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Ein rätselhafter Brief bringt Conny völlig durcheinander – warum ist ein Unbekannter so sehr an der Brosche interessiert, die sie von ihrer Mutter geerbt hat? Soll sie sich wirklich auf seinen Vorschlag einlassen, sich mit ihm zu treffen? Als Tina ihr nachspioniert und sich in die Sache einmischt, kann Conny schließlich nicht mehr zurück. Doch was ist, wenn Adrians haarsträubender Verdacht stimmt – wenn die Brosche tatsächlich etwas mit Connys verschwundenem Vater zu tun?
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Seitenzahl: 390
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Die geheimnisvolle Brosche
Die Abenteuerklasse – Band 5
Damaris Kofmehl
© 2016 Folgen Verlag, Bruchsal
Autor: Damaris Kofmehl
ISBN: 978-3-95893-028-5
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
Shop: www.ceBooks.de
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Der Brief
Der junge Mann mit der runden Brille
Ein seltsames Treffen
Der Handel
Ein offenes Wort
Bärbel schöpft Verdacht
Wo bleibt Conny?
Unerwarteter Besuch
Eine verhängnisvolle Geschichte
Conny fasst einen Entschluss
Bärbel kombiniert
Das Abendessen
Was wird hier gespielt?
Die Suche
Conny in Gefahr!
Das Geheimnis der Brosche
Ausnahmsweise
Kolumbus
Der Unruhestifter
Erfreuliche Neuigkeiten
Die Begegnung
Conny und Roman
Mann über Bord
Pokerspiel
Sturmwarnung
Der »blaue Elefant«
Aus Liebe …
Conny hielt die Brosche zwischen Daumen und Zeigefinger gegen den schwarzen Himmel und betrachtete sie eingehend.
Es war eine Brosche wie aus dem Märchen. Sie hatte ungefähr die Größe einer Pflaume und die ovale Form jener uralten Schwarzweißfotos, die alte Leute von ihren Urgroßmüttern und -vätern besitzen und übers Bett ml hängen pflegen. Weiße, ineinandergeschlungene Rosen zierten den Rand des flachen Schmuckstücks, und in der Mitte hob sich eine feine, schwungvolle Inschrift scharf gegen den Hintergrund ab.
»Gott schütze dich«, las Conny leise. Ein Schauer durchfuhr sie, als sie sich diese drei Worte aussprechen hörte. In ihr stieg eine Erinnerung hoch, die sie für eine Weile vergessen ließ, was sie gerade gelesen hatte, und ihre Gedanken ganz auf dieses eine Ereignis lenkte, das sich vor genau zwei Jahren in genau diesem Zimmer zu genau derselben Zeit abgespielt hatte.
Es war zwei Wochen vor ihrem vierzehnten Geburtstag gewesen. Conny wusste alles noch ganz genau. Jede Handbewegung, jedes Wort hatte sich ihr so tief eingeprägt, als wäre es erst vor wenigen Tagen geschehen. Dabei hatte sie sich fest vorgenommen, nie mehr daran zurückzudenken und sich auch nie mehr Vorwürfe zu machen, dass sie damals den Entschluss gefasst hatte, von zu Hause fortzulaufen!
Aber sie hatte es nun mal getan, ob sie sich gern daran erinnerte oder nicht. Sie war ausgerissen, zusammen mit Mizzi, ihrer treuen schwarzen Katze. Und alles, was sie mitgenommen hatte, waren ein paar Kleidungsstücke, etwas zu essen – und diese Brosche.
Sie legte die Brosche in ihre linke Hand und fuhr mit dem rechten Zeigefinger langsam den Rand entlang. An einer bestimmten Stelle, schräg oberhalb der Mitte, presste sie ihren Fingernagel in die abgeschliffene Kante, und wie von unsichtbarer Hand bewegt, öffnete sich die Brosche. Ein winziges Bild kam zum Vorschein.
Es war eine Photographie von Connys Mutter.
Sie strahlte Conny mit ihren leuchtenden Augen an – gerade so, als wolle sie sie vor Freude umarmen und fest an sich drücken. Sie lächelte, wie sie immer gelächelt hatte, wenn Conny ihr einen selbstgepflückten Strauß aus Wiesenblumen gebracht oder ihr ein selbstgedichtetes Lied vorgesungen hatte. Sie sah so frisch und munter aus, als könne sie jeden Moment aus dem Bild steigen und sagen: »Hallo, Conny. Da bin ich wieder!«
Conny schluckte trocken. Sie klappte den Deckel zu und verbarg die Brosche in der hohlen Hand. Sie wollte nicht mehr daran denken – einfach vergessen, was geschehen war. Aber es ging nicht. Ihre Gedanken gehorchten ihr nicht. Ausgerechnet an diesem Dienstag Abend gehorchten sie nicht! Es war, als wollten sie jede Einzelheit der vergangenen Jahre wieder aufwühlen und Conny alles noch einmal hautnah erleben lassen. So sehr Conny sich auch dagegen sträubte, vor ihren inneren Augen lief Szene für Szene wie ein Film ab, und sie konnte ihn nicht stoppen. Sie sah ihre Mutter vor sich, wie sie ihr zulächelte, und Sekunden später war da nur noch ein Grab – ein düsteres Grab mit ein paar verwelkten Blumensträußen drauf. Conny umfasste die Brosche so fest, dass ihr die Hand weh tat. Sie kämpfte mit ihren Tränen.
»Nur jetzt nicht weinen«, sagte sie sich und biss die Zähne zusammen, »fang jetzt bloß nicht an zu weinen, sonst kannst du überhaupt nicht mehr klar denken. Mutter ist tot, drei Jahre schon, und du fuhrst dich auf, als wäre es gestern geschehen. Nimm dich doch zusammen!«
Aber die Erinnerung an ihre Mutter war bereits zu lebendig geworden, um sie mit der Vernunft wieder auszuschalten. Auf einmal war alles so real, so furchtbar echt, dass Conny vor ihrer eigenen Phantasie ins Zittern kam. Sie sah sich wieder am Bahnhof in Wohlen stehen, als Gepäck nur einen einzigen Koffer, den sie von zu Hause mitgenommen hatte, sah, wie Frau Wenger, ihre Pflegemutter, sie auf dem Bahnsteig erst von oben bis unten musterte, ehe sie sie in ihrer neuen Heimat willkommen hieß, sah ihre Klassenkameraden vor sich, die sie an ihrem ersten Schultag mit einer Mischung aus Mitleid und Abneigung empfingen.
Und so verging ein Jahr. Ein Jahr, in dem sich auch nicht das Geringste an diesen Beziehungen verbessert hätte, so dass Conny schließlich aus Verzweiflung ihr Bündel packte, ihre Katze nahm und bei Nacht und Nebel ausriss. Das lag nun schon zwei Jahre zurück, und seither hatte sich in ihrem Leben viel geändert: sie hatte auf ihrer Flucht einen Freund kennengelernt, einen Freund, mit dem sie durch dick und dünn gehen konnte und der ihr klargemacht hatte, dass das Leben einen Sinn hat – selbst dann, wenn man ohne Mutter ist und sich von allen verlassen fühlt. Diesem Freund verdankte Conny auch, dass sie die Welt seitdem mit völlig neuen Augen ansah – und dafür konnte sie ihm nicht oft genug danken.
