Die Geheimnisse von Ravenstorm Island – Die verschwundenen Kinder - Gillian Philip - E-Book

Die Geheimnisse von Ravenstorm Island – Die verschwundenen Kinder E-Book

Gillian Philip

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Beschreibung

In dem Moment, in dem Molly auf der geheimnisvollen Insel Ravenstorm ankommt, hat sie das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Der alte Butler Mason verhält sich reichlich sonderbar und überall stehen furchterregende Statuen herum. Als dann auch noch Mollys kleiner Bruder Jack spurlos verschwindet und sich niemand außer ihrem Cousin Arthur daran erinnern kann, dass er überhaupt jemals existiert hat, ist klar: Molly und Arthur müssen alleine herausfinden, was geschehen ist. Um Jack zu retten brauchen sie all ihren Mut und echte Magie … Der erste Band der aufregenden neuen Serie um die Insel Ravenstorm – gruselig und mit einem Hauch Magie! Für alle Fans von Enid Blyton und ›Die Spiderwick Geheimnisse‹.

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Gillian Philip

Die Geheimnisse von Ravenstorm Island – Die verschwundenen Kinder

Aus dem Englischen von Katrin Segerer

FISCHER E-Books

Inhalt

Widmung12345678910Leseprobe Band 2

Für Lulu, die einmal genau so ein Zimmer hatte wie Melody

1

Ein Windstoß zerriss die Nebeldecke. Aus dem Meer ragte ein gezackter Umriss, wie ein Ungeheuer, das zum Luftholen auftauchte. Molly Cornell lächelte.

»Sieh mal, Jack«, rief sie. »Da, die Insel Ravenstorm.«

»Wo? Lass mich auch mal schauen!«

Ihr kleiner Bruder löste seinen Gurt und kletterte über Mollys Schoß zum Flugzeugfenster.

»Autsch! Pass mit deinem Fuß auf.«

»Du bleibst besser angeschnallt, junger Mann«, rief der Pilot über die Schulter.

»Da hörst du’s!« Molly rang mit dem murrenden Jack, um ihn wieder zurück auf seinen Sitz zu verfrachten. »Keine Sorge, gleich können wir uns die Insel aus der Nähe anschauen«, beschwichtigte sie ihn.

»Aber ich will den Flughafen sehen!«, protestierte Jack.

»Den wirst du nicht finden, den gibt’s nämlich gar nicht. Mum und Dad haben gesagt, dass man nur mit dem Wasserflugzeug zur Insel kommt. Oder mit dem Schiff – aber der Hafen ist winzig.«

»Cool«, flüsterte Jack. »Ich will den Hafen sehen.« Er griff schon wieder nach seinem Gurt.

»Bleib sitzen!« Genervt hielt Molly ihn mit einer Hand fest und kramte mit der anderen in ihrer Hosentasche. »Soll ich dir einen Zaubertrick zeigen?«

»Aber einen guten.« Jack verschränkte die Arme.

Molly zog eine Münze hervor und nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger. »Hokuspokus Fidibus!« Mit geschlossenen Augen und geheimnisvoller Miene ließ sie die andere Hand langsam auf die Münze zuschweben. »Uuund weg ist sie!« Sie zeigte Jack ihre leeren Hände.

Ihr Bruder kniff kritisch ein Auge zu. »Jetzt bring sie wieder zurück.«

Molly strich über ihre Faust und öffnete sie. Und tatsächlich: Die Münze lag wohlbehalten in ihrer Hand. »Tada!«

Jack verdrehte unbeeindruckt die Augen. »Das war der Verschwindegriff. Ein richtiger Babytrick. Hat mir Mum schon gezeigt. Jetzt lass sie durch den Kopf wandern.«

Molly unterdrückte ein Lachen, als sie die Münze zurück in die Ausgangsposition schnippte. »Okay, dann pass mal auf.«

Wenn ihre Eltern von der Sommertournee zurückkamen, mussten sie ihr unbedingt ein paar neue Tricks beibringen. Jack war echt anspruchsvoll für einen Vierjährigen. Als Nächstes würde er verlangen, dass sie jemanden in zwei Teile zersägte. Das müsste dann wohl der einzige andere Passagier in dem kleinen Flugzeug sein, dieser Junge mit der ziemlich teuer aussehenden Schuluniform, überlegte Molly. Seit sie eingestiegen waren, hatte er nicht ein Mal den Mund aufgemacht, sondern nur gelesen oder aus dem Fenster gestarrt. Molly fragte sich, ob er wohl auch Verwandte auf Ravenstorm besuchte, so wie sie und Jack.

