Sahib - Der Palast der Stürme - Timeri N. Murari - E-Book
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Sahib - Der Palast der Stürme E-Book

Timeri N. Murari

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Beschreibung

Ein lebendiges Panorama indischen Lebens während der letzten Blüte des britischen Empire: »Sahib – Der Palast der Stürme« von Timeri N. Murari jetzt als eBook bei dotbooks. Vom Waisenkind auf den Straßen Lahores zum Agenten der britischen Geheimpolizei – Kimball O’Hara, bekannt als Kim, hat einen beachtlichen Weg zurückgelegt. Indien allerdings, das bunte Land seiner Kindheit, ist kaum noch wiederzuerkennen: Korruption und Machtmissbrauch der britischen Herrscher haben ihre Spuren hinterlassen. Auf den vollen Märkten und Basaren brodelt die Sehnsucht nach Unabhängigkeit. Inmitten dieser Unruhen wird Kim beauftragt, die Revolutionsführer zu entlarven. Doch je tiefer er in ihre Kreise eintaucht, desto klarer wird sein Blick auf sein geliebtes Heimatland. Wem gehört seine Loyalität? Er wird eine Entscheidung treffen müssen – für sich selbst, für sein Land, für die Liebe seines Lebens. »Ein sehr beachtlicher und unterhaltsamer Roman.« The Independent Der historische Roman »Sahib – Der Palast der Stürme« von Timeri N. Murari führt die weltbekannte Geschichte von »Kim« weiter, dem Weltbestseller des »Dschungelbuch«-Autors Rudyard Kipling! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 924

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Über dieses Buch:

Vom Waisenkind auf den Straßen Lahores zum Agenten der britischen Geheimpolizei – Kimball O’Hara, bekannt als Kim, hat einen beachtlichen Weg zurückgelegt. Indien allerdings, das bunte Land seiner Kindheit, ist kaum noch wiederzuerkennen: Korruption und Machtmissbrauch der britischen Herrscher haben ihre Spuren hinterlassen. Auf den vollen Märkten und Basaren brodelt die Sehnsucht nach Unabhängigkeit. Inmitten dieser Unruhen wird Kim beauftragt, die Revolutionsführer zu entlarven. Doch je tiefer er in ihre Kreise eintaucht, desto klarer wird sein Blick auf sein geliebtes Heimatland. Wem gehört seine Loyalität? Er wird eine Entscheidung treffen müssen – für sich selbst, für sein Land, für die Liebe seines Lebens.

Über den Autor:

Timeri N. Murari, geboren in Madras, Indien, zog für ein Ingenieurstudium ins Ausland, doch seine Liebe zu Geschichten und Büchern führte ihn schließlich zu einer Karriere als Journalist und Schriftsteller. Er schrieb für renommierte Zeitschriften wie den Guardian und die New York Times und veröffentlichte 18 Bücher, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Heute lebt er mit seiner Frau in Indien.

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine große Indien-Saga, bestehend aus »Sahib – der Palast der Stürme« und »Ramayana - Das Mosaik des Schicksals« sowie die historischen Romane »Die Sterne über dem Taj Mahal« und »Die Gärten von Madras«.

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eBook-Neuausgabe August 2024

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1987 unter dem Originaltitel »The Imperial Agent« bei New English Library, Sevenoaks, Kent. Die deutsche Erstausgabe erschien 1989 unter dem Titel »Der Sahib – Der große Indienroman« bei Lübbe

Copyright © der englischen Originalausgabe 1987 by Timeri N. Murari

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1989 by Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach

Glossar: Corinna Wessels-Mevissen

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/oksana2010, Kaliko, Alex Anton, ROYOKTA, Nature Peaceful

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)

ISBN 978-3-98952-171-1

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/egmont-foundation. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Timeri N. Murari

Sahib – Der Palast der Stürme

Die große Indien-Saga

Aus dem Englischen von Matthias Dehne und Dirk Muelder

dotbooks.

Widmung

Für meine

Schwester und Freundin

Nalini

Motto

That is the land of lost content,I see it shining plain,The happy highways where I wentAnd cannot come again.

A. E. Housman

A Shropshire Lad

Vorwort des Verfassers

Ich las Rudyard Kiplings Roman Kim erstmals in der Kindheit als aufregende Abenteuergeschichte; als ich das Buch ausgelesen hatte, wollte ich Kim sein. Ich wollte der Waisenjunge sein, der frei und ungehindert die Städte, Basare und Tempel des sagenumwobenen Indien des späten 19. Jahrhunderts durchstreifen konnte. Ich wollte in der Gesellschaft eines weisen und doch kindlich-unschuldigen alten Mannes über die Grand Trunk Road wandern und mit ihm den Fluß aus der Legende suchen. Ich wollte von den Engländern als Geheimagent angeworben werden, um ihnen im Großen Spiel gegen das expansionistische Rußland beizustehen. Und wie Kim wollte ich das Spionagehandwerk von einer Reihe hervorragender Lehrer erlernen. Ich wollte frei sein wie Kim und der Freund aller Welt, die mir bei meinen Abenteuern begegnen mochte. Ich wollte ...

Dann dämmerte mir, daß ich Kim ja gar nicht sein konnte: Kim war Engländer, ich Inder. Aber dieses unbedeutende Hindernis war eigentlich gar keines, denn Kims Geschichte klang für mich so ungeheuer glaubhaft: Er dachte und fühlte wie ein Inder. Kipling mochte Kim physisch als Engländer darstellen, in seiner Seele jedoch war er durch und durch Inder. Ich konnte mich als indischer Junge vollkommen mit ihm identifizieren – wie Leser in der ganzen Welt, unabhängig von Alter und Rasse, seit der Roman 1901 erschien.

Dreißig Jahre später las ich Kim dann erneut und erkannte in ihm auch dieses Mal grundsätzlich den Inder. Aber die Geschichte selbst bekam eine neue Bedeutung. Nicht mehr nur Abenteuerroman war sie, sondern tiefer, vielschichtiger. In der Kindheit hatte ich die Gespräche zwischen Kim und dem buddhistischen Lama schlicht überlesen, den er als seinen Lehrer annimmt und durch Indien geleitet. Plötzlich begriff ich Kim als einen Mystiker auf der Suche nach der letzten Wahrheit, gespalten zwischen der Erfahrung der Welt und dem inneren Wissen, daß eben diese Welt wie das Leben einen wesentlich tieferen Sinn besitzt.

Bei der ersten Lektüre in meiner Kindheit hatte ich außerdem die sexuellen Untertöne der Geschichte nicht bemerkt. Kim kennt sich aus, er ist sozusagen lebensklug und hat mannigfaltige Spielarten des Bösen gesehen – und war doch unschuldig geblieben. Es sagt viel über Kiplings Fähigkeiten als Geschichtenerzähler, daß er den Erwachsenen nicht weniger zu fesseln verstand als vor vielen Jahren das Kind. Mit einer Ausnahme: dem Ende des Buches. Der Schluß enttäuschte mich, denn Kim blieb irgendwo zwischen Himmel und Erde hängen – zwischen spiritueller Sehnsucht und dem realen Leben als Geheimagent, zwischen Indien und England.

Ich hatte schon seit langem einen Roman über die Briten in Indien geplant, über das langsame Erwachen der indischen Bevölkerung in einem von den Briten beherrschten Land. Zu Beginn unseres Jahrhunderts erschien die britische Herrschaft in Indien unerschütterlich und auf lange Dauer angelegt. Sie würde sich noch über Jahrhunderte halten. Daran zweifelten weder die Engländer noch die Inder, als sie gemeinsam das 20. Jahrhundert betraten.

Wenn auch nur eine Handvoll, so gab es sie doch, Männer und Frauen, Engländer wie Inder, die anderer Meinung waren. Und sie wurden darum verfolgt, weil sie glaubten, daß Indien frei sein sollte. Indien begann sich allmählich zu wandeln. Das interessierte mich. Ich wollte einen Roman über die ersten zwei Jahrzehnte unseres Jahrhunderts schreiben, der diese Wandlung in all ihrer Vielschichtigkeit darstellen konnte.

Dafür brauchte ich einen geeigneten Protagonisten, jemanden, der Engländer und Inder zugleich war. Beide Seiten mußten ihn uneingeschränkt als einen der ihren anerkennen. Kurz, es mußte ein Mensch sein, der den Konflikt entgegengesetzter Loyalitäten widerspiegeln konnte – ein Mensch, der sich eines Tages würde entscheiden müssen, für welche Seite er kämpfen will. Würde er dann als Engländer für die Fortsetzung der Herrschaft seines Volkes eintreten? Würde er wie ein Inder dagegen aufbegehren? Und um seine ausweglose Situation wirklich zu begreifen, mußte er bekannt sein und dem Leser vertraut. Wäre er zufällig außerdem Agent des Empire, würde er dann sogar eines Tages seine Herren und Meister verraten? Oder würde er sich von seinen Freunden lossagen, den Männern und Frauen, die die britische Herrschaft bekämpften? Gleichzeitig mußte er auch mich fesseln und mein Interesse am Zauber und an der Mystik Indiens befriedigen. Er mußte seiner spirituellen Suche folgen, wie ich meiner gefolgt war.

Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Ich mußte einfach die Geschichte meines Kindheitshelden Kim aufgreifen und weiterspinnen.

Timeri N. Murari

Die Bedeutung der kursiv gesetzten fremdsprachlichen Ausdrücke wird am Ende des Bandes erklärt.