Ja, in den letzten Jahren war einiges geschehen, viel Schlimmes, aber noch viel mehr Schönes, und eigentlich hätte Conny allen Grund gehabt, vor Freunde in die Luft zu springen.
Statt dessen saß sie an ihrem Schreibtisch, die Brosche ihrer Mutter umklammert, und konnte vor lauter Herzklopfen gar nicht daran denken, ins Bett zu gehen.
»Du bist verrückt, Conny, vollkommen verrückt. Dieser Brief hat nichts zu bedeuten. Du bildest dir das alles nur ein!«
Conny legte die Brosche zur Seite und klaubte zwischen aufgeschlagenen Schulbüchern und Heften ein zusammengefaltetes, weißes Blatt Papier hervor. Sie faltete es auseinander und las es wohl zum hundertsten Mal an diesem Abend durch.
Es waren nur wenige Zeilen, genauer gesagt zwölf. Die Schrift war so schlecht lesbar wie die eines Arztes. Die Unterschrift konnte man überhaupt nicht mehr entziffern, und hätte auf dem Briefumschlag kein Absender gestanden, wäre Conny nicht mal sicher gewesen, ob der Brief von einem Mann oder einer Frau verfasst worden war.
»Adrian Bissig«, murmelte Conny stirnrunzelnd, »noch nie gehört. Woher weiß der bloß meinen Namen? Und meine Adresse? Und warum will er mich so dringend sprechen? Ich hab Wichtigeres zu tun, als meinen freien Nachmittag für ein Treffen mit einem Unbekannten her-zugeben. Was verspricht er sich eigentlich davon?«
Conny seufzte und starrte verständnislos auf den Brief, über den sie sich nun schon den ganzen Nachmittag den Kopf zerbrochen hatte, ohne zu einem vernünftigen Schluss gekommen zu sein. Seinetwegen hatte sie sich kaum auf ihre Hausaufgaben konzentrieren, geschweige denn für die Matheprüfung lernen können. Dabei war Mathematik absolut nicht Connys Stärke, und ohne Vorbereitung war die Chance, auf eine immerhin noch genügende Note zu kommen, ziemlich gering.
Aber dieser Brief brachte sie einfach völlig durcheinander und rief in ihr die verrücktesten Spekulationen hervor. Was da zwischen den Zeilen an verschlüsselten Zusammenhängen stehen mochte, war für Conny mehr als beängstigend. Irgend etwas an diesem Brief verunsicherte sie, obwohl sie dafür keine vernünftige Erklärung fand. Jedes Mal, wenn sie die Zeilen überflog, beschlich sie ein mulmiges Gefühl. Es war, als würde eine innere Stimme sie davor warnen, auf die Bitte des unbekannten Schreibers einzugehen.
Conny legte den Brief auf ihren Schreibtisch und las ihn noch einmal Zeile für Zeile durch. Sie schüttelte den Kopf. Krampfhaft versuchte sie, sich zu erinnern. Wer hatte ihr am vergangenen Montag morgen im Abteil gegenübergesessen?
Sie hatten ziemlich früh aufstehen müssen, sie und ihre Klassenkameraden, da sie an jenem Montag ihren letzten Wandertag hatten und bereits um neun Uhr in Solothurn sein sollten. Von dort ging's mit der Sesselbahn weiter nach Weißenstein, und schließlich endete der Ausflug mit einer Stadtbesichtigung von Solothurn.
Conny erinnerte sich an jedes Plätzchen, das sie zusammen besichtigt hatten, an jede Bank, auf der sie sich eine Weile niedergelassen hatten. Nur eines wusste sie beim besten Willen nicht mehr: wer ihr an diesem Morgen im Zug gegenübergesessen hatte. Das ärgerte sie. Aber wozu hätte sie es sich auch merken sollen? Dazu bestand nicht der geringste Anlass! Zudem war sie während der ganzen Fahrt mit ihren Freundinnen ins Gespräch vertieft gewesen und hatte sich sowieso nicht darum gekümmert.
Aber irgend jemand hatte sie sehr genau beobachtet. Offensichtlich musste Conny die Aufmerksamkeit dieser Person dermaßen auf sich gelenkt haben, dass sie keine Mühe scheute, Conny im nachhinein aufzuspüren!
»Adrian Bissig«, murmelte sie, »Antiquitätensammler«. Ihre Augen wanderten zwischen Brief und Brosche hin und her, und ihre Gedanken taten dasselbe, in der leisen Hoffnung, dadurch irgendeine Brücke schlagen zu können, die ihr weiterhelfen würde. Schließlich griff sie wieder nach der Brosche und presste sie an sich, wie etwas, das man um nichts in der Welt hergeben möchte.
»Ich weiß nicht, was er von mir will«, flüsterte sie plötzlich entschlossen, »aber die Brosche kriegt er nicht. Mutter hat sie gehütet wie ihren Augapfel, und ich werd' es genauso tun – und wenn er mir tausend Franken dafür bietet, sie auch nur eine Minute in Händen zu halten!« Damit hatte sie sich selbst überzeugt. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, die etwas feucht geworden waren, erhob sich, ging zu ihrem Bett und ließ sich darauf nieder. Dort blieb sie eine Weile sitzen, tief in Gedanken versunken, die Brosche in der einen, den Brief in der anderen Hand. Schließlich überwand sie sich, die beiden Gegenstände auf ihren Nachttisch zu legen. Conny kroch in ihr Bett, zog die etwas zu kurze Bettdecke bis zum Kinn, so dass am unteren Rand ihre Füße ein klein wenig hervorlugten, und schloss die Augen.
»Morgen sieht alles anders aus«, redete sie sich leise zu, »ganz anders! Es gibt bestimmt eine einfache Erklärung dafür, und ich werde mich wundern, weshalb ich mir so viele Gedanken gemacht habe.« Ja, wenn sie erst einmal darüber geschlafen hätte, würde sich alles von selbst regeln, dachte Conny, und in ein paar Tagen würde sie den Brief vergessen haben – das hoffte sie jedenfalls.
»Liebe Conny,
Du wirst Dich wohl schwerlich an mich erinnern. Vergangenen Montag morgen, als Du nach Solothurn fuhrst, saß ich Dir im Abteil gegenüber. Du trugst eine Brosche, die mich sehr faszinierte. Dass diese Brosche besonders wertvoll ist, habe ich als leidenschaftlicher Antiquitätensammler auf den ersten Blick gesehen. Ich würde mich daher gerne einmal mit Dir treffen, um etwas mehr darüber zu erfahren. Vielleicht kann ich Dir dann ebenfalls ein paar interessante Einzelheiten weitergeben.
Wie wär's? Hättest Du am Mittwoch, den 5. Juli, Zeit? Ich werde Dich um 15.11 Uhr am Bahnhof Solothurn abholen. Vergiss die Brosche nicht!«
Bärbel schob Conny den Brief unter der Bank zurück und machte ein sehr nachdenkliches Gesicht. Conny sah ihre Freundin fragend an.
»Kapierst du das?« flüsterte Conny. Bärbel zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht«, entgegnete sie, »ziemlich geheuchelt, finde ich.«
»Wieso geheuchelt?« Bärbel überzeugte sich mit einem kurzen Blick, ob der Lehrer noch immer damit beschäftigt war, auf der Wandtafel eine Skizze zu zeichnen, und wandte sich wieder ihrer Banknachbarin zu.