Für die Geschwister war es nichts Neues, den Sommer ohne ihre Eltern zu verbringen – die Unglaublichen Cornells waren während der Ferienzeit enorm gefragt für Auftritte in Clubs und Hotels –, aber bei den Wolfreys auf Schloss Ravenstorm waren sie noch nie gewesen. Molly konnte sich nicht mehr an Onkel Bill und Tante Catherine erinnern, und Jack hatte die beiden überhaupt noch nie getroffen. Bill und Catherine hatten nur ein Kind, ihren Sohn Arthur, und der war so alt wie Molly. Was bedeutete, dass Jack niemanden zum Spielen haben würde. Ohne ein paar neue Tricks könnte der Sommer lang werden. Wenn sie doch bloß wirklich zaubern könnte …

Jack rutschte schon wieder auf seinem Sitz herum, und seine Hand wanderte zum Verschluss des Gurts.

»Nicht, Jack. Bleib sitzen, ja? Wir fliegen eine Kurve. Schau, da! Jetzt kannst du die ganze Insel sehen.«

Wow, dachte Molly. Hoffentlich war Jack genauso beeindruckt wie sie.

Die Insel war zwar klein, wirkte von hier oben aber wie eine völlig andere Welt. Das azurblaue Meer schillerte durch den Nebelteppich und säumte die Sandbuchten mit winzigen weißen Wellen. Hinter dem Hafen schlängelten sich enge Gassen zwischen Häusern aus hellem gelblich grauen Stein hindurch. Das Dorf sah so niedlich aus, als wäre es einem Bilderbuch entsprungen. Molly konnte einen Kirchturm erkennen, ein Stückchen weiter einen weißen Leuchtturm an der Steilküste und dahinter ein riesiges Herrenhaus mit einem hochaufragenden Turm und noch mehr kleinen Türmchen, außerdem mit Stufengiebeln, die wie kleine Treppen das Dach einrahmten.

»Boah!« Jack stand der Mund offen. »Molly, guck dir das Schloss an!«

»Wunderschön! Und der Garten erst!« Von oben betrachtet, wirkten die Rasenflächen und Hecken, als wären sie mit Minischeren in raffinierte Formen geschnitten worden. Noch nie hatte Molly so viele verschiedene Grüntöne gesehen. Als das Flugzeug sich noch einmal zur Seite neigte und das Sonnenlicht auf der Tragfläche blitzte, konnte sie hinter dem Herrenhaus einen dichten Wald ausmachen, geheimnisvoll und verlockend. Sie flogen jetzt so tief, dass sie einen Schwarm Raben erschreckten, der panisch von den Baumwipfeln aufflog.

»Schloss Ravenstorm«, murmelte Molly. »Das muss es sein.«

»Also, mir gefällt es«, erklärte Jack.

Na, Gott sei Dank, dachte Molly und lächelte in sich hinein. Wenn Jack sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, blieb er auch dabei. Ihr Zuhause für diesen Sommer würde ihm gefallen, das war sicher.

Molly war auch ziemlich sicher, dass sie sich hier wohl fühlen würde. Schloss Ravenstorm sah aus der Luft schon imposant aus – von unten war es bestimmt überwältigend. Als das Flugzeug wieder zurück in die Waagerechte kam, vergaß Molly ihre Ermahnungen an Jack und beugte sich selbst vor, um noch einen Blick auf das Schloss zu erhaschen. Die Wolfreys hatten es mitsamt der ganzen Einrichtung gekauft, und ihre Mum hatte ihr verraten, dass Tante Catherine und Onkel Bill hofften, ein paar verborgene Schätze für ihr Antiquitätengeschäft zu entdecken. Während Molly die prunkvollen Türmchen bestaunte, stellte sie sich alte, seit Jahrhunderten ungeöffnete Wandschränke vor, schaurige Turmzimmer und dunkle Geheimgänge. Vielleicht würde es doch nicht so schwierig werden, Jack zu unterhalten. Dieser Sommer könnte für sie beide richtig aufregend werden.

»Hey! Dein Gurt!« Jack deutete auf ihren Schoß, das Gesicht rot vor Entrüstung.