Kapitel 1

Ein einziges dumpfes, geflüstertes Wort: »Mar«, tötet sie, ausgestoßen gegen Mitternacht, wenn das Land am dunkelsten ist und der kalte Wind von den Bergen heulend schlafende Geister weckt, sollte das Leben aller verändern, die es hörten. Ein unbedeutender, harmloser Mann sprach in der Nacht vom Tod. Weder konnte er böse Geister zu seinen Zwecken beschwören noch Armeen den Befehl zum Vormarsch erteilen. Er würde unbekannt sterben, in völliger Unwissenheit der Auswirkungen seines Geflüsters. Am Ende sollte es ein Weltreich vernichten. Und es sollte das Schicksal des Mannes umstoßen, der es hellwach und interessiert hörte.

Das mar, gleich dem mantra OM, das durch das Universum hallt, klang wie ein Echo im Bewußtsein der Zuhörer nach. Es waren nur zwanzig. Sie hockten im Schutz des Deodar, der Himalaya-Zeder. Und sie zogen sich aus dem Kreis zurück, denn sie fürchteten ihren Leidensgenossen, Kuli wie sie, der den Tod im Munde führte.

Auch die Berge in silbriger Ruhe am Horizont hörten sein Geflüster. Sie lauschen den Worten der Menschen, jedes Menschen. So vernehmen sie auch unausgesprochene Gedanken und Gebete; denn in ihren eisigen Schründen wohnt Gott. Die das böse Wort gehört hatten, wandten sich unbewußt jenen Bergen zu und erflehten stumm ihren Schutz. Sie waren zu weit entfernt, um sie in der finsteren Nacht klar zu erkennen, aber die Ketten des Himalaya hatten seit Urzeiten ihre Phantasie bevölkert, ihre Mythen ausgefüllt mit ihren Gestalten. Sie kannten die Macht dieser Berge, wußten, daß sie sie beschützen und reich beschenken konnten.

»Wo hast du dieses mar gehört?« fragte der junge Mann. Und mit dieser Frage, in diesem Augenblick änderte sich sein Leben, geriet in neue Bahnen. Auch er hatte sich aufschauend den Bergen zugekehrt, aber überwand sich dann und konzentrierte sich auf das unmittelbare Geschehen.

»Im Basar«, antwortete der Kuli. Sein Gesicht lag im Dunkeln. Nur wenn er an seiner bidi sog, zeigte die Glut seine hageren, unrasierten Züge und die dunklen, abgestumpften Augen. Ein Turban verdeckte seine Stirn.

»Und wer wollte töten?«

»Zwei Männer.« Er versuchte, mit seinen Blicken die Dunkelheit zu durchdringen. Niesel, fein wie Tau, setzte sich auf ihren Schultern nieder und durchdrang die dünnen, abgewetzten Schals. »Einer war etwa so alt wie du, der andere älter. Sie sind am Bahnhof in meine Rikscha gestiegen. Vor Ramchands Teebude habe ich sie abgesetzt.«

»Haben sie sich dort aufgehalten?«

»Nein. Sie trennten sich, als ob sie sich nicht kennen würden.«

»Und hast du herausbekommen, wen sie töten wollen?«

Der Kuli zuckte mit den Schultern. »Die Angrezis.«

»Alle?«

Der Mann lachte auf. »Das wären wohl ein paar zuviel. Einen, zwei, was weiß ich. Warum interessiert es dich überhaupt?«

»Es ist besser, wenn ich es weiß. Dann kann ich es verhindern.«

Andere hatten den Wortwechsel mitgehört. Sie würden ihn im Basar weitererzählen, und bald würde das ganze Land davon wissen. Der Verrat hatte bereits begonnen. Ein Geheimnis war aufgedeckt. Indien ist ein merkwürdiges Land; nichts bleibt dort jemals geheim. Ein Mann kann einem anderen Mann tief im Dschungel etwas ins Ohr flüstern, mit nur dem Falken und den Languren als Zeugen, und nur einen Tag später weiß man in tausend Meilen Entfernung davon. Keiner versteht, wie dies geschieht; aber es geschieht. Ganz gleich ob Wahrheit oder Gerücht, jedes Wort verbreitet sich schneller, als die Telegraphendrähte es weiterleiten können.

»Ich bin müde«, sagte der Kuli. »Wann endlich ist dieser tamasha zu Ende? Wie lange noch wollen sie tanzen und feiern?«

»Bis der Himmel so rosig glänzt wie die Wangen der Memsahibs«, antwortete ein anderer. »Und dann werden sie uns scheuchen. Jaldi karo! Jaldi karo, heißt es dann. Und wir werden uns fast umbringen, damit sie so schnell wie möglich nach Hause kommen.«

Gemeinsam starrten sie auf Viceregal Lodge, den Sitz des Vizekönigs. Es war ein Palast aus Holz mit vielen Türmchen, ein Gebäude wie kein anderes im ganzen Land. Sie konnten nicht wissen, daß es einen Traum verkörperte, ein Symbol der kollektiven Erinnerung einer fernen Insel, versetzt in die Vorberge des majestätischen Himalayas. Das gespenstische Licht der Nacht machte es zu einem Zauberschloß: Es mußte einem Märchen entsprungen und imstande sein, sich plötzlich in Luft aufzulösen. Im Augenblick jedoch leuchtete es im Glanz unzähliger Lichter, zerbarst fast unter dem Tosen der Musik. Unzählige Schatten wirbelten darin herum und erfüllten die Nachtluft mit lärmender Fröhlichkeit. Zwei Wächter in prächtigen Uniformen flankierten die Toreinfahrt. Ihre Lanzen funkelten im elektrischen Licht. Weitere Wächter standen entlang der Auffahrt Spalier; ihre Umrisse verloren sich in der Nacht. Nebel dämpfte die Lichter auf der Veranda und ließ die Diener in seinem fahlen Schleier verschwimmen. Sie hatten ihre Aufgabe bereits erfüllt, die Gäste in Empfang genommen. Aber wie die Wachen verharrten auch sie reglos auf ihrem Posten.

Viceregal Lodge, welch ein bescheidener Name für den Sitz solcher Macht. Im Winter regierte der Vizekönig das Land sonst von Kalkutta aus. Sein Besuch im Oktober 1905 geschah aus besonderem Anlaß: es war der Abschiedsball von Lord Curzon in Chota Simla.

Wie eine dunkle Halle wölbte sich der Speisesaal in seiner Mahagoni-Täfelung. Diese Wände warfen trotz liebevoller Politur nur wenig Licht zurück. In den Tagen der Petroleumlampen und Kerzen war er immer ein Schattenreich gewesen, aber auch jetzt konnte das elektrische Licht des Kronleuchters über der Tafel nicht die Düsternis vertreiben, die in den Ecken lauerte. Die Einrichtung war auf förmliche und feierliche Anlässe abgestimmt, eine fortwährende Mahnung an die Gäste, daß sie in Gegenwart der höchsten kaiserlichen Macht dinierten. An einer Wand hing ein Ölporträt Seiner Majestät Edward VII., des Königs von England und Kaisers von Indien. Es war fast lebensgroß; niemand im Saal konnte seinem hoheitsvollen Blick entkommen. Kriegerische Symbole aus der Geschichte des Empire dekorierten die übrigen Wände: verblichene Wimpel berühmter Regimenter; reichverzierte Lanzen, als Beute den besiegten indischen Fürsten entrissen; Musketen; jezails, jene altertümlichen indischen Vorderlader; Schwerter und Schilde. In diesem Saal drängten sich die Erinnerungen.

Vierundzwanzig Damen und Herren hatten soeben zum letztenmal mit Lord Curzon diniert. Er saß am Kopfende der Tafel, den riesigen Fenstern gegenüber, die die Schatten der Deodars einrahmten. Ein schlanker Mann. Eine aristokratische Erscheinung.

»Gentlemen«, rief Lord Curzon in den Saal. Alle Gäste erhoben sich und kehrten ihm das Gesicht zu, als ob sie ihn ehren wollten. Sie erhoben die Weingläser. Curzon wandte sich dem Bildnis Seiner Majestät zu.

»Auf den König und Kaiser!«

Nach dem Toast tranken sie. Dann setzten sie sich. Das vertraute Ritual war ihnen wie eine Bestätigung gewesen.

Nun erhob sich Lady Curzon, die Vizekönigin, vom gegenüberliegenden Tischende. Damit gab sie das Zeichen für den Rückzug der Damen. Die Gesellschaft stand geschlossen auf, wobei die Diener hinter ihnen die Stühle wegzogen. In ihren weißen Uniformen und scharlachroten Schärpen hatten die Lakaien den ganzen Abend schweigend dort gestanden. Der Vizekönig erhob sich als letzter. Selbst diese kleine Bewegung schien ihn anzustrengen. Im Vorbeigehen hielt Lady Curzon kurz vor ihrem Gatten inne und flüsterte: »Gott sei Dank ist das nun alles bald vorüber.«

Sie war groß wie er; nebeneinander sahen sie aus wie Prinz und Prinzessin. In ihrem feingeschnittenen Gesicht schimmerten haselnußbraune Augen, und das kastanienfarbene Haar trug sie hoch auf dem Kopf zusammengesteckt. Für eine Amerikanerin, die sogenannte ›reiche Partie aus Chikago‹ hatte sie ihre Rolle vorzüglich gespielt, aber sie war seit langem des Pomps und der Zeremonien müde, die das Amt ihres Gatten mit sich brachte. Curzon sah erschöpft aus. Er küßte seine Frau zart und züchtig.