»Ist doch seltsam«, begann das Mädchen mit seiner Erklärung, »da sitzt dir jemand im Zug gegenüber, sieht deine Brosche, interessiert sich brennend dafür, aber anstatt mit dir ein Gespräch anzufangen, zieht er es vor, auf irgendwelchen Umwegen deine Adresse ausfindig zu machen, um dir seine Bitte schriftlich zu überreichen. Kein vernünftiger Mensch würde so etwas tun!«
Conny nickte. Bärbel hatte recht. Es war absolut unsinnig, wie sich dieser Adrian Bissig verhielt. Das war ihr schon gestern klar gewesen. Aber wozu das Ganze?
»Weißt du, was ich denke?« fuhr Bärbel eifrig fort, doch ehe sie ihre Vermutung aussprechen konnte, drehte sich der Lehrer wieder der Klasse zu und begann mit einer ausführlichen Erklärung seiner Skizze. Jetzt blieb den beiden Freundinnen nichts anderes übrig, als ihre Unterhaltung vorläufig abzubrechen. Erst als die Pausenglocke schrillte, kamen sie auf das Thema zurück.
»Bärbel, ich …« Conny sah ihre Freundin flehend an. »Ich möchte nicht, dass …«
»Ja?«
»Ich meine, das mit dem Brief…« Sie suchte die richtigen Worte, »… das bleibt doch unter uns, nicht wahr?« Ein Lächeln huschte über Bärbels Gesicht. Sie zwinkerte Conny kameradschaftlich zu.
»Wir sind doch Freundinnen«, meinte sie. Conny wusste, dass sie sich auf Bärbel verlassen konnte, und klappte das Physikbuch zu. Bärbel packte sie entschlossen am Arm und zog sie mit sich nach draußen.
»Ich glaube, du brauchst dringend frische Luft«, sagte sie, »man könnte meinen, du hättest eine Woche lang nicht mehr geschlafen. Und das alles nur wegen dieses Briefes!« Bärbel schüttelte den Kopf und sah Conny zweifelnd an.
»Meinst du nicht, du machst dir zu große Sorgen?« Conny zuckte die Achseln.
»Du findest diesen Adrian Bissig doch auch komisch, oder?«
»Ja«, gab Bärbel fast widerwillig zu, »aber was heißt das schon? Es gibt massenweise komische Leute auf der Welt. Und einer dieser komischen Vögel hat es zufällig auf dich und deine Brosche abgesehen. Das ist alles.«
»Das ist nicht alles«, entgegnete Conny überzeugt, »das ist bestimmt nicht alles!«
»Conny«, sagte Bärbel mit fester Stimme und sah ihre Freundin direkt an, »deine Besorgnis ist völlig unbegründet, glaub mir! Weißt du, was ich denke? Der Typ hat sich im Zug in dich verknallt und will dir in Solothurn ein Liebesgeständnis machen.«
Conny sah Bärbel entgeistert an. »Glaubst du?«
Bärbel schmunzelte. »Man kann nie wissen. Deshalb meinte ich vorhin auch, der Brief sei geheuchelt. Wahrscheinlich traute sich dieser Adrian nicht, seine wirkliche Absicht offen zu gestehen, und gibt sich nun als Antiquitätensammler aus. Das würde jedenfalls erklären, weshalb er dich nicht schon im Zug angesprochen hat – und warum er so einen großen Aufwand getrieben hat, um dich wiederzufinden.« Conny wusste nicht, was sie sagen sollte. Diese Möglichkeit hatte sie bis jetzt noch nicht in Betracht gezogen. Aber irgendwie klang sie erstaunlich logisch!
»Du meinst …« Sie musste sich auf einmal das Lachen verkneifen. »Du meinst, dieser Brief sei eine Art Liebeserklärung?« Bärbel, erfreut darüber, Conny endlich wieder bei guter Laune zu sehen, lachte ebenfalls.
»Na j a«, meinte sie, »warum nicht? Das wäre wenigstens mal was anderes. Nur dumm für ihn, dass du kein Interesse hast.« Conny winkte ab.
»Das ist sein Problem. Ich hab' ihn nicht darum gebeten, mir einen Brief zu schreiben, der …« Sie hielt inne. Ihr Blick wanderte über den Pausenplatz und blieb bei der Gruppe ihrer Klassenkameraden hängen. Sie sahen aus wie eine Basketballmannschaft, die kurz vor Spielbeginn die Köpfe zusammensteckt und angestrengt den letzten Anweisungen des Trainers lauscht. Nur stand in der Mitte des engen Kreises kein Trainer, sondern Tina. Anscheinend war es ihr gelungen, die Aufmerksamkeit ihrer Mitschüler völlig in Anspruch zu nehmen.
Doch was hielt sie da in den Händen? Täuschte sich Conny, oder schimmerte wirklich etwas Weißes zwischen den Schülern hindurch? Sie kniff die Augen etwas zusammen, und fast im selben Moment stieß sie erschrocken aus: »Der Brief!« Jetzt sah es auch Bärbel. Was Tina stolz in den Händen hatte und ihren Klassenkameraden präsentierte, war tatsächlich Connys Brief! Tina musste die beiden während der Stunde beobachtet und sich den Brief, als sie außer Sichtweite waren, unter den Nagel gerissen haben. Spionieren war schon immer Tinas gefürchtete Lieblingsbeschäftigung gewesen, das wussten alle. Und was die einen dann als aufregende Neuigkeit in sich hineinschlürften, empfanden die anderen häufig als gemeine Verleumdung. Und Conny gehörte nicht selten zu den letzteren.
»Dieses Miststück!« sagte sie wie zu sich selbst. »Das hätte sie nicht tun dürfen.« Wütend ging sie auf die Gruppe zu, fest entschlossen, Tina den Brief aus der Hand zu reißen und ihr die Meinung zu sagen.
Doch dazu kam es nicht. Kaum hatten die anderen Conny gesichtet, da wurde sie gleich von allen Seiten umringt. Jeder war über den Inhalt des Briefes bestens informiert.
»Mensch, Conny, wer hätte das gedacht! Wann hast du den Brief denn bekommen?«
»Wirst du heute Nachmittag hinfahren?«
»Glaubst du, der will dir die Brosche abkaufen?« »Woher hat er eigentlich deine Adresse?«
»Hast du ihn schon gekannt?«
»Was wirst du jetzt tun?«
Die Fragen prasselten nur so auf sie nieder. Vor allem Britta und Paula, die beiden Klatschtanten der Klasse, waren kaum zu bremsen.
»Vielleicht ist er ein Betrüger!« meinte Britta, als Conny zugab, ihr sei nicht ganz geheuer bei der Sache.
Paula stimmte ihr dramatisch zu. »Vielleicht will er dir die Brosche stehlen!«
»So ein Schwachsinn«, mischte sich Hans ein. »Wozu soll er das Ding denn stehlen? Für seine Sammlung?« »Vielleicht ist die Brosche sehr wertvoll«, beharrte Paula auf ihrer Vermutung, »das hat er sogar selbst geschrieben.« Hans sah Conny fragend an.
»Ist sie das?” fragte er zweifelnd. Conny schüttelte den Kopf.
