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Die kleine Insel Ravenstorm Island liegt umtost von Wind und Wellen weit draußen im Ozean. Ein perfekter Ort für Abenteuer und jede Menge ungelöster Geheinisse! Molly und ihr Cousin Arthur staunen nicht schlecht: Archäologen rücken auf Ravenstorm Island an, um ein Hügelgrab zu finden, das wertvolle Schätze birgt. Doch irgendjemand versucht, das mit aller Macht zu verhindern! Die Kinder wollen der Sache auf den Grund gehen und begeben sich selbst auf die Suche nach dem Grab. Leider zu spät – der Geist einer bösen Hexe ist bereits freigekommen und treibt im dunklen Schattenwald sein Unwesen. Plötzlich lauern überall Gefahren, denn die sogenannte Schreischlingerin kann jegliche Gestalt annehmen … Gruselig und mit einem Hauch Magie: Der vierte Band der aufregenden Serie um die Insel Ravenstorm. Für alle Leser von Enid Blyton und J.K. Rowling!
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Seitenzahl: 210
Gillian Philip
Die Geheimnisse von Ravenstorm Island
Der Schattenwald
Aus dem Englischenvon Katrin Segerer
FISCHER E-Books
Für Annie Nicol
»Das hier ist echt das Unheimlichste, was ich je gemacht habe«, sagte Arthur Wolfrey hustend, als noch eine Staubwolke in die Luft stieg. Die Körnchen tanzten im Sonnenlicht, das durch das Fenster des Museums von Ravenstorm Island fiel. »Und das will schon was heißen.«
Molly Cornell grinste und zog die nächste Schublade einer wuchtigen alten Kommode auf. »Unheimlicher als die Geisterpiraten? Und die heimtückischen Zwerge?«
»Jep«, antwortete Arthur. »Und auch als die Trolle und die Finsterflinkkönigin, wenn wir schon dabei sind.«
Molly warf Arthur einen besorgten Blick zu. Trotz des unbekümmerten Tonfalls war sein Gesicht ängstlich und angespannt. Schließlich hatte die Finsterflinkkönigin seine Schwester Harriet in eine finstere kleine Kreatur mit einer beunruhigenden Vorliebe für Riesenspinnen verwandelt. Doch ihr Cousin war anscheinend fest entschlossen, optimistisch zu bleiben, während sie nach einem Weg suchten, den Fluch aufzuheben.
»Hmpf«, machte er gerade. »Ob Miss Badcrumble wohl je darüber nachgedacht hat, die Sachen ordentlich zu katalogisieren? Nein, du hast recht: dumme Frage.« Er verdrehte die Augen und fing widerstrebend an, eine Schublade voller winziger spitzer Zähne zu durchstöbern. »Igitt!«
Die Kinder standen in den schummerigen Ausstellungsräumen von Miss Badcrumbles chaotischem Dorfmuseum. Zu ihren Füßen lagen Dutzende Schubfächer verstreut, die zwar alle nach einem bestimmten System beschriftet waren, allerdings nach Miss Badcrumbles System, was bedeutete, dass ein paar der vergilbten Etiketten verkehrt herum klebten, andere längst abgefallen waren und der Rest in einer unleserlichen, mittlerweile so verblassten Krakelschrift bekritzelt waren, dass man sie kaum entziffern konnte.
Molly hob eine winzige Kette aus verschrumpelten Brombeeren auf und rümpfte die Nase. »Ih! Wofür die wohl gut sein sollen?«
»Keine Ahnung. Die würde wahrscheinlich nicht einmal Jack mehr in seine Cornflakes tun.«
Molly schüttelte grinsend den Kopf. Das stimmte, und ihr gefräßiger kleiner Bruder aß eigentlich alles, wenn es nur in genügend Zucker getaucht war. Sie betrachtete den Finsterflinkschmuck zwischen ihren Fingerspitzen. »Na ja, es ist ja nicht so, als würde Miss Badcrumble irgendwas von diesem magischen Zeug offen auslegen – stell dir nur mal vor, was die Dorfbewohner denken würden! Sie hat einfach gern Finsterflinksachen um sich.«
Die alte Finsterflink Miss Badcrumble vermisste ihr Volk, das wussten Molly und Arthur. Sie war als Kind mit einem Menschenbaby vertauscht worden, hatte aber die magische Welt, aus der sie stammte, nie vergessen. Und obwohl sie vollauf beschäftigt war mit dem Museum und dem Teeladen und ihrem kleinen Garten – und damit, Molly und Arthur bei ihren zahlreichen Zusammenstößen mit den übernatürlichen Wesen auf der Insel zu unterstützen –, sehnte sie sich wehmütig zurück nach dem Reich unter der Erde von Ravenstorm.