Von der Mitte der Tafel beobachtete Oberst Creighton interessiert diese diskrete Bekundung ihrer Zuneigung. Sie hatten immer so getan, als wollten sie die Gerüchte zerstreuen, Curzon habe sie nur wegen ihres Geldes geheiratet. Natürlich war das Gerücht falsch, Curzon selbst von Haus aus einigermaßen vermögend. Aber der Oberst hatte seinen Spaß an solchem Klatsch. Als die Diener der Vizekönigin und den übrigen Damen die Tür öffneten, fluteten Musik und englisches Gelächter in den Saal. Tanzende Gestalten, verkleidet als Piraten, königliche Leibgardisten und elisabethanische Schönheiten schwebten wie Geister einer anderen Welt vor den Augen vorbei. Dann verschwanden sie hinter den sich schließenden Türen.

Diener schenkten Brandy ein, und die Herren suchten in den mit feinen Schnitzereien versehenen Kästchen die Zigarre ihrer Wahl. Abermals hoben sie die Gläser. Diesmal zu Ehren des Vizekönigs.

»Auf Eure Exzellenz. Möge Gott mit Ihnen sein.«

»Danke, meine Herren.« In steif-herrschaftlicher Haltung nahm er einen Schluck. »Zweifellos hat die Nachricht meiner Amtsniederlegung Sie erleichtert.«

Sie erhoben murmelnd Einspruch, aber es klang halbherzig und unehrlich. Curzon entging dies nicht. Unter sich jubelten sie wahrscheinlich. Aber auch er war erleichtert. Lord Kitchener, der Oberkommandeur der britisch-indischen Armee, hatte ihm das Leben vergällt. Der Mann ist ein Ungeheuer, sagte Curzon zu sich selbst. Ich habe meine Aufgabe damals so hoffnungsfroh begonnen, jetzt schmeckt alles nach Asche. Immer hatte ich davon geträumt, Vizekönig von Indien zu sein; ich wurde es, aber zu früh. Mit vierzig war ich noch zu jung, und nun bin ich zu alt, obwohl erst siebenundvierzig. Ich habe versagt, die Erwartungen nicht erfüllt. Während ich die Freuden der Macht genießen sollte, ist mir das Leben eine Qual. Mir ist der Erfolg durch die Finger zerronnen. Ich fühle mich abgekämpft wie ein Zugtier; ich könnte auf der Stelle umfallen. Was hätte ich für das Land denn noch tun können?

Der große Speisesaal deprimierte ihn. Sein Blick schweifte an der dunklen Täfelung entlang von Porträt zu Porträt, und er empfand alles plötzlich als einen gigantischen Schwindel: Wir sind hier eingeschlossen wie in einem dumpfen Mutterschoß. Bei den Sommervisiten hatte er im Garten immer ein riesiges Zelt mit vielen abgetrennten Räumen aufstellen lassen, wie es bei den Mogulen Brauch gewesen war, denn er wollte in dem Haus nicht schlafen.

»Mein Gott, wie ich Simla hasse«, sagte er schließlich ganz bewußt. Die Männer zuckten zusammen, als ob er sie geohrfeigt hätte. Es gefiel ihm – zumindest eine kleine Rückzahlung für ihre gesammelte Bosheit. Auch sie hatten ihn verraten, zwölf Judasse. »Jeden Sommer kommen wir hierher, ziehen uns Jahr um Jahr für Monate aus Indien zurück, grenzen uns vom Volk ab. Die Stadt ist nichts anderes als ein Bollwerk gegen die Inder.«

»Es ist die Sommerhitze, Exzellenz.« St. John Brodrick sprach es geduldig, als wollte er ein Kind belehren. Wie Curzon hatte er Eton und Balliol besucht; sie waren Schulfreunde. In den letzten Jahren war Brodrick allerdings Curzons Untergebener gewesen. Es hatte ihn giftig gemacht, wie man den stechenden Augen in seinem kantigen Gesicht ansah. »Man kann von keinem Engländer erwarten, daß er diese Hitze aushält.«

»Man läßt sich gehen, das ist es«, antwortete Curzon. »Man ist faul und selbstzufrieden. Wir sollten dem Eingeborenen ein Beispiel geben. Wie kann er von uns lernen, wenn er sieht, wie wir uns in dieses kleine England absetzen und ihn obendrein davon aussperren.«

»Er soll ja auch gar nichts lernen«, fiel der Oberst ein. »Wir sind die Herren im Lande. Wir tun, was uns zu tun beliebt.«

Curzon spürte, wie wenig der Oberst ihm beipflichtete. »Aber wie lange noch?«

»Für immer.«

»Selbstgefällige Augenwischerei«, sagte Curzon. »Es könnte uns gelingen, aber nur, wenn wir die Eingeborenen mitreden lassen, ihnen ein gewisses Maß an Selbstbestimmung einräumen. Ich zweifle nicht am göttlichen Recht unserer Herrschaft. Aber dieses Recht macht Erbarmen und Mitgefühl zu unserer Pflicht.«

»Völlig unnötig«, sprach Brodrick. »Dann machen sie nur alles kaputt.«

»Da stimme ich Ihnen zu. Im Augenblick erfüllt noch kein Inder die Ansprüche für eine Mitgliedschaft im gesetzgebenden Rat. Aber wir müssen dafür sorgen, daß es eines Tages einen solchen Inder geben wird.« Seine Tischgenossen sollten nicht bezweifeln, daß er die Inder, vor allem die Hindus, so geringschätzte wie sie. »Nun gut, ich übergebe das Reich in gutem und gesichertem Zustand, und ich glaube an viele weitere Jahrhunderte unserer Herrschaft. Aber jetzt sollten wir unsere Runde aufheben und den anderen beim Ball Gesellschaft leisten.«

Alle standen auf. Während die anderen den Saal verließen, blieb der Oberst zurück. Die Diener schenkten schweigend Brandy nach.

Wer den Oberst anschaute, spürte die Anziehungskraft seiner Augen. Curzon ging es nicht anders. Diese Augen waren von buschigen Brauen überschattet und von tiefen Hautfalten untermalt, was ihnen etwas Raubtierhaftes gab, als ob sie mit unendlicher Geduld im Anschlag liegend warten konnten. Man vermeinte, sie könnten die geheimsten Gedanken lesen. Sollten diese geheimen Gedanken das Raubtier aufschrecken, würde es zweifellos alle Schwächen des Opfers vor der Öffentlichkeit ausbreiten. Die Augen wollten nicht ängstigen, nur warnen. Und sie wirkten wie eine Tarnkappe. Wer dem Oberst gegenübertrat, achtete nur auf diese Augen. Die übrigen Gesichtszüge verschwanden wie hinter ihrem Schatten. Man konnte sich später nicht an sie erinnern.

Curzon mißtraute der Macht des Oberst, die auf seiner Stellung als Chef der politischen Geheimpolizei der britisch-indischen Regierung beruhte. Das war nicht gerechtfertigt. Der Oberst war vollkommen loyal, allerdings nicht einem Mann, sondern nur der Idee des Empire gegenüber. Das war sein Glaube, der Fels, auf dem er ruhte. Wer auch immer diese Idee verraten sollte, und sei es der Vizekönig persönlich, würde den Oberst als unerbittlichen Gegner kennenlernen, der sich mit allen Mitteln zur Wehr setzte.

»Werden der Prinz und die Prinzessin von Wales während ihres Besuchs im nächsten Monat sicher sein?« fragte Curzon schließlich.

»Dafür kann ich mich verbürgen«, sagte der Oberst nach einer Pause. »Es gibt zwar Basargerüchte über einen geplanten Anschlag, aber wir werden diese Sache im Keim ersticken.«

»Vielleicht geben wir zuviel auf solches Basargeschwätz«, warf Curzon ein.

Der Oberst schwieg. Er mußte den Vizekönig nicht an 1857 erinnern, an den Aufstand, den die Engländer stets nur als ›Meuterei‹ bezeichneten. Der Oberst war damals ein Baby gewesen, aber im tiefsten Schlaf hörte er immer noch das Echo seines eigenen Wimmerns. Und was er vergessen hatte, frischten die Geschichten aus jenen Tagen des Schreckens auf. Man wurde nicht müde, sie sich wieder und wieder zu erzählen. Er hatte Blut gerochen, es auf den Leichen seiner Landsleute sich schwarz färben sehen. Wie satt die Fliegen gesummt hatten. Und er konnte sich an die Angst erinnern. Sie hatte einen ganz eigenen Geruch: Sie stank nach Schweiß, Urin und Rauch. Dieser Geruch würde sich niemals wegwaschen lassen, denn er war tief in seine Seele eingezogen. Als alles vorüber war, kam die Bestrafung. Er hatte gesehen, wie man Sepoys vor dem Lauf der alten Kanone Zamzammah festband, die vor dem Ajaib Gher in Lahore stand, und sie in tausend Stücke zerfetzte. Sepoys hatten auch von manchem Baum gehangen wie riesige Flughunde. Der Genuß der Rache hatte ihn tief befriedigt; ein gutes Gefühl. 1857 steckte ihnen allen in den Knochen, verfolgte sie wie eine Monsunwolke, die die Sonne verdunkelt. Alle hatten sie Angst davor ... alle außer Männern wie Curzon natürlich, die nur während ihrer Regentschaft als Vizekönige in Indien lebten und nach der Pfeife der Regierung in London tanzten. Der Oberst war entschlossen, alles zu tun, um ein neues 1857 zu vermeiden.

