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Auf der geheimnisvollen Insel Ravenstorm geht nicht alles mit rechten Dingen zu! Gerade haben Molly und Arthur das Geheimnis um die verschwundenen Kinder gelöst, als ein Schiff mit Geisterpiraten am Horizont auftaucht. Kapitän Sharksbane und seine Piraten sind gekommen, um zu holen, was ihnen gehört … Können Molly und Arthur die Insel und ihre Bewohner retten? Der zweite Band der aufregenden neuen Serie um die Insel Ravenstorm – gruselig und mit einem Hauch Magie! Für alle Fans von Enid Blyton und ›Die Spiderwick Geheimnisse‹.
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Seitenzahl: 221
Gillian Philip
Die Geheimnisse von Ravenstorm Island – Das Geisterschiff
Aus dem Englischen von Katrin Segerer
FISCHER E-Books
Für Jamie, der früh Erfahrungen als Pirat gesammelt hat und jetzt ein erstklassiger (und gesetzestreuer) Seefahrer ist
Schloss Ravenstorm hob sich so deutlich gegen den strahlend blauen Himmel ab, dass Molly Cornell jeden einzelnen Wasserspeier zählen konnte, der auf den hohen Zinnen kauerte. Sie schirmte die Augen gegen die Sonne ab und lächelte zu den fratzenhaften Steinfiguren zwischen den Türmchen hinauf, bevor sie sich mit einem kurzen Blick vergewisserte, dass ihr kleiner Bruder Jack beschäftigt war. Der kontrollierte gerade zum wiederholten Mal den Inhalt seines Sandeimerchens.
»Schaufel, Rechen, Sieb«, murmelte er vor sich hin. »Rechen, Sieb, Schaufel …«
»Im Moment sind alle Wasserspeier an ihrem Platz, Arthur«, flüsterte Molly ihrem Cousin mit einem Augenzwinkern zu und nickte hoch in Richtung Dach. »Wirklich alle!«
So einen schönen und nebellosen Morgen gab es nur selten auf der Insel Ravenstorm. Molly und Jack waren erst seit ein paar Wochen hier bei ihrem Cousin und ihrer Tante und ihrem Onkel, aber sie hatten sich schon an das wechselhafte Wetter gewöhnt. Die letzten paar Tage hatte es dauernd geregnet, deshalb hatten die Kinder sich die Zeit damit vertrieben, die vielen Zimmer und dunklen Gänge des Schlosses zu erkunden. Es war wirklich aufregend gewesen, abgelegene Zimmer voller uralter Bücher zu durchstöbern, die man kaum noch entziffern konnte, Wendeltreppen zu erklimmen, die mit Spinnweben verhangen waren, und in Kammern voller Schätze zu stolpern, die in finsteren Korridoren verborgen lagen. Trotzdem: Jetzt, wo das Wetter umgeschlagen war, freuten sie sich wahnsinnig auf den Tag draußen an der frischen Luft und waren extra früh aufgestanden. Wie gern wäre Molly jeden Tag schwimmen gegangen und hätte den Strand, den dichten Wald und die verwilderten Gärten von Schloss Ravenstorm erforscht. Zumindest so lange, bis die Wolken wieder aufzogen.
»Gefällt mir, wie die Wasserspeier da oben in Reih und Glied hocken«, antwortete Arthur. Und so leise, dass Jack ihn nicht hören konnte, fügte er hinzu: »Sogar die, die manchmal auf Wanderschaft gehen …«
Molly grinste, als sie an das Geheimnis ihres Butlers mit dem zerfurchten Gesicht dachte, das sie und Arthur teilten. Aber Jack zerrte ungeduldig an ihrem Arm.
»Komm, Molly!«, befahl er. »Wir wollen doch zum Strand.«
»Wir gehen ja schon, kleiner Zauberer.« Arthur nahm Jack an der Hand und winkte seinen Eltern fröhlich zu, die auf der ausladenden Steintreppe vor dem Schloss standen. Jack tat es ihm nach.
»Tschüs, Onkel Bill! Tschüs, Tante Catherine! Tschüs, Baby Harriet!« Er befreite seine Hand aus der seines Cousins und marschierte eimerschwingend los, so schnell, dass Molly und Arthur rennen mussten, um ihn einzuholen. Offensichtlich würde er keine weitere Verzögerung dulden.
»Viel Spaß am Strand!«, rief Onkel Bill ihnen nach.
