Die geheimnisvolle Lady des Viscounts - Katherine Collins - E-Book
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Die geheimnisvolle Lady des Viscounts E-Book

Katherine Collins

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Beschreibung

Eine geheimnisvolle Unbekannte stiehlt das Herz des Viscounts …
Die leidenschaftliche Regency Romance mit viel Gefühl und knisternder Spannung

Wentworth Holmes – genannt Blake – ist überrascht, eine Frau in dem Haus seines besten Freundes Charles Bender anzutreffen. Die geheimnisvolle Schöne zieht ihn sofort in ihren Bann und schnell stellt sich heraus, dass es sich um Charles’ Zwillingsschwester Charlotte handelt, die verwitwet und ohne finanzielle Mittel ist. Blake sucht nach Möglichkeiten, Charlotte näher zu kommen, doch diese scheint keinerlei Interesse an ihm zu haben und zeigt ihm die kalte Schulter. Charles, der seine Schwester nur widerwillig bei sich aufgenommen hat, will sie so schnell wie möglich wieder aus dem Haus haben. Was wäre da besser geeignet als Charlotte zu verheiraten? Kann Blake das Herz der faszinierenden Lady für sich gewinnen und sie vor einer von Charles arrangierten Heirat retten?

Erste Leser:innenstimmen
„Wunderbare Regency Romance mit viel Herz und Gefühl.“
„Ich liebe historische Liebesromane mit geheimnisvollen Charakteren und starken Frauen – Blake und Charlotte haben es mir echt angetan!“
„geheimnisvoll, verführerisch, romantisch“
„Katherine Collins schafft es immer wieder mich in den Bann ihrer wundervollen Liebesgeschichten zu ziehen.“

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Seitenzahl: 437

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Über dieses E-Book

Wentworth Holmes – genannt Blake – ist überrascht, eine Frau in dem Haus seines besten Freundes Charles Bender anzutreffen. Die geheimnisvolle Schöne zieht ihn sofort in ihren Bann und schnell stellt sich heraus, dass es sich um Charles’ Zwillingsschwester Charlotte handelt, die verwitwet und ohne finanzielle Mittel ist. Blake sucht nach Möglichkeiten, Charlotte näher zu kommen, doch diese scheint keinerlei Interesse an ihm zu haben und zeigt ihm die kalte Schulter. Charles, der seine Schwester nur widerwillig bei sich aufgenommen hat, will sie so schnell wie möglich wieder aus dem Haus haben. Was wäre da besser geeignet als Charlotte zu verheiraten? Kann Blake das Herz der faszinierenden Lady für sich gewinnen und sie vor einer von Charles arrangierten Heirat retten?

Impressum

Erstausgabe Februar 2023

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-180-3 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-186-5

Covergestaltung: ARTC.ore Design unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Pinkystock periodimages.com: © VJ Dunraven / Mary Chronik, © VJ Dunraven / Mary Chronik Lektorat: Buchgezeiten

E-Book-Version 15.06.2023, 13:37:53.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Die geheimnisvolle Lady des Viscounts

1

Bender House, Bryanston Square, Marylebone, London, 1821

Wentworth Brandon Augustus Holmes, Baron Blackwell und Holmes und Viscount of Blackwell, genannt Blake, trottete gut gelaunt und mit einem lustigen Pfeifen auf den Lippen die Treppe des Stadthauses seines guten Freundes Charles Bender hinauf. Sie waren verabredet, um bei Tattersalls ein Pferd zu erstehen, die Sonne schien und das Leben war wundervoll.

Eine Dame bog im ersten Stock in das Treppenhaus ab. Der Blick aus ihren weichen, ungewöhnlich hellbraunen Augen glitt über ihn und sie nickte ihm zu, während er zunächst langsamer wurde und dann vor Überraschung stehen blieb.

»Lord Blackwell.« Auf seiner Höhe knickste sie angedeutet – noch immer, ohne ihn tatsächlich zur Kenntnis zu nehmen – und ging weiter.

»Verzeihung?«, sprach er sie an. Sie war unauffällig, schon bieder gekleidet, das braune Haar zu aufwendigen Löckchen an beiden Seiten ihres aristokratischen Gesichts drapiert, und sie trug eine Kamee mit dem Abbild einer Blume an ihrem schlanken Hals. Dieser verdrehte sich, war sie doch bereits an ihm vorbei, und sie verharrte einige Stufen unter ihm, ohne sich völlig zu ihm umzudrehen. Die Frage stand bereits in ihrer Miene. Sie legte die Hände vor dem Bauch übereinander.

»Ja bitte?«

»Wer sind Sie?« Die Frage war vermutlich anmaßend, aber eine Frau in Bender House? Das hatte es noch nie gegeben.

Verblüffung huschte über ihr Antlitz. Sie hatte große Augen und hoch liegende Wangenknochen, wodurch ihr Gesicht schmal wirkte und etwas zu streng für seinen Geschmack. Besonders in Anbetracht dessen, dass ihr dunkles Kleid einen unmodern hohen Kragen besaß. »Erschleichen Sie sich eine Vorstellung, Lord Blackwell?« Ihre Augen waren gar nicht braun. Eher gelblich. Ungewöhnliche Augen, mit denen sie ihn auch noch abschätzig musterte.

»Keineswegs.«

Sie neigte den Kopf und wandte sich ab, um die Stufen weiter hinabzugehen. Ihr Kleid folgte ihr mit zwei Stufen Verspätung, aber mehr als die schlichten Pantoffeln war darunter nicht auszumachen.

»Also schön, vermutlich erschleiche ich mir doch eine Vorstellung.«

Sie hielt inne, drehte sich aber wieder nicht zu ihm um. »Neugierde ist keine Tugend, Lord Blackwell. Guten Tag.«

Sie ließ ihn stehen. Am Fuß der Treppe wandte sie sich in den Gang, der sie zu den Gesellschaftsräumen führen musste, die am Morgen natürlich nicht genutzt wurden. Die in Bender House nie genutzt wurden, schließlich lebte der Freund hier völlig allein. Blake war nah dran, der Unbekannten zu folgen. Allerdings war sie der Aufmachung nach deutlich von Stand. Sie kannte seinen Rang, hatte vor ihm in exakt vorgeschriebener Tiefe geknickst … Wer auch immer sie war, sie hatte wohl einen Grund, durch Charles’ Haus zu flanieren.