»Nach meiner Meinung«, sagte er und blickte dem Vizekönig fest ins Gesicht, um dessen Reaktion richtig zu beurteilen, »brauchen wir strengere Gesetze, um Herren der Lage zu bleiben.«

»Woran denken Sie?« Curzon ließ sich nicht anmerken, was er dachte.

»Für den Anfang an Polizeigewahrsam ohne Gerichtsverfahren und Verbannung.«

»Und selbstverständlich auch einige Hinrichtungen? Sie wollen mehr Macht, Oberst. Ich bin dagegen. Ich werde solche Maßnahmen nicht dulden, sie sind zu drakonisch.« Der Vizekönig bedeutete dem Oberst zu schweigen. »Ich weiß, daß Sie das Land am liebsten hinter Schloß und Riegel halten möchten, aber vergessen Sie nicht, daß wir Engländer sind. Wir können uns nicht wie Tyrannen gebärden.«

»Es würde sich nur um vorübergehende Maßnahmen handeln.« Der Oberst beschloß, die Sache nicht weiter zu erörtern. Curzon war der falsche Mann. Besser auf den nächsten Vizekönig warten und die Gesetzesänderungen dann mit Nachdruck verfolgen. Die Basargerüchte gaben die Stimmung im Lande zweifellos exakt wieder. Man mußte ihnen nachgehen, sie brechen, ein für alle Male ausrotten.

»Übrigens, wer soll sie denn im Keim ersticken?« wechselte Curzon das Thema, denn er wußte, was der Oberst dachte.

»Ich habe einen Agenten – mein bester Mann. Er kümmert sich darum.« Er winkte die Diener aus dem Raum. Seine Geste ließ spüren, daß er zu befehlen gewohnt war; seine natürliche Autorität war der Autorität des Vizekönigs ebenbürtig. Die beiden Männer saßen nun allein, hörten Musikfetzen und Gelächter. Es klang wie ein Freudenfest, nicht wie ein Abschied.

Der Oberst hielt Curzon für schwach. Er hatte ihn weinen sehen, als Kitchener seiner vizeköniglichen Gewalt die Stirn geboten hatte. Indien hatte ihn zerbrochen. Falsch, nicht Indien hatte ihn zerbrochen, er hatte sich selbst zerbrochen, weil er es nicht geschafft hatte, das Land zu regieren. »Er wird die Aufrührer aufspüren, und ich werde sie ausmerzen.«

»Sie scheinen sich sehr auf den Mann zu verlassen. Wer ist es?«

Der Oberst zögerte. Die Frage gefiel ihm nicht. »Er heißt Kimball O’Hara.«

»Großer Gott! Ein Ire. Er wird in den Basaren auffallen wie ein seltenes Tier und alles verpatzen.«

»Sie kennen ihn nicht, Sir. Er sieht aus wie ein Inder und benimmt sich auch so. Er kann denken und fühlen wie sie. Er kennt die tausend Windungen ihres verschlagenen Geistes.«

»Mit einem Namen wie O’Hara?«

»Sein Vater war Ire und seine Mutter Engländerin, aber er ist früh verwaist und in den Basaren von Lahore aufgewachsen. Ich kann Sie beruhigen, Kim ist einer von uns. Ich vertraue ihm wie meinem eigenen Sohn.«

Kapitel 2

Kim blickte nach Norden, nicht in Andacht, sondern sich erinnernd. Der neue Tag brach an. Er kam wie eine Sinnestäuschung, so als hätten sich die Augen nun endlich an die indische Nacht gewöhnt. Die Bergspitzen erschienen wie ein grauer Flor. Bald, wenn die ersten Sonnenstrahlen den Schnee beleckten, würden sie sich rosa färben.

»Irgendwo dort oben war mein Freund zu Hause, der Lama. Wie lange es her ist, daß wir gemeinsam von Lahore nach Benares gewandert sind, um den heiligen Fluß zu suchen. Er hat ihn gefunden. Er hatte Glück. Gott ist mit den Unschuldigen, und was für ein Kind der Lama doch war. Ich hatte das noch nicht gesehen. Solche Unschuld kannte ich nicht. Wie hätte ich sie auch vorher kennenlernen sollen. Etwa in den Basaren von Lahore oder auf der Grand Trunk Road, die der Garten meiner Kindheit waren? Kaum vorstellbar. Aber ich habe überlebt und bin gewachsen. Es ist mir besser ergangen als den meisten meiner Freunde, chokras, Gassenjungen wie ich, die inzwischen tot sind, verstümmelt oder Bettler. Mein Lama-Freund hat aus dem Glauben Kraft geschöpft, daß Gott ihn leiten würde. Mein Glaube fehlt mir noch. Aber wenigstens ersetzt mir der Oberst den Vater, den ich niemals gekannt habe. Meine Mutter, das ist Indien ... die Sonne, der Staub, die Gewässer, der Duft der heißen Erde. Auch ich werde meinen Glauben finden, auch ich werde mich eines Tages auf die Suche begeben. Der Geist meines Lama wird mich von dort oben durch mein Leben leiten.«

Kim stand auf und streckte sich. Er schlenderte zu einem Deodar, öffnete seinen paiyama und urinierte. Es dampfte, roch nach Erde wie die Rinder am Straßenrand, wie der würzig-süße Rauch von Dungfeuern. Die in der Winterkälte erstarrten Lebensgeister waren wieder geweckt. Er band seinen paiyama zu und spazierte zu einem der Sikh-Wächter hinüber.

»Sardar, wann hören sie da drinnen endlich auf?«

»Wenn es ihnen paßt und nicht, wenn Strauchdiebe wie du es gern hätten. Scher dich zu den anderen Kulis zurück.«

»Salahs«, fluchte Kim. »Du würdest auch bei uns hocken, wenn du nicht so eine schmucke Uniform anhättest. Woher kommst du?«

Der Wachtposten lachte in sich hinein. »Aus der Gegend von Ludhiana. Und du?«

»Lahore«, antwortete Kim im Bewußtsein, daß seine Vergangenheit zum Teil reine Erfindung war. Er konnte in Indien keinen Platz für sich beanspruchen, nicht mit solcher Selbstverständlichkeit. Er hatte weder Heimatdorf noch Ahnen. »Bezahlen sie dich gut dafür, daß du reglos wie ein Ölgötze herumstehst?«

»Gut genug, daß ich mein Weib und meine Kinder ernähren und mir eines Tages einen kleinen Bauernhof kaufen kann.«

»Kaufen? Für deine Dienste wird dir der sarkar gewiß einen schenken, auf Kronland, das treuen sardars vorbehalten ist.« Kim wußte, was das Kronland war: Land, das man den Gegnern der britischen Herrschaft weggenommen hatte. »Das heißt, vorausgesetzt, du fällst nicht vorher im Kampf.«

»Früher oder später müssen wir alle sterben«, sagte der Sikh, »du wahrscheinlich früher, vor allem, wenn du dich nicht gleich wieder zu deinen Gefährten scherst.«

Kim spuckte knapp neben die polierten Stiefel. Der Sikh brauste auf. Er mußte sich beherrschen, Kim nicht zu schlagen.

»Wenn du getroffen hättest«, zischte er, »wärst du bei dem nächsten Blick auf mein Gesicht schon tot gewesen.«

»Sardar, jede Frau wird dir sagen, daß ein Blick auf dein Gesicht genügt, das Geheimnis zwischen ihren Beinen schrumpfen und austrocknen zu lassen.«

Das Wortgeplänkel wäre sicher noch weitergegangen, aber ein Diener kam und rief nach der Rikscha des Oberst. Kim holte sie. Sie war grün angestrichen, hatte eine braune gepolsterte Sitzbank und rechts und links eine Messinglaterne. Er folgte dem Diener die Auffahrt hinauf. Durch die geöffneten Türen sah er tanzende Paare; sie schienen zu gleiten. Mit dem Schritt über diese Schwelle, dachte er, würde ich jenes andere, fremde Land betreten, das ich nur aus meinen Schulbüchern kenne. Das Bild erinnerte ihn an Schmetterlinge hinter Glas, seltsam exotisch.

Der Oberst trat ins Freie, in einen Abendumhang gehüllt, und nahm auf der Sitzbank Platz. Kim hob die Griffleiste der Rikscha. Während er an den Kulis vorbei zum Tor trottete und dann in den rhythmischen Laufschritt fiel, spürte er jene Augen auf seinem Rücken; es kam ihm vor, als würden sie Fleisch und Knochen freilegen.

»Du brauchst es nicht zu übertreiben, Kim. Das ist nicht nötig«, sagte der Oberst. »Was hast du herausgefunden?«

Die Mall lag verlassen. Kims Atem verwandelte sich in Dampf, der in stoßweise sich bildenden Wolken vor seinem Mund aufstieg. Es tagte, und Simla trat zu beiden Seiten der Straße langsam ans Licht. Die kleinen, Behagen verströmenden Bungalows in den Hügeln erinnerten Kim an die Dörfer aus seinen Schulbüchern. Vom Basar unterhalb der Mall stieg Rauch auf, wie in der Frühe immer. Morgennebel schmiegte sich an die Erde; wie Spitzendecken hingen vereinzelte Fetzen hie und da zwischen Blättern und Ästen. In einer Kurve rannte Kim in einen dicken Schwaden hinein, geisterhaft und vorahnungsreich. Er rannte und dachte, es würde nicht lange dauern bis zum anderen Ende. Aber es dauerte lange. Er sah im Geiste Schatten und Gestalten, die den Schwaden erfüllten, und verlangsamte das Tempo. Der Nebel ließ ihn frieren, obwohl die Feuchtigkeit sich auf der Haut sanft anfühlte.