»Ich denke nicht, das heißt, ich habe nie darüber nachgedacht. Für mich hat die Brosche einen völlig anderen Wert.« »Siehst du«, bemerkte Hans triumphierend, »also kein Grund zur Aufregung. Ich weiß wirklich nicht, was an dem Brief so verdächtig sein soll!«
»Eben das!« meldete sich Britta wieder zu Wort. »Wenn die Brosche nicht wertvoll ist, wieso schreibt er dann, er hätte gleich gesehen, dass sie wertvoll sei?«
»Du meine Güte! Jeder kann sich mal täuschen.«
»Etwas peinlich für einen Antiquitätensammler, findest du nicht?« Hans winkte seufzend ab. Es hatte keinen Sinn, sich mit einem Mädchen zu streiten, das ohnehin immer auf das letzte Wort erpicht war.
Thomas, der bis dahin wegen seines großen Pausenbrotes keine Zeit gefunden hatte, sich an der Diskussion zu beteiligen, schluckte jetzt endlich den letzten Bissen runter. Und um sich bereits während des Kauens die nötige Aufmerksamkeit für seinen Kommentar zu verschaffen, schwenkte der Dicke seine rechte Hand unübersehbar vor den Gesichtern seiner Mitschüler hin und her.
»Also, wenn ihr meine Meinung hören wollt: Ihr liegt mit euren Vermutungen alle weit daneben!« sagte er schließlich mit voller Überzeugung und halbleerem Mund. »Es handelt sich hier nämlich um eine äußerst komplexe Angelegenheit, die mit größter Vorsicht anzugehen ist.« Er sah sich langsam in der Runde um.
»Erinnert sich jemand von euch an den jungen Mann mit der runden Brille?« Die Schüler sahen ihn fragend an, und die Augen des Jungen begannen zu glänzen.
»Aber ich!« stellte er zufrieden fest und verwirrte seine Klassenkameraden dadurch gleich noch mehr.
»Was war das denn für ein Mann?« wollte Stefan wissen. Thomas leckte sich die honigbeschmierten Finger ab und schien über seinen Wissensvorsprung hocherfreut zu sein. »Seht ihr«, fuhr er bedeutsam fort, »ihr habt keine Ahnung, wer der junge Mann mit der runden Brille ist, aber ihr erlaubt euch über ihn die verwegensten Urteile. Etwas unfair, findet ihr nicht?« Die Schüler wussten nicht, was sie darauf antworten sollten. Hatte der Dicke wirklich etwas beobachtet, das ihnen allen entgangen war?
»Und wie ist es mit deinem Erinnerungsvermögen, Ruedi?« fragte Thomas seinen Klassenkameraden mit hochgezogenen Augenbrauen. »Du hast im Zug nach Solothurn schließlich neben mir gesessen!«
Ruedi zuckte die Schultern und sah Thomas skeptisch an. »Nun«, meinte der Dicke überlegen, »ihr erinnert euch also nicht an den Mann mit der Brille? Er saß Conny direkt gegenüber, und ich wette um ein Dutzend Honigbrötchen, dass der Brief von ihm ist.«
Auf so eine Beobachtung war niemand gefasst gewesen, und sogleich rückte Thomas in den Mittelpunkt des Interesses und musste ausführlich berichten, wieso ihm der Mann mit der runden Brille aufgefallen war.
»Nun, ich weiß nicht«, erklärte der Junge bedächtig, »ehrlich gesagt, habe ich mich mehr auf sein Brötchen konzentriert als auf ihn.«
»Typisch Thomas!« spöttelte Paula, aber der Dicke ging nicht darauf ein. »Er sah eigentlich ziemlich normal aus«, erzählte er weiter, »auffällig war allerdings seine Brille, so ein kleines Ding, mit einem Gestell aus Draht, wie es Professoren tragen. Die machte ihn bestimmt um einiges älter, als er in Wirklichkeit ist.«
»Und sonst?« erkundigte sich Conny gespannt. »Hat er mich irgendwie besonders angestarrt?«
»Mensch, natürlich!« kam prompt die Antwort, aber nicht von Thomas, sondern von Ruedi. Anscheinend hatte er sich endlich an den Mann erinnern können. »Jetzt weiß ich's wieder!« Er schnipste mit den Fingern und verkündete zur allgemeinen Verwunderung: ,,Das war doch der Typ, der dich abzeichnete!«
*
Die Mathematikprüfung war für Conny ein einziges Fiasko. Nicht nur, dass sie nichts dafür gelernt hatte, sie konnte sich auch absolut nicht konzentrieren. Dass Tina ihren Brief geklaut und den anderen vorgelesen hatte, fand Conny nicht mehr so schlimm. Damit hatte sie sich bereits abgefunden. Nein, was sie beschäftigte, war etwas anderes: Wenn dieser Mann mit der runden Brille tatsächlich Adrian Bissig war, wozu hatte er sie dann abgezeichnet? Stimmte Bärbels Theorie am Ende doch?
Conny versuchte nochmals, sich die Fahrt nach Solothurn zu vergegenwärtigen. Der Zug war ziemlich voll gewesen, so dass sich die Klasse in kleinere Grüppchen aufteilen musste. Sie und Bärbel hatten sich am Ende des Abteils zwei von vier leeren Plätzen erobert, Thomas und Ruedi die beiden andern. Während sie sich quer über den Gang mit den Jungen unterhalten hatten, hatten sie gleich hinter sich in gut verständlicher Lautstärke Britta und Paula schnattern hören können.
Aber an einen Mann mit einer runden Brille, der sie während der Fahrt beobachtet und überdies noch gezeichnet haben sollte, konnte sich Conny nicht mehr erinnern.
»Wenn ich bloß wüsste, was der von mir will!« überlegte sie angestrengt. »Vielleicht ist er ja ganz harmlos, vielleicht hat er sich tatsächlich nur in mich … und wenn nicht? Warum will er mich sprechen?«
Conny saß über ihrer Matheprüfung, kaute an ihrem Bleistift herum und hatte von sechs Aufgaben erst eine einzige gelöst. In diesem Tempo würde sie bis zur Pause kaum zwei Drittel bewältigt haben, und wie sie sich kannte, würde die Hälfte davon ohnehin falsch sein.
»Ach«, seufzte sie niedergeschlagen, »das wird der größte Fehlschlag des Jahrhunderts. Und das alles nur wegen dieses Briefes! Ich hätte ihn besser ungelesen in den Papierkorb geworfen, als mich darauf einzulassen.« Conny stutzte. Wer sagte eigentlich, sie müsse sich darauf einlassen? Konnte sie nicht so tun, als hätte sie den Brief nie erhalten? Sie musste diesen Adrian doch überhaupt nicht treffen, niemand konnte sie dazu zwingen.
»Ich werde auf jeden Fall erst Roman fragen«, entschied sie sich schließlich und beugte sich wieder über ihre Matheprüfung. Doch die Formeln und Zahlen erschienen in ihren Augen wie ägyptische Hieroglyphen.
Seufzend machte sie sich an die nächste Aufgabe.
»Danke, dass du mitkommst!«
»Danke, dass du mich mitnimmst!« Der bald neunzehnjährige, kräftig gebaute Bursche lächelte Conny unter seinem schwarzen Lockenkopf freundschaftlich zu. Er trug ausgefranste, kurze Jeanshosen, ein weißes T-Shirt und einen alten Strohhut, der ihm beinahe das Aussehen eines Vagabunden verlieh. Seine Haut war sonnengebräunt und verriet, dass sich der Junge am liebsten im Freien aufhielt.