»Und passt auf euch auf«, fügte Tante Catherine hinzu, die die schreiende Harriet auf dem Arm wiegte.
»Wenn du wüsstest, Mum«, murmelte Arthur, und Molly kicherte.
Sonnentupfer sprenkelten die gewundene, lorbeerumrankte Auffahrt von Schloss Ravenstorm, und es war bereits richtig heiß, obwohl es erst neun Uhr war. An einem solchen Morgen, dachte Molly schaudernd, könnte man leicht vergessen, was für unheimliche Wesen hier auf der Insel leben – all die Trolle und die schlechtgelaunten Meerjungfrauen. Ganz zu schweigen von der geheimnisvollen Kreatur, die angeblich in Arthurs Gartenteich wohnt.
Und die Finsterflinks erst! Vor ihrem inneren Auge sah sie das eigentümliche Schattenreich tief unter den Wurzeln der knorrigen Eiche auf den Klippen, das sie und Arthur vor nicht allzu langer Zeit durch die Höhle am Strand betreten hatten. Unwillkürlich fröstelte sie, als sie an die dürren geflügelten Wesen dachte, denen sie dort begegnet waren. Die Kreaturen waren mit Speeren aus Rosendornen bewaffnet gewesen – und mit Zauberkräften, mächtig genug, alle Kinder auf der Insel in Stein zu verwandeln. Nein, die würde sie bestimmt nicht so bald vergessen …
Arthur deutete mit dem Daumen zurück auf die Reihe von Wasserspeiern. »Also ist Mason wieder an seinem Platz«, bemerkte er. Dieses Mal konnte er lauter sprechen, weil Jack vorausrannte. »Vielleicht will er ein Nickerchen machen, jetzt, wo alles wieder ruhig und friedlich ist.«
»Na ja, warten wir mal ab, wie lange es so bleibt«, erwiderte Molly lachend. Als sie herausgefunden hatten, dass der griesgrämige Butler der Wolfreys in Wahrheit ein lebendiger Wasserspeier war, hatte sie das ziemlich schockiert – aber nach ihrem Abenteuer mit den fiesen Finsterflinks konnte sie nichts mehr so richtig erschrecken.
»Irgendwie hoffe ich, dass es nicht zu ruhig und friedlich wird«, sagte Arthur verschmitzt. »Sonst langweilen wir uns noch, jetzt, wo wir die Ravenstorm-Kinder vor der ewigen Versteinerung bewahrt haben.«
»Pssst! Nicht, dass Jack dich noch hört!« Molly war sicher, dass ihr kleiner Bruder sich nicht mehr daran erinnerte, wie er von den Finsterflinks versteinert worden war, aber sie wollte seinem Gedächtnis lieber nicht auf die Sprünge helfen.
Trotzdem musste sie Arthur recht geben – zu viel Ruhe war langweilig, und so schlecht war die ganze Aufregung nicht gewesen. Immerhin hatte sie mit Magie zu tun gehabt, und Molly hatte sich immer gewünscht, dass Magie mehr wäre als nur Geschicklichkeit und Tricks mit Zauberrequisiten wie bei den Auftritten ihrer Eltern. Jeden Sommer tourten die Unglaublichen Cornells durch das ganze Land und ließen Molly und Jack so lange bei Freunden oder Verwandten. Schloss Ravenstorm, das neue Zuhause ihrer Tante und ihres Onkels, war bisher das beste Ferienziel, denn hier hatte Molly herausgefunden, dass es wirkliche, echte Magie gab.
Und obwohl das ziemlich unheimlich gewesen war, hoffte sie, dass sie bald noch mehr davon sehen würde. Die kleinen Finsterflinks hatten mit ihren Zauberkräften die Inselkinder entführt und in Steinstatuen verwandelt, und Miss Badcrumbles Zauberkräfte hatten alle Eltern vergessen lassen, dass sie je Kinder gehabt hatten. Sie hatte es nur gut gemeint und den Eltern den Schmerz über den Verlust ihrer Kinder ersparen wollen, aber durch ihren Fluch hatten Tante Catherine und Onkel Bill sich auch geweigert zu glauben, dass der versteinerte Jack überhaupt jemals existiert hatte.
