit verliehen und ihm gestattet, seine Gestalt zu wechseln. Aus einem Geier war er ein edlerer Vogel geworden. Der Adler sah, wie Kim ab und zu nach oben schaute. Langsam führte er ihn nach Osten.

Eine Stunde hinter ihm bewegten sich zwei mit Gewehren bewaffnete Verfolger im Laufschritt vorwärts. Kim schaute sich um. Obwohl er sie nicht sehen konnte, wußte er, daß sie ihn und die Frau jagten. Dann sah er am Horizont den ersten Rauchfaden vom Scheiterhaufen aufsteigen, der für seinen toten Freund Narain errichtet worden war. Er zögerte. Doch ihm war klar, daß er weitergehen und das Ritual Isaac Newton überlassen mußte. Für Kim war es ehrenrührig zu fliehen, aber die Sicherheit der Frau in seinen Armen ging vor. Im Geist empfahl er Gott Narains Seele.

›Woran soll ich bei diesem elementaren Geheimnis unserer Existenz glauben, Narain? Als Engländer wurde ich belehrt, daß deine Seele wie Rauch zum Himmel steigen oder zur Hölle niederfahren wird. Trotz der von uns in diesem Leben begangenen Sünden kann ich nicht glauben, daß deine Seele zur Hölle verdammt ist. Aber der Inder in mir kann diese einfache Lösung des Rätsels nicht anerkennen. Ich glaube, daß die Menschen an das endlose Rad der Wiedergeburt gekettet sind, bis sie sich aus eigener Kraft befreien und moksha erlangen. Wenn so etwas wie die Seele existiert, und die Menschen haben es jahrhundertelang nachzuweisen versucht, dann wird man dir sicherlich gestatten, wieder zu einem höheren Wesen zu werden. Ich bete, daß du in hohem Range wiedergeboren werden wirst, noch höher als ein Brahmane. Ich weiß nicht, wer oder was diese Dinge so genau beurteilen kann, daß er das Recht hat, eine Seele in den Körper einer Wanze oder in den eines Menschen zu versetzen. Ich kann nur darum beten, Narain, daß du auf einer höheren Ebene wiedergeboren wirst.‹

Er sah auf Parvati hinab, flüsterte ihren Namen und schüttelte sie leicht. Aus bernsteinfarbenen Augen starrte sie blicklos in den Himmel. Die Erschöpfung hatte tiefe Ränder um ihre Augen gegraben, und die Haut war dort so schwarz geworden, als wäre sie mit Antimonpulver bestrichen. Die zarte Schönheit ihres Gesichts verwandelte sich langsam in eine Totenmaske. Ihr Körper war spröde und zerbrechlich, fast als könnte er jeden Augenblick zu Staub zerfallen. Zuweilen erwachte sie aus ihrer Trance und erkannte ihn. Aber die Dämonen, die in sie gefahren waren, forderten sie sogleich wieder zurück. Seine Liebe reichte nicht aus, die Dämonen zu besiegen und Parvati zu erlösen.

Um die Mittagszeit hielt er im Schatten eines marmornen Chaatri am Rand eines Dorfes an. Das Chaatri bestand aus sechs Säulen, die eine kleine Dachkuppel trugen und war das Denkmal irgendeines längstvergessenen Fürsten oder Generals. Rajputana war voll solcher Erinnerungen. Parvati schlief friedlich weiter. Flimmernde Hitze brannte auf die braunen Hügel herab. Die Senffelder flammten gelb, und in der Luft summten Insekten. Kim hätte zufrieden sein können, wenn die Frau, die neben ihm ruhte, nicht in so großer Gefahr schweben würde. Das Herz war ihm schwer, als er auf sie hinabblickte, und er fühlte sich hilflos.

Er wartete ab, bis die Hitze nachließ, und setzte dann die Reise fort. Das Land wurde rauh, brüchig und staubig. Ziegen und knochige Rinder knabberten am harten Gras, das so braun war, daß es aussah, als fräßen sie Erde. Rajput-Dorfbewohner kratzten und stachen in den Boden, um ihm ihren mageren Lebensunterhalt abzuringen. Die Männer trugen ausladende safrangelbe oder mennigerote Turbane und die Frauen blutrote Kleider.

Um Mitternacht machte er wieder halt. Das Land war leer. Nirgends ein Dorf. Er verließ die Straße, um sich in einem flachen Graben auszuruhen.

Bei Tageslicht wurde er durch lautes Klappern und Knallen geweckt und durch die Stimme einer Frau, die obszöne, aber poetische Flüche ausstieß. Sie war von großer Sprachgewalt, und Kim blieb noch eine Weile liegen, voller Bewunderung für so viel Erfindungsgabe. Wen sie beschimpfte und was die knallenden Geräusche zu bedeuten hatten, interessierte ihn kaum. Der Lärm weckte auch Parvati. Sie lächelte ihn an. Trotz ihrer Abgezehrtheit sah sie für ihn immer noch schön aus.