Irritiert stapfte er weiter. Der Freund hielt sich in seinem Arbeitszimmer in ersten Stock auf, das eher einer Bibliothek glich und vermutlich auch mal eine gewesen war, bevor Charles den Raum für sich beansprucht hatte.

Der Freund sah kurz von seinem Schreibtisch auf und ließ ein Lächeln aufflammen, das gleich wieder verschwand. »Zu spät.«

Blake schüttelte den Kopf. »Da war eine Frau auf deiner Treppe, die hat mich aufgehalten, sonst wäre ich selbstredend pünktlich gewesen.« Er wartete, aber Charles bot keine Erklärung an. »Eine junge Frau im Haus eines Junggesellen.«

»Ja, das klingt fragwürdig.«

»Charles, hörst du mir überhaupt zu?«

»Du sprichst über Frauen.« Der Freund stellte seine Feder ab und streute Sand auf sein Billett. »Oder nicht?«

Blake schüttelte den Kopf. »Eine Frau in deinem Haus. Jung, hübsch und nicht bereit, mir ihren Namen zu nennen.«

Charles wirkte verwirrt. »Ich hätte jetzt auf Charlie getippt, aber jung und hübsch passt da nicht.«

Blake starrte ihn an. Der Freund stöpselte das Tintenfass zu, kippte den Löschsand zurück in sein Behältnis und überflog sein Schreiben, bevor er es siegelte. Alles mit absoluter Gemütsruhe. Blake selbst war weit entfernt von irgendwie gearteter Ruhe. Dieser Morgen riss ihn aus seiner üblichen Gelassenheit und er konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, woran das lag. Möglicherweise an dem Mysterium, einer Frau in Bender House zu begegnen, oder daran, dass der Freund absolut nicht hilfreich war, dieses Rätsel aufzulösen. Wer war sie und was tat sie hier?

»Hast du was dagegen, wenn wir das Schreiben auf dem Weg bei Castlereagh vorbeibringen?«

»Charlie«, kam Blake auf das Kuriosum zurück und hob die Hände. »Ich komme hier nicht mit. Wer ist Charlie und was hat er mit der Frau zu tun, die …«

Charles lachte und stand auf. »Charlie«, wiederholte er, als sei damit bereits alles gesagt, und ließ sich dann doch zu einer Erklärung herab. »Meine Schwester.«

»Seit wann hast du eine Schwester?« Blake folgte ihm aus dem Raum und schloss rasch zu ihm auf, um in seiner Miene ablesen zu können, ob er ihn womöglich hochnahm.

»Seit meiner Geburt.« Charles verdrehte die Augen. »Oder etwa zwanzig Minuten später.«

Blake verlor den Anschluss. Sie waren sechsundzwanzig und seit geschlagenen sechzehn Jahren befreundet. Von einer Schwester hörte er heute zum ersten Mal.

»Blake?« Charles kam die Treppe wieder hoch und spreizte die Arme ab. »Wo bleibst du?«

»Du hast eine Zwillingsschwester, die Charlie heißt?«, fasste er zusammen, was er immer noch nicht glauben konnte.

»Selbstverständlich nicht.«

Der strafende Blick des Freundes beruhigte Blake. Er war ihm auf den Leim gegangen. Eine verleugnete Schwester! Ha!

»Sie heißt Charlotte. Jetzt komm endlich. Wir werden noch die Auktion verpassen, weil du so trödelst.« Er verschwand wieder, um die Treppe herunterzugehen, und Blake konnte nur verblüfft in den leeren Gang starren.

Hyde Park, London, 1821, am folgenden Tag

Der klare, frühe Morgen belebte Blakes Sinne. Noch netzte der Morgentau jeden Winkel und gab den Pflanzen einen übernatürlichen Schein. Natürlich bekam er davon nicht sonderlich viel mit, trabte er doch über die Rotten Row. Sein neustes Pferd war nicht aus dem Blakely-Stall, wie er gehofft hatte, aber die Tiere des Earls of Blakely waren exorbitant teuer, und somit hatte er nicht damit gerechnet, bei der Auktion als Höchstbietender herauszukommen. Sein Rappe war temperamentvoll, jung und von erhabener Schönheit. Das Fell glänzte und er war gut genug eingeritten, um Blake keine Probleme zu bereiten, sollte seine Aufmerksamkeit kurzzeitig abschweifen, wie just in diesem Moment. Sein Blick glitt über das saftige Grün des Parks und blieb an einer einsamen Person hängen.

Locken wippten bei jeder ihrer Bewegungen an beiden Seiten ihres Kopfes. Sie trug eine doppelreihig geknöpfte Redingote, die durch die voluminösen Röcke darunter aufgebauscht wurde. Charlie wirkte damit wie eine ältliche Gesellschafterin. Ihre Hände steckten in einem fuchsfellbesetzten Muff. Der Schleier an ihrem Hut war nicht vor das Gesicht geschlagen worden, sondern schwang bei jedem energischen Schritt oberhalb ihres Hutes mit.

Blake lenkte seinen Rappen von der Bahn und querfeldein auf die Dame zu, die stehen blieb, als sie ihn bemerkte. Allerdings wartete sie nicht auf ihn, sondern setzte ihren Weg unbeeindruckt fort. Damit kam sie ihm jedoch noch entgegen. Bevor sie erneut an ihm vorbeirauschen konnte, saß er eilig ab und zog sich den Zylinder vom Kopf, um sich vor ihr zu verbeugen. »Miss Bender.«

Sie war erneut nicht geneigt, ihn zur Kenntnis zu nehmen, und strebte an ihm vorbei. Blake griff nach dem Zaumzeug und drehte sein Pferd herum. Er musste laufen, um sie einzuholen.