Zur Zeit saß er jedoch zusammen mit Conny im Zug nach Solothurn und gab sich alle erdenkliche Mühe, das Mädchen etwas aufzumuntern. Denn seit sie nach dem Mittagessen in seine Fahrradwerkstatt gekommen war, wirkte sie derart unruhig und abwesend, dass Roman sie kaum wiedererkannte. Deshalb hatte er sich auch entschieden, die Werkstatt für einen Nachmittag zu schließen und seine kleine Freundin zu diesem merkwürdigen Treffen zu begleiten – worüber sie mehr als glücklich war.
Aber die Angst vor den undurchsichtigen Absichten dieses gewissen Adrian Bissig war immer noch vorhanden. Roman sah sie in Connys großen graublauen Augen, als sie schweigend die vorüberziehende Landschaft beobachtete. Es war jener furchtsame Blick, den Roman von seiner ersten Begegnung mit Conny kannte – damals in Bauma hatte er Conny gefunden, nachdem sie auf ihrer Flucht gestürzt war, und hatte sie in seiner Höhle gesund gepflegt.
Doch diesmal lag in ihren Augen noch etwas anderes – etwas, das Roman nicht zu deuten wusste. Schließlich fasste er sich ein Herz und fragte Conny ganz unverhofft:
»Sag mal, Conny, wovor fürchtest du dich eigentlich?
Vor diesem Adrian?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Vor seinen Fragen?« Conny seufzte.
»Ich weiß es nicht.« Sie sah in Romans schwarze, verständnisvolle Augen. »Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht ist es, weil …« Sie suchte nach einer Begründung, wusste jedoch selbst keine. Statt dessen klaubte sie die Brosche aus ihrer Hosentasche und hielt sie eine Weile nachdenklich in der hohlen Hand. Roman sah ihr wortlos zu.
»Sie bedeutet dir sehr viel, nicht wahr?« stellte er nach einem längeren Schweigen fest. Conny nickte, lenkte das Gespräch aber absichtlich in eine andere Richtung.
»Erinnerst du dich noch, als ich dir die Brosche zum ersten Mal zeigte?« Roman lächelte. Er erinnerte sich noch an jedes Wort, das damals zwischen ihm und Conny gefallen war. Und dann gab es so viel, das sie sich zu erzählen hatten! Viel zu schnell waren die wenigen Tage ihrer ersten Begegnung verflossen, und sie hatten sich wieder trennen müssen. Aber das war längst Vergangenheit! Seit Roman in Dottikon eine alte Fahrradwerkstatt neu eröffnet hatte und sich in demselben Gebäude sogar eine kleine Wohnung hatte einrichten können, sahen er und Conny sich fast jeden Tag. Manchmal brachte Conny ihre Klassenkameraden mit, und Herr Sandrini, der ehemalige Werkstattbesitzer, der von allen nur Sandy genannt wurde, organisierte aus seinem Vorratskeller irgendwelche leckeren Sachen, die er sich dann mit seinen jungen Freunden auf der Wiese vor der Fahrradwerkstatt schmecken ließ. Und wenn sich dann gegen Abend die Schüler und Sandy verabschiedeten, setzten sich Conny und Roman unter die große Tanne neben dem Haus und genossen es einfach, beisammen zu sein.
Roman nahm die Brosche aus Connys Hand und öffnete sie. Als er das kleine Foto eingehend gemustert hatte, nickte er bedächtig.
»Weißt du noch, was ich damals gesagt habe?«
Conny schüttelte den Kopf. »Was denn?«
Roman sah von dem Bild auf.
»Ich sagte, dass deine Mutter sehr hübsch sei und dass du ihr absolut gleichen würdest.« Er wartete auf eine Reaktion, und als Conny schwieg, fügte er leise hinzu: »Du gleichst ihr übrigens auch heute noch.« Conny lächelte etwas verlegen und nahm die Brosche schnell wieder zu sich.
»Glaubst du, dass er mir die Brosche abkaufen will?« fragte sie zusammenhanglos. Roman zuckte die Achseln. »Schon möglich«, meinte er und zwinkerte dem Mädchen zu, »aber zerbrich dir deswegen nicht den Kopf. Ich werd' schon aufpassen, dass nichts Dummes geschieht!« »Danke«, murmelte Conny und steckte die Brosche behutsam in ihre Tasche zurück. Für den Rest der Bahnfahrt schwieg sie.
In Solothurn herrschte ein reges Treiben. Obwohl es ein gewöhnlicher Mittwoch Nachmittag war, wimmelte es nur so von Leuten – Leuten mit Aktenköfferchen, Sporttaschen, Koffern, Blumensträußen, Spazierstöcken, Zeitungen und Eisportionen; Leuten, die herumstanden, Abfahrtstafeln musterten, aus der Unterführung hervorschossen, auf die Uhr guckten oder mit einem Begleiter plauderten.
Conny und Roman stiegen aus dem Zug und sahen sich nach allen Seiten um. Ganz in ihrer Nähe, an das Geländer der Unterführung gelehnt, entdeckten sie fast gleichzeitig einen Mann mit einem gepflegten Schnurrbart und einer bunten Krawatte. Sein schwarzes Haar war glattgekämmt, sein Blick schweifte suchend über die Reisegäste, die auf dem Bahnsteig standen, und – was das wichtigste war – auf seiner kantigen Adlernase saß eine runde Brille.
Conny und Roman sahen sich an, und Conny sprach aus, was beide dachten: »Meinst du, der ist es?« Zögernd gingen sie ein paar Schritte in seine Richtung, doch dann fuhren sie plötzlich zusammen.
»Conny?« Eine schrille, sehr hohe Männerstimme rief ihren Namen. Conny drehte sich um und stand einem jungen, hageren Burschen von vielleicht zwanzig Jahren gegenüber. Er war genau das Gegenteil von dem Mann mit der Adlernase: Über knielangen, schwarz-gelb gestreiften Baumwollshorts trug er ein grünlich gemustertes Hemd, das farblich weder dazu passte noch Connys Geschmack entsprach. Die kleine, runde Brille war unter dem Wirrwarr der blonden Haare kaum auszumachen. Dass der Bursche unter dieser Mähne überhaupt etwas sah, grenzte beinahe an ein Wunder. Unter dem rechten Arm hielt er eine schwarze Ledermappe.
»Bist du Conny?« wiederholte der junge Mann seine Frage, und als Conny verwirrt nickte, streckte er ihr die Hand entgegen und sagte lächelnd: »Ich bin Adrian.«
»Und ich bin Roman«, stellte sich Roman vor. Adrian, der ihn bis jetzt nicht beachtet hatte, sah ihn verständnislos an.
»Du hast hoffentlich nichts dagegen, wenn ich dabei bin.«
»N… nein, natürlich nicht«, erklärte Adrian, und um seine Verwirrung zu begründen, fügte er schnell hinzu: »Du musst entschuldigen, ich war natürlich nur auf eine Person gefasst.« Er musterte Roman noch immer mit gerunzelter Stirn. »Dein Freund?« fragte er Conny schließlich. »Wenn's dir nichts ausmacht!« entgegnete Roman knapp. Der Junge lächelte seltsam, überlegte kurz und fragte dann einfach: »Darf ich euch zu einem Drink einladen? In der Hitze lässt sich's schlecht reden.« Conny und Roman hatten nichts einzuwenden, und so ließen sie sich von Adrian in die Innenstadt führen und machten es sich im kühlen Schatten eines Gartenrestaurants bequem.