Die blätterbeschattete Auffahrt des Schlosses mündete in eine breite Allee, und nach einem knappen Kilometer konnten sie in der Ferne die Dächer und Schornsteine und den unverwechselbaren Kirchturm von Crowsnest erkennen, dem einzigen Dorf auf der Insel. Eine steile Straße, die ihre Beinmuskeln herausforderte, führte die Kinder schließlich zur Hauptstraße. Auf der schien heute mehr los zu sein als sonst: Touristen und Einheimische eilten von Geschäft zu Geschäft, aßen Eis oder schossen Fotos von den schönsten Gärten und Häuschen des Ortes. Während Jack weiter vorausrannte, winkte Arthur Mrs Chambers zu, die den Kopf aus ihrem Souvenirladen gesteckt hatte, um in der klaren Morgenluft ein wenig Sonne zu tanken.
»Guten Morgen«, rief sie ihnen zu und blinzelte, als sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht wischte. »Ist das heute nicht ein wunderbares Wetter?«
»Morgen, Mrs Chambers«, antworteten Molly und Arthur im Chor.
»Seid ihr auf dem Weg zum Strand? Ihr Glücklichen!«
Arthur grinste und winkte noch einmal zum Abschied, während Jack zu ihnen zurückgeflitzt kam.
»Da ist schon die Seegrasgasse. Los, schneller, Molly!«, rief er und stürmte wieder davon.
»Na, da freut sich aber einer«, frotzelte Arthur, als sie in die Seegrasgasse einbogen, eine gewundene Kopfsteinpflastergasse, die zum Strand hinunterführte. Trotz des steilen Gefälles hingen zwischen den Pflastersteinen Sand und kleine Büschel getrocknetes Seegras, die von den Wellen heraufgespült worden waren. »Wow, das Meer kommt hier ganz schön weit hoch!«
»Vielleicht ist das letzte Woche passiert, als das Wetter so schlecht war«, überlegte Molly. »Kein Wunder, dass Jack so aufgeregt ist – nach dem vielen Regen hab ich schon gedacht, die Sonne würde überhaupt nicht mehr rauskommen!«
»Nee«, antwortete Arthur. »So stürmisch war es dann auch wieder nicht – bloß grau und nass. Vielleicht liegt das Seegras schon länger hier. Na ja, egal – hoffentlich bleibt es jetzt so schön wie heute.« Er hielt glücklich seufzend das Gesicht in die Sonne. »Ich will noch viel mehr von der Insel erkunden.«
»O ja, ich auch.« Molly grinste, als die Straße endete und sie in den Sand sprangen. Fröhlich schleuderten sie ihre Schuhe von den Füßen. Jack hatte schon angefangen, weiter unten am Ufer ein Loch zu buddeln, wurde aber im nächsten Augenblick von einem Gezeitentümpel in der Nähe abgelenkt. Er stieß einen begeisterten Entdeckerschrei aus, warf sich auf den Bauch und tauchte die Hände hinein.
Arthur seufzte. »Die armen Krabben …«
»Jack, ich hab deine Schwimmflügel«, rief Molly. »Geh nicht ohne sie ins Wasser, okay?«
»Pff, ich will gar nicht in das doofe Wasser«, rief Jack. »Hier sind Krabben!«
Arthur verdrehte bedeutungsvoll die Augen. »Siehst du?«
Molly lachte. »Also, ich will auf jeden Fall ins Wasser. Mal sehen, wie lange es dauert, bis er neidisch wird.«
Molly und Arthur trugen ihre Schwimmsachen schon unter den Kleidern, deshalb schlüpften sie einfach aus ihren Jeans und T-Shirts, warfen sie auf den nächsten Felsen und rannten dann jauchzend ins Meer. Das Wasser war so kalt, dass Molly die Luft wegblieb, aber das war nur der erste Schock: Sobald sie sich an die Temperatur gewöhnt hatte, fühlte es sich ganz angenehm an. Nach ein paar schnellen Schwimmzügen drehte sie sich auf den Rücken und schaute in den blauen Himmel, während sie sich faul von den Wellen treiben ließ. Seemöwen kreisten schreiend über ihr, und vom Kliff konnte sie das Gekreische der Papageientaucher und Klippenmöwen hören. Sie schloss die Augen und ließ sich von der Sonne wärmen.
Plötzlich platschte ihr Wasser ins Gesicht, und sie fuhr prustend hoch. Arthur kicherte und spritzte ihr noch einen Schwall entgegen.