»Es ist ein schöner Morgen für einen Ausflug.«

Sie warf ihm einen enervierten Blick zu. »Sind Sie häufig zu dieser Tageszeit unterwegs?«

Sie ging auf ihn ein, endlich! Er lächelte zufrieden. »Nein.« Er war sich der Aufmerksamkeit der Damenwelt stets bewusst und es irritierte ihn, dass sie ihm so mühelos widerstand.

»Gut, ich befürchtete schon, meine Routinen abändern zu müssen.« Sie lief schneller. Oder war er einfach langsamer geworden? Sie war unanständig rüde! Er hastete ihr nach. Er kannte wahrlich keine Frau, die ihn ähnlich links liegen ließe wie Charles’ bezaubernde Schwester. Moment, unangebracht abweisende Schwester!

»Miss Bender, ich verstehe nun, warum Charles Sie bisher versteckt gehalten hat. Ihr Benehmen lässt wahrlich zu wünschen übrig.« Er lief an ihr vorbei, denn sie war bei seiner Anklage, die ebenfalls recht unfein war, tatsächlich entrüstet stehen geblieben. Blake musste sein Pferd wenden.

»Mein Benehmen lässt zu wünschen übrig?« Sie schnaubte, und sein Hengst tat es ihr gleich, wobei er den Kopf zurückwarf. Blake hatte Mühe, das Tier zu bändigen, während er die Dame im Auge behielt, die ihn böse anfunkelte. »Sie sprechen eine Ihnen nicht bekannte Frau an!«

So gesehen lag sie richtig. Sie musste ihn wohl ignorieren, allerdings war es ja nicht so, dass sie einander fremd waren. »Ihr Bruder ist mein bester Freund.«

Sie schüttelte den Kopf und deutete mit dem Muff an ihm vorbei. »Darf ich meinen Weg nun unbehelligt fortsetzen, Lord Blackwell?«

»Und Sie kennen meinen Namen. Unbekannte sind wir demnach nicht.«

»Ich kenne auch den Namen des Prinzregenten, dennoch würde er mir nicht auflauern und mir ein Gespräch aufzwingen.« Ihre Brauen verschwanden unter der Krempe ihres Hutes. Ein scheußliches Teil, weder modisch noch zeitgemäß. Blake streckte die Schultern und umfasste seinen eigenen Zylinder fester, der hübsch glänzte und selbstredend der neusten Mode entsprach. Er passte zudem vortrefflich zu seinem ockergelben Mantel nebst der Hose im selben Ton.

»Nun gut, da haben Sie recht.« Er presste verstimmt die Lippen aufeinander, denn nun musste er sie tatsächlich gehen lassen, wodurch seine Neugierde noch mehr angefacht wurde. Charles hatte ihn völlig auflaufen lassen und ihm keine Details über die Lady anvertraut. Es hatte gar so angemutet, als wollte der Freund nicht über sie sprechen.

»Fein. Guten Tag, Lord Blackwell.« Sie neigte den Kopf und trat an ihm vorbei. Sein Rappe schnappte nach ihr. Sie schrie auf, da das Tier den Schleier zu fassen bekam und an ihm zog.

»Hector!« Eilig versuchte Blake, den Schaden zu beheben, aber das störrische Tier ließ nicht los. Die Hutnadeln lösten sich, Miss Bender verlor das Gleichgewicht und stolperte zu Boden. Ihr wütender Blick durchbohrte ihn und weckte zweierlei: den Wunsch, sie zu beschützen, und den, sie ihm geneigter zu machen. Eine ungeheure Dummheit, schließlich war sie eine junge Dame von Stand, die Schwester seines besten Freundes und zu temperamentvoll, um als angenehm zu gelten. Allerdings erinnerte sie ihn an seine eigenen Schwestern, die ihm ebenfalls mit einem simplen Blick mitteilen konnten, wie er zurzeit gelitten war. »Ich bitte vielmals um Vergebung, Miss Bender, mir war nicht bewusst, dass …« Er streckte die Hand nach ihr aus und bekam im selben Moment einen Schubs von Hector. Er torkelte, seine Beine verknoteten sich und der Gesichtsausdruck der Lady sagte ihm bereits, dass er keine Chance hatte und sie dies auch genau wusste. Er fiel und landete auf der Wolke weiblicher Bekleidung, die Miss Charlie ausmachte.

Er starrte in ihre gelblichen Augen. Seine Lieblingsfarbe. Es brauchte einen Moment länger, um sich seiner Lage bewusst zu werden – und der Tatsache, dass dies weder der Moment noch die passende Dame war, um zu tändeln. Aufkeimende Zuneigung seinerseits hin oder her! »Verzeihung.«

Sie starrte ihn an. Eine bezaubernde Röte lag auf ihren Wangen, die vortrefflich mit ihren Lippen harmonierte. Rot stand ihr. Sie sollte nur Rot tragen. Und diese Lippen … formten Worte? Irritiert runzelte er die Stirn.

»Werden Sie irgendwann die Güte haben und von mir heruntersteigen?«

»Ja, ja, selbstredend.«

»Nun?«

Seine Beine waren zu lang und verhakten sich wieder ineinander. Er rollte sich also herunter und schaute einen Moment in den Himmel. Wolken zogen auf. Sein Blut pochte schwer in seinen Adern und sammelte sich an einer wahrlich unangebrachten Stelle. Nur gut, dass er dank des Wetters tatsächlich einen Mantel trug. Einen gelben Mantel, der Grasflecken sicherlich nicht schätzte!

Er sprang auf und wandte den Kopf in dem Versuch, einen Blick auf seinen Rücken zu werfen.

»Ich bin empört.«

»Ja, Bains wird mir den Kopf abreißen!« Er knöpfte sich den Mantel auf, im Begriff, ihn auszuziehen, als ihm ein unangenehmer Gedanke kam. Sie saß noch immer auf dem kalten Untergrund und blitzte zu ihm auf. Ihr Haar war im Nacken herabgefallen, und auch die zuvor akkuraten Löckchen, die ihr Gesicht umranden sollten, waren alles andere als akkurat. Dafür aber verführerisch, allerdings behielt er die Einschätzung besser für sich. »Sie benötigen dringend Ihre Zofe.« Und er eine Abkühlung. Er war nicht auf der Suche nach einer Gattin, und so aufregend diese frische Bekanntschaft war, alles andere verbat sich von selbst.