Molly selbst hatte mehr als genug von der Magie. Sie hatte sich immer gewünscht, dass es wirkliche, echte Magie gäbe, dass Magie mehr wäre als die geschickten Tricks, die sie von ihren Eltern, den Unglaublichen Cornells, gelernt hatte. Doch seit sie und Jack bei Arthur und seinen Eltern auf Ravenstorm angekommen waren, wo sie den Sommer verbrachten, während die Unglaublichen Cornells mit ihrer Zaubershow auf Tournee durch das ganze Land gingen, glichen ihre Ferien einer endlosen Reihe von Auseinandersetzungen mit Flüchen und schwarzer Magie.
Lebendige Wasserspeier, Geisterpiraten, Finsterflinks und sanftmütige, aber zerstörerische Trolle: Langweilig war es nie geworden, das musste sie zugeben. Und obwohl sich einige der Abenteuer als gefährlicher entpuppt hatten, als ihr lieb gewesen war, hatten sie ihr eine aufregende und phantastische neue Welt eröffnet.
Sie wünschte sich nur, Arthurs kleine Schwester wäre nicht in dieses magische Durcheinander verwickelt worden …
»Hier muss doch irgendwas sein«, rief Arthur frustriert, während er ein winziges silbernes Hufeisen von allen Seiten untersuchte. »Ich meine, hier ist so viel Zeug, irgendwo muss sich doch ein Hinweis verstecken, wie wir Harriet helfen können.«
»Ich glaube, es würde schon viel bringen, wenn wir wüssten, warum«, seufzte Molly. »Warum haben die Finsterflinks deine Schwester verflucht? Sie hat ihnen doch nichts getan.«
Arthur rieb sich die Stirn und starrte düster auf die verstreuten Artefakte zu ihren Füßen. »Brauchen sie einen Grund? Sie haben schließlich auch Jack versteinert und die anderen Ravenstorm-Kinder!«
Molly schauderte. Sie dachte nicht gerne daran zurück, wie Jack von der Finsterflinkkönigin in eine Statue verwandelt worden war, auch wenn er selbst sich an gar nichts erinnerte. »Dafür hatten sie einen Grund, oder zumindest so was Ähnliches. Immerhin hat Jacks kleine Freundin Melody den Sohn ihrer Königin entführt und ihn als – na ja, als Haustier gehalten.«
»Jaaa, aber man kann echt überreagieren!«, erwiderte Arthur trotzig. »Überhaupt, Harriet kann den Finsterflinks noch gar nichts getan haben. Sie ist erst ein paar Wochen alt! Und fast genauso lang schon ein krabbelnder und kreischender kleiner Kobold mit orangefarbenen Katzenaugen.«
Armer Arthur, dachte Molly. Er fühlte sich bestimmt schrecklich hilflos, weil er den Fluch auf seiner kleinen Schwester nicht brechen konnte. Und Harriet erinnerte ihn die ganze Zeit daran, mit ihrem Quengeln, dem dämonischen Kreisch-Lachen und der grausigen Spinne, die sie als Kuscheltier benutzte. Molly nahm ihren Cousin schnell in den Arm. »Wir werden sie retten! Wir haben doch bis jetzt alle magischen Krisen gemeistert, oder? Und wir wissen zumindest schon, dass die Finsterflinks für ihren Zustand verantwortlich sind.« Schließlich hatten sie im Mondsteinturm, in dem die Finsterflinks früher gelebt hatten, einen orangefarbenen Stein entdeckt, der Harriets verzauberten Katzenaugen gespenstisch ähnelte. »Nicht aufgeben, Arthur. Komm, suchen wir weiter!«
»Autsch!« Hastig zog Arthur die Finger aus der kleinen Holzschublade in seiner Hand. »Nadeln! Nein, warte – das sind Dornen! Aber sie sehen aus wie Nadeln und fühlen sich auch so an. Erinnere mich daran, hier auf der Insel nie Brombeeren pflücken zu gehen!«
Molly grinste. Sie war froh, wieder den alten Sarkasmus in Arthurs Stimme zu hören. »Ich hab einen Traumfänger gefunden.« Sie hielt ihn hoch: ein geknüpftes, wie ein Schild geformtes Netz, das mit zerzausten Federn verziert war. Der Rahmen war gebrochen, und die seidenen Fäden waren zerschlissen; außerdem hatte sich ein Büschel zottiger Haare darin verfangen, bei dessen bloßem Anblick Molly schon eine Gänsehaut bekam. Unwillkürlich griff sie nach dem Talisman, der an einem Lederband um ihren Hals hing. Den hatte der alte Wasserspeier Mason, der gleichzeitig der Butler der Wolfreys war, ihr gegeben, um sie vor böser Magie zu schützen. Arthur und Jack besaßen die gleichen Amulette.