»Geht es dir gut?« fragte er sie

»Im Augenblick ja. Gott allein weiß, wie lange noch. Ich habe zwei verschiedene Träume. Einmal träume ich von Frieden und Schönheit, und dann wieder ängstigen mich häßliche Dinge. Ich kann dir nicht sagen, was wirklich ist und was nicht. Träume können Wirklichkeit sein. Und wenn wir wach zu sein glauben, können wir schlafen.« Sie streichelte sein Gesicht und zwirbelte die Enden seines Schnurrbarts, die ungepflegt herabhingen. »Du fühlst dich aber echt an.« Sie setzte sich auf und schaute über den Grabenrand.

Auf der Straße stand ein glänzendes gelbes Automobil, dessen Motorhaube geöffnet war. Die Scheinwerfer waren silbern eingefaßt, die Sitze aus rotem Leder. Die beiden Männer, die daneben standen, spiegelten sich in dem blanken Chassis. Auf dem Rücksitz saß eine kleine Frau, kaum größer als ein Kind, in einem glänzenden lilafarbenen Sari und behängt mit Schmuck. Ihr Gesicht konnte Kim nicht sehen, aber die Stimme war zweifellos die einer Frau, melodisch und kräftig. Im Moment mußte sie gerade Luft holen. Die Zielscheibe ihrer verächtlichen Worte war der Fahrer, der eine weiße Uniform, blankgeputzte Stiefel und einen scharlachroten Turban trug. Er wand sich, rang die Hände und bat stöhnend um Gnade. Neben ihm stand, weniger prächtig gekleidet, der Putzer. Er konnte nicht verbergen, wie erleichtert er war, daß die Dame ihren Zorn nicht gegen ihn richtete.

»Ich werde dir mit eigener Hand deine Männlichkeit abschneiden und sie an die Pfauen verfüttern«, schrie sie jetzt. »Deine Hände werfe ich den Affen vor, und mit deinem Kopf werde ich Polo spielen, wie es meine Ahnen mit denen gemacht haben, die in Ungnade gefallen waren. Deine Mutter wird es noch bereuen, daß sie mit einem Langur geschlafen und eine so häßliche und nutzlose Kreatur wie dich geboren hat.«

Nun hatte Kim zwar keine Ahnung von Automobilen, aber aus Neugier verließ er sein Versteck, um es sich eingehender anzusehen. Er schaute in einen silbernen Scheinwerfer und sah seinen Kopf darin, der mal lang und schmal, mal platt und dick aussah.

»Und was will dieser Kerl aus dem Dschungel hier?« Die Frau wandte sich Kim zu. Sie war jung, aber häßlich. Er zuckte bei ihrem Anblick zusammen. Wie grausam das Schicksal sein konnte! Ihre Nase war krumm, ihr Mund schief. Es sah aus, als wäre das Gesicht ebenfalls im spiegelnden Scheinwerfer verzerrt worden. Ihre Augen aber strahlten eine großartige Vitalität aus und milderten ein wenig die obszöne Häßlichkeit des Gesichts. Auch war sie so zierlich gebaut wie ein Vogel.

»Hast du noch nie ein Automobil gesehen? Geh weg, geh weg!«

»Große Königin«, sagte Kim, »ich bin nicht gekommen, um das Auto anzustarren, sondern um in Ihren schönen Augen zu versinken.«

»Du hast eine kluge Zunge. Wenn du gesagt hättest, ich wäre schön, dann hätte ich dich hinrichten lassen. Aber meine Augen – ja, die sind schön. Verstehst du etwas von Motoren?«

»Ich schau mir die Sache mal an, große Königin.«

Er ging näher heran und betrachtete den Motor. Er war ein Wunderwerk, aber völlig unbegreiflich. Mürrisch stand der Chauffeur neben ihm. Nur Isaac Newton hätte sich in den metallenen Eingeweiden des Autos ausgekannt.

»Na, nun hast du es dir angeschaut. Was hast du gesehen? Oder bist du ein Badmash, der die Lage einer hilflosen Frau schamlos ausnutzt?«

»Maharani, nie würde jemand auf die Idee kommen, Sie wären hilflos. Nicht bei dieser Stimmgewalt und so viel Verstand und Witz.«

Kim sah, daß ein Draht lose herabhing. Da er wußte, daß bei den Briten immer alles seinen Zweck haben mußte, suchte er nach dem freien Ende. Zuversichtlich packte er zu und befestigte es um einen Kupferknopf. Der Länge des Drahts nach mußte es die richtige Stelle sein.