»Im Sommer bin ich hier öfters«, erklärte Adrian, während er die schwarze Mappe auf das kleine, runde Tischchen legte und dann auf die Karte deutete, die mitten auf dem roten Tischtuch lag. »Wenn ich euch einen Geheimtipp geben darf: Eistee mit einer Kugel Zitronensorbet ist die Spezialität des Hauses. In der Hitze genau das Richtige. Solltet ihr mal versuchen, ist sehr erfrischend!« Ein paar Minuten später schlürften alle drei genüsslich ihren Eistee, der tatsächlich ausgezeichnet schmeckte.
Conny ließ den fremden Burschen dabei kaum aus den Augen. Wie ein Antiquitätensammler sah er nun wirklich nicht aus. Ob er sie tatsächlich angeschwindelt hatte? Der junge Mann schien ihren Verdacht zu spüren. Augenblicklich schob er das Glas beiseite und erklärte ohne Umschweife: »Um es gleich zu sagen: ich habe dich angelogen.« Conny wechselte mit Roman einen vielsagenden Blick und wiederholte dann erstaunt: »Angelogen?« Adrian rückte seine Brille zurecht und räusperte sich.
»Nun, die Sache ist die: Ich befürchtete, du könntest misstrauisch werden und gleich die Finger davon lassen, wenn ich dir die Wahrheit schreiben würde.« Er fuhr sich mit einer flüchtigen Handbewegung durch die Mähne. »Ich bin natürlich nach wie vor an deiner Brosche interessiert«, erklärte er, »aber nicht als Antiquitätensammler, sondern als Student.« Conny sah ihn wie ein großes Fragezeichen an.
»Als Student?«
»Ich studiere Kunst«, erklärte Adrian und nahm die schwarze Mappe vom Tisch. »Hier sind ein paar Zeichnungen von mir.« Er breitete die Zeichnungen so gut es ging auf dem kleinen Tischchen aus und ließ den beiden Zeit, seine Kunstwerke eingehend zu betrachten. Zwischen Leonardo da Vinci und Picasso waren etwa alle Stilrichtungen vorhanden. Dieser Adrian schien tatsächlich talentiert zu sein!
»Alle Achtung, du kannst wirklich was!« meinte Roman beeindruckt, und Adrian sagte lächelnd: »Mein Vater wollte immer, dass ich später mal sein Architekturbüro übernehme. Aber das hat er sich inzwischen wohl aus dem Kopf geschlagen. Ich liebe nichts mehr als meine Freiheit. Und die lass ich mir nicht durch ein Architekturstudium nehmen!« Er fischte eine weitere Zeichnung aus der Mappe und hielt sie Conny unter die Nase.
»Das ist übrigens letzten Montag im Zug entstanden.« Conny fielen die Kinnladen herunter. Sie traute ihren Augen nicht.
»Das hast du gezeichnet?«
»Erkennst du sie?« fragte Adrian zurück. Conny reichte das Bild Roman weiter, der es ihr genauso verwundert wieder zurückgab. Adrians Frage war völlig überflüssig. Die Brosche war so genau gezeichnet, dass jedes Detail stimmte.
»Woher kannst du so gut zeichnen?« wollte Conny wissen.
»Übung!« entgegnete Adrian grinsend. »Die einen lesen im Zug ein Buch oder stricken, und ich zeichne halt.«
»Aber warum ausgerechnet meine Brosche?« forschte Conny.
»Einfach so!« erwiderte der Bursche achselzuckend. »Manchmal zeichne ich Gesichter, manchmal Einkaufstaschen, ganz nach Lust und Laune. Ich hab' da keine Regeln. Wenn mir etwas ins Auge sticht, zeichne ich es.« »Und meine Brosche ist dir also ins Auge gestochen?« Conny konnte sich das kaum vorstellen, aber der Bursche nickte.
»Ja, sie ist mir aufgefallen«, erklärte er, und als er merkte, dass Conny mit dieser Antwort nicht zufrieden war, fügte er hinzu: »Ich bin schon seit einiger Zeit auf der Suche nach einem Objekt wie dieser Brosche.«
»So!« Aus Connys Kommentar hörte man ihren Zweifel deutlich heraus. Adrian rückte seine Brille zurecht.
»Ich bin zur Zeit mit einer längeren Arbeit beschäftigt. Sie hat das Thema: Naivität und Komplexität oder die Fülle im Einfachen«, begründete er sein Interesse näher. »Ich muss dazu einen passenden Gegenstand aussuchen und ihn in zwanzig unterschiedlich gestalteten Bildern festhalten.« Conny sah den jungen Künstler noch immer verständnislos an. Der Zusammenhang zwischen ihrer Brosche und dieser Arbeit war ihr schleierhaft.
»Nun«, fuhr Adrian fort, »als ich im Zug deine Brosche abzeichnete, dachte ich plötzlich, dass sie für mein Thema wie geschaffen ist: eine einfache Brosche mit einer komplizierten Musterung. Optimal, besser geht's nicht! Leider kam mir dieser Gedanke erst, als es schon zu spät war, mit dir darüber zu sprechen. Deshalb habe ich mir die Adresse, die auf deinem Rucksack stand, eingeprägt und dir geschrieben.«
»Ach, daher hattest du meine Adresse!« stellte Conny er-leichtert fest und schlug sich an die Stirn. »Und ich hatte mir schon die wildesten Möglichkeiten ausgemalt.«
»Jedenfalls«, nahm Adrian den Faden wieder auf, »wäre ich dir außerordentlich dankbar, wenn du mir ein bisschen helfen würdest.«
»Helfen?« fragte Conny überrascht. »Beim Zeichnen?« »Nein, eher mit deiner Brosche«, lächelte Adrian. »Wenn du sie mir zum Beispiel ein paar Tage ausleihen könntest …« Damit war das Stichwort gefallen. Conny zuckte kaum merklich zusammen, und ihre Erleichterung war mit einem Mal wie weggeblasen.
»Es wäre wirklich nur für ein paar Tage, vielleicht für ein, zwei Wochen«, versicherte ihr der junge Mann. »Ich würde die Brosche von allen Seiten abknipsen, ein paar Skizzen erstellen und sie dir dann sofort zurückschicken. Das ist alles.« Connys Blick schweifte zu Roman, der dem Gespräch bis jetzt stumm zugehört hatte. Aber Roman schwieg, und auch seinen Augen konnte sie keinen Rat entnehmen. Unruhig begann das Mädchen auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen.
»Ich weiß nicht recht«, murmelte sie, ohne Adrian dabei anzusehen, »ehrlich gesagt möchte ich sie lieber nicht fortgeben.«
»Auch nicht für einen Tag?« Conny schüttelte den Kopf. Sie ahnte schon, welche Frage er ihr jetzt stellen würde. »Warum denn nicht?« Diese Worte ließen Connys Herz augenblicklich höher schlagen. Eine Antwort war sie ihm wohl schuldig – bloß welche?
»I… Ich«, stammelte sie, »ich meine … die Brosche ist sehr wertvoll.«
»Und deine Mutter möchte nicht, dass du sie in fremde Hände gibst!« vermutete Adrian. Conny seufzte. Sie hätte diese Theorie, die so einleuchtend klang, gerne bejaht, aber sie wollte nicht lügen. Deswegen sagte sie: »Nein, das ist es nicht.«
»Aber die Brosche gehört doch deiner Mutter, oder?« Durch seine runden Brillengläser sah der Bursche Conny forschend an. In Conny schien sich alles dagegen zu sträuben, die Wahrheit sagen zu müssen.