»Traumfänger stammen aus Amerika«, sagte Arthur. »Und der hier sieht ziemlich alt aus. Nicht gerade wie einer, den man irgendwo auf dem Festland kaufen kann.« Skeptisch betrachtete er das alte Lederband, das um den Weidenreifen gewickelt war. »Ich frage mich, ob es bei den Chippewa-Indianern wohl auch Finsterflinks gibt.«
»Und ich frage mich, was für ein armes Ding sich wohl darin verfangen hat«, sagte Molly. »Zumindest kein Traum, so viel ist sicher.«
»Außer vielleicht ein sehr haariger Traum –« Ein Schrei, gefolgt von einem lauten Klirren, durchschnitt die staubige Luft, und Arthur wirbelte herum. »Das ist Miss Badcrumble«, rief er. »Komm mit, schnell!«
Molly warf den kaputten Traumfänger weg und rannte hinter ihrem Cousin her in die Teestube.
Dort war es viel heller als in den Museumsräumen, und sie musste heftig blinzeln, um etwas zu erkennen. Arthur hatte sich einen Holzlöffel von der Theke geschnappt, um die magischen Angreifer in die Flucht zu schlagen, aber da war niemand: Miss Badcrumble war allein, bis auf Harriet, die sicher in ihrem Kinderwagen lag. Die alte Finsterflink hatte ein mit Tassen und einer Teekanne beladenes Tablett fallen lassen. Der Boden war mit Porzellanscherben, Mohnkuchenstücken und verschüttetem Tee bedeckt, und Miss Badcrumble stolperte mit entsetztem Blick von Harriets Kinderwagen zurück.
»Arthur! Molly! Was ist das für ein grässliches Geschöpf?« Sie presste sich die vogelartigen Klauenhände vor den Mund. »Ich habe nichts gemacht, versprochen! Es war plötzlich einfach da! Im Kinderwagen!«
Molly und Arthur stürzten zu Harriet hinüber. Arthur ächzte.
»Nicht schon wieder!«
Seine kleine Schwester gluckste glücklich und wirkte völlig unbeeindruckt von der Panik, die sie verursacht hatte. Ihre dicken Patschefinger griffen nach der großen schwarzen Spinne, die über ihr Kissen krabbelte, und sie kicherte vergnügt, als ein langes, haariges Bein ihre Nase streifte. Sie nieste und gluckste erneut, während das Tier es sich in ihrer Halsbeuge bequem machte.
»Diese verdammte Spinne! Am liebsten würde ich sie tottreten!«, rief Arthur wutentbrannt.
»Tu das nicht!«, sagte Molly schnell. »Du weißt nicht, wie Harriet reagieren würde.«
»Aber Kinder«, stammelte Miss Badcrumble, »was ist das für ein Ding? Und wo ist es hergekommen?«
»Ach, Miss Badcrumble, bitte entschuldigen Sie. Wir hätten Sie vorwarnen müssen.« Arthur seufzte. »Harriet hat zu Hause in ihrem Bettchen damit gespielt. Ich habe gedacht, ich hätte alles abgesucht, bevor wir losgegangen sind, aber das Vieh muss sich irgendwo im Kinderwagen versteckt haben. Brr!« Er lief in die Museumsräume und kehrte mit einem Ausstellungsstück zurück: einem zerschlissenen alten Schmetterlingsnetz.