»Was hast du da gemacht?«

»Wenn ich es Ihnen sagte, könnten Sie es selber tun.«

»Solche frechen Reden von einem Kerl aus dem Dschungel gefallen mir nicht sonderlich. Wer bist du?«

»Ein Mensch.«

»Diese Antwort gefällt mir noch weniger. Weißt du, wer ich bin?«

»Eine große Königin.«

»Ja. Ich bin die Rani von Amar, und du befindest dich in meinem Staat.«

»Dann sollten Sie für jeden Menschen dankbar sein. Denn ringsum sehe ich nur Sand, Steine und Felsen.« Ohne ihr empörtes Schnaufen zu beachten, sagte er zu dem Fahrer: »Laß den Motor an!«

Der Chauffeur, ein kleiner Dicker mit feingezwirbeltem Schnurrbart, versuchte es, und sofort heulte der Motor auf. Er warf Kim einen giftigen Blick zu.

»Hier«, sagte die Rani und zog einen großen Rubinring vom Finger ab.

»Ich habe es nicht um reichen Lohnes willen getan. Geben Sie ihn Ihrem Fahrer, der mich so fachmännisch beraten hat!«

»Du kannst kein gewöhnlicher Mann sein. Vom Erlös dieses Ringes könnte ein ganzes Dorf ein Jahr lang leben.«

»Und bestimmt mußte ein ganzes Dorf ein Jahr lang für dieses Schmuckstück Hunger leiden.«

Ärgerlich schob die Rani den Ring wieder auf ihren Finger. Der Fahrer starrte mit steinerner Miene nach vorn.

»Ich bitte Sie um einen Gefallen, Rani. Ich bin in großer Eile. Daher wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich ein Stück mitnehmen würden.«

»Warum nicht? Du wirst ein angenehmer Gesellschafter sein.«

»Mich und die Frau, mit der ich unterwegs bin.«

Kim holte Parvati aus dem Versteck.

»Ich will ehrlich zu Ihnen sein, große Königin. Diese Frau ist mit einem bösen Zauber behaftet. Es gibt nur eine Möglichkeit, Ihr das Leben zu retten. Ich muß sie zu den Füßen der Brüder Bala und Bala bringen. Sie befinden sich irgendwo ostwärts von hier, aber ich weiß nicht, wie weit weg. Und sie ist dem Tode nahe.«

Er schaute nach oben, ebenso wie die Rani. Er sah Jatayu kreisen, wobei er sich nach Osten entfernte. Doch die Rani sah nur einen Punkt am Himmel, der mit der Geduld eines Greifvogels endlose Kreise zog.

Parvati räusperte sich. Sie zitterte vor Schwäche, hielt sich aber aufrecht. Ihre Lebensgeister schienen neu erwacht zu sein. Doch wenn man ihr aufmerksam in die Augen sah, erblickte man den Tod. Sie selber vermied es, der Rani ins Gesicht zu schauen, denn es erinnerte sie an die Dämonen.

»Ich kann nicht erkennen, daß sie krank ist. Außerdem möchte ich keine Frau von solcher Schönheit bei mir haben, die mich dauernd an meine Häßlichkeit erinnern würde. Aber sie ist sehr mager.«

»Sie wird sich vor ihrem Blick verschleiern, doch nicht vor Ihrer Großmut. Und Ihre Augen, Rani, zeigen Ihre wahre Schönheit.«

»Deine Silberzunge klingt mir zu süß. Steigt ein, steigt schon ein! Ich habe von Bala und Bala vernommen, hörte sie aber noch nie singen. Man hat mir gesagt, sie seien blind.«

»Ja. Sie sind von Geburt an blind gewesen. Ich bin ihnen vor fünf Jahren in der Nähe von Burhanpur begegnet und bin ein Stück Wegs mit ihnen gewandert. Ihr Vater war Hofmusiker bei einem Radscha in Süd-Indien und ein Bhakta von Gott Krischna. Er bat Krischna, seinem Sohn eine wunderbare Stimme zu verleihen. Als ihm Zwillinge geboren wurden, verlieh Gott Krischna beiden diese Gabe. Und er befahl, daß sie ihre Stimmen in ganz Indien hören lassen sollten. Sobald sie laufen konnten, gingen sie deshalb auf die Wanderschaft. Brahma erfuhr von der Gabe, die ihnen Gott Krischna verliehen hatte, und schenkte ihnen dazu das Augenlicht. Doch es ist kein Augenlicht, wie Sie und ich es kennen, Rani. Sie haben nämlich keine Augen. Sie sehen mit ihrem geistigen Auge. Wenn sie beide das fünfundzwanzigste Lebensjahr erreichen, werden sie ihre Stimmen verlieren und normales Augenlicht erlangen, und dann können sie als gewöhnliche Sterbliche in Ihr Dorf zurückkehren. Doch sollte einer vorher auf der Reise sterben, wird der andere innerhalb einer Minute seinem Bruder in den Tod folgen. Danach werden noch zahllose Menschen sterben, und es werden gewaltige Umwälzungen eintreten, die niemand voraussehen kann. Und die Verantwortlichen für den Tod der Brüder werden den Fluch Brahmas auf ihre Häupter laden, auf die Häupter ihrer Familie und auf das Königreich, dem sie angehören. Parvati hörte sie im Palast Ihres Ehemannes singen, und eines ihrer Lieder handelte von uns beiden, aber sie erinnert sich nicht mehr daran. Ich hatte ihnen von meiner Suche nach Parvati erzählt. Sie gab ihnen eine Botschaft für mich mit. Mit ihren Stimmen riefen sie nach Jatayu. Der fand mich und sagte mir, wo ich sie finden könne.«