»Ich habe sie geerbt«, entgegnete sie schließlich, um der peinlichen Fragerei ein Ende zu setzen, »sie gehörte meiner Mutter.«
»Ach«, brummte Adrian verlegen, »du musst entschuldigen, ich wusste nicht, dass deine Mutter …«
»Ist schon gut«, sagte Conny, »das konntest du ja nicht wissen.«
»Dann wohnst du jetzt also bei deinem Vater?«
»Nein«, sie schüttelte den Kopf und sah Adrian direkt in die Augen, »meinen Vater hab ich nie gekannt.« Adrian wich ihrem Blick aus. Zum ersten Mal hatte Conny das Gefühl, er sei verunsichert. Er murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und begann auf einmal, die ausgebreiteten Blätter in die Mappe zurückzulegen – gerade so, als hätte ihn diese Information dazu bewogen, die Aktion abzublasen.
»Du willst sie mir also nicht geben«, meinte er resigniert. Conny schluckte trocken. Aus einem ihr unerklärlichen Grund war ihr der Bursche auf einmal sympathisch, ja, sie hatte sogar den Eindruck, sie könne ihm vertrauen.
»Ich werd' es mir überlegen«, sagte sie, »deine Adresse hab' ich ja.«
»Einverstanden!« Adrian nickte und schob seine Brille wieder zurecht. »Wenn ich in zwei Wochen nichts von dir gehört habe, gehe ich davon aus, dass ich sie nicht kriege.« Conny wunderte sich, wie rasch Adrian von seiner ursprünglichen Vorstellung abgekommen war. Irgend etwas schien sich geändert zu haben, aber was es war, konnte Conny nicht beurteilen. Und vielleicht bildete sie es sich auch nur ein!
Sie tranken den Rest ihres Eistees aus, Adrian bezahlte, und dann begleitete er die beiden zum Bahnhof.
Als der Zug abfuhr, stand der Bursche auf dem Bahnsteig und winkte.
»Wir hören voneinander!« war das letzte, das er hinter ihnen herrief, ehe er sich auf dem Absatz umdrehte und in entgegengesetzter Richtung davonging.
»Ein komischer Kauz!« meinte Conny nach einer Weile. »Findest du nicht auch?« Roman sah sie nachdenklich an. Er hatte während des ganzen Gesprächs kaum ein Wort gesagt, und auch jetzt schien er noch tief in Gedanken versunken, als er leise – fast wie zu sich selbst – sagte: »Ich weiß nicht, warum, aber ich habe den merkwürdigen Verdacht, der weiß mehr über deine Brosche als du!«
Es ging bereits auf halb sieben zu, als Conny und Roman wieder in Wohlen eintrafen. Der Ausflug hatte sie den gesamten Nachmittag gekostet. Jetzt schwangen sie sich auf ihre Stahlesel, die sie am Bahnhof deponiert hatten, und fuhren in Richtung Dottikon. Der kühle Fahrtwind tat ihnen nach der Hitze des Nachmittags gut.
»Wenn wir Glück haben, hat uns Jörg etwas zum Abendessen gekocht«, meinte Roman unterwegs, und das Wasser lief ihm dabei im Mund zusammen. Jörg, der achtzehnjährige Bursche, der mit Roman die Wohnung teilte und auch in der Fahrradwerkstatt tüchtig mithalf, war stumm. Er konnte zwar nicht sprechen, aber er besaß andere, ganz ausgezeichnete Fähigkeiten. Nicht nur, dass er hervorragend kochen konnte – beim Fußballspielen oder Klettern war er beinahe unschlagbar! Am besten jedoch konnte er Mundharmonika spielen. Beinahe jeden Abend nahm er das Instrument hervor, und oft spielten Roman und Jörg auch gemeinsam: Jörg auf der Mundharmonika und Roman auf der Gitarre. Das waren dann meistens die schönsten Momente des ganzen Tages!
Conny und Roman bogen von der Hauptstraße in einen schmalen Feldweg ein, der zuerst an Sandys Haus vorbeiführte und dann nach ein paar hundert Metern bei Romans Werkstatt endete.
Friedlich radelten sie vor sich hin, als auf einmal ein Rennrad an ihnen vorbeiflitzte und ein paar Meter weiter zum Stehen kam. Sandy, ihr alter Freund, stieg grinsend von seinem »Kunibert«, wie er sein schnelles Gefährt zu nennen pflegte. Offensichtlich kam er gerade von einer anstrengenden Radtour zurück, denn er atmete tief und schwer, und seine Stirn glänzte von Schweiß. Er trug Sportkluft: eng anliegende kurze Rennhosen, die seine braungebrannten Unterschenkel hervorgucken ließen, ein zitronengelbes T-Shirt und eine weiße Sportmütze. Sein weißes Haar wirkte darunter wie eine Clownsperücke, und mit den buschigen Augenbrauen und den kugelrunden Augen im sonnengebräunten Gesicht glich der kleine Mann tatsächlich eher einem Komiker als einem Rennfahrer. Vermutlich war er sich seiner Erscheinung voll bewusst, denn noch bevor Conny und Roman ihn richtig begrüßen konnten, sagte er schnell: »Bitte keine Äußerungen zu meiner Frisur, ich weiß, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes haarsträubend ist. Aber ich habe gerade eine längere Tour hinter mir, und die hinterlässt natürlich ihre Spuren. Wohingegen ihr so ausseht, als hättet ihr einen gemütlichen Nachmittag verbracht!« Conny sah Roman unschlüssig an. Es wäre unrecht gewesen, Sandy in diesem Glauben zu lassen, aber es fiel ihr auch nicht leicht, von ihrer Fahrt nach Solothurn zu erzählen. Schließlich ergriff Roman das Wort.
»Diesmal liegst du mit deinem berühmten Spürsinn haarscharf daneben«, begann er zögernd, »wir waren bei einer wichtigen Verabredung in Solothurn.«
»Sieh an, sieh an«, meinte Sandy interessiert und zwinkerte Roman zu. »Eine so wichtige Verabredung, dass du dafür einen freien Nachmittag genommen hast?«
»Allerdings«, bestätigte Roman, und etwas ernster fügte er hinzu: »Aber sei bitte nicht zu misstrauisch. Dein kriminalistischer Riecher wittert diesmal etwas zu früh Gefahr, glaub mir.«
»Oh, eine Gefahr kann man nie früh genug wittern«, belehrte ihn der alte Mann und sah nachdenklich zu Conny hinüber, die auf einmal seltsam still geworden war. »Wen habt ihr denn in Solothurn getroffen? Einen Freund?« Ihm entging nicht, dass Conny bei dieser Frage unruhig wurde.