»Zwei Männer sind mit Mordabsichten nach Simla gekommen«, sagte Kim. »Ein junger und ein alter.«

»Kannst du sie finden?«

»Möglich. Sie sind im Basar untergetaucht.« Der Oberst sprach Englisch, Kim Hindustani. Er war mit der für ihn fremden Zunge noch nicht gut vertraut, dachte und träumte immer noch in der Sprache seiner frühen Kindheit. Dem Oberst war es recht. Kim war ihm zu wertvoll, um sein Englisch zu perfektionieren. Das würde ihn nur Land und Leuten entfremden. Der Oberst hatte es bei gebildeten Eingeborenen beobachtet, die sich nun für etwas Besonderes hielten, nur weil sie perfekt Englisch sprachen. Solche Vorzeichen ließen den Oberst erschauern. Er spürte die Blätter und den Staub wie kleine Pfeile, Vorboten des Monsuns.

»Wen wollen sie umbringen?«

Kim wartete, bis er den Nebel hinter sich gelassen hatte. Der Sonnenaufgang tönte den Himmel sanft pfirsichfarben. Er erwog die Frage, spielte sie vorsichtig und behutsam im Geist durch.

»Warum zögerst du? Wenn es ein Engländer ist, muß ich es wissen.«

»Oberst-Sahib, ich kann nur wiedergeben, was andere mir erzählt haben. Das ist nicht immer die Wahrheit, denn sie hören gewöhnlich nur mit halbem Ohr zu.« Er hielt inne und fügte dann hinzu: »Ja, die Angrezis. Aber es ist nur das Wort eines Kulis.«

»Vielleicht hast du recht, Kim. Der Basar ist ohnehin nur eine Gerüchteküche. Ich würde mir nicht die Mühe machen, sie zu finden.«

»Aber der Vizekönig fährt morgen ab«, wandte Kim ein. Das Desinteresse überraschte ihn.

»Mach dir keine Sorgen. Ich werde die Bahnlinie von zusätzlichen Posten sichern lassen.« Die Handvoll Inder, die die britische Herrschaft gewaltsam bekämpfte, war ohnehin nicht für mutige Streiche bekannt. Sie ermordeten gelegentlich einen Commissioner oder einen Bezirksbeamten und tauchten dann schnell in den Weiten Indiens unter. Man jagte sie, faßte sie und brachte sie an den Galgen; denn der Oberst übte immer Vergeltung. Das Große Spiel an der Nordwestgrenze gegen die Agenten des Zarenreichs war längst nicht mehr seine Hauptaufgabe. Nun forderte das Spiel hier in Indien seine Geschicklichkeit und Geduld.

Wie könnte er den indischen Nationalkongreß für seine Zwecke einspannen? Diese Partei vermögender Grundbesitzer gab es seit fünfundzwanzig Jahren, gegründet, man glaubte es kaum, ausgerechnet von einem Engländer: Allan Octavian Hume. Hume hatte die Notwendigkeit gesehen, den Eingeborenen als Sicherheitsventil gegen nationalistische Bestrebungen ein politisches Forum einzuräumen, eben den Nationalkongreß. Die Regierung hatte der Partei zögernd die Gründungserlaubnis erteilt und überwachte ihre Aktivitäten ganz genau. Ihre Forderungen waren bescheiden: ein paar Krümel von der Torte der Macht, vor allem natürlich für ihre Mitglieder.

Der Oberst dachte: Wir dürfen nicht nachgeben. Abnutzung ist gefährlich; ein Krümel jetzt, später dann eine ganze Scheibe. Andererseits predigt der Kongreß nicht Gewalt, ist im Gegenteil fast schon regierungshörig. Seine Mitglieder lassen sich eher friedlich stimmen als die Extremisten. Gut, ich werde sie also als Puffer benutzen. Außerdem sind die Kongreßleute bestechlich. Sie wollen nur eine Stellung und ein bißchen bakshish. Haben sie ihren Dienst getan, werde ich sie aufhetzen, einen gegen den anderen ausspielen. Ein leichtes Spiel. Jetzt sitzen Moslems und Hindus noch friedlich beieinander, aber ich werde dafür sorgen, daß sie sich zu gegebener Zeit an die Gurgel fahren.

»Ich gehe das letzte Stück zu Fuß«, sagte der Oberst freundlich. Kim klebte der kurta am Rücken, und Schweißperlen rannen ihm über das Gesicht. Sein schwarzer Schnurrbart war nicht mehr straff gezwirbelt; sonst erinnerte er an kleine Bisonhörner, jetzt hing er schlaff herab. Kim hielt an, wischte sich mit dem Schal das Gesicht. Der Oberst stieg ab und ging neben Kim über die verlassene Mall. Auf dem Grat des Hügels, auf dem Simla erbaut war, hatten nur Engländer Zutritt. Darüber verlief die Mall, von Viceregal Lodge am einen zum Sekretariat am anderen Ende. Es war geweihte Erde, eingesäumt von englischen Geschäften, englischen Banken, englischen Teestuben. Wie eine Radnabe stand mitten darin das Gaiety Theatre.

»Du mußt mir helfen, Kim«, sagte der Oberst. »Wir werden Seite an Seite kämpfen. Narren wie dieser Curzon sind dabei, alles zu untergraben, für das wir in diesem Land einstehen. Man darf den Mäusen nicht erlauben, am Fundament zu knabbern. Ich möchte, daß alles so bleibt, wie es ist. Immer. Verstehst du das, Kim?«

»Ja, Oberst-Sahib.«

Sie atmeten die kalte Luft ein und schauten zum Himalaya hinüber: Unten mächtig sich türmende dunkle Sockel, darüber die Gipfel, weiß beschneit und in der Würde ihres Alters. Selbst in der Nacht glänzten diese Gipfel wie ätherische Leuchtfeuer, seltsam phosphoreszierend. Das Auge konnte ihre Konturen nicht eindeutig wahrnehmen; sie verschwammen irgendwie im Licht, verschmolzen mit der Weite des Himmels.

»Wer wohnt doch gleich dort oben?« überlegte der Oberst laut.

»Parvati, Shivas Frau. Man nennt sie die Tochter der Berge.«

»Sie hat nicht viel für ihr Volk getan, habe ich recht? Jeder Eroberer ist frech unter ihr vorbeimarschiert. Mich wundert, daß die Inder immer noch an diese Geschichten glauben.« Der Oberst wandte sich dem jungen Mann zu, der neben ihm die Rikscha zog. »Wir sind von Süden her gekommen, vom Meer. Und jetzt gehört uns Indien, nicht nur ein Teil wie den Mogulen, nein, das ganze Land. Wir haben ein Recht, über dieses Land zu herrschen – ein größeres Recht als jene Götzen, die angeblich auf den Bergen dort thronen.«

Hoch oben kreiste einsam ein Vogel. Aus irgendeinem Grund mußte Kim an Jatayu denken, den mächtigen Geier, der nach der Hindulegende mit dem aus der Heimat vertriebenen Prinzen Rama und dessen Frau Sita gegen den Dämonenkönig Ravana gekämpft hatte. Wie das Ramayana erzählt, hatte Jatayu versucht, Sita den Klauen Ravanas zu entreißen, und in diesem Kampf den Tod gefunden. Obgleich seine Schwingen und Fänge bereits abgehackt gewesen waren, hatte er nicht nachgelassen, bis Ravana ihm das Schwert tief in die Brust stieß.

»Mein Vater hat sein Leben der Krone geopfert.«

»Ja, das hat er«, pflichtete der Oberst bei, obwohl er doch wußte, daß Kims Vater sein Leben in einer Opiumhöhle ausgehaucht hatte. »Wir müssen das Indien bewahren, für das er sein Leben gab. Wir werden Seite an Seite kämpfen.«

Der Oberst legte seine Hand auf Kims Schulter, spürte die festen Muskeln, drückte sie zärtlich. Er kannte Kim fast von klein auf. Kim war an der Seite eines komischen Fakirs durch das Land gezogen, der irgend so einen blödsinnigen heiligen Fluß gesucht hatte. Er gehört mir, dachte der Oberst. Ich habe ihn entdeckt. Ich habe ihn geschult und geschliffen. Er ist meine Waffe, unsichtbar, nicht zu erkennen, gefährlich. Er ist mein Auge, mein Ohr und meine Nase. Ich beneide ihn. Er tut für uns, was kein anderer tun kann. Er kann das ganze Land durchstreifen, sich unauffällig unter die Leute mischen.

»Gut, ich suche jetzt also die beiden Männer«, sagte Kim, und bevor der Oberst antworten konnte, war er schon leichtfüßig den Hang hinab auf dem Weg in den Basar.

Die Straße wand sich um den Hügel. Deutlich konnte man die Ketten der Vorberge unterscheiden, die nach Süden immer niedriger wurden. Kim schaute zum Himmel. Dort stand noch der Adler, ließ sich jedoch in weiten Kreisen tiefer fallen.