»Auch früher hat es schon Männer mit solchen Stimmen gegeben«, sagte die Rani. »Tansen, der Hofsänger des Kaisers Akbar, konnte mit seiner Stimme Regen heraufbeschwören. Und ich habe gehört, daß es im fernen Süden einen Tempel gibt, in dem sich das Götzenbild herumgedreht hat. Ein Unberührbarer hatte hinter dem Tempel gestanden und das Götzenbild angesungen. Darauf stürzte die Tempelwand ein, und das Götzenbild drehte sich, damit der Sänger es anbeten konnte.«

»Auch ich habe von solchen Sängern vernommen. Wenn wir Glück haben, werden wir Bala und Bala singen hören. Und ich bete zu Gott, daß ihre Kraft ausreicht, um die Dämonen aus Parvati auszutreiben.«

Die Rani versprach, sie bis nach Pushkar mitzunehmen, wo sie zu einer Hochzeit eingeladen war. Sie war eine Frau, die frei von der Leber weg zu sprechen pflegte, und so erzählte sie Kim, daß kein Fürst sie je heiraten würde, weil sie so häßlich sei. Ihre Mutter, die bei ihrer Geburt starb, war eine große Schönheit gewesen. Doch weil sie ihrer Mutter das Leben genommen hatte, sagte der Prohit, daß Gott sie mit Häßlichkeit strafen werde.

Ihr Vater, der Radscha, war jedoch nachsichtiger als Gott. Denn ihre Mutter hatte einen häßlichen Charakter gehabt, und er war froh, daß sie tot war. Zudem war er ein weiser und gerechter Herrscher. Er ließ seiner Tochter die gleiche Erziehung zukommen wie ihrem Bruder. Sie hatten einen englischen Hauslehrer, einen Mr. Weatherby. Bei ihm lernte sie nicht nur lesen und schreiben, sondern auch Philosophie, Französisch und Geographie. Sie spielte sowohl Kricket wie Polo und war eine gute Schützin. Eines Tages starb ihr Vater auf ziemlich geheimnisvolle Weise, und die Briten machten ihren Bruder zum Radscha. Der Tod ihres Vaters betrübte sie tief, denn sie hatte ihn geliebt, und sie hatte ihren Bruder im Verdacht, ihn ermordet zu haben. Vor einem Jahr nun war ihr Bruder auf die gleiche geheimnisvolle Art gestorben, und die Briten hatten sie zur Herrscherin ernannt.

»Man hat sicherlich auch da einen Mordverdacht gehabt.«

»Sicherlich. Aber der Tod eines Inders bedeutet den Briten nicht viel, es sei denn, sie hätten dadurch Unannehmlichkeiten.« Sie kicherte über irgendein Geheimnis, zu dem sie sich jedoch nicht äußern wollte. »Außerdem hatte mein Bruder große Fehler begangen. Kannst du dir vorstellen, daß der Dummkopf dem Residenten einen Brief schickte, in dem er schrieb, er werde sich seinen Anordnungen nicht fügen? Natürlich leugnete er später ab, den Brief geschrieben zu haben, doch sein Schicksal war besiegelt. Als er starb, war die Regierung mehr als zufrieden, mich zur Rani von Amar ernennen zu können.« Sie begleitete die Nennung ihres Ranges mit einer großartigen Geste, und ihre Stimme erhob sich laut über das Dröhnen des Motors. »So, und wer bist du?«

»Ich bin Kim, der Freund aller Welt. Ich wurde in Lahore geboren, und meine Eltern starben, als ich noch ein Säugling war. Ich wuchs im Basar auf. Ich habe keine Angehörigen und kein Heim.« Er erzählte ihr aber nicht, wie er Oberst Creighton kennengelernt hatte und als Agent des Empire rekrutiert worden war und daß ihn jetzt die Polizei jagte.

Zur Mittagszeit bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß ein anderes Automobil vorausgefahren war. Die Insassen hatten bereits ein kleines Lager aufgeschlagen. Dazu gehörte auch ein großes Zelt für die Rani, in dem sie gemütlich und in Zurückgezogenheit baden, essen und ruhen konnte. Diese Sitte hatte man von den Mogulkaisern übernommen, die Nomaden gewesen waren. Das Mahl war schon zubereitet, und Kim und Parvati wurden dazu eingeladen. Das Zelt war sehr geräumig, und die Rani, frisch gewaschen und umgekleidet, wies ihnen ihre Plätze an.