»Ich glaube, wir sollten uns langsam auf den Weg machen«, sagte sie zusammenhanglos, »wir haben Jörg versprochen, vor sieben Uhr zurückzukommen.«
»Natürlich, ich will euch nicht aufhalten«, entgegnete Sandy. »Ich dachte nur … ich meine, vielleicht wolltet ihr mit jemandem darüber sprechen.«
»Vielleicht ein anderes Mal«, nickte Roman dankend, »wir sind beide recht müde von der Bahnfahrt.«
»Aber klar«, meinte Sandy verständnisvoll, »ich bin ja auch ziemlich erschöpft. Mein Kunibert hat mich wieder mal durch die halbe Welt gefahren.« Er klopfte seinem Rennrad anerkennend auf den Sattel. »Also dann, Freunde«, verkündete er feierlich, »in diesem Fall ziehen sich mein Kunibert und ich jetzt zurück!« Er drehte sein Rad mit einem gekonnten Griff um die eigene Achse und schwang sich elegant in den Sattel. Während er schon in die Pedale trat, rief er den beiden noch zu:
»Wenn ihr euch doch noch anders besinnt und mit jemandem darüber sprechen wollt, so wählt die Nummer 50 15. O.k.?«
Conny und Roman sahen sich an.
»Meinst du, er hat etwas gemerkt?« Roman zuckte die Achseln. »Du kennst ihn doch.«
Conny runzelte die Stirn.
»Was hat er wohl mit der Nummer 50 15 gemeint?« fragte sie nachdenklich. »Seine Nummer ist es jedenfalls nicht.« Der Junge blickte sie unter seinem Strohhut lange an. Schließlich legte er ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Es gibt eine Telefonnummer, die nie besetzt ist.« Conny schüttelte den Kopf.
»50 15?« fragte sie ungläubig.
»Ja«, sagte Roman, »es ist die Telefonnummer Gottes. Denn Gott sagt in Psalm 50, Vers 15: Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen.« Er lächelte seiner Freundin aufmunternd zu. »Das ist übrigens die einzige Telefonnummer, die ich auswendig kann. Du solltest sie dir auch merken.« Das Mädchen nickte.
»Aber«, wandte sie plötzlich ein, »warum gibt uns Sandy ausgerechnet jetzt diese Nummer?«
»Kannst du dir das nicht denken?« fragte der Junge zurück. »Er macht sich Sorgen.« Roman seufzte und sah in Connys graublaue Augen. »Und ich glaube, er hat recht«, gestand er ihr leise.
Roman nahm den Arm von ihrer Schulter und fasste die Lenkstange seines Fahrrades. Schweigend schoben sie ihre Räder über den Kiesweg in Richtung Werkstatt.
*
»Bist du zufällig Adrian Bissig?« Der junge Mann, der die Tür geöffnet hatte, nickte erstaunt.
»Ja, der bin ich, warum?« Er sah das Mädchen, das an der Haustür geklingelt hatte, von Kopf bis Fuß an, aber er konnte sich nicht erinnern, sie jemals zuvor gesehen zu haben. Das Mädchen lächelte geheimnisvoll.
»Du hast dich heute Nachmittag mit zwei jungen Leuten getroffen, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte der Mann mit der runden Brille überrascht. »Warum?«
»Ihr habt euch über eine ganz bestimmte Brosche unter-halten, nicht wahr?«
Der junge Mann fuhr sich mit der Hand durch seine blonde Mähne. »Woher weißt du das?«
Das Mädchen lächelte noch immer geheimnisvoll, und der junge Mann schien ziemlich verwirrt zu sein. »Wer bist du?« Das Mädchen grinste ihn verstohlen an und amüsierte sich offenbar darüber, dass er langsam etwas nervös wurde.
»Mein Name tut nichts zur Sache«, sagte sie dann, »ich möchte mit dir lediglich über diese Brosche sprechen.« »Und wozu soll das gut sein?«
»Du scheinst dich sehr für sie zu interessieren«, meinte das Mädchen. »Weshalb eigentlich?«
»Ich möchte wissen, was dich das angeht. Was willst du eigentlich? Ich hab' die Brosche nicht!«
»Das ist mir bekannt.«
»Also, was willst du?« Wieder setzte das Mädchen sein Grinsen auf.
»Ich könnte dir helfen, an die Brosche ranzukommen«, sagte es endlich. Der Bursche sah es entgeistert an. »Wie bitte?«
»Das hättest du nicht erwartet, was?«
»Ehrlich gesagt, nein. Aber, ich versteh' nicht ganz …« »Hättest du Interesse daran, ja oder nein?«
»Moment, schön eins nach dem andern. Was weißt du von der Brosche?«
Das Mädchen zuckte unschuldig die Achseln.
»Ich weiß nur, dass sie Conny gehört und dass sie ihr sehr viel bedeutet – offensichtlich genauso viel wie dir, sonst hättet ihr euch wohl einigen können.«
»Und woher kennst du Conny?« forschte der Bursche weiter und rückte seine Brille zurecht.
»Och«, meinte das Mädchen ausweichend, »wir sind so-zusagen befreundet.«
»Ach, wirklich?« fragte der junge Mann ungläubig. »Wie gesagt«, kehrte das Mädchen zum eigentlichen Thema zurück, »ich könnte dir die Brosche besorgen, sofern …«
»Sofern was?«
Das Mädchen schmunzelte.
»Sofern dabei etwas für mich rausspringt, selbstverständlich!« Ein unsicheres Lächeln umspielte die Lippen des jungen Mannes. »Du hast sie wohl nicht mehr alle!« »Gut, dann eben nicht!« Das Mädchen nahm sein Angebot sofort zurück. »War ja nur ein Vorschlag. Ich dachte, du würdest dich ernsthaft dafür interessieren. Schade!« Sie zog den Mund schief und wandte sich bereits zum Gehen, doch der Bursche winkte sie mit einer Handbewegung zurück und fuhr sich wieder durch seinen wirren Haarschopf.
»Moment, warte, ich hab' noch nicht nein gesagt«, erklärte er, und als ihm das Mädchen zufrieden grinsend wieder gegenüberstand, vergewisserte er sich leise: »Du könntest sie mir also auftreiben?« Das Mädchen nickte feierlich.
»Und wie würdest du das anstellen?«
»Das musst du schon mir überlassen«, entgegnete sie verheißungsvoll, »ich hab' dir doch gesagt, dass wir gut befreundet sind, Conny und ich.« Adrian runzelte die Stirn. »Wie lange kennst du sie schon?«
»Seit sie in Wohlen wohnt, das sind jetzt drei Jahre. Warum fragst du?«
»Ach, nur so«, wich der Bursche aus, und kurzentschlossen erklärte er: »Ich geb' dir zwanzig Franken, wenn du sie mir bis Samstag beschaffst, o.k.?«
»Mindestens fünfzig«, schraubte das Mädchen den Preis in die Höhe.
»Fünfundzwanzig«, sagte Adrian. Das Mädchen schüttelte lächelnd den Kopf.
»Damit sind ja kaum die Reisekosten gedeckt.« Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Für fünfzig Franken kannst du mit mir rechnen. So viel sollte dir die Sache wenigstens wert sein.« Adrian überlegte kurz. »Und woher kann ich wissen, dass du mich nicht verschaukelst?« Wieder schmunzelte das Mädchen. Sie war sich ihrer Sache anscheinend sehr sicher.
»Risiko«, meinte sie lakonisch, streckte ihm auffordernd die Hand entgegen und fuhr siegesgewiss fort: »Also, was ist? Gilt das Geschäft?«
Der junge Mann rückte seine runde Brille wieder zurecht und musterte das Mädchen nochmals kritisch. Schließlich kramte er seinen Geldbeutel hervor und drückte ihr fünfzig Franken in die Hand.
»O.k., es gilt!« sagte er.
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