Dann hörte er zu kreisen auf. Er schwebte auf der Stelle, dann stieß er im Sturzflug herab, geradewegs auf Kim zu. Je näher er kam, desto größer, mächtiger wurde seine Erscheinung. Seine weiten Schwingen neigten sich nach rechts, dann nach links, um seinen massigen Körper im Gleichgewicht zu halten. Und immer noch stürzte er auf Kim zu. Dann kam er den Baumspitzen nahe. Er berührte fast die Kuppen der Deodars. Sein mächtiger Schatten setzte sich wellenartig über den Erdboden fort; wo er hinfiel, verwandelte er den neuen Tag in tiefe Dunkelheit. Die Luft tönte vom Sausen des Windes in seinen Flügeln, und seine Augen waren schrecklich schön. Fänge so groß wie Säbel hatte er, und seine gesprenkelte Brust war geschwungen und mächtig wie der Bug eines Schiffes.

Als er seinen Sturzflug mit einem Flügelschlag abbremste, wirbelten die Blätter auf wie bei einem Sturm. Kim spürte den kalten Luftzug auf seinem schweißgetränkten Körper und schaute zu dem Adler über seinem Kopf auf. Der Adler sprach zu ihm: »Namaskar, namaskar ... Ich bin Jatayu, jener Jatayu, der Ravana bekämpfte und unter seinem Schwert fiel. Für meinen Mut gewährte mir Brahma ewiges Leben und verwandelte mich aus einem Geier in einen Adler.«

»Warum bist du Vogel geblieben?« fragte Kim mit nervöser Stimme, die vor Ehrfurcht zitterte.

»Brahma fragte mich, ob ich ein Mensch sein wollte, aber die Last des Menschseins ist für meinen atman zu beschwerlich. Ich will nur in den Lüften schweben und das Tun der Menschen von fern beobachten. Aber für dich habe ich eine Botschaft. Unten in der Ebene wartet ein Mann auf dich. Er ist nur so groß wie ein Kind, aber sein Geist ist der eines Weisen. Du mußt ihn finden. Namaskar ... «

Jatayus Schwingen schlugen die Luft, und Kim konnte sich kaum auf den Beinen halten, so mächtig war der Zug. Die Deodars schwankten, wobei die Äste knarrten, als ob sie kleine Zweige wären. Ja, auch die Häuser erzitterten, als der Adler sich in die Lüfte emporschraubte, mit jedem Flügelschlag schrumpfte und schließlich nur noch ein kleiner Flecken vor der aufgehenden Sonne war.

Jetzt wußte Kim: »Wenn ich in Simla meine Pflicht getan habe, muß ich als nächstes den Mann suchen, der in der Ebene auf mich wartet.«

Der Basar lag im Schatten der Mall. Eng drängten sich die Häuser gegen den Steilhang. Kim spürte, wie der Raum sich verengte, die Menschen dicht an dicht lebten. Das erzeugte Spannung und Druck. Als ob sie alle dem Rand der Welt entgegentaumelten, wo es keine feste Erde unter den Füßen mehr gab. Sie fielen an den Hängen herab, kämpften gegen die Schwerkraft und darum, der Mall so nahe zu sein wie möglich, während die Sonne doch über ihren Köpfen schien.

Der leichte Nieselregen in der Nacht hatte die Luft gereinigt und die Bretterbuden mit einem glänzenden Flor überzogen. Das Leben regte sich: Kinder saßen im noch wäßrigen Sonnenlicht, Straßenköter hatten sich zu dürren Knäueln zusammengerollt, die Frauen kehrten den Boden vor ihren Buden, und der Duft von channa, süßem Tee, klebrigen jalebis, die in Öl gebacken wurden, von Chili, Senfkörnern und dhania durchsetzte allmählich den Geruch des Regens. Männer wie Frauen hockten hinter Reihen von frischen Tomaten, Kartoffeln, Zwiebeln, grünen Chilis und Knoblauch, alle noch vom Tau benetzt, die auf Jutefetzen ausgelegt waren, und warteten auf die Diener und Köche, die zum täglichen Einkauf bald von der Mall herabsteigen würden. Mit gekreuzten Beinen hockten banyas über ihren Schätzen von Seide, Baumwolle, Gold, Silber, Messinggefäßen und Gewürzen.

Kim fühlte sich in das vertraute Leben tauchen wie in die Wasser des Ganges. Er grüßte die vielen, die er kannte; jenen, die er nicht kannte, den neuen Gesichtern aus den Vorbergen, ganz beschäftigt mit der Aufgabe, ihre vielen Pullover und Schals ordentlich zum Verkauf zu stapeln, entbot er seinen salaam. Er parkte die Rikscha vor einer kleinen Bretterhütte und ging hinein, leichtfüßig über zusammengerollte Schläfer steigend. Bald hatte er den gesuchten Mann gefunden.

»Ahree, Suresh.« Er zog an der Decke, und hinter ihrem Rand erschien ein mageres Gesicht mit grauen Bartstoppeln. »Hier, die Leihgebühr für deine Rikscha.« Kim reichte ihm ein paar Münzen, die dankbar entgegengenommen wurden.

Ramchand, der chai-wallah, rührte einen Topf mit Tee um und begrüßte Kim herzlich. Er goß Milch in einen Teekrug, schüttete Zucker dazu, füllte ihn mit Tee und reichte Kim dazu ein Stück frisches Fladenbrot. Kim hockte sich neben ihn, um zu essen und zu trinken.

»Ich suche zwei Männer«, sagte er. »Der eine ist jung, der andere alt. Sie sind gestern hier vor deiner Bude aus einer Rikscha gestiegen. Hast du gesehen, wohin sie gegangen sind?«

Die Teebude war ein kleines, improvisiertes Holzhaus an einer Kreuzung, eigentlich nicht viel mehr als ein Bretterverschlag. Darin bot Ramchand nicht nur Tee, sondern auch einfache Speisen an, die jetzt in den Töpfen auf dem Tonherd köchelten. Er wischte sich die Hände mit einem Lappen und ließ einige bhajis in siedendes Öl gleiten. Er war ein hagerer, gebeugter Mann, mit grobknochigen Knien, der auf dem rechten Auge schielte.

»Der eine jung, der andere alt, sagst du? Ja. Sie sahen aus wie Fremde auf Besuch. Der junge Mann hat einen Koffer getragen.«

»Sind sie auseinandergegangen, als ob sie sich nicht kennen würden?«

»Nein. Sie haben miteinander gesprochen. Ich habe gehört, wie der Alte sagte, daß er seinen Begleiter im Prince-Hotel unterhalb der Mall wiedertreffen würde. Sie haben sich dort eingemietet. Sie sahen auch so aus, als ob sie es sich leisten könnten. Es soll unglaublich teuer sein.«

Kim waren die Unstimmigkeiten in dieser Geschichte nicht entgangen. Wie die meisten Menschen sah und hörte auch der Rikscha-wallah nur die Hälfte dessen, was geschah.

Kim aß auf und zündete sich ein Beedi an. Er rauchte es nach indischer Art durch die geschlossene Faust, anstatt es wie die Weißen mit zwei Fingern zum Mund zu führen.

»Wie waren sie angezogen?«

»Wie Angrezis, einfach todschick, posh.« Ramchand sagte das letzte Wort auf Englisch und johlte über seinen eigenen Witz. Er lehnte Kims Bezahlung mit einer Handbewegung ab und gluckste immer noch stillvergnügt, als Kim bereits zum Hotel unterwegs war.

Das Prince-Hotel war ein bescheidener Bungalow in günstiger Lage zwischen Mall und Basar. In den Hang gebaut, war es von einem kleinen grünen Rasen umgeben. Hier stiegen Inder ab, die sich die gleichermaßen bescheidenen Preise leisten konnten. Sie kamen zumeist im Sommer wie die Engländer, begierig, ihre Herren nachzuäffen. Da ihnen der Zugang zur Mall verwehrt war, gingen sie unter den Deodars in den Hügeln spazieren. Jetzt, im Winter, sah das Prince-Hotel verlassen aus. Ein uniformierter chaukidar döste am Tor im diesigen Sonnenschein. Kim weckte ihn auf.

»Chaukidar-Sahib. Hier sind zwei Herren abgestiegen, die mir Geld schulden. Der eine ist jung, der andere alt. Kann ich zu ihnen?«

»Hinein darfst du nicht«, antwortete der chaukidar. »Wenn du wartest, kannst du sie vielleicht abpassen.« Er sah, wie Kim sich in der Sonne niederhockte. »Da wirst du lange warten müssen.«

»Warum?«

»Weil sie schon weggegangen sind.« Er deutete in die Hügel.

»Hast du gesehen, wohin?«

»Irgendwo da oben, wohin sonst.« Der chaukidar spuckte an den Wegesrand. Ihm mißfiel, daß dieser Kuli ihn aufgeweckt hatte, der sicher keine bakshish geben würde. Als pensionierter Regierungs-chaukidar war er sich seiner Stellung bewußt und redete nicht mit jedem dahergelaufenen Tagedieb.

»Aber sie werden doch zurückkommen?«

»Ja. Jetzt scher dich fort.«

»Haben sie ihren tiffin mitgenommen?«

»Ja, einen Picknick-Korb und einen seltsamen Apparat. Sah aus wie ein jezail.«

Kim bedankte sich artig bei dem mißgelaunten alten Mann und beeilte sich, diese neue Information an den Oberst weiterzuleiten. Kim hoffte, daß die beiden Männer mit dem jezail nur auf Wachteljagd waren, aber er durfte kein Risiko eingehen. Die Polizei mußte vorgewarnt werden. Am Mittag würde der Vizekönig nach Delhi abreisen.