»Man darf Ihr nichts Festes zu essen geben«, sagte Kim. »Geben Sie ihr Reiswasser!«

»Aber ich habe Hunger«, sagte Parvati. »Mir knurrt der Magen so stark, daß es sehr weh tut.«

»Natürlich muß sie essen«, sagte die Rani.

»Nein«, sagte Kim. »Damit füttert sie nur die Dämonen. Das Reiswasser ist besser für sie.«

Doch angesichts von Parvatis Schmerzen und der Hartnäckigkeit der Rani gab Kim nach. Essen wurde auf Parvatis Silberteller gehäuft. Sie sahen, wie der erste Bissen in ihrem Mund verschwand. Sofort verfiel sie wieder in ihre Trance. Erschrocken schrie die Rani auf. Kim ordnete an, daß das Essen abgeräumt werde, und fütterte sie mit Reiswasser. Parvati trank es gierig. Doch die Dämonen spuckten es gleich wieder aus. Reiswasser war ein dünner, bitterer Brei. Wenn er geglaubt hatte, es würde ihr helfen, so sah er sich getäuscht.

»So etwas habe ich noch nie erlebt«, sagte die Rani. »Wer hat diesen bösen Zauber über sie verhängt?«

»Ihre Schwiegermutter Gitabhai.«

»Deine Mutter?«

»Wir sind nicht miteinander verheiratet.«

»Ahhh. Sie ist also die Frau eines anderen. Wer ist ihr Mann?« Die Rani liebte Klatsch und vermutete, es sei ein Mann von Bedeutung.

»Ich möchte seinen Namen lieber nicht nennen. Er ist zu bekannt.«

Die Rani nahm seine Weigerung gnädig auf, merkte sich aber den Namen Gitabhai. Dann erhob sie sich, ging in eine Ecke des Zeltes, in dem eine Statue von Durga stand, und kam mit einer goldenen Taschenflasche zurück.

»Hier drin ist Wasser vom Ganges. Ich werde sie damit ein wenig beträufeln.«

Die Wirkung des heiligen Wassers auf Parvati war erstaunlich. In dem Augenblick, da die Tropfen auf ihre Haut fielen, begannen sie zu zischen und verbrannten. Sie schrie und wälzte sich auf dem Boden. Kim hielt sie fest, damit sie sich nicht verletzte. Dann wurde sie plötzlich still und fiel in tiefen, ruhigen Schlaf.

»Wir müssen uns beeilen, um diese Brüder zu finden«, sagte die Rani. »Anfangs habe ich dir nicht geglaubt, als du mir von dieser Frau und den Dämonen erzählt hast.« Sie klatschte in die Hände, und sogleich fuhr der Wagen am Zelteingang vor.

Sie fuhren durch den Tag und in die Nacht. Unterwegs hielten sie nur einmal, damit sich der Chauffeur eine Viertelstunde ausruhen konnte. Stündlich benetzte die Rani den Saum ihres Sari mit dem Ganges-Wasser und wischte Parvatis Gesicht damit ab. Es wirkte wie Balsam, beruhigte die schlafende Frau und beschützte sie.

Dann sahen sie im schwindenden Licht der Abenddämmerung den See von Pushkar glänzen. Am Ufer stand eine kleine Ansammlung von Tempeln. Kim dachte: ›Der Mensch schreibt dem Wasser Heiligkeit zu, baut an den Ufern Tempel, und das Wasser gibt seine Heiligkeit dem Land zurück.‹ Der Brahma-Tempel stand am entgegengesetzten Ende des Dorfes, doch das Automobil mußte vor dem Dorf stehenbleiben, da die Straße zu schmal wurde. Schon strömte die Dorfbevölkerung herbei, um alles anzustarren und anzufassen.

»Mein Auto kann nicht weiterfahren«, sagte die Rani. »Nun geh mit Gott! Ich bete zu ihm, daß du die Brüder rechtzeitig erreichst und sie von ihnen gerettet wird.«

»Große Königin, ich danke Ihnen für Ihr Mitgefühl. Bestimmt wird Gott Sie für diese gute Tat segnen.«

Parvati erwachte und schaute dumpf um sich. Bei jedem Erwachen war sie schwächer. Sie war auch noch mehr geschrumpft. Ihr Gesicht bestand nur noch aus Höhlungen. Kim nahm sie auf die Arme und wurde sofort zur Spitze einer Prozession. Er kam an vielen Tempeln vorbei – Tempel für Shiwa, für Vishnu, für Durga, sogar an einem für Meenakshi. Die schmale Straße endete am Brahma-Tempel. Über dem Portal stand eine geschnitzte Gans, sein himmlisches Gefährt. Seltsamerweise war dies der einzige Brahma-Tempel in ganz Indien.