»Vorsicht!«, warnte Molly. »Mach sie nicht wütend.«
»Sie macht mich wütend!«, fauchte Arthur, während er den Kinderwagen umkreiste. »Ach, wenn ich könnte, würde ich dich einen sehr breiten Abfluss runterspülen. Weg von meiner Schwester!«
Molly sah die Angst in Arthurs Augen, als er das Netz in Richtung Spinne schnellen ließ. Der Schlag ging daneben, und er zog den Kescher hastig zurück. Ich würde dieses Ding auch nicht fangen wollen, dachte Molly. Nicht einmal mit einem sehr großen, sehr langen Kescher. Und Miss Badcrumbles museumsreifes Exemplar machte nicht gerade einen stabilen Eindruck.
Erneut haschte Arthur wild nach der Spinne, doch dieses Mal schaute Harriet mit einem wutentbrannten Kreischen von ihrem grauenerregenden Kuscheltier auf. Mit den kleinen Fäusten hieb sie nach dem Netz, brüllte aus voller Kehle und kniff fest die Augen zu. Als sie sie wieder öffnete, leuchteten sie orangefarben, und die Pupillen waren geschlitzt wie bei einer Katze.
»Arthur, nicht!« Molly packte ihren Cousin am Arm und zerrte ihn vom Kinderwagen weg. Miss Badcrumble stieß einen erstickten Angstschrei aus.
Harriet allerdings beruhigte sich sofort. Sie bedachte Arthur mit einem letzten vernichtenden Babyblick, bevor sie die Ärmchen nach ihrer Spinne ausstreckte. Die ließ ihre hässlichen Beine über Harriets Gesicht tanzen, und Harriet kicherte, als würde ihre Mutter sie kitzeln. Fröhlich packte sie das Tier und streichelte seinen haarigen Rücken. Die Spinne starrte sie aus den acht glänzenden schwarzen Augen unverwandt an. Es hätte Molly auch nicht gewundert, wenn sie angefangen hätte zu schnurren.
»Sie ist nur zufrieden, wenn sie die Spinne hat«, sagte sie, als Arthur zurück an den Kinderwagen treten wollte. »Also lass es gut sein. Ich weiß, das Vieh ist scheußlich, aber offensichtlich tut es ihr nichts.«
»Bis jetzt«, sagte Arthur schneidend. Er war kalkweiß vor Ekel.
»Wie schrecklich!«, rief Miss Badcrumble und rang die Hände. »Herrje. Herrjemine. Die arme kleine Harriet! Ihr Zustand wird immer schlimmer, oder?«
»Hoffentlich nicht!« Grimmig drückte Molly den Arm ihres Cousins. »Keine Sorge, Arthur. Wir finden einen Weg, um das in Ordnung zu bringen, versprochen!«
Arthur hatte schon den Mund geöffnet, um etwas zu erwidern, als die kleine Glocke über der Teeladentür klingelte. Die Spinne krabbelte zurück unter die Decke, während Miss Badcrumble hastig die zerschlissenen Handschuhe über ihre Finsterflinkklauen zerrte. Molly lächelte den Neuankömmlingen strahlend entgegen, als wäre hier alles völlig normal – also, als hätten sie nicht gerade versucht, eine Riesenspinne von einem besessenen Baby wegzulocken. »Morgen!«
Zwei Männer und eine Frau kamen gebückt durch die niedrige Tür, und Arthur drehte schnell den Kinderwagen um, damit sie Harriet und ihre Spinne nicht sahen. Der erste der beiden Männer richtete sich auf und räusperte sich wichtigtuerisch mit einem Blick auf die Uhr. »Das ist es in der Tat. Ich würde gerne mit dem Kurator dieses Museums sprechen. Jetzt gleich, wenn möglich.« Er faltete die Hände und schaute Molly erwartungsvoll an.
Er war älter als die beiden anderen. Sein dünnes Resthaar war zurückgekämmt, und er trug eine randlose Brille, die ihm die Autorität eines Akademikers verlieh. Seine zusammengekniffenen Lippen und die verengten Augen machten deutlich, dass man ihm besser nicht widersprach.
»Äh, das … das ist Miss Badcrumble«, stammelte Molly.
»Sehr schön«, erwiderte der Mann gereizt. »Könntest du sie bitte herholen?«
Verwirrt schaute Molly zu Miss Badcrumble hinüber. »Sie ist schon da. Ich meine, äh … das hier ist Miss Badcrumble.«
Die alte Finsterflink trat zögernd vor, die behandschuhten Finger fest ineinander verschränkt. Sie war noch immer ziemlich blass von der Begegnung mit der Spinne, und auf ihrem Flickenrock prangten Teespritzer.