»Ist das nicht toll?«
Molly lachte und schickte einen großen Spritzer zurück in seine Richtung, traf allerdings nur seine Beine, denn ihr Cousin war schon wieder untergetaucht und vollführte einen gekonnten Unterwasserhandstand.
Sie musste grinsen. Noch vor ein paar Wochen hätte sie sich wahrscheinlich über Arthurs Neckerei geärgert, aber Kinder vor fiesen Finsterflinks zu retten hatte sich als großartige Methode erwiesen, Freundschaft zu schließen. Mittlerweile waren Arthur und sie zwar über die Anfangsschwierigkeiten hinweg, aber ihr frecher Cousin verdiente trotzdem eine Rachedusche, beschloss Molly. Sie wartete im seichten Wasser auf ihre Chance – irgendwann musste Arthur schließlich wieder auftauchen …
Genau in diesem Moment bemerkte sie eine flackernde Bewegung in der Ferne. Sie zog die Augenbrauen zusammen und starrte auf den Fleck am Horizont.
»Hey, du willst doch wohl nicht aufgeben, oder?«, tönte es da genau hinter ihr.
Molly drehte sich um. »Ach, Mist! Jetzt hätte ich dich erwischen können.«
»Tja, Chance verpasst.« Ihr Cousin schwamm träge zu ihr herüber. »Was ist los?«
»Da hinten, siehst du?« Molly musste die Augen gegen die Sonne abschirmen. »Sieht aus wie ein altes Schiff. Du weißt schon, so eins mit Segeln und hohen Masten.«
Vielleicht war es aber auch nur eine optische Täuschung, überlegte Molly, und das Schiff war nur eine Lichtspiegelung. Denn als sie die Augen zusammenkniff, um es schärfer sehen zu können, verschwand es einfach. Molly blinzelte und rieb sich das nasse Gesicht.
»Wo ist es hin?«, fragte Arthur, der das seltsame Schiff offenbar auch gesehen hatte. »Zurück hinter den Horizont?«
»Ich … glaube schon.« Molly war verwundert, aber eine andere Erklärung gab es nicht.
»Hey!« Jack planschte im knietiefen Wasser und deutete in die Ferne. »Das Schiff da hat sich in Luft aufgelöst! Einfach so!«
»Jack!«, schimpfte Molly und schwamm auf ihren kleinen Bruder zu. »Komm ja nicht weiter rein ohne deine Schwimmflügel!«
Doch Jack zeigte sich unbeeindruckt von Mollys Ermahnungen. »War das Zauberei?«, fragte er mit großen Augen. »Es ist einfach verschwunden.«
»Das war bloß eine optische Täuschung.« Trotzdem spürte Molly leise Zweifel in sich aufsteigen. »Ein Trick. So was, wie Mum und Dad auf der Bühne machen.«
Jack ließ sich nicht beirren. »Aber wieso sollte jemand ein Schiff wegzaubern?«
»Niemand hat …«, fing Molly entnervt an, aber Arthur tippte ihr auf die Schulter und zeigte aufs Meer hinaus.
»Wir sollten besser raus aus dem Wasser, Molly.« Ihr Cousin klang enttäuscht. »Das war’s wohl wieder mit dem Sommer.«
Und tatsächlich hatten sich von einer Sekunde auf die andere dicke Wolken gebildet, und Molly spürte an den Wangen, dass der Wind merklich aufgefrischt hatte. Als sie sich umwandte, war der Horizont genauso plötzlich verschwunden wie vorher das Schiff. Der vertraute Ravenstormnebel zog auf, eine trübe, feuchte Wand aus weißen Wolken, die sich schnell über das Meer schob. Jetzt wurde auch noch das Wasser unruhig. Eine große Welle erfasste Molly und setzte sie ein Stückchen weiter wieder ab; die unerwartete Kraft der Strömung verursachte ihr ein flaues Gefühl im Magen.
»Du hast recht, Arthur«, sagte sie trübselig und schwamm hinter ihrem Cousin her zum Ufer, gegen den Sog der abfließenden Wogen.
Ihre Knie stießen auf Sand, und sie und Artur stolperten aus dem Wasser. Molly packte den widerspenstigen Jack an der Hand, während sie zu ihren Kleidern rannten. Ihr kleiner Bruder hatte es gut: Er hatte seine Klamotten gar nicht erst ausgezogen, sondern war einfach in seinen Shorts ins Wasser gewatet. Molly und Arthur aber mussten sich schnell abtrocknen und sich in ihre sandigen Jeans und T-Shirts winden, die unangenehm an ihrer feuchten Haut klebten.