»Lieber Kim«, flüsterte Parvati. »Wie viele Leiden habe ich über dich gebracht! Wenn du mich nicht liebtest, wärst du davon frei. Wir haben so wenig Zeit miteinander verbringen können, und ich weiß, daß ich sterbe. Als wir noch getrennt waren, habe ich nur von der Hoffnung gelebt, daß ich eines Tages mein ganzes Leben an deiner Seite verbringen würde. Meine Seele wird immer bei dir sein.«

»Du darfst noch nicht sterben«, sagte Kim leise. »Sehr bald werden wir Bala und Bala finden. Ich weiß, daß sie dich retten können.« Er wandte sich an die Menge. »Hat jemand von euch von den beiden Brüdern gehört, die so schön singen können, daß sie den Stein in Honig verwandeln und Feuer und Sturm besänftigen können?«

»Ja«, sagte ein gutaussehender Mann mit einem dicken Turban und einem goldenen Ring in jedem Ohr. Kim hatte ihn bis dahin noch nicht gesehen. Ihm fiel auf, daß die Dörfler sich vorsichtig von ihm entfernt hielten. Der Mann trug ein Jezail. Damit zeigte er jetzt auf die Schluchten vor Ihnen. »Sie wandern in den Schluchten von Chambal nach Osten. Ich selber habe sie noch nicht singen hören, aber ich habe von ihren wunderbaren Stimmen vernommen. Die Leute wandern viele, viele Stunden weit, um sie zu hören. Ich werde euch begleiten. Ich bin Kishore Singh.«

Es lag in Kims Natur, daß er auf Fremde, Männer wie Frauen, anziehend wirkte. Er bewegte sich mit unbefangener Würde, und seinem Gesicht war Humor und Frömmigkeit anzusehen, dagegen weder Habgier noch Neid. Wenn Kim bereit war, sich für diese von Dämonen besessene Frau zu opfern, dann hielt Kishore Singh es der Mühe wert, sich mit Kim anzufreunden und ihm bei der Suche nach Bala und Bala zu helfen.

Die Schluchten waren Erdwälle, die aussahen wie tiefe Runzeln auf der Haut. Sie erstreckten sich hundertfünfzig Kilometer weit. In Ihren Falten konnte sich eine ganze Armee verbergen, und die Dacoits hatten sie seit Jahrhunderten als Versteck benutzt.

»Wir dürfen keine Zeit verlieren. Sie ist dem Tode nah. Wie weit sind Bala und Bala entfernt?«

»Eine Tagesreise, vielleicht noch mehr. Wir werden sie finden. Sie wandern sehr langsam.«

Kim folgte ihm, Parvati auf den Armen. Es war nicht weit bis zum Rand der Schluchten, aber der Weg war schmal und steinig, und an beiden Seiten erhoben sich steile Sandmauern. Sie hielten oft an, damit Kim sich ausruhen konnte. Kishore Singh bot ihm aber nie an, Parvati ein Stückweit zu tragen. Er betrachtete es als Kims Pflicht, als sein Karma, diese Last zu tragen. Jeder Mensch hatte sein Karma, und es wäre dumm gewesen, es unnötigerweise mit ihm zu teilen.

»Lieber, lieber Kim«, flüsterte Parvati. »Du bist ein dummer Mann, und ich bin eine dumme Frau. Immer stecke ich in Schwierigkeiten, und wenn du mich nicht immer wieder retten würdest, dann würden meine Schwierigkeiten längst beendet sein. Wenn du mich auf dem Bahnsteig in Delhi nicht gepackt hättest, dann hätten mich die Goondas meines Mannes ergriffen. Dann wäre mein Leben schon zu Ende gewesen.«

»Und mir wäre die Freude, dich zu lieben, versagt geblieben. Sprich jetzt nicht! Du mußt dich schonen.«

»O Kim«, seufzte sie, »ich bin so müde. Mir ist, als würde ich von innen verzehrt. Ich werde sterben.«

Bei Einbruch der Nacht machten sie halt. Kim hatte den Eindruck, daß sie keine große Wegstrecke zurückgelegt hatten. Die Landschaft sah unverändert aus. Sie waren einem vielfach gewundenen Weg gefolgt, und soweit er es beurteilen konnte, mochten sie noch an derselben Stelle sein, an der sie morgens den Marsch begonnen hatten. Doch er hatte Vertrauen zu Kishore Singh, der sich so sicher in diesem Irrgarten von Erdwällen bewegte.

»Warte hier auf mich!« sagte Kishore Singh und verschwand in der Dunkelheit.