»Das stimmt«, piepste sie nervös. »Ich bin die Kuratorin.«
»Tatsächlich?« Die Augen hinter den Brillengläsern weiteten sich verächtlich, und der Mann ließ den Blick über die viel zu langen Handschuhfinger und den nassen Rock bis hin zu dem Haufen aus Kuchen, Tee und zerbrochenem Porzellan auf dem Boden wandern. »Ich … verstehe.«
Bei seinem Tonfall wurden Miss Badcrumbles Lippen schmal, und sie stellte sich aufrechter hin. Zwei rote Flecken erschienen auf ihren Wangen. »Genau. Miss Eveline Badcrumble, mir gehört das Museum.«
»Nun gut.« Der Mann rümpfte die Nase. »Mein Name ist Dr. Roger Devenish, und das hier sind meine beiden Assistenten.« Er machte eine abschätzige Handbewegung in Richtung seiner Begleiter, die wenigstens den Anstand besaßen, peinlich berührt auszusehen. »Das ist Scott Mantle, und die junge Dame ist Rosalind French. Wir sind Archäologen.« Für das letzte Wort hob er feierlich die Stimme, als würde es alles erklären.
»Wirklich?« Miss Badcrumble schürzte die Lippen und wirkte leicht verschnupft. »Und was sollten Archäologen in meinem Museum wollen?«
Dr. Devenish hatte schon verdutzt den Mund aufgeklappt, da knuffte Molly Miss Badcrumble in die Seite. »Sich ein paar Ihrer Ausstellungsstücke anschauen vermutlich«, flüsterte sie.
»Sehr richtig.« Dr. Devenish rückte die Brille und mit ihr seine Würde zurecht. »Tatsächlich würde ich gerne alle alten Karten sichten, die sich in Ihrem Besitz befinden. Karten von dieser Insel. Man hat mir gesagt, dass Sie hier einige alte Dokumente …« – er zog eine Augenbraue hoch und musterte die Teestube und den dunklen, muffigen Raum dahinter – »äh, aufbewahren.«
Miss Badcrumble zögerte einen Moment, bevor sie ihren hoheitsvollsten Gesichtsausdruck aufsetzte und knapp nickte. »Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann, Mr … äh, Dr. Devenish.«
Dann huschte sie davon wie eine Maus, was die Wirkung ihres Auftritts ziemlich zunichtemachte, aber Molly fand, dass sie sich trotzdem ganz gut geschlagen hatte. Dieser Dr. Devenish war wirklich einschüchternd. Arthur allerdings schien das nicht zu beeindrucken. Mit verschränkten Armen funkelte er die drei Archäologen finster an. Molly ließ sie in dieser unangenehmen Stille schmoren, bis Miss Badcrumble zurückgetrippelt kam.
Die alte Finsterflink verschwand fast hinter den riesigen, mit Bändern verschlossenen Mappen in ihren Armen. Ächzend ließ sie sie auf einen Teetisch fallen. Pergamentblätter und vergilbtes Papier ergossen sich über die Tischdecke, und ein Dokument segelte auf den Boden, mitten in eine Teepfütze. Molly bückte sich hastig, um es abzuwischen und zurück zu den anderen zu legen. Es sah sehr alt und wertvoll aus.
Dr. Devenish blinzelte ungläubig und schluckte. »Ja«, würgte er schließlich hervor. »Ja, die könnten nützlich sein. Welches Katalogisierungssystem verwenden Sie, Miss Badcrumble?«
Die alte Flink starrte ihn verständnislos an. »Katalogisierungssystem?«
Arthur prustete los. Molly stieß ihm energisch in die Rippen, woraufhin er versuchte, seinen Lachanfall als Husten zu tarnen. Er zog Molly beiseite, während sich die drei Archäologen an den Tisch setzten. Ihre ernsten Gesichter nahmen bald einen aufgeregten Ausdruck an. Mit einem vielsagenden Funkeln in Miss Badcrumbles Richtung streifte Dr. Devenish sich ein Paar weiße Baumwollhandschuhe über und widmete sich mit äußerster Vorsicht der ersten Karte.
»Was glaubst du, wonach die suchen?«, fragte Arthur Molly leise.
Der Mann namens Scott hatte ihn anscheinend trotzdem gehört. Er lächelte jedoch freundlich, als er sich zu den Kindern umwandte. Überhaupt kam er Molly sehr viel umgänglicher vor als sein Chef. »Wir suchen nach alten Grabanlagen. Wisst ihr, Ravenstorm hat eine unglaubliche Geschichte.«
»Ach?«, raunte Arthur Molly zu und verdrehte die Augen.