Ihr Mund öffnete sich, aber kein Wort verließ ihre Lippen.

Charlie starrte den ungalanten Tölpel an. Sie korrigierte sich gedanklich, denn er glich eher einer Goldammer. Ein aufgeplusterter Vogel, wie er da versuchte, sein Federkleid zu säubern, und sich dabei um die eigene Achse drehte.

Die kalte Nässe des Frühlingsmorgens zog sich durch ihre Röcke und drang an ihren Po vor. Er ignorierte sie. Sein Aufzug war ihm wichtiger, als einer Dame in Not beizustehen. Er knöpfte sich den Mantel auf.

»Ich bin empört.« Das war alles, was sie herausbrachte. Derzeit brachte sie alles und jeder in Rage, und Lord Blackwell diente zumindest als putzige Ablenkung. Auch wenn sie nicht wissen musste, ob er zu der ockergelben Hose und dem Mantel ein passendes Jackett trug. Ockergelb!

Nun, sie wusste, dass er ganze Farbpaletten spazieren trug, schließlich sah sie ihn nicht selten das Haus betreten oder verlassen.

»Ja, Bains wird mir den Kopf abreißen!« Endlich schaute er sie an. Sein Blick schien ihr Gesicht aber auszusparen. »Sie benötigen dringend Ihre Zofe.«

Charlie klappte der Mund auf. Sie war aufgrund seines missratenen Reittieres desolat anzusehen und fror, da er sie in den Dreck gedrückt hatte. Sie beschloss, nicht mehr darauf zu warten, dass er seine Manieren wiederfand. Sie zog den Muff aus, drehte sich um und kämpfte sich auf die Füße. Die Unterröcke, die sie sonst angenehm warm hielten, behinderten sie, aber es war sicher nicht das erste Mal, dass sie am Boden lag, und bisher hatte sie sich immer wieder hochgekämpft!

»Miss …« Er umfasste dreist ihre Mitte und stabilisierte sie. Sie fuhr herum und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.

»Guten Tag, Lord Blackwell!« Sie drehte sich schwungvoll wieder um und stapfte los. Ihr Ärger hielt sie warm. Dass er es wagte, sie anzufassen! Schön, mehrere Lagen Stoff lagen zwischen ihren Leibern, inklusive eines straffen Korsetts, dennoch waren ihre Beine aufgrund seiner Berührung ungewöhnlich unsicher. Sicherlich stakste sie unelegant umher.

Sie hatte nur die kläglichen Reste ihres Rufes und die eindringliche Mahnung ihres Bruders, ihm keinen Ärger zu machen, während sie in der Stadt war. Und Blackwell bedeutete Ärger. Sie wusste es, spürte es tief in ihren Knochen, dass sie ihm besser aus dem Weg ging, bevor sein unangebrachtes Interesse bemerkt wurde. Dabei war sie doch nun wirklich das langweiligste Ding in ganz England!

Was war nur los mit ihm, dass er sie einfach nicht in Ruhe lassen konnte, obwohl sie ausgesucht unfreundlich war? Herrje, er musste dies entweder gewohnt sein, was nicht für seinen Charakter sprach, oder eben schrecklich gelangweilt sein.

Blake schaute ihr nach. Ihre Redingote wies einen dunklen Fleck an ihrem Gesäß auf. Ihr unordentliches Haar schwang bei jedem ihrer Schritte. Es fiel hinab und verdeckte hin und wieder den Fleck zur Hälfte. Sie hatte ihren Hut zurückgelassen und den Muff gleich mit. Er klaubte die Dinge auf, nebst seiner Gerte und dem Zylinder, den Hector ebenfalls angeknabbert hatte. Er war rettungslos ruiniert. Wie Charlies Ruf, wenn sie in diesem Zustand gesehen wurde. Und trotzdem schritt sie einher wie eine Königin. Wärme durchflutete ihn und er meinte, dümmlich zu grinsen. Sie war schon etwas Besonderes.

Er fuhr sich durch den Schopf und schaute sich um. Es war früh am Morgen und sicherlich befanden sich nicht viele Personen bereits auf den Beinen. Außerdem lag das Haus ihres Bruders nur wenige Straßen entfernt. Ach ja, und es wäre noch schlimmer, entdeckte man sie in Gesellschaft eines Herrn.

»Miss!« Er hastete ihr nach, trotz besseren Wissens und nur, weil er den anregenden Austausch noch nicht beenden wollte. Und sie besser zunächst ihre Kleidung und ihre Frisur richtete, bevor sie irgendwem unter die Augen kam. Hector überholte ihn und rannte die Lady dann über den Haufen. Blake fiel erschrocken neben ihr auf die Knie. »Oh Gott, das …«

Sie lag mit dem Gesicht im Dreck, stemmte sich nun auf und spuckte aus. Ihre Frisur war ein wildes Durcheinander und es war zwecklos, den Versuch zu unternehmen, sie zu richten.

»Ich bringe Sie besser …«

Sie setzte sich auf die Hacken und schob seine Hand von ihrer Hüfte fort. Ihre Handschuhe waren verdreckt und ihre Finger schlossen sich kurz zittrig um seine, bevor sie sie wieder zurückzog, um sich auf die Füße kämpfen zu können. Ihr Haar geriet unter ihre Handfläche und sie schrie auf, als sie daran riss.

Blake raffte ihre weiche Mähne zusammen und drehte sie auf. Er setzte ihr ihren Hut auf, stopfte die Haare darunter und schlug den Schleier herab. Da sie halb abgewandt hockte, musste er sie dazu umarmen.

»Lord Blackwell!« Sie rutschte aus seiner Reichweite und drehte sich zu ihm um.