»Uh!«, rief Arthur, als die ersten dicken Regentropfen sie trafen. Er schnappte sich seine Turnschuhe und sprintete mit eingezogenem Kopf durch den mittlerweile strömenden Regen zur Straße. Dann griff er nach Jacks Hand und zog ihn auf die Betonrampe, die den Anfang der Seegrasgasse bildete. Molly kletterte hinterher, bevor sie einen Blick zurück aufs Meer warf.
Wie konnte das Wetter nur so schnell umschlagen? Das erinnerte sie unbehaglich an jenen Tag vor ein paar Wochen oben auf dem Kliff, als sie Jack an die jähzornige Königin der Finsterflinks verloren hatten. Damals war der Nebel auch ganz ohne Vorwarnung aufgezogen. Molly gewöhnte sich zwar allmählich an das wechselhafte Wetter auf der Insel Ravenstorm, aber es war trotzdem ärgerlich.
Jetzt toste das Meer, Wellen schlugen krachend an den Strand und zerrten am Sand. Der Wind heulte, während er die Möwen so heftig hin und her schleuderte, dass sie wie weiße Stofffetzen über den Himmel flatterten. Donner polterte in der Ferne, und Regen prasselte auf die Kinder herab. Es war sinnlos, sich irgendwo unterzustellen, sie waren sowieso schon nass bis auf die Haut.
»Da! Ein Boot!«, rief Jack und zog an Arthurs Hand, damit der sich wieder umdrehte. »Schau!«
»Da ist bestimmt kein – Oh!« Molly schlug sich die Hände vor den Mund. »Arthur!«
Die drei starrten erschrocken durch die Regenwand. Jack hatte recht: Das geheimnisvolle Schiff mit den hohen Masten war zwar nirgendwo mehr zu sehen, doch da draußen im wütenden Wasser war eindeutig ein Boot. Es wurde von den turmhohen Wellen umhergeworfen und von seinem losen Segel auf die Seite gezerrt. Die Kinder hielten den Atem an. Das Wasser schlug bereits über Bug und Deck. Sie sahen zu, wie das Boot einen Halbkreis beschrieb und dabei immer mehr Schlagseite bekam.
»Die stecken in Schwierigkeiten«, rief Molly. »In richtig großen Schwierigkeiten!«
»Wir müssen Hilfe holen«, rief Arthur. »Das ist nur ein kleines Segelboot! Die gehen unter, wenn wir nichts tun!«
»Kommt schnell«, schrie Molly über den heulenden Wind und die donnernden Wellen hinweg. Sie packte Jacks freie Hand und zog ihn zusammen mit Arthur weiter, so schnell sie konnten, die Seegrasgasse hinauf.
»Wohin?«, keuchte Arthur. »Wem sollen wir es sagen?«
»Na dem, der im ersten Haus wohnt, das wir finden. Los!« Molly zerrte Jack hinter sich her. »Ich hab keine Ahnung, wo die Küstenwache ist, aber die Leute hier wissen es bestimmt!«
Links von ihnen kam ein rostiges Eisentor in Sicht. Arthur stieß es auf und rannte den Gartenweg entlang. Molly folgte ihm, und Jacks kurze Beine flogen nur so über den Boden, um hinterherzukommen. Hoffentlich ist das Haus nicht an Touristen vermietet, betete Molly – die würden nämlich garantiert auch nicht wissen, was jetzt zu tun war. Und dann müssten sie weitersuchen und würden kostbare Zeit verlieren … nicht auszudenken!
Als die Kinder dann aber schwer atmend vor der windschiefen Behausung standen, war Molly erleichtert. Das hier sah nicht nach einem Ferienhaus aus, dafür waren die weißgestrichenen Wände zu verwittert, und es lag zu viel Treibgut im Garten herum. Kurz befürchtete Molly, dass das Häuschen vielleicht verlassen sei, doch als Arthur den Türklopfer in Tintenfischform ergriff und heftig draufloshämmerte, wurde die Tür beinahe sofort aufgerissen.