»Wir vermuten, dass es überall auf der Insel alte Hügelgräber gibt. Das ist faszinierend. Darin könnten die erstaunlichsten Dinge liegen.«
Miss Badcrumble schnaubte. »Allerdings. Erstaunliche Dinge, die man besser in Ruhe lässt!«
Dr. Devenish schnalzte missbilligend mit der Zunge, sagte aber nichts. Er holte eine Digitalkamera aus der Tasche und fing an, die Dokumente zu fotografieren, die Scott ihm reichte.
»O ja«, fuhr Miss Badcrumble schneidend fort. »Wirklich sehr erstaunliche Dinge.«
Molly räusperte sich. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass bald ein offener Krieg zwischen der alten Finsterflink und den Archäologen ausbrechen würde. Höchste Zeit, dass sie verschwanden. »Arthur, müssen wir nicht zurück ins Schloss? Es gibt bald Mittagessen.«
Arthur zögerte. Er wirkte hin- und hergerissen. Natürlich! Sie hatten nicht einmal annähernd genug Zeit gehabt, Miss Badcrumbles Schätze zu durchforsten. Und sie waren noch immer ahnungslos, wie sie Harriet helfen konnten – die mittlerweile tief und fest schlief, zufrieden eingemummelt mit der grässlichen Spinne in den dicken Ärmchen.
»Schon in Ordnung«, flüsterte Molly ihrem Cousin zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wir kommen später wieder und suchen weiter, versprochen!«
»Ja. Ja, okay.« Seufzend griff Arthur nach dem Kinderwagen und manövrierte ihn rückwärts aus der Teestube. »Tschüss, Miss Badcrumble. Und viel Glück noch …«
Miss Badcrumble trippelte auf Zehenspitzen zur Tür und bedachte die unwillkommenen Besucher mit einem finsteren Blick, bevor sie den Kindern aufgebracht zuflüsterte:
»Das werden wir auch brauchen, wenn diese lästigen Störenfriede ihren Willen bekommen!«
»Ich habe Miss Badcrumble noch nie so wütend gesehen!« Arthur schüttelte den Kopf, während er und Molly den Kinderwagen durch das kleine Inseldorf Crowsnest schoben.
»Stimmt. Es war mehr als deutlich, dass sie die Archäologen kein bisschen leiden konnte – oder zumindest das, was sie vorhaben.« Molly zog Harriets Decke ein Stück höher, als der Wind auffrischte und durch die Straßen pfiff. Sie versuchte, so viel Abstand wie möglich zwischen ihren Händen und der Spinne zu halten. Das Baby regte sich und starrte sie böse an. »Aber kein Wunder: Dr. Devenish hat es nicht gerade darauf angelegt, sich beliebt zu machen.«
»Nein. Seine Assistenten waren allerdings ganz nett, oder? O nein, nicht schon wieder!«
Eine dunkelgraue Wolkenwand bedeckte bereits den halben Himmel, und Molly spürte, wie die ersten kalten Regentropfen auf ihrem Kopf zerplatzten. »Das einzig Berechenbare am Wetter hier auf Ravenstorm ist seine Unberechenbarkeit. Vorhin war es doch noch so schön!«, stöhnte sie.
»Und wir haben den ganzen Vormittag im Museum verbracht«, fügte ihr Cousin verdrossen hinzu.
Harriet gluckste vergnügt, als es donnerte. Arthur zerrte rasch den Regenschutz über den Kinderwagen. Der Blick seiner Schwester verfinsterte sich wieder, und ihr kleines Gesicht färbte sich rot, aber Molly war froh, dass jetzt zumindest die Spinne versteckt war, falls sie auf dem Weg zum Schloss jemandem begegneten.
»Das war es trotzdem wert«, sagte Molly.
»Findest du?«, fragte Arthur.
»Na ja, ein Anfang ist immerhin gemacht. Dann müssen wir später nicht mehr ganz so viele Schreckschubladen durchwühlen. Und irgendwo da drin verbirgt sich bestimmt ein Hinweis, wie wir Harriet helfen können.« Seufzend legte Molly den Kopf in den Nacken und schaute nach oben. »Brr! Es geht los!«
Die Wolken entluden sich, und der Regen stürzte auf sie hernieder, klatschte auf ihr Haar und prasselte auf den Asphalt. Überall um sie herum liefen Touristen und Einheimische mit Zeitungen oder Einkaufstüten über dem Kopf durcheinander und suchten nach einem Unterstand. Ladenbesitzer brachten hastig Postkarten- und T-Shirt-Ständer in Sicherheit, und sandalenbeschuhte Füße platschten in Pfützen, die immer größer wurden.