»Sie können so nicht zurück.«

Ihre Augen weiteten sich. »Ich kann nicht mit Ihnen zurück. Wer Sie sieht, vergisst Sie sicher nicht wieder!« Dass es kein Kompliment war, bewies ihr pikierter Blick über seine Aufmachung. Was hatte sie nur gegen ihn? Er selbst war hingerissen. So genau konnte er nicht bestimmen, was an ihr so besonders war. Sie war hübsch, ja, sie hatte Feuer. Schön. Aber viele Damen konnten mit ähnlichen Attributen aufwarten, ohne dass sie ihn vor den Kopf stießen. Vielleicht war gerade ihr Desinteresse so interessant? Immerhin war er ihr gleichgültig. Sie kannte seinen Titel und sicherlich war ihr bewusst, dass er ein nettes Vermögen besaß, und trotzdem schäkerte sie nicht mit ihm, versuchte nicht, sein Interesse zu wecken, sondern war schlicht die Person, die sie war. Sie war authentisch.

»Ich begleite lediglich eine Dame in Not.« Er stand auf und reckte das Kinn, wobei er sein Krawattentuch lockerte, um besser Luft zu bekommen. Er reichte ihr die Hand. »Bitte. Ihren Zustand habe ich verursacht, und ich kann Sie nicht damit allein lassen.«

Sie griff nicht nach seinen Fingern. In ihrer Miene stand ihr Unwille und sie schüttelte langsam den Kopf.

Blake stieß den Atem aus. »Ich bestehe darauf!« Er griff nach ihrer Hand und zog die Lady mit einem Ruck hoch. Er schwankte und befürchtete, gleich wieder mit ihr im Dreck zu liegen. Also umschlang Blake sie eilig mit dem anderen Arm und presste sie an sich. Miss Bender reichte ihm bis zum Kinn. Er sollte ihres anheben und ihre Beschimpfung damit unterbrechen, dass er ihren Mund mit dem seinen verschloss. Er nahm den Arm von ihrer Mitte, um die Hand an ihr Gesicht zu legen, aber eine schallende Ohrfeige – die zweite innerhalb weniger Minuten – ließ seine Ohren sirren. Sie hatte Kraft.

»Was erlauben Sie sich?«

Ihr Hut saß schief auf ihrem Kopf und drohte jeden Moment herunterzupurzeln. Der Schleier verbarg einen Teil ihres Antlitzes, aber die brennenden Augen waren hervorragend auszumachen.

»Wenn es denn sein muss, halte ich eben um Sie an.« Das sollte sie doch beruhigen, auch wenn es sicherlich nicht nötig werden würde. Er sah sich eilig um, aber wie erwartet waren sie mutterseelenallein im Park. Er hatte nicht vor, bereits an den Altar zu treten, dafür war nun wirklich noch Zeit und die Wahl einer Braut sollte auch gut überdacht sein. Was er schlicht zu ihrer Beruhigung gesagt hatte, verfehlte seinen Zweck, denn ihre Augen weiteten sich, und ihre Hand hob sich. Dieses Mal fing er sie rechtzeitig ein und zog die Lady an sich. »Ich fühle mich hinreichend geohrfeigt, danke. Ich meine es ernst. Sollte Ihr Ruf Schaden nehmen, weil ich Sie nach Hause bringe, werde ich in den sauren Apfel beißen und …«

»Ha!« Ihre Faust bohrte sich in seinen Magen und er endete mit einem Umpf. »Sparen Sie sich das bloß!« Sie fasste sich an den Hut und ließ Blake erneut stehen.

»Miss Charlie!« Verflixt! Er rieb sich die von ihr malträtierte Stelle und schaute ihr erneut nach. Vermutlich war er nicht die begehrteste Partie der Saison, dennoch traf es ihn, dass sie ihn so achtlos beiseiteschob. Nun, sie konnte sicherlich ob ihres Gespürs für die Schicklichkeit – die sie übertrieben eng auslegte, was ihn betraf – dem ein oder anderen Standesgenossen positiv auffallen. Sie war hübsch, auch wenn ihr Bruder das anders sehen mochte, und nicht blutleer wie so manche junge Dame, der man in den Ballsälen der Stadt begegnete. Kein Wunder also, dass sie so auf ihren Ruf pochte und ihn auslachte, weil er sich als Retter anbot. Vermutlich dachte sie, dass sie einen Duke einfangen konnte, was wollte sie da mit einem Viscount?

Er folgte ihr dennoch, nachdem er Hector eingefangen hatte, und ritt gemächlich mit etwas Abstand hinter ihr her. Vor Bender House saß er ab und warf einem herbeieilenden Lakaien die Zügel zu. Der Butler öffnete ihm die Tür.

»Lord Blackwell. Seine Lordschaft befindet sich beim Frühstück.«

»Wie passend.« Er trat ein und versuchte, einen Blick die Treppe hinauf in den ersten Stock zu erhaschen. Sie würde sicherlich wieder herunterkommen, und dann konnten sie das lächerliche Problem ihrer Nicht-Bekanntschaft beheben. Er folgte dem Faktotum in das Morgenzimmer. Charles schaute nicht einmal hinter seiner Zeitung hervor.

»Wo hast du dich wieder rumgetrieben?«, fragte er abwesend.

»Im Park.«

Die Zeitung knisterte, als die Ecke heruntergebogen wurde und der Hausherr zu ihm herüberspähte. »Nanu. Ist es nicht etwas zu früh für dich, alter Junge?« Er faltete das Tageblatt zusammen und legte es zur Seite. »Ich nehme an, dein neuer Rappe hat dich aus den Federn getrieben. Oder war die Soiree am vergangenen Abend so langweilig, dass du zu zeitig ins Bett kamst?«

Blake setzte sich und ein Mädchen stellte eine Tasse vor ihm ab. »Tee oder Kaffee, Mylord?«

»Kaffee.« Blake seufzte. »Hector«, beantwortete er dann die Frage des Hausherrn.