»Was in Dreiteufels…?« Die junge Frau im Türrahmen hatte zerzaustes kurzes Haar und schaute die Kinder aus erschrockenen grünen Augen an. »Rein mit euch, ihr werdet –«
»Nein!«, unterbrach Molly sie atemlos. »Da draußen … ein Boot … in Seenot!«
»Können Sie Sergeant Garland verständigen?«, flehte Arthur. »Gibt es hier eine Küstenwache? Bitte, machen Sie schnell!«
Die junge Frau geriet erstaunlicherweise überhaupt nicht in Panik. Ihr Gesichtsausdruck war ruhig und entschlossen. »Ich weiß was viel Besseres!«, sagte sie und drehte sich um. Einen Augenblick lang dachte Molly, sie würde ihnen und dem peitschenden Regen die Tür vor der Nase zuschlagen. Stattdessen schnappte sie sich jedoch eine Regenjacke von der Garderobe, warf Molly ein zusammengerolltes orangefarbenes Bündel zu und rannte an ihnen vorbei nach draußen.
»Zum Anleger«, rief sie über ihre Schulter hinweg. Die braunen Haare klebten ihr bereits am Kopf. »Ich habe ein Motorboot. Ist die beste Möglichkeit – und die schnellste!«
Die drei stürmten hastig hinter ihr her, die Seegrasgasse wieder hinunter, nur dass sie dieses Mal am Ende nach rechts abbogen, anstatt auf den Strand zu springen. Vor ihnen befand sich ein kleiner Bootssteg, der nass und gefährlich rutschig aussah, aber die junge Frau rannte unbekümmert weiter. Ein Motorboot war daran festgemacht. Sie sprang in die offene Kajüte, und keine Sekunde später erwachte der Motor dröhnend zum Leben.
Molly und Arthur, die mit Jack im Schlepptau viel langsamer waren, erreichten das Boot erst, als sie bereits die Halteleinen löste und vorsichtig vom Steg wegsteuerte. Jack fest an den Händen, schauten sie ihr beklommen zu. Die junge Frau wirkte jedoch kein bisschen beunruhigt, sondern grinste breit und zwinkerte ihnen zu.
»Macht euch keine Sorgen«, rief sie. »Ich bin übrigens Charley!«
Mit diesen Worten drehten Charley und das kleine Boot bei und fuhren in einer Woge aus weißer Gischt durch die hohen Wellen aufs offene Meer hinaus. »Wo ist das andere Boot?«, schrie Molly und suchte hektisch das tosende Wasser ab. »Ist es noch da? Arthur, kannst du es sehen? O nein, ich glaube, es ist weg!«
»Nein, da ist es!« Arthur schnappte nach Luft. Als der nächste Wellenberg sich auftürmte, kam das kleine Segelboot erneut in Sicht – zumindest sein weißer Kiel. Es war bereits gekentert, etwa hundert Meter vor der Küste, und zwei Gestalten in grellroten Schwimmwesten klammerten sich verzweifelt an den Rumpf. Wieder schlugen die Wellen über ihnen zusammen, und einer der beiden hätte beinahe den Halt verloren, aber der Zweite streckte die Hand aus und zerrte ihn wieder zurück.
»Na los, Charley, wer auch immer du bist«, murmelte Molly. »Du musst sie retten.«
Charley ließ sich allerdings Zeit. Sie drosselte den Motor, und ihr Boot hüpfte wie ein Spielzeug auf dem Wasser, während es langsam zur Leeseite der umgekippten kleinen Yacht trieb. Sie warf den beiden Seglern einen Rettungsring zu, den einer der beiden unbeholfen ergriff, dann zog sie an der daran befestigten Leine.
Molly hielt den Atem an. Sie würde den Schiffsrumpf bestimmt nicht loslassen wollen, auch wenn er jederzeit untergehen konnte, doch die beiden Segler schienen Charley zu vertrauen. Der erste löste seinen Griff und zog den anderen mit sich. Ein paar qualvolle Minuten lang wurden sie hilflos hin und her geworfen, und die Wellen schlugen über ihren Köpfen zusammen, aber Charley holte sie langsam und sicher zu ihrem Boot. Sie hatte das Ende der Leine um eine Klampe geschlungen, so dass die beiden nicht abtreiben konnten.