»Man sollte meinen, wir wüssten es mittlerweile alle besser«, rief Molly über das Getöse von Regen und Donner hinweg.
»Jeder, der hier wohnt, ist ein unverbesserlicher Optimist«, rief Arthur zurück. Er rannte, so schnell er mit dem Kinderwagen konnte. Molly war dicht hinter ihm.
»Guck mal, wen der Regen noch erwischt hat!« Molly deutete auf zwei kleine Gestalten. Genau wie sie sprinteten sie auf die Buchen zu, die den Weg vor der Einfahrt des Schlosses säumten. »Ich hab Jack ja gesagt, er soll seine Regenjacke mitnehmen, aber er hat mal wieder nicht auf mich gehört …«
»Na ja, du gehst auch nicht gerade mit gutem Beispiel voran.« Arthur grinste sie an.
Ein greller Blitz durchzuckte den Himmel, und es donnerte ohrenbetäubend. Jack und seine Freundin Melody waren sicher durchgefroren. Sie würden warme Handtücher und noch wärmeren Kakao brauchen, dachte Molly mitleidig, als sie die beiden einholten – und sie selbst würde dazu auch nicht Nein sagen. Aber bestimmt hielt Mason sowohl Handtücher als auch Kakao längst bereit.
Unter dem dichten Blätterdach war der Regen nicht mehr ganz so stark, und die vier verlangsamten ihre Schritte. »Na, was habt ihr beiden getrieben?«, fragte Molly lächelnd. »Seid ihr am Strand gewesen? Ich wette, ihr wart schon klitschnass, bevor es überhaupt angefangen hat zu regnen.«
»Stimmt gar nicht!«, rief Jack.
»Wir waren nicht am Strand«, warf Melody ein.
»Wir waren woanders. Ratet mal!«
»Wir waren im Wald!«, rief Melody, ehe Arthur oder Molly auch nur Luft holen konnten.
»Hinter dem Schloss!«, schrie Jack.
»Das war toll!«, jubelte Melody.
»Und, tut es dir schon leid, dass du gefragt hast?« Arthur hob eine Augenbraue und sah Molly belustigt an.
»Ratet mal, mit wem wir gespielt haben. Nicht vorsagen, Melody! Ihr müsst raten!«
Molly strich sich das durchweichte Haar aus dem Gesicht und schüttelte den Kopf. »Wir haben keine Ahnung, Jack. Warum sagt ihr es uns nicht einfach?«
Melody hielt es ohnehin nicht länger aus. »Wir haben ein Einhorn getroffen!«, rief sie.
»Und wir haben uns den ganzen Vormittag mit ihm unterhalten!«, fügte Jack hinzu.
Molly biss sich auf die Unterlippe. Das war doch nicht – nein! Melody und ihr Bruder konnten auf keinen Fall ein Einhorn getroffen haben, das war einfach zu unwahrscheinlich, selbst für Ravenstorm-Verhältnisse.
»Wie schön«, sagte Arthur abgelenkt und setzte zu einem letzten Sprint an, als sie das Ende der Buchenallee erreichten. Das Einfahrtstor des Schlosses mit den vertrauten Steinpfeilern und den bedrohlichen Rabenstatuen lag direkt vor ihnen.
»Doch, wirklich!«, rief Jack, während er Arthur und den Kinderwagen überholte.
»Ein richtig echtes!« Melody sauste ihrem Freund hinterher, auf eine große, dunkle Gestalt vor der Schlosstreppe zu, die einen riesigen Regenschirm in der Hand hielt.
Arthur wurde ein wenig langsamer und warf Molly einen Blick über die Schulter zu. »Süß!«, bemerkte er trocken.
Molly grinste. »Ich weiß. Niedlich, wie die zwei miteinander spielen, nicht? Ich bin bloß froh, dass sie keine Ahnung von der echten Magie haben.« Sie war unendlich erleichtert, dass keines der beiden Kinder sich mehr daran erinnerte, versteinert worden zu sein. Und was die Entführung des kleinen Finsterflinkprinzen anging, war Melody mittlerweile überzeugt davon, dass alles nur ein besonders lebhafter Traum gewesen war.