»Er hat dich abgeworfen?« Charles grinste. »Ich habe dich gewarnt, dass der Preis zu gut ist für ein Tier seiner vermeintlichen Güte.«

Blake wischte sich unter dem Tisch über die Knie. »Er hat tatsächlich unbekannte Marotten.« Der Kaffee dampfte und lockte mit seinem Aroma. Sollte er ansprechen, dass ihm Charlie über den Weg gelaufen und es zu Handgreiflichkeiten gekommen war?

»Nun, wer hat die nicht?« Charles seufzte. »Begleitest du mich ins Oberhaus?«

»Ich habe Grasflecken an Körperteilen, die ich nicht benennen möchte.«

Charles winkte ab. »Du kannst mich nicht mehr schockieren, mein Guter.«

»Nein, dafür stürzt du mich in profunde Überraschung.«

»Weil ich früh aufstehe und plane, an der Sitzung im Parlament teilzunehmen? Blake, deine Prioritäten sind bedenklich. Frauen und Mode.« Er schüttelte den Kopf.

»Nun, du schaffst es, die Frauen in deinem Haus zu missachten, und versauerst unter Staatsgeschäften.«

»Frauen in meinem Haus? Ach so!« Er verdrehte die Augen und verzog die Lippen. Er machte fast den Eindruck, angewidert zu sein, aber das musste Blake missinterpretieren. »Charlie schon wieder.« Er bedeutete dem Mädchen, seine Tasse zu füllen, und führte sie dann gleich an die Lippen.

»Eine Schwester, die du nie zuvor erwähnt hattest!«

Wieder winkte Charles ab. »Habe ich sicherlich, aber sie ist nun wahrlich kein Thema für ausgedehnte Gespräche.« Erneut huschte dieser unpassende Ausdruck, der an Verdruss grenzte, über die Miene des Freundes.

Blake fand, dass man sich über Miss Bender durchaus ausgedehnt unterhalten konnte, schließlich barg sie zu viele Mysterien. »Warum ist sie in London? Sie ist etwas alt für eine Debütantin, aber besser spät als nie.«

Charles lachte, als wäre die Vorstellung völlig abwegig. »Wie kommst du nur darauf?«

»Eine junge Frau von Stand in London …« Das brauchte doch wahrlich keine weitere Ausführung. Interessanter war ohnehin, warum sie in ihrem Alter noch unverheiratet war.

Charles runzelte die Stirn. »Unsinn. Tante Mabel ist gestorben und Charlie wusste nicht, wo sie hinsollte.« Er leerte seine Tasse, seufzte und stand auf. »Dann wollen wir mal!«

Blake verfolgte mit den Augen, wie der Freund um den Tisch herumkam. Ein Trauerfall in der Familie erklärte, warum seine Schwester gedeckte Farben trug, und vermutlich hatte sie sich um die ältliche Dame gekümmert, wie es ihre Christenpflicht war. Kein Wunder, dass sie modisch so unbedarft und so überaus bieder war.

»Bleibst du noch?« Charles runzelte die Stirn. »Das sollte ich dir ausreden, obwohl dir Charlie sicherlich nicht über den Weg laufen wird. Sie ist sehr … darauf bedacht, mich nicht zu stören.« Ein zufriedenes Grinsen huschte über sein Gesicht, aber Blake war viel mehr an der Information interessiert, die eines deutlich aussagte: Sie würde wohl nicht wieder herunterkommen.

Blake grummelte. Die ganze Situation war unhaltbar. Er konnte seine Neugierde bezüglich der Lady nicht stillen, wenn sie ihm wie bisher aus dem Weg ging, und wer wusste schon, wie sie ihren Tagesablauf plante? Natürlich war es ungehörig, einer Lady aufzulauern, und damit nicht wirklich eine Alternative. Charles war nicht hilfreich, da er kaum ein Wort über Charlie verlor, und so gab es nur die eine Möglichkeit, mehr über die Lady zu erfahren. »Es geht nicht an, dass ich ihr nicht offiziell vorgestellt werde, wenn sie in deinem Haus lebt«, erklärte er rundheraus. »Wenn wir uns auf der Treppe begegnen, müssen wir so tun, als sähen wir einander nicht.«

»Das war sicherlich die Ausnahme.«

Blake seufzte. »Ich komme zum Dinner. Denn, ob du es glaubst oder nicht, sie gehört angemessen vorgestellt.«

Charles neigte den Kopf und musterte ihn. »Dinner? Du weißt, dass ich stets im Club speise.«

»Und Miss Bender sitzt allein am Tisch? Deine Manieren lassen zu wünschen übrig, mein Guter.« Blake erhob sich.

»Also schön. Einen Abend werde ich auch zu Hause verbringen können, aber sei gewarnt. Charlie ist nicht … die beste Gesellschaft.«

Das wusste Blake bereits, aber er widerstand dem Drang, die Hand an die Wange zu legen, die sie vor knapp einer Stunde malträtiert hatte. »Nun, ich bin eigenwillige Dinnerrunden gewohnt.« Schließlich hatte er es nicht sechzehn Jahre mit seinem Freund ausgehalten, weil sie ausgefallene Gesprächsthemen teilten.

»Stimmt. Lady Garland, nicht wahr? Vielleicht schaffst du es, Charlie mit deinen Anekdoten ein Lächeln zu entlocken.« Er prustete und deutete zur Tür, wo er ihm den Vortritt ließ. Im Vestibül wurden ihnen die Mäntel gereicht. »Vielleicht war Gelb doch nicht die richtige Farbe.« Charles feixte und hüllte sich in sein langweiliges, schwarzes Pendant.

»In diesem Fall werde ich dir bedauerlicherweise recht geben müssen.« Er seufzte und klopfte den Dreck ab, bevor er einsah, wie wenig Erfolg er haben würde, einigermaßen angemessen das Haus verlassen zu können.

»Bleib doch noch«, sagte Charles freundlicher als zuvor. »Carter, rufen Sie meinen Kammerdiener.« Er wandte sich wieder an ihn. »Es wird einen Moment in Anspruch nehmen, aber dann brauchst du nicht so … heruntergekommen durch die Stadt zu flanieren. Ich weiß ja, wie wichtig dir dein Erscheinungsbild ist.«

Blake stieß den Atem aus. Charles war eben doch ein guter Freund.