Kapitel 3

Das Gebirge weckte poetische Empfindungen, und der junge Mann blickte gen Süden, vom Lichtspiel an den Hängen der Vorberge entzückt. In das zarte Zitronengelb der Sonne und die schwarzen Schatten gebettet, verloren sich ihre wellenähnlichen Kämme in Dunstschleiern. Er hatte solche Schönheit noch nicht geschaut: das Grün der Wälder, die winzigen Flecken der Weizenfelder, die weißen Tupfen der Bungalows. Er konnte sich kaum vorstellen, wo er saß – und doch saß er eben da: auf der Stirn von Mutter Indien, den Blick hinab auf ihren unermeßlichen Leib gerichtet. Hinter ihm und links und rechts neben ihm wuchsen Himalaya-Zedern; ihre Kuppen rührten an den blauen Himmel. Ihre Stämme hingegen wanden sich wie Korkenzieher vielfach um die eigene Achse und waren verbogen wie alle Bäume, die an einem Steilhang wachsen. Auf der Erde breitete sich ein Teppich aus Zapfen und Blättern aus.

Sein Onkel saß etwas weiter weg auf einem Jagdstock. Beide Männer trugen Tweed-Jacken, locker fallende Knickerbocker und feste Schuhe mit Lochmuster. Anil Ray war barhäuptig, sein Onkel trug eine Jagdmütze. Wäre ihre Haut nicht so dunkel gewesen, man hätte sie für Engländer gehalten.

Der Jagdstock war ein Lieblingsstück des alten Herren. Er hatte englische Gentlemen sie in Goodwood benutzen sehen und sie für eine wunderbar sinnvolle Erfindung gehalten. Seinen hatte er in London gekauft, auf der Bond Street. Er war aus Stahl und lief unten spitz zu; wo die Spitze in den eigentlichen Schaft überging, war eine Metallscheibe befestigt. Der Griff war gebogen und ließ sich zu einem Ledersitz aufklappen. Der Stahlschaft war in Leder gebunden, in das in Gold die Initialen des Besitzers punziert waren.

»Die Landschaft erinnert mich an die Schweiz«, sagte er.

»Aber schöner noch, geradezu grenzenlos.« Anil sprach Englisch in dem für Internatsschulen typischen Tonfall. »Ich wünschte, ich hätte das schon früher alles gesehen. Ich kenne England und Europa besser als meine eigene Heimat.«

»Du hast noch viel Zeit.«

Ein Hauch des Bedauerns blieb trotzdem haften, wie das Seufzen einer leichten Brise zwischen den Bäumen. Ja, er hatte Zeit. Anil war jung, gerade aus England zurückgekehrt. Er war in Eton zur Schule und in Oxford auf die Universität gegangen, hatte sich danach noch drei Jahre auf seine Zulassung als Rechtsanwalt vorbereitet und schließlich alle Examina erfolgreich abgeschlossen. Es war ein sonderbares Exil gewesen. Man hatte einen englischen Gentleman aus ihm gemacht. Und darin lag die Wurzel seines Bedauerns, auch wenn er die Notwendigkeit der Prozedur durchaus einsah. Er war nun mit Sprache und Lebensart der Engländer vertraut und hatte begonnen, in Kalkutta als Rechtsanwalt zu praktizieren. Der Erfolg flog ihm zu; die englischen Richter betrachteten ihn mit Wohlwollen.

Ich bin ein anderer geworden, ohne jemals zu wissen, wer ich ursprünglich war. Es ging alles so schnell. Aber ich darf mich nicht beklagen. Es ist offensichtlich zum Besten gewesen. Nach den Ferien hier werde ich in Kalkutta heiraten. Das Mädchen ist so jung und scheu. Aber meine Mutter hat sie für mich gewählt, und in dieser Angelegenheit werde ich mich der Tradition beugen.

Weit unter ihnen sah Anil die Geleise der Schmalspurbahn aufblitzen. Sie wanden sich und verschwanden in einem Hügel. Auf der Strecke nach Simla gab es insgesamt einhundertunddrei Tunnel. Er konnte nicht anders, er mußte die Energie und den Erfindungsgeist der Engländer einfach bewundern.

Wir hätten die Mühen gescheut und deswegen auch kein solches Wunderwerk bauen können. Und das alles nur, weil sie Simla auf bequemem Weg erreichen wollen.

Er sah einige Gestalten auf den Geleisen entlanggehen. Zwei von ihnen blickten am Hang entlang nach oben. Er sah ihren Feldstecher aufblitzen, während sie zu der Baumgruppe hinaufstarrten, wo er mit seinem Onkel saß.

»Ich bin glücklich hier«, sagte Anil. »Die Luft macht ein wenig trunken. Sie ist so klar und mild wie ein guter Scotch.«

Er öffnete den Korb neben sich und breitete ein Tischtuch aus. Dann verteilte er Teller und Besteck und trug kaltes Hühnchen, Kartoffeln und Brot auf. Aus einer Thermosflasche servierte er gekühlten Weißwein. Während seiner Studienzeit war er häufig auf Picknicks gewesen, in Oxford und auf seinen Reisen auf dem Festland.

»Cha-cha, der Lunch ist bereit. Aber ich brauche kurz dein Taschenmesser, um das Hühnchen zu zerlegen. Der Diener hat keines eingepackt.«

Der Onkel hörte es gern. Er war derartig belebende und appetitanregende Anstrengungen nicht gewöhnt; sein Magen hatte schon seit einer Stunde geknurrt. Anil nahm das Messer entgegen, klappte die über zehn Zentimeter lange Klinge auf und tranchierte das Hühnchen. Sie setzten sich einander gegenüber auf den Boden und aßen heißhungrig. Der Jagdstock lag zusammengefaltet neben dem Onkel. Sie sahen sich nicht gerade ähnlich. Der Onkel war untersetzt, hatte einen deutlichen Ansatz zur Glatze und eine kurze, breite Nase. Aber er war attraktiv. Haltung und Bewegung verrieten Anmut, und man kannte ihn überall als einen ausgesprochen vornehmen Mann mit feinen Manieren. Er sprach fünf Sprachen fließend, darunter Deutsch und Französisch, und man wußte von seiner Schwäche für schöne Frauen und Pferde, die nie ein Rennen gewannen.

Anil war gebaut und durchtrainiert wie ein Athlet. Für Eton hatte er im Kricket-Team der Schule gespielt und auch in Oxford die Ehre erfahren, in die Mannschaft gewählt zu werden. Trotzdem vermittelte er nicht den Eindruck eines aktiven, zupackenden Menschen, sondern der stummen Sehnsucht eines Träumers.

Beim Essen neckten sie sich freundschaftlich über die Wahl ihres Urlaubsortes. Anil mochte seinen Onkel herzlich gern und betrachtete ihn als einen besonders engen Freund. Bei seinen Englandbesuchen hatten sie jedesmal schöne Tage zusammen verbracht.

»Was kann man in Simla schon unternehmen außer Spazierengehen«, sagte der Onkel. »Eine scheußliche englische Unsitte, so scheußlich wie ihr Wetter.« Nichts machte er lieber, als sich liebevoll über die Briten zu mokieren. Wie sein Neffe war er überzeugt, daß es keine feineren Herrschaften auf Erden geben konnte, und so hatte er sich die Umgangsformen seiner englischen Freunde zum Vorbild genommen.

»Immerhin gesünder, als in einem machan darauf zu warten, daß dir ein armes Tier vor die Flinte läuft.«

»Die Jagd ist ein fürstlicher Sport.«

»Aber wir sind keine Fürsten. Wir müssen sie nicht nachäffen, uns unseren Mut beweisen, indem wir Tag für Tag zehn Tiger abschießen, natürlich nur mit den teuersten Büchsen, versteht sich. Nach einer Woche Simla wirst du dich wie neugeboren fühlen, cha-cha.«

»Schrecklicher Gedanke. Da ziehe ich eine redliche Erschöpfung vor. Ich würde sogar lieber töten, als dauernd spazierengehen zu müssen.«

Ganz in ihr Gespräch vertieft, bemerkten sie nicht, daß eine Gruppe von Männern sich ihnen vorsichtig näherte und sie umzingelte. Die Männer traten so geräuschlos wie möglich auf das Laub und nutzten die Baumstämme als Deckung.

Ein hochgewachsener, grobknochiger Mann führte die Polizisten und bedeutete ihnen, sich näher anzuschleichen. Richard Goode war jung für einen DI, einen stellvertretenden Polizei-Inspektor. Er tat erst seit sechs Jahren in Indien Dienst und hatte sich den Ruf eines ehrlichen, peniblen, aber gelegentlich übereifrigen Mannes erworben. Seine Beförderungen verdankte er vornehmlich dieser letztgenannten Eigenschaft.

Er hielt etwa zwanzig Meter vor den auf dem Boden sitzenden Indern inne, musterte ihre Kleidung und hörte etwas von »töten«; die dünne, klare Bergluft trug auch leise Stimmen sehr weit. In den Falten des Tischtuchs verborgen, lag neben ihnen etwas wie ein Gewehr. Man hatte ihn gewarnt. Jetzt zog er den Revolver aus dem Halfter und entsicherte ihn behutsam. Als er sich vergewissert hatte, daß seine Männer gut postiert waren und die Enfield-Gewehre im Anschlag hielten, sprang er aus der Deckung hervor.

»Aufstehen!« brüllte er auf Hindustani.