»Hallo, Mason!«, rief Jack, als er und Melody an dem ernst dreinblickenden Butler vorbei die breite Treppe hinaufstoben.
Mit einem schiefen Lächeln schüttelte Mason den Kopf und stapfte Molly, Arthur und Harriet entgegen. »Es ist zwecklos, diesem Jungen einen Schirm anzubieten«, bemerkte er. »Aber ich glaube ja ohnehin, dass er zwischen den Tropfen hindurchläuft.«
»Hi, Mason.« Arthur schob den Kinderwagen dankbar unter den ausladenden Regenschutz. »Sie wären besser drinnen geblieben. Wir sind sowieso nass bis auf die Haut!«
»Nancy macht schon die Milch warm«, sagte der alte Wasserspeier, während sie dicht aneinandergedrängt die Einfahrt hinaufmarschierten. »Ah! Da ist sie ja!«
Masons Frau kam die Treppe heruntergeeilt, um Arthur mit dem Kinderwagen zu helfen. Sie war ebenfalls ein Wasserspeier, seit Lord Trevarren, der Erbauer von Schloss Ravenstorm, sie und Mason verwandelt hatte, um ihnen das Leben zu retten. Sie hatte lapislazuliblaue Augen und wunderschönes kupferfarbenes Haar, das wie Marmor glänzte, wenn sie in ihrer Wasserspeierform war.
»Hallo, ihr zwei! Schnell rein mit euch ins Trockene. Es war wirklich lieb von euch, auf Harriet aufzupassen. So konnte deine Mutter den ganzen Vormittag ungestört arbeiten, Arthur.«
»Schön!«, erwiderte Arthur. »Die Arme … Echt blöd, dass sie nicht einfach mal ganz freinehmen kann.«
»Ach, dann würde sie sich nur langweilen, Master Arthur«, versicherte Mason ihm. »Genau wie Ihr Vater. Wenn sie sich um ihr Geschäft kümmern können, sind sie glücklicher, als sie es am Strand je wären.«
»Stimmt.« Arthur grinste. »Und Harriet macht es einem nicht gerade leicht, sich auf Antiquitätenmärkte und Bilanzen zu konzentrieren.« Sein Grinsen erstarb, und seine Lippen wurden schmal vor Sorge.
Nancy beugte sich über den Kinderwagen. Das Schaukeln hatte Arthurs kleine Schwester in den Schlaf gewiegt. Unter dem durchsichtigen Regenschutz erkannte man deutlich den schwarzen Umriss der Spinne, die sich an ihren Hals schmiegte. Nancy schauderte. »Hattet ihr denn Glück im Museum? Habt ihr irgendwas über den Fluch herausbekommen?«
Resigniert schüttelte Arthur den Kopf. »Nein, nichts.«
»Macht euch nichts draus«, sagte Mason mit gekünstelt heiterer Stimme. »Wir finden eine Lösung, wir alle zusammen. Warum zieht ihr euch nicht schon mal was Trockenes an? In der Küche wartet ein heißer Kakao auf euch. Und später könnt ihr Mr und Mrs Wolfrey begrüßen und ihnen Bescheid geben, dass das Mittagessen fertig ist.«
Irgendwie waren eine warme Küche und ein heißer Kakao besonders behaglich, wenn draußen der Wind heulte und der Regen gegen die Fenster peitschte, dachte Molly. Jacks und Melodys Tassen standen schon leer und verwaist auf dem Tisch. Die beiden waren zum Spielen in Jacks Zimmer gestürmt, bevor sie überhaupt richtig trocken waren. Es war so dunkel unter den grauen, tiefhängenden Wolken, dass Mason das Licht angeschaltet hatte, ehe er und Nancy wieder irgendwo im Schloss verschwunden waren. Die Küche hatte etwas von einer gemütlichen Schiffskabine inmitten des sturmgepeitschten Ozeans. Das erinnerte Molly an die Geisterpiraten, und sie schüttelte sich.
Arthur stellte seine Tasse ab und seufzte. »So gerne ich einfach hier sitzen bleiben würde, ich verhungere. Und ich wette, Mum und Dad geht’s genauso.«
»Gut, dann lass sie uns holen«, erwiderte Molly. »Nancy hat gesagt, sie sind in der Waffenkammer.«