Charlie schaute hinaus auf den Square. Sie saß auf der gepolsterten Fensterbank ihres Schlafzimmers und wartete darauf, die Bibliothek aufsuchen zu können. Blackwells Rappe wurde im Kreis geführt und ein zweites Pferd gesellte sich samt Knecht nun dazu. Charles hatte keinen Stall am Stadthaus, da dieses wahrlich zu klein war, um auch nur einen Innenhof zu haben, und nur einen kleinen Garten besaß, den man lediglich durch das Haus betreten konnte. Damit war das Haus eine der vielen in den letzten fünfzig Jahren gebauten Residenzen, die eigentlich nur von niedrigen Adligen, Baronen und Rittern, vornehmlich aber von reichen Bürgerlichen bewohnt wurden. Ihre Reittiere und Kutschen waren in Mietställen untergebracht. Charles verließ das Haus und übernahm die Zügel seines Reittiers.

Charlie quetschte die Nase an der Scheibe platt, aber von Blackwell war nichts zu sehen. Er brachte noch ihren ganzen Tagesplan durcheinander.

»Mrs Bender«, sprach das Mädchen, das ihr zur Hand ging, sie an. »Wir sollten Sie aus Ihrem Kleid bekommen, damit ich den Fleck einweichen kann, bevor er eintrocknet und das Gewebe schädigt.«

Das war sicherlich ein guter Hinweis, zumal sie mit der verdreckten Kleidung auch die Polster ihres Sitzplatzes verschmutzte. Mit einem Seufzen riss sie sich von ihrem Beobachtungsposten los. Ihr Zimmer lag günstig in der linken Ecke des Stadthauses, das ab dem ersten Stockwerk an beiden Seiten einen Erker aufwies. Damit hatte sie sowohl die Eingangstür im Blick als auch Charles’ Schlafzimmer, das sich im anderen Erker befand. Sie wusste also, ohne ihn fragen zu müssen, wann er zu Bett ging, aufstand oder sich fertig machte, um das Haus zu verlassen.

Charlie schob ihr Haar aus dem Weg, damit das Hausmädchen die Knöpfe öffnen konnte. »Ich hoffe, dass es nun nicht ruiniert ist.« Dann hätte sie ein Problem, denn sie besaß nur zwei Vormittagskleider, die halbwegs angemessen waren. Sprich: nicht völlig aus der Mode. Leider war man vom schlichten Empirestil dazu übergegangen, wieder Unmengen an Unterröcken zu tragen, nebst dem Korsett und einem Meer an Rüschen, Schleifen und Volants. In ihrer Unterbekleidung konnte sie sich nicht wieder ans Fenster setzen, also streifte sie den Morgenrock über.

Blackwells Pferd wurde immer noch herumgeführt. War sie allein mit ihm im Haus?

Sie fuhr herum und starrte die Tür an. Charles war ein Dummkopf, aber doch nicht so ein unglaublicher Narr, wie es soeben den Anschein hatte!

Ihr Herz pochte fest in ihrer Brust, während sie darauf wartete, dass Blackwell ihr Schlafzimmer stürmte. Es dauerte eine Weile, bis Charlie klar wurde, dass dies nicht zu befürchten stand. Blackwell war nicht Gavin und sie kein Backfisch von sechzehn Jahren mehr.

Sie atmete tief ein und wandte sich wieder der Scheibe zu, um die Stirn anzulehnen und hinauszuschauen. Aber es war nicht der neu angelegte Square, der sie beschäftigte, sondern die Vergangenheit. Gavin und ihr viel zu früher Verlust.

Tränen verschleierten ihren Blick und fielen auf ihre Hand. Eilig wischte Charlie sie fort, blinzelte und bemerkte die gelbe Goldammer, die ihr bis nach Hause gefolgt war. Er saß auf und schaute am Haus empor. Auf der Seite, auf der Charles’ Schlafzimmer lag, daher brauchte sie nicht zu befürchten, entdeckt zu werden. Sein Zylinder saß schief auf seinem Schopf, die Gerte schlug gegen sein Bein. Seine Miene wusste sie nicht zu deuten, dafür fehlte ihr die Übung. Sie hatte Tante Mabel lesen können und Gavin, und früher hatte sie auch gewusst, was Charles durch den Kopf gegangen war, aber das lag wahrlich lange in der Vergangenheit.

Blackwells Pferd tänzelte, machte eine Pirouette. Ein ungebärdiges Tier, dem er nicht gewachsen war. Sie schüttelte den Kopf und schaute ihm nach, als er davonritt.

2

Bender House, Bryanston Square, Marylebone, London, 1821

Charlie blätterte die Seite um, als die Tür des Salons geöffnet wurde. Wie immer stand das Dinner genau dann bereit, wenn es in der Lektüre interessant wurde. Seufzend klappte sie das Buch zu und erhob sich.

»Charlie.«

Sie zuckte zusammen, und das Buch glitt ihr aus den steifen Fingern, denn als sie zur Tür schaute, stand da nicht nur ein unerwarteter Gentleman.

Charles lächelte, als er auf sie zukam. »Überraschung.«

Blackwell war ihm gefolgt und hielt ihr die Hand hin. Eine Aufforderung, ihm die ihre zu reichen, aber sie schaute lediglich auf die behandschuhten Finger hinunter und dann zu ihrem Bruder.

»Steht Browns in Flammen?«, fragte sie verwundert.

»Bitte was?« Er schüttelte den Kopf. »Wie kommst du darauf?«

»Du speist ausschließlich in deinem Club.« Und zwar dem Browns Club für distinguierte Gentlemen. »Es wird Zeit, sonst wirst du länger auf deine Mahlzeit warten müssen.«

»Stimmt.« Er schaute zu seinem Freund. »Blake hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich meinen Pflichten nicht angemessen nachgekommen bin.« Er hob die Brauen und schmunzelte, aber sie sah ihm an, dass er lediglich gute Miene zum unangenehmen Spiel machte. Sein Blick schoss auch gleich prüfend zu seinem Freund, der sie zu begeistert ansah.