Mit einem reumütigen Lächeln schnallte Molly sich wieder an. Schloss Ravenstorm hatte sie so in seinen Bann gezogen, dass sie unwillkürlich den Gurt gelöst hatte. »Du hast recht, Jack, tut mir leid. Willst du jetzt mal die Münze verschwinden lassen? Du kennst doch auch tausend Zaubertricks. Hier bitte. Wie wär’s, machst du auch den Verschwindegriff?«

Jack war sofort versöhnt und brannte darauf zu zeigen, was er konnte. Er nahm die Münze zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte sie hin und her, damit Molly sie in Augenschein nehmen konnte. Dann ließ er sie blitzschnell im Mund verschwinden.

»Jack!« Besorgt streckte Molly die Hand nach ihrem Bruder aus, zog sie aber gleich wieder zurück, aus Angst, er würde die Münze dann verschlucken. »Lass das, du erstickst sonst noch!«

»Gar nicht!« Mit einem selbstzufriedenen Grinsen zog Jack die Münze aus seiner Hosentasche. »Siehst du, ich bin auch ein Unglaublicher Cornell!«

Molly wusste nicht, ob sie stolz oder wütend sein sollte. »Du hast mich echt erschreckt, du kleiner Teufel.«

»Sei doch nicht so eine Langweilerin«, bemerkte eine fremde Stimme abschätzig. »Ich fand den Trick super.«

Überrascht wandte Molly sich um. Der Junge in der Schuluniform, der mit ihnen im Flugzeug saß, war so vertieft in sein Buch gewesen, dass Molly ihn schon ganz vergessen hatte. Zumindest hat er so getan, verbesserte sie sich im Stillen. Offensichtlich hatte der Junge sie heimlich beobachtet, und jetzt besaß er auch noch die Frechheit, Molly vor ihrem Bruder zu beleidigen. Dabei hatte er sich noch nicht einmal vorgestellt. Der glaubt wohl, das hat er nicht nötig, dachte Molly ärgerlich; nur die richtig teuren Schulen hatten diese lächerlichen Käppis und Jacketts mit dem Schulwappen darauf als Uniform. Sie funkelte ihn wütend an, und der Junge stierte zurück.

Das Flugzeug wackelte, als wäre eine gigantische Faust dagegengedonnert. Molly schnappte nach Luft. Augenblicklich vergaß sie das Wettstarren mit dem seltsamen Jungen und packte Jacks Hand, als das Flugzeug sich jäh nach unten neigte. Wolkenwände rasten an ihnen vorbei, dann brachen sie durch das Weiß und steuerten auf den kleinen Hafen zu. Molly zuckte zusammen, als ohne Vorwarnung Regen gegen das Fenster neben ihr prasselte. Ganz plötzlich war ein Gewitter aufgezogen, und heftige Windböen warfen das kleine Wasserflugzeug hin und her. Ängstlich überprüfte Molly noch einmal Jacks Gurt.

»Alles in Ordnung, keine Sorge«, rief der Pilot mit heiterer Stimme über das Getöse von Motor und Wetter hinweg nach hinten. »Das sind nur ein paar kleine Turbulenzen. Euch kann nichts passieren.«

Wehe, dieser Junge lacht uns aus, dachte Molly.

Ein schneller Blick über die Schulter genügte, um sie zu beruhigen: Der Junge umklammerte die Armlehnen seines Sitzes so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten, und seine Lippen waren zusammengepresst, als müsste er sich beherrschen, nicht loszuschreien. Sofort bekam Molly ein schlechtes Gewissen.

»Keine Angst«, sagte sie, »der Pilot meint, das sind nur –«

»Turbulenzen«, blaffte der Junge. »Ich hab ihn auch gehört, ich bin ja nicht taub.«

»Okay. Ich hab nur gedacht …«

»Mir geht’s gut. Kümmere dich um deinen eigenen Kram.«

Molly fand, dass der Junge überhaupt nicht den Eindruck machte, als ginge es ihm gut, aber sie zuckte die Achseln und drehte sich wieder um. So wie der sich benahm, würde sie nicht noch einmal versuchen, ihn aufzumuntern. Ihr fiel ein, wie klein die Insel Ravenstorm von oben ausgesehen hatte, also würden sie diesem unausstehlichen Kerl bestimmt noch über den Weg laufen. Viel zu oft, wahrscheinlich.

Das Flugzeug ruckelte und schaukelte, als der Pilot zum Landeanflug ansetzte. Ein harter Aufprall, dann ein zweiter und ein dritter, und sie standen schwankend vor der Hafenmauer. Aus dem Cockpit drang Schalterklicken, während das Flugzeug träge in die ruhigen Hafengewässer tuckerte.