Müde streckte Kim sich aus. Seine Arme schmerzten ihn vom Tragen, und seine Kehle war wie ausgetrocknet. Er schaute in den klaren, unermeßlichen Himmel. Doch dann konnte er die Augen nicht länger offenhalten. Er schlief ein und träumte von den Bergen. Er fühlte kalte Luft seinen Kopf umfächeln und sah, wie die Morgensonne die Gipfel streifte. Er hörte den Wind durch die Himalajazedern und die Fichten streichen und schmeckte das kühle Wasser der Bergbäche. Doch als er davon trank, erstarrten seine Lippen, und ihre eisige Berührung kitzelte seine Wangen.

Ein scharfer Stoß weckte ihn. Er schlug die Augen auf und sah den schwarzen Lauf einer Muskete vor sich. Er setzte sich auf. Es war Kishore Singh. Hinter ihm standen drei Männer, jeder mit einer Muskete. Er stellte sie nicht vor.

»Bala und Bala sind nicht weit von hier. Wenn wir jetzt aufbrechen, holen wir sie bei Tagesanbruch ein.«

Kim sah auf der Erde eine provisorische Trage stehen: ein zwischen zwei Stangen geknüpftes Netz aus Stricken. Vorsichtig legte er Parvati darauf. Einer der Männer faßte an einem, Kim am anderen Ende an. Schweigend wand sich der Zug durch die Schluchten. Kim fiel auf, wie überaus vorsichtig Kishore Singh geworden war. Plötzlich blieben sie stehen, und Kishore Singh glitt in die Dunkelheit davon. Minuten später kam er zurück und winkte ihnen weiterzugehen.

»Was ist los?« fragte Kim.

Kishore Singh gab keine Antwort, bewegte sich aber mit noch größerer Vorsicht weiter. Wenn die Schluchten im Schatten lagen, waren sie rabenschwarz. Jedesmal, wenn sie an einen vom Mond bestrahlten hellen Streifen kamen, rannten sie in Abständen hindurch, als wäre es ein Wasserlauf. Während die Männer am Fußende der Trage sich abwechselten, blieb Kim die ganze Zeit am Kopfende. Parvati war kaum noch bei Bewußtsein, und Kim befürchtete, sie würde vielleicht nicht bis zum Morgengrauen durchhalten. Als sie einmal aufstöhnte, verschloß ihr Kishore Singh blitzschnell mit der Hand den Mund. Kim hätte ihn gern zu höchster Eile angetrieben, aber er nahm als sicher an, daß seine Vorsicht gute Gründe hatte. Am Nachthimmel sah er, daß sie nach Westen marschierten. Mehr wußte er nicht. Sanft stieg die Morgendämmerung herauf. Als die Sterne zu verblassen begannen, ordnete Kishore Singh eine Rast an.

»Die Stimmen tragen hier weit«, flüsterte er. »In diesen Schluchten hockt ein Feind von mir. Wir suchen uns gegenseitig, und jeder betet, daß er bei einer Begegnung den anderen überrumpeln kann. Dieser Mann hat meinen Vater Man Singh verraten und ermordet. Mein Vater saß im Gefängnis Tihar, und dieser Mann, der sein Stellvertreter war, sollte ihm und seinen drei Gefährten zur Flucht verhelfen. Darunter war auch ein gewisser Anil Ray, den ich nicht kenne. Statt dessen stellte der Mann ihnen eine Falle und erschoß meinen Vater auf der Flucht.«

»Ich war auch in Tihar, habe deinen Vater aber nicht kennengelernt«, sagte Kim leise. »Aber es ist ein merkwürdiger Zufall, daß du an einem so verlassenen und trostlosen Ort den Namen eines Mannes aussprichst, den ich kenne und der uns bei der Flucht geholfen hat. Das ist ein Omen. Wir werden unser ganzes Leben lang miteinander verbunden sein. Es ist wieder eines meiner Karmas. Aber ich mag Anil Ray nicht. Er ist zu verbittert.«

Eine Stunde nach Tagesanbruch fanden sie endlich die Brüder Bala und Bala. Hand in Hand wanderten die beiden ostwärts und folgten damit der unsichtbaren Linie, die sie vor so vielen Jahren aus ihrem Dorf fern im Süden hergeführt hatte. Ihre Wanderung erfolgte nach einem bestimmten Muster. Einen Tag lang gingen sie von Osten nach Westen, am nächsten Tag nach Norden und am übernächsten von Westen nach Osten. Auf diese Weise durchquerten sie Indien und würden schließlich im Himalaja ihre Reise beenden.

Seit Kim sie zuletzt in der Nähe von Burhanpur gesehen hatte, waren sie gewachsen, und auf ihren Wangen sproß der erste Flaum. Doch ihre Gesichter sahen wegen ihrer Blindheit noch immer wie unvollendet aus. Ihre Züge waren weich, aber keineswegs ungeformt. Damals hatte Kim gedacht: ›Die Augen sind der Spiegel der Seele. Einem Blinden aber kannst du nicht ins Herz sehen.‹ Der Bala zur Rechten trug seine Ravanhatta, der Bala zur Linken das Zimbal. Diese Ordnung behielten sie immer bei, denn der Bala zur Rechten sah nur die rechte Seite der Welt, und der andere Bala nur die linke Seite. Wenn sie da einen Wechsel vornähmen, würden sie nichts mehr mit ihrem geistigen Auge sehen können.