Anil und sein Onkel schreckten auf. Sie sahen Goode, den Revolver auf sie gerichtet, und spürten, daß noch andere Männer auf der Lauer lagen.

»Unerhört«, faßte sich der Onkel. »Was soll der Unsinn. Wir sitzen hier und picknicken.«

»Auf! Sofort!« brüllte Goode erneut. Er war nervös, angespannt; er hielt den Revolver so verkrampft, daß sich die Fingerknochen weiß unter der Haut abzeichneten.

Anil bemerkte Goodes roten Schnauzbart. Eine eigenartige Farbe. So als würde eine Mohrrübe wie eine Balkenwaage unter Goodes Nase hängen. Während er sich langsam erhob, schaute er ganz gebannt auf dieses Detail – ein befremdlicher Anblick, so befremdlich wie die ganze Situation.

Sein Onkel war zu beleibt, um sich aus eigener Kraft aufzurichten. Deshalb fuhr die Hand zum Jagdstock, und er erhob sich, den Jagdstock als Stütze, halb auf ein Knie ... Der Schuß traf ihn mitten in die Brust und warf ihn über die Reste des Picknicks. Die Detonation schien noch lange nach seinem Tod nachzuhallen, grollte durch die Täler und um die Hügel wie ein Trommelwirbel. Schließlich hatte sich ihre Kraft erschöpft. Es war still.

Anil starrte auf seinen Onkel hinab. Da war ein kleines schwarzes Loch in seiner Brust, kaum Blut. In das Gesicht hatte sich der letzte Schmerz eingegraben; es war zu einer Fratze erstarrt. Anil konnte es nicht fassen. Das mußte eine Scharade sein, wie er sie als kleiner Junge so gern gespielt hatte. Sein Onkel würde sich gleich auf die Seite rollen, sich schwerfällig erheben und sich nach der Anstrengung seinen chota-Peg gestatten – einen einfachen Whisky mit oder ohne Eis. Anil fröstelte. Gott, war ihm kalt! Er fühlte sich wie tot. Körper und Geist verweigerten ihm den Dienst; sie funktionierten nicht mehr.

Dann wurde er weggerissen und gegen einen Deodarstamm gestoßen. Die Rinde riß ihm die Gesichtshaut auf. Der Schmerz erleichterte ihn für einen Moment. Der Schmerz erwärmte ihn. Und das Holz, wie süß es duftete nach dem beißenden, bösen Korditgeruch. Zwei Polizisten preßten seine Arme gegen den Stamm, den er wie in einer unfreiwilligen Umarmung umfangen hielt. Er sah nur einen: ein dunkelhäutiges, ausdrucksloses Gesicht, unergründliche Augen über einem schwarzen Schnurrbart. Keine Spur von Reue. Unsichtbare Hände tasteten seinen Körper ab.

»Mein Gott, nur so ein blödsinniger Jagdstock!« hörte er den Engländer murmeln.

Man ließ seine Arme los. Sie fielen zu seinen Seiten herab. Da der Baum ihn tröstete, konnte er sich nicht von ihm lösen, sondern preßte sein Gesicht noch fester gegen das Holz, den Geschmack von Rinde und Tränen auf der Zunge. Man drehte ihn grob um. Die Sonne war ein greller Klecks, der ihn den Blicken des Engländers preisgab; der Revolver blieb weiterhin auf ihn gerichtet. Das schwarze Loch der Mündung hatte eine geradezu hypnotische Wirkung.

»Was, zum Teufel, habt ihr hier oben gemacht?«

Schließlich hob Anil die Augen, blickte Goode ins Gesicht. Der Schnauzbart verschwamm; er war nicht mehr im Brennpunkt. Jetzt sah Anil die Augen. Sie waren blau, unergründlich wie der Himmel und wie die Ausdruckslosigkeit in den Augen der Polizisten.

»Sie haben meinen Onkel grundlos getötet.« Anil hörte sein Flüstern wie aus weiter Ferne.

»Antworte! Was, zum Teufel, habt ihr hier oben gemacht?« Die Frage hallte ebenfalls wie aus weiter Ferne an sein Ohr.

Anil dachte: Wir leben in verschiedenen Welten. Ich spreche von einer Sache, er von einer anderen. Ich kann seine Frage nicht verstehen; er versteht meine Antwort nicht. Warum können wir nicht beide ein und dieselbe Welt betreten. Wir sind doch zwei Menschen, etwa gleichaltrig sogar. Und doch kann ich nichts hören außer der Stille. Die Bäume sind stumm. Der Himmel ist stumm. Diese Männer, allesamt stumm. Cha-cha liegt dort stumm. Aber ich, ich kann nicht länger stumm bleiben.

»Sie haben meinen Onkel grundlos umgebracht.«

Inspektor Goode wählte seine Worte mit Bedacht: »Bitte, antworte mir. Was habt ihr zwei hier oben getan?«

Anil deutete auf den Korb, die Teller, das Tischtuch, nun ein Leichentuch für seinen Onkel: »Ein Picknick.«

»Ihr habt auf das Unglück gewartet, nicht wahr? Ihr seid gekommen, um euch hämisch daran zu ergötzen.«

Unglück? Häme? Er kannte den Wortsinn dieser Laute. Ja, er kannte sogar ihre Herkunft. Seine Gedanken wanderten zurück in das Klassenzimmer in Eton. Er sah die Wandtafel vor sich.

»Auf die Geleise ist ein Anschlag verübt worden. Der Zug mit dem Vizekönig wäre den Berg hinabgestürzt. Alle Passagiere darin umgekommen.« Goode stieß diesen letzten Satz besonders schneidend hervor, unheilverkündend wie der Fettdruck einer Schlagzeile.

Anil schaute den Hang hinab. Die Geleise funkelten wie silberne Fußgelenkreifen, den Sockel des Berges umschließend. Die Sonne schien, der Himmel war blau, die Vorberge immer noch grün, und doch hatten sie sich unter seinem Blick verfinstert, waren in Trauer verblaßt. Er schaute Goode nicht an, aber er hörte sich sprechen:

»Ich würde dem Vizekönig niemals ein Leid antun.«

»Du bist ein verdammter Terrorist und hättest ihn, verdammt noch mal, beinahe umgebracht!«

Wieder waren da die zwei Welten. Plötzlich konnte Anil die andere, Goodes Welt, nicht mehr ertragen. Sie war so ... reserviert und gleichzeitig so ... rasend, mordgierig. Er konnte sie nicht begreifen, obwohl er fast sein ganzes Leben in ihr verbracht und viele nette Freunde und Bekannte in ihr gehabt hatte, Weiße wie Goode. Man hatte zusammen gescherzt und getrunken. Er mußte an die hübschen englischen Mädchen denken: wie unbekümmert sie geflirtet hatten. Er wäre liebend gern in jene Welt zurückgekehrt, denn er hatte sich in ihr wohl gefühlt. Aber er konnte seinen Onkel jetzt nicht im Stich lassen.

Sein Onkel! Wie schnell die Fliegen den Tod mitbekommen hatten. Gierig umsurrten sie das kleine, dunkle Loch, labten sich an dem Geist, der daraus entwich. Anil kniete nieder und verscheuchte sie mit der Hand. Sie surrten nur furchtlos auf.

»Das werdet ihr teuer bezahlen!« Was war ›das‹? Was blieb zu sagen? War sein Onkel ›das‹, ein Etwas, tot, Anlaß für eine Rückzahlung, ein Tauschobjekt, für das mit Rache zu bezahlen war?

»Ich habe ihn in Ausübung meiner Pflicht erschossen. Er war eines Schwerverbrechens verdächtig.«

»Wir sind keine Verbrecher. Bis Sie kamen und meinen Onkel ermordeten, war dies ein Picknick.«

»Ich habe doch gesagt, es ist ein Anschlag auf die Geleise verübt worden, und ihr seid die beiden einzigen Eingeborenen, die wir in Nähe des Tatorts angetroffen haben.«

»Sehen wir etwa wie Verbrecher aus?«

»Mir ist gleich, wie ihr ausseht. Wie heißt du überhaupt?«

»Anil Ray.«

Goode stürzte sich wie ein Raubvogel auf diese Information, frohlockte, Freude und Erleichterung in seiner Stimme: »Ein Bengali!« Und er hatte Grund sich zu freuen. Zahlreiche Bengalis kämpften gewaltsam gegen die britische Herrschaft. Sie hatten sich in Geheimgesellschaften zusammengeschlossen und Beamte der britischindischen Regierung auf ihre Todeslisten gesetzt. Seit Lord Curzon ihr Land in ein islamisches Ost- und ein hinduistisches West-Bengalen aufgeteilt hatte, gab es noch mehr Mordanschläge. Sie glaubten tatsächlich, die Engländer mit Attentaten und Gewalt vertreiben zu können, und politische Agitatoren aus anderen Teilen Indiens ermutigten sie noch dazu. Etwa dieser Lokamanya Tilak, der Maharatten-Führer aus Poona. Zugegeben, man konnte Tilak keinerlei Verbindung zu den Terroristen nachweisen. Aber das war nur eine Frage der Zeit. Er hielt die Reden, die Bengalen kümmerten sich um die Gewalt.

Goode zweifelte keinen Augenblick daran, daß er die gesuchten Übeltäter gefaßt hatte. Der englischsprechende Eingeborene beteuerte zwar seine Unschuld, aber man hatte Goode nicht umsonst eingetrichtert, daß jeder Eingeborene ein geborener Lügner war.