Molly hörte sich erleichtert aufseufzen. Sie wollte wieder nach Jacks Hand greifen, aber die nestelte bereits an seinem Gurt. Ihr kleiner Bruder sprudelte fast über vor Aufregung und hatte kein bisschen Angst.

»Der Steg bewegt sich«, rief er.

Molly war schon aufgestanden, um ihr Gepäck einzusammeln, beugte sich aber noch einmal hinunter zum Fenster und spähte in den Regen. An der Hafenmauer war ein schwimmender Steg aus Holz befestigt, der im Takt der Wellen wippte. Am Ufer stand eine einzelne Gestalt, die in der einen Hand einen riesigen Regenschirm hielt und mit der anderen begeistert winkte.

Der Schuluniformjunge drängelte sich so schnell an Molly vorbei, dass er ihr beinahe den Koffer aus der Hand gerissen hätte. Molly drehte sich empört um und wollte ihm schon die Meinung sagen, als sie bemerkte, dass sich seine Muffelmiene endlich aufgeheitert hatte; strahlend winkte er dem Mann mit dem Regenschirm.

Der Pilot schob die Kabinentür auf und sprang auf den Schwimmsteg. Der Junge stieg als Erster aus – war ja klar, dachte Molly –, aber Jack folgte ihm auf dem Fuß. Nachdem der Pilot ihre Koffer entgegengenommen und auf den Steg gehoben hatte, hüpfte auch Molly hinunter.

»Viel Spaß euch dreien«, rief der Pilot, bevor er zurück ins Flugzeug kletterte.

Molly wischte sich den Regen aus den Augen und suchte den fast menschenleeren Hafen ab. Ihre Eltern hatten ihr versichert, Onkel Bill und Tante Catherine würden sie abholen kommen, aber von einem Erwachsenenpaar war weit und breit keine Spur. Molly knabberte besorgt auf ihrer Unterlippe herum. Die beiden hatten sie doch wohl nicht vergessen?

Während sie zum Ufer liefen, schwang Jack Mollys Arm im Rhythmus des Seegangs. Der stürmische Wind blies ihnen kalten Nieselregen ins Gesicht, und rechts und links neben dem schmalen Steg schlugen die Tropfen kleine Krater ins Wasser. Nicht gerade ein heiterer Start in die Ferien, dachte Molly, aber da Jack sich die Laune nicht verhageln ließ, sollte es ihr auch egal sein.

Als der Schuluniformjunge fast am Ende des Stegs angekommen war, fing er an zu rennen, kletterte ans Ufer und stürzte sich in die Arme des Regenschirmmanns. »Dad!«

»Willkommen zu Hause.«

Jetzt schaute der Regenschirmmann sie und Jack an. Molly rutschte das Herz in die Hose. Sein herzliches Begrüßungslächeln bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Er streckte die Hand aus und half zuerst Jack, dann Molly an Land.

»Und ihr müsst Molly und Jack sein«, sagte er.

»Ja«, antwortete Molly mit matter Stimme und versuchte, das blanke Entsetzen im Blick seines Sohnes zu ignorieren. »Und du bist …«

»Euer Onkel Bill, genau! Eigentlich wollte eure Tante auch mitkommen und euch begrüßen, aber sie fühlt sich heute schon den ganzen Tag schrecklich schlapp. Kein Grund zur Sorge, Arthur, in ihrem Zustand ist das völlig normal.« Er drückte den Arm seines Sohnes und lachte. »Mensch, bist du groß geworden, Molly! Eine dumme Floskel, ich weiß, aber Tante Catherine und ich haben dich das letzte Mal vor zehn Jahren gesehen, da warst du zwei!«

»Okay, und ich bin Jack«, unterbrach Mollys Bruder ihn. »Mich habt ihr noch nie gesehen.«

»Richtig.« Onkel Bill ging in die Hocke und schüttelte ihm die Hand. »Freut mich, dich endlich kennenzulernen, Jack.« Er stand wieder auf und lächelte sie alle an. »Aber das Allerbeste ist ja, dass ihr euren Cousin Arthur schon im Flugzeug getroffen habt. Super! Dann muss ich euch gar nicht mehr vorstellen.«

Von wegen, dachte Molly, während sie und Arthur sich finster anstarrten. Zum Vorstellen sind wir noch nicht gekommen, wir waren viel zu beschäftigt damit, uns zu streiten.