Sie erkannten Kim, und zur gleichen Zeit erschien das gleiche Lächeln auf ihren Gesichtern.

»Wir haben geahnt, daß wir uns wiederbegegnen würden«, sagten sie in vollkommenem Gleichklang. »Wenn wir kreuz und quer durchs Land ziehen, begegnen wir in unserem Leben manchen Menschen, die wir später wieder treffen. Unser Schicksal ist verwoben mit dem Schicksal solcher Menschen wie du. Hast du die Botschaft erhalten, die wir Jatayu für dich gegeben haben?«

»Ja. Dies hier ist die Frau, die sie euch gegeben hat. Ihr müßt euch an sie erinnern. Sie ist besessen und dem Tode nahe. Ich kenne sonst niemanden, der die bösen Geister austreiben kann. Ihr seid meine letzte Hoffnung. Jatayu hat uns zu euch geführt. Schaut nach oben, und ihr werdet den großen Vogel sehen!«

Aber als sie alle in den Himmel schauten, sahen sie nichts als die endlose, wolkenlose Bläue.

»Wir erinnern uns an sie. Sie war in diesem Inselpalast.«

Dann schwiegen sie und sahen weder Parvati noch Kim an. Obwohl sie die Augen geschlossen hielten, konnte man Ihren Blick spüren. Kim fühlte, daß sie sich schweigend berieten. Kishore Singh und seine Männer waren nicht in der Lage, so feine Unterschiede in ihrem Verhalten zu bemerken. Sie waren zu sehr von Ehrfurcht überwältigt und hatten sich hingehockt, um offenen Mundes die jungen Männer anzustarren, die so harmonisch gemeinsam sehen und sprechen konnten.

»Wir werden es versuchen«, kündigten Bala und Bala an. »Legt sie in den Schatten!«

Parvati wurde in nord-südlicher Richtung in den Schatten einer Tamarinde gelegt. Ein Bruder setzte sich zu ihren Füßen, der andere an ihren Kopf. Parvatis Lider flatterten schwach, Ihr Atem ging flach. Selbst hier im Schatten herrschte erstickende Hitze. Kim und die Männer hockten sich seitwärts hin.

Im Liegen sah Parvati, wie die Sonnenstrahlen zwischen den Blättern hindurchstachen. Es fiel ihr schwer, ihre Gedanken zu ordnen. Noch nie hatte sie in so großer Gefahr geschwebt.

›Ich sterbe. Mein Leben schwankt wie diese Blätter. Ich komme aus dem Schatten in die Sonne, flatternd und zerbrechlich wie sie. Was habe ich verbrochen, daß mein Leben auf so elende Art enden soll? Man hat mir gesagt, ich leide aus Strafe für meine bösen Taten in einem früheren Leben. Aber ich ... das Ich, das jetzt hier liegt ... bin nicht für diese Person aus der Vergangenheit verantwortlich. Warum muß ich seine oder ihre Strafe ertragen? Sollen auch meine Sünden ein Kind im nächsten Leben heimsuchen? Das ist ungerecht. Ich bin meinem bösen Ehemann entflohen und habe Kim getroffen, der mir lieber ist als dieses Leben, das so entsetzlich elend geworden ist. Jetzt wird man mich von Kim fortreißen. Dabei habe ich mich sehr geändert. Ich war nichts als eine Plaudertasche, jetzt bin ich ein vollwertiger Mensch. Ich habe gearbeitet, meinen Lebensunterhalt verdient, habe große Gedanken gehabt und sie aufgeschrieben. Ich hatte einen Lebensinhalt. Jetzt bin ich nichts weiter als schrumpfendes Fleisch. Sind diese Dämonen wirklich in mir? Oder habe ich sie nur unter Gitabhais Einfluß erfunden? Ich kann es nicht sagen. Bei solchen Gedanken verliere ich jede Kontrolle. Es ist leichter, daran zu glauben, daß jemand einen bösen Zauber auf einen geworfen hat, als an das Böse in sich selbst.‹

Sie merkte, wie Kim ihre Hand nahm. Er wärmte sie, und sie verlangte nach seiner Kraft. Was um sie herum vorging, lenkte sie von ihren Gedanken ab. Die Luft schien nach Weihrauch zu duften, und sie spürte die leichte Bewegung unter den Männern, die zusahen und auf ein Wunder warteten. Sie hoffte, auch in ihrem Inneren eine Bewegung zu spüren, den Auszug der giftigen Geister. Doch sie spürte nichts. Sie wurde nur schläfrig.

Beim ersten Ton der Slokas