Molly spürte, wie Arthurs Finger sich fest in ihren Arm gruben. Ihr Cousin hatte also genauso viel Angst wie sie. Endlich wurden die beiden Schiffbrüchigen von den Wellen näher zu Charleys Boot gespült, und Charley zerrte fest an der Leine, bis sie schließlich das kleine Motorboot erreicht hatten. Sie beugte sich hinunter, packte erst den einen, dann den anderen unter der Achsel und half ihnen die Leiter hinauf und über den Rand. Als beide sicher an Bord geplumpst waren, hüpfte Molly jubelnd auf der Stelle.
»Hurra!«, rief Jack, ganz außer sich vor Aufregung. »Charley hat sie gerettet.«
Arthur wirkte eher zittrig als überglücklich, aber er grinste und wippte erleichtert auf und ab. Charley winkte ihnen fröhlich zu und rief irgendetwas, während das Motorboot auf die Kinder zutuckerte.
Plötzlich fiel Molly das Bündel wieder ein, das Charley ihr zugeworfen hatte.
»Los, wir müssen das hier aufmachen.« Sie riss die Riemen auf und rollte das Bündel auseinander. Arthur half ihr, zwei dünne Decken aus Silberfolie herauszuholen, die zu ordentlichen Rechtecken gefaltet waren.
Er schüttelte eine davon auf. »Rettungsdecken! Charley ist ziemlich gut vorbereitet, was?«
Molly nickte, genauso verblüfft wie er. Mittlerweile hatte Charley das Boot zurück an den Anleger gelenkt, wo es gegen eine Reihe alter Reifen stieß. Ihre halbertrunkenen Passagiere waren ein Mann mit schütterem Haar und eine Frau mit tropfendem Pferdeschwanz. Beide wirkten noch ganz benommen.
Charley warf den Kindern ein Seil zu, das Arthur um einen Poller schlang, während Molly den beiden durchnässten Seglern auf den Steg half. Selbst Jack packte mit an und reichte ihnen die silbernen Decken. Seine Miene war ausnahmsweise einmal ernst – und ein bisschen wichtigtuerisch, dachte Molly und lächelte in sich hinein.
Charley kletterte aus dem Boot und klopfte Jack stolz auf den Rücken. »Gut gemacht.«
»Auf jeden Fall!« Trotz ihrer klappernden Zähne gelang der schiffbrüchigen Frau ein Lächeln. »Danke. Vielen, vielen Dank euch allen!«
Der Mann nickte und legte einen Arm um seine Begleiterin. »Ja, vielen Dank euch. Ich komme mir vor wie ein Idiot. Es tut mir so leid, dass ich uns in Gefahr gebracht habe. Aber das Wetter war ideal, und die Vorhersagen –«
»Ach, das ist typisch für unsere Insel«, sagte Charley freundlich. »Das Wetter schlägt von einer Minute zur nächsten um. Sie sind zu Besuch hier, oder?«
»Genau … aber nicht das erste Mal. Ich hätte es besser wissen müssen. Übrigens, ich bin Michael.« Der Mann streckte eine zitternde, tropfende Hand aus. »Und das hier ist meine Frau, Shona.«
Charley lachte. »Bitte, keine Förmlichkeiten. Ich bin Charley. Und machen Sie sich keine Gedanken, dass Sie das Wetter falsch eingeschätzt haben. Es ist immer wechselhaft rund um die Insel – wir haben hier unser eigenes kleines Mikroklima. Ich befürchte, selbst die besten Wetterberichte irren sich oft, wenn es um Ravenstorm geht.«
»Trotzdem. Ich dachte wirklich, wir wären gut gerüstet, aber –«
»Dieses Schiff!« Seine Frau schauderte. »Das alles ist passiert, als das Schiff aufgetaucht ist.«
»Shona, wir waren uns doch einig, dass –«
»Ich weiß. Aber es war so! Kaum waren diese Segel da, ist das Gewitter aufgezogen. Aus dem Nichts!«
Molly und Arthur wechselten einen verstohlenen Blick. Das Schiff, dachte Molly mit einem aufgeregten Kribbeln im Bauch. Das geheimnisvolle Schiff, das sich in Luft aufgelöst hat. Die beiden hatten es also auch gesehen!