»Ja, echt super«, knurrte Arthur.

Onkel Bill entging sein sarkastischer Tonfall anscheinend. Er gab Arthur seinen Regenschirm und schnappte sich die Koffer.

»Na, dann los, lasst uns fahren. Auf nach Schloss Ravenstorm. Das wird ein phantastischer Sommer!«

2

Der Himmel war so finster, dass Molly einen seltsamen Augenblick lang dachte, sie hätten einen Zeitsprung gemacht und es sei schon Abend. Dabei waren es nur die dunkelgrauen Wolken, die sich über Ravenstorm ballten. Ein greller Blitz zuckte über den Horizont, und der Regen trommelte noch heftiger auf das Autodach. Arthur, der sich auf dem Vordersitz zusammengekauert hatte, beäugte das Wetter argwöhnisch. Molly spürte, wie Jacks kleiner Körper sich enger an sie drückte – hier auf der Rückbank konnte er sich sicher sein, dass niemand ihn beobachtete. Sie legte beruhigend den Arm um seine Schultern.

»Keine Sorge wegen des Regens!« Onkel Bill musste beinahe schreien, so laut klatschten die Tropfen gegen die Scheiben. »Das Wetter ist nicht immer so schlecht. Und es schlägt schnell wieder um.«

»Na, da bin ich ja beruhigt«, brummte Arthur. »Also ist das ganze Theater hier nur für uns?«

»Tut mir leid«, lachte sein Vater, ohne auch nur die geringste Notiz von seiner schlechten Laune zu nehmen. »Schau raus, Arthur, da kommt das Dorf, Crowsnest. Das hier ist die Hauptstraße.«

Jack war sofort wieder hellwach und schüttelte Mollys Arm ab, um aus dem Fenster zu spähen. Die Scheiben waren beschlagen, aber Molly rubbelte ein Stück für ihn frei. Crowsnest – Krähennest … Komischer Name für ein Dorf, dachte sie. Aber er gefiel ihr.

Die Hauptstraße war schmal und teilte sich vor einem Kriegerdenkmal. Molly konnte ein Postamt, ein Café und einen kleinen Souvenirladen erkennen, dahinter eine graue Kirche mit einem spitzen Turm. Enge gepflasterte Gässchen, die mit alten Steinhäusern gesäumt waren, schlängelten sich von der Hauptstraße ab und sahen selbst im herabpeitschenden Regen noch hübsch aus. Das Wasser glänzte auf den Schieferdächern, tropfte von Efeuranken und sammelte sich unter Kletterrosen. Beim nächsten Blitz bemerkte Molly eine einsame Gestalt, die, den Mantel über den Kopf gezogen, aus der Tür eines kleinen Supermarkts flitzte und eilig in ein Auto kletterte. Der einzige Dorfbewohner, der dem Wetter trotzte.

»Hier gibt es garantiert einiges zu erleben, Arthur«, sagte Onkel Bill. »Du kannst dir ein Eis aus dem Café dort holen oder in der Bucht schwimmen gehen. Wenn die Sonne scheint, zumindest.«

Molly runzelte die Stirn. So wie ihr Onkel redete, kannte ihr Cousin die Insel genauso wenig wie sie. Sie beugte sich vor.

»Warst du denn vorher noch nie hier, Arthur?«, fragte sie.

Arthur wandte sich halb nach hinten um, aber nur, um ihr einen bösen Blick zuzuwerfen. »Nicht, dass dich das was anginge, aber ich war das ganze Halbjahr in der Schule«, fauchte er. »Und jetzt soll ich allen Ernstes hier leben.«

Arthur geht also auf ein Internat, dachte Molly. Und er scheint nicht gerade begeistert von der Aussicht auf das neue Zuhause, in dem er von jetzt an die Ferien verbringen soll. Allerdings fiel es Molly schwer, Mitleid mit ihm zu haben, so feindselig und patzig, wie er war.