Charleys Miene war skeptisch, und Michael schaute sie entschuldigend an. »Es war schon seltsam, dass das alles gleichzeitig passiert ist, das muss ich zugeben. Shona und ich hatten uns gerade darüber unterhalten, wie ungewöhnlich das Schiff aussieht mit diesen alten Segeln und der Takelage.«
»Das Piratenschiff«, rief Jack. »Wir haben es auch gesehen!«
Bei Charleys überraschtem Blick wurde Molly rot und zuckte leicht mit den Schultern. »Er hat recht. Wir haben es auch gesehen – glauben wir zumindest.«
»Ihr meint einen Großsegler?« Charley hob eine Augenbraue. »Die sind hier gar nicht so selten. Vielleicht war es einer von der Segelschule oder von der historischen Marinegesellschaft.«
»Aber die Segel waren praktisch nur noch Fetzen!«, rief Shona. »So würde ein Schulschiff doch niemals rausfahren, außer, der Ausbilder will seine Schüler absichtlich in Schwierigkeiten bringen.«
»Und, na ja …« Michael holte tief Luft, als müsse er all seinen Mut zusammennehmen, um weiterzusprechen. »Der Wind. Ich weiß, es klingt unglaublich, aber der Wind hat genau dann aufgefrischt, als das Schiff aufgetaucht ist.«
»Stimmt, genau so war es!« Jack nickte heftig und ignorierte Mollys Zeigefinger auf den Lippen.
»Als hätte das Schiff den Sturm mitgebracht! Und wo ist es überhaupt hergekommen?«, fragte Shona. »Als wir heute Morgen losgefahren sind, haben wir es nicht gesehen. Das Ganze ist wirklich merkwürdig!«
Charley schüttelte entschieden den Kopf. »Ich kenne mich mit der Schifffahrt hier aus. Auf Ravenstorm liegen keine großen Schiffe, dafür ist der Hafen zu klein. Vielleicht ist es vom Festland losgesegelt. Aber es könnte auch genauso gut eine optische Täuschung gewesen sein. Auf hoher See entstehen manchmal die seltsamsten Effekte, dann sieht man so etwas wie eine Fata Morgana. Außerdem standen Sie unter Schock –«
»Aber wir haben es doch auch gesehen.« Jack blieb hartnäckig.
»Sei still, kleiner Zauberer«, flüsterte Arthur. »Vielleicht war es wirklich eine Fata Morgana.«
»Quatsch, es war ein Schiff, das hab ich doch gerade gesagt!«, beharrte Jack.
Arthur lachte. »Das hab ich nicht gemeint –«
»Nein«, sagte Michael mit Nachdruck. »Es war ganz sicher ein aufgetakeltes Schiff, ein Schoner eventuell, und es ist ziemlich nah an uns vorbeigesegelt. Und wenn es tatsächlich ein Schulschiff war, dann kann man nur hoffen und beten, dass es der Besatzung gutgeht.«
»O Gott«, rief Shona, leicht betreten. »Hoffentlich haben sie nicht auch solche Probleme bekommen wie wir. Sie haben bestimmt recht, Charley. Wir haben uns das bloß eingebildet, also, dass das Gewitter von diesem Schiff gebracht wurde, Sie wissen schon.« Sie wurde rot, weil ihr ganz plötzlich aufzufallen schien, wie dumm die ganze Sache klang. »Das war alles nur ein Zufall, nichts weiter«, fügte sie hinzu und lächelte Jack beruhigend an.
Der wirkte allerdings eher enttäuscht als beruhigt, fand Molly.
»Wahrscheinlich habt ihr recht.« Michael nickte und seufzte erleichtert. »So etwas macht das Meer manchmal mit einem. Es war bloß eine … nun, eine optische Täuschung, wie Sie gesagt haben.«
Charley rieb sich energisch die Hände und beendete damit das Thema. »Wenn Sie sich jetzt ein bisschen besser fühlen, sollten wir Sie schnell ins Warme bringen. Am besten kommen Sie mit zu mir – mein Haus ist gleich da oben. Sie brauchen dringend etwas Heißes zu trinken, und ich muss die Küstenwache und die Polizei anrufen wegen Ihres Boots.«
Shona und Michael nickten. Sie waren immer noch zutiefst dankbar für ihre Rettung und völlig erschöpft. So erschöpft, dass sie die Sache mit dem geheimnisvollen Schiff auf sich beruhen ließen.
Molly fing den bedeutungsvollen Blick auf, den Arthur ihr zuwarf. Ihr Cousin konnte seine Aufregung nur mühsam verbergen. Für sie beide hatte Michaels und Shonas Geschichte nicht halb so merkwürdig geklungen wie für Charley.
Molly grinste Arthur an. Wir haben später einiges zu besprechen, dachte sie.