»Ist das wirklich die Hauptstraße?« Jack kurbelte bereits das Fenster herunter. Molly konnte ihn gerade noch am Handgelenk packen, bevor der Regen sie alle durchnässte. Eilig machte sie das Fenster wieder zu. »Die ist ja winzig!«

»Was du nicht sagst«, murmelte Arthur. »Wird bestimmt richtig aufregend, hier zu wohnen.«

»Ach komm, Arthur.« Onkel Bill nahm eine Hand vom Lenkrad und tätschelte seinem Sohn den Arm. »Du kannst dich glücklich schätzen, dass es hier überhaupt irgendetwas gibt. Bis zum siebzehnten Jahrhundert war die Insel noch völlig unbewohnt.«

»Wundert mich nicht.«

Sein Vater ignorierte den Kommentar. »Ein verschrobener Adeliger hat sie 1645 gekauft und das Schloss, die Kirche und das gesamte Dorf gebaut. Aber seine Frau war wohl nicht sonderlich glücklich über den Umzug, und um sie bei Laune zu halten, hat er eine ganze Schar Bediensteter mitgebracht.«

Molly musste sich die Hand auf den Mund pressen, um nicht laut loszulachen. Klang, als hätte diese adelige Dame ziemlich viel Ähnlichkeit mit ihrem Cousin.

»Deswegen stammen übrigens auch so viele Inselbewohner von denselben Familien ab«, fuhr Onkel Bill fort. »Aber seit damals sind auch eine Menge Leute zugezogen, wegen der Ruhe und des Friedens hier. Und wegen der Landschaft, natürlich.«

»Ich glaube, wir beide verstehen etwas völlig anderes unter eine Menge, Dad«, sagte Arthur und schaute zurück auf das Dorf, das sie gerade hinter sich ließen. Sie hatten Crowsnest in null Komma nichts durchquert.

»Und was ist mit diesem Adeligen?«, hakte Molly fasziniert nach. »Wohnen seine Nachkommen auch noch auf der Insel?«

»Lord Trevarrens letzter Nachkomme hat uns das Schloss verkauft.« Onkel Bill warf Molly einen Blick im Rückspiegel zu, offensichtlich dankbar für ihr Interesse. »Er hatte wohl nicht viele Kinder und Enkelkinder. Und die paar, die er hatte, sind alle entweder gestorben oder weggezogen. Angeblich liegt auf seiner Familie ein Fluch.« Mit gespielter Angst riss er die Augen auf.

Molly lächelte ihm im Spiegel zu, während Jack sich mit einem Seufzer in seinen Sitz zurückfallen ließ. »Sind wir schon da?«

»Jack! Sei nicht so ungeduldig.«

»Pff, ich finde, er hat recht«, brummelte Arthur. »Ich meine, wann kommen wir endlich an? Wir fahren schließlich schon seit Stunden …«

Molly wünschte, Onkel Bill würde Arthur zurechtweisen, weil er sich über Jack lustig machte, aber der überging das Gemaule seines Sohnes einmal mehr.

»Eigentlich sind wir wirklich schon da«, verkündete er jetzt und deutete nach vorn. »Da, Schloss Ravenstorm.«

Molly und Jack reckten aufgeregt den Hals, und selbst Arthur beugte sich vor, stützte sich auf das Armaturenbrett und schaute beklommen durch die verregnete Windschutzscheibe. Am Ende einer dunklen, von hohen Bäumen gesäumten Allee tauchten verwitterte Backsteinmauern, Schieferdächer und kleine Türmchen auf. Kaum hatten sie die Allee hinter sich gelassen, durchzuckte ein Blitz den Himmel und erhellte eine Vielzahl von Fenstern, manche ausladend und hoch, andere klein, rund und geheimnisvoll. Das Gewitter war nun direkt über ihnen, und Molly schlug die Hände vor die Augen. Als sie zwischen den Fingern hervorblinzelte, konnte sie die Befestigungswälle und Wehrtürme erkennen. Ein weiterer Blitz, und sie sah noch etwas anderes, das ihr einen spitzen Schrei entriss. Auch Arthur schnappte hörbar nach Luft.

Zwei Kinder standen stocksteif im hohen Gras neben der Auffahrt, ins gleißende Licht des Blitzes getaucht. Es war ein furchteinflößender Anblick.

»Onkel Bill! Wer ist das?«

Arthur atmete erleichtert aus und drehte sich mit einem spöttischen Grinsen zu ihr um. »Du erschrickst aber auch vor allem, was?«

Molly funkelte ihn wütend an. Arthur hatte sich doch selbst erschrocken! Wie im Flugzeug, da war er auch so angriffslustig und bissig und richtig hochnäsig gewesen, obwohl er in Wirklichkeit genauso viel Angst gehabt hatte wie sie und Jack. Ihr lag bereits eine giftige Antwort auf der Zunge, doch sie zwang sich, sie hinunterzuschlucken. Schließlich waren sie und Jack Onkel Bills Gäste.

»Jetzt im Ernst, wer sind die beiden, Dad?«, fragte Arthur und zeigte auf die Wiese. Jack hing schon halb über dem Vordersitz, um nichts zu verpassen.

Onkel Bill fuhr langsamer, damit sie die Gestalten im flackernden Licht besser sehen konnten. »Zwei von unseren Inselkindern«, sagte er lachend.

»Die sind ja gar nicht echt.« Jack klang enttäuscht.

»Aber sie sehen wirklich so aus«, sagte Molly und drückte tröstend seinen Arm. »Ich hab sie auch erst für lebendig gehalten.«

Und das hätte sie immer noch getan, wenn die Kinder nicht so völlig reglos im Gewitter gestanden hätten: Aber die Lockenmähne des Mädchens bewegte sich nicht, und das Jo-Jo des kleinen Jungen hing starr am Ende der Schnur. Durch die dunklen Wolken und den prasselnden Regen wirkten alle Farben wie ausgewaschen. Von nahem konnte Molly allerdings deutlich erkennen, dass die beiden Figuren aus hartem grauen Stein gehauen waren.

»Sie sind wunderschön«, flüsterte Molly.

»Nicht wahr?« Onkel Bill klang ziemlich stolz. »Solche Statuen gibt es überall auf der Insel, um die zwanzig insgesamt. Die gehören zu einem Kunstprojekt, das seit ungefähr sechs Monaten läuft. Eine Künstlerin von hier macht die Dinger. Sie ist unglaublich talentiert, wenn ihr mich fragt. Ich muss unbedingt mehr über sie herausfinden.«

»Na klar, Dad.« Arthur ließ einen nachsichtigen Seufzer hören. »Du kannst doch zu keinem Kunstwerk nein sagen, antik oder nicht.«

»Da hast du recht.« Onkel Bill knuffte Arthur in die Seite. »Aber jetzt schauen wir uns erst einmal dein neues Zuhause an.«

 

Die Auffahrt mündete in einen großen runden Platz direkt vor dem Schloss, und dort auf einer breiten alten Steintreppe wartete Tante Catherine auf sie, mit einem herzlichen Lächeln und einem gewaltigen Babybauch unter dem eleganten blauen Kleid.

Kein Wunder, dass sie zu müde war, um uns abzuholen!, dachte Molly.

Mittlerweile regnete es kaum noch, aber der stürmische Wind löste eine Haarsträhne aus Tante Catherines braunem Pferdeschwanz. Sie strich sie hinters Ohr, während sie ihnen zuwinkte. Neben ihr stand ein hochgewachsener Mann mit lichtem grauen Haar, einem steifen schwarzen Anzug und einer steinernen Miene. Molly schluckte nervös, als sie mit Jack an der Hand aus dem Auto stieg.

Wenn man direkt vor dem mächtigen Eingang stand, sah Schloss Ravenstorm noch beeindruckender aus als von weitem. Molly legte den Kopf in den Nacken und schaute hoch zu den Türmchen auf dem Dach. Schon hatte Jack seine Hand aus ihrem Griff befreit und kletterte auf eine der Steinfiguren, die zu beiden Seiten der ausladenden Treppe hockten.

»Hüh!«, jauchzte er.

»Jack! Komm sofort da runter!« Molly wäre am liebsten im Boden versunken. Doch bevor sie loslaufen und ihren kleinen Bruder vom Rücken der Statue ziehen konnte, hatte der Riese im schwarzen Anzug ihn schon heruntergehoben. Er setzte den protestierenden Jungen ab und trat wieder zurück. Mit seinen vor dem Bauch gefalteten Händen und dem ausdruckslosen Blick wirkte er beinahe selbst wie eine Steinfigur.

Selbst als Molly ihn dankbar anlächelte, nachdem sie Jack zu sich herangezogen hatte, zeigte er keine Regung. Vielmehr schien er einfach über sie hinwegzuschauen. In sein schwarzes Jackett war auf Brusthöhe ein Wappen eingestickt, mit einem lateinischen Motto, das Molly nicht genau entziffern konnte, und zwei grimmigen Raben als Schildträgern. Die stehen bestimmt für Ravenstorm, vermutete Molly. Sie fröstelte innerlich. Kein besonders einladendes Familienwappen.

Tante Catherines Miene war jedoch fröhlich, als sie vorsichtig die verwitterten Stufen herunterstieg. Arthur lief ihr entgegen, streckte sich und schlang ihr die Arme um den Hals, so gut das bei ihrem riesigen Bauch eben ging. Beide strahlten einander an.

»Willkommen zu Hause!« Tante Catherine fasste Arthur an den Schultern und betrachtete ihn lächelnd von oben bis unten. »Ich könnte schwören, du bist seit den letzten Ferien schon wieder gewachsen! Und du musst Molly sein – und du Jack.«

Molly drückte warnend Jacks Hand, damit er seine guten Manieren nicht vergaß. »Hallo, Tante Catherine«, sagte sie.

»Hallo«, sagte Jack. »Warum bist du so dick?«

Tante Catherine und Onkel Bill brachen in Gelächter aus, und Tante Catherine umarmte Jack. »Weil ich so einen kleinen Racker wie dich kriege. Willkommen auf Schloss Ravenstorm, ihr zwei. Und das hier« – sie deutete auf den Mann neben sich – »ist unser Butler Mason.«

Arthur hob eine Augenbraue. »Wir haben einen Butler?«

Mason räusperte sich. »Ich gehöre sozusagen zum Inventar, Master Arthur. Ich, oder besser gesagt, meine Familie, wir stehen schon seit Generationen hier in Diensten. Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Und natürlich Ihre jungen Verwandten.« Er bedachte Molly und Jack mit einem eher prüfenden Blick, aber diesmal hoben sich seine Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln.

»Jetzt wollen wir aber nicht länger hier herumstehen und frieren«, sagte Tante Catherine aufmunternd. »Ich habe drinnen den Kamin angezündet, und es gibt heißen Kakao.«

»Na, dann los!« Onkel Bill klatschte in die Hände. »Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich will jetzt Kakao.«

Das ließ Arthur sich nicht zweimal sagen. Genau wie Molly erwartet hatte, marschierte er vor allen anderen hinein, während Mason zum Auto stapfte, um ihr Gepäck zu holen. Molly hielt Jacks Hand ganz fest, als sie ihrer Tante und ihrem Onkel durch die große Flügeltür in eine riesige dunkle holzgetäfelte Eingangshalle folgten. Ohne die kunstvoll gearbeiteten Leuchten, die schwach schimmernde Lichtflecken an die Wände warfen, wäre es hier drinnen stockfinster gewesen. Antike Statuen säumten die Wände, griechische Götter und Männer mit Stierköpfen, deren leere Augen die vorübergehenden Menschen zu beobachten schienen. Wie kleinlaut ihre Schritte auf den abgenutzten schwarzweiß gemusterten Fliesen klangen! Die Decke über ihnen war mit Engeln, Teufeln und mythischen Schlangenwesen verziert und wölbte sich in der Mitte zu einem spitzen Bogen. Jack starrte so angestrengt nach oben, dass er beinahe über seine eigenen Füße gestolpert wäre. Molly musste ihn wieder auf die Beine hieven.

»Pass auf!«, warnte sie ihn. »Der Boden sieht ziemlich hart aus, das tut weh, wenn du hinfällst.«

Molly bemerkte eine breite Treppe, die sich nach oben ins Dunkle wand und dort irgendwo verschwand. Ihre Neugier war geweckt, doch Tante Catherine führte sie zwischen zwei Ritterrüstungen hindurch in einen weiträumigen Salon. Mittlerweile zitterte Molly vor Kälte, deswegen war sie dankbar für das Feuer, das dort in einem mächtigen Steinkamin loderte. An dreien der Wände standen Regale, die sich unter der Last rissiger Folianten bogen. Die Ledersofas sahen viel zu groß aus, um darauf zu sitzen, aber das Zimmer roch nach verbranntem Holz und alten Büchern, und als Molly neben Jack in die Kissen fiel, überrollte sie eine Woge schläfriger Zufriedenheit. Zwar trennten Schloss Ravenstorm und ihr Elternhaus im Griffin Court 33B mit seinem chaotischen Durcheinander aus Kleidern, Spielzeug und Zauberrequisiten Welten, in diesem Zimmer hier fühlte sie sich allerdings wirklich wohl.

»Macht es euch gemütlich. Ich hole schon mal den Kakao, und eure Tante Catherine legt in der Zwischenzeit die Beine hoch. Immerhin hat sie gerade schwer zu tragen.« Onkel Bill zwinkerte seiner Frau zu. »Ich bin gleich wieder da.«