»Eine Vorstellung ist längst überfällig«, bestätigte der Geck jovial und grinste dabei so blendend, dass er seinen Aufzug mühelos überstrahlte. »Das war sträflich nachlässig von dem guten Charles.«

Tatsächlich ignorierte dieser einige Pflichten, wenn man Charlie fragte. Dies tat jedoch niemand, schließlich lebte sie mit ihrem Bruder allein in diesem Haus und Charles hütete sich davor, überhaupt das Wort an sie zu richten, wenn es sich nicht gerade um eine Ermahnung handelte, die auszusprechen unabdinglich war. Wie jene, ihn nicht in seiner Routine zu stören. Sprich, ihm nicht unter die Augen zu kommen und ihn mit ihrer Gesellschaft zu belästigen. Es war demnach kein Versäumnis, sondern Absicht gewesen, dass Blackwell ihr nie vorgestellt worden war, und dies wusste Charlie genauso gut wie Charles.

»Blake.« Charles deutete auf Lord Blackwell und räusperte sich. Trotzdem klang er grimmig und alles andere als froh über die leidige Angelegenheit. »Du erinnerst dich sicherlich. Ich sprach von ihm.«

Lang und ausführlich. Oh ja. Charlie hatte früh begonnen, den Mann zu verabscheuen, der zu der Zeit natürlich ein Knabe gewesen war. Mit Charles’ Übersiedlung nach Eton war sie für ihn uninteressant geworden, und alles, was ab dem Zeitpunkt noch gezählt hatte, war Wentworth Brandon Augustus HolmesIII. gewesen. Damals Baron Blackwell, nun der ebenso unerwünschte Viscount of Blackwell.

»Nein, tut mir leid. Mylord.« Sie nickte ihm gezwungenerweise zu.

Charles riss die Augen auf. »Nanu.«

»Wentworth Brandon Augustus Holmes der Dritte, Baron Holmes und Blackwell, Viscount Blackwell, zu Ihren Diensten, Miss Bender.« Er verbeugte sich und hielt ihr erneut die Hand hin.

»Ah, der Geck.« Ihr Blick wanderte an ihm auf und ab. Grün. Immerhin trug er zu dem farbenfrohen Frack eine taubengraue Hose, aber die Weste war strahlend gelb und es war fast eine Erleichterung für die Augen, ihm ins Gesicht schauen zu können. Er hatte einen breiten Kiefer, ein markantes Kinn und eine eckige Kopfform. Kleine, braune Augen und eine schmale Nase thronten über schmalen Lippen, die wissend verzogen waren. Sein sandfarbenes Haar fiel ihm in einer kecken Tolle in die Stirn. »Jetzt erinnere ich mich.« Sie knickste. »Ich wünsche einen angenehmen Abend, Lord Blackwell. Es war entzückend, Sie schließlich tatsächlich kennenzulernen, aber sicherlich …«

Carter unterbrach sie, indem er den Raum betrat. »Das Dinner kann serviert werden.«

Blackwell hielt ihr den Arm hin. »Darf ich die Dame an den Tisch führen?«

Charlie warf ihrem Bruder einen Blick zu. »Du bleibst doch nicht …«

»Es wäre recht unhöflich, Blake nun durch die halbe Stadt zu zerren, wenn wir ebenso gut hier speisen können, meinst du nicht?« Charles’ Mundwinkel bogen sich nach oben. Ihre offenkundige Ablehnung des Freundes hatte bewirkt, dass jeder dunkle Unterton, selbst der Knick in seinen Brauen verschwunden war, ganz wie sie es erwartet hatte. Es war jedoch kein Grund aufzuatmen, denn sie war sich ihrer Unhöflichkeit schmerzlich bewusst. Bisher war es anständig und richtig gewesen, einen ihr unbekannten Herrn zu ignorieren, auch wenn sie ihn sehr wohl zuordnen konnte. Nun aber ging ihr rüdes Verhalten zu Lasten ihres Rufes. Sie seufzte innerlich, immerhin war sie nicht die Einzige in diesem Haus, die gutes Benehmen vermissen ließ, denn es war auch unhöflich, sie nicht vorzuwarnen, dass Charles Gäste zum Dinner einlud! Aber sie durfte sich nicht einmal beschweren, sondern musste dankbar sein, dass er sie überhaupt aufgenommen hatte. Sie presste die Lippen aufeinander.

»Miss Bender«, sprach Blackwell sie erneut falsch an und bedeutete ihr, seinen Arm zu nehmen.

»Wie wundervoll.« Sie war sich der Zwickmühle wohl bewusst, schließlich musste sie das Geleit des höherrangigen Gastes annehmen, ob sie wollte oder nicht. Auch wenn sie befürchtete, dass dies erneut Charles’ Unwillen weckte. Blackwell zog die Brauen hoch und suchte den Blick seines Freundes. Sie klang und wirkte wohl genau so begeistert, wie sie tatsächlich war, also gar nicht. Sie hakte sich widerwillig bei ihm ein. »Du wirst enttäuscht sein. Das Menü ist sicherlich deiner Zunge nicht würdig.«

»Ach, ich vertrage auch schlechte Mahlzeiten«, beteuerte Blackwell und zog sie weiter, als sie erschrocken stehen blieb. Sie hatte mit Charles gesprochen, was die vertrauliche Anrede eigentlich hervorragend bezeugte! »Solange die Gesellschaft ein Mindestmaß an Raffinesse aufweist.«

Es war für drei Personen gedeckt, demnach war zumindest dem Personal gesagt worden, dass der Hausherr daheim speisen wollte. Blackwell führte sie zu ihrem Stuhl, half ihr beim Platznehmen, umrundete die Tafel und schlug die Schwalbenschwänze seines Fracks hoch, um sich nicht darauf niederzulassen. Er glich einem Fasan. Eilig versteckte sie ihre Belustigung hinter der Serviette und wandte sich leicht ab.

»Was amüsiert dich, Charlie?«

»Ich bin lediglich fröhlich gestimmt, da ich nicht allein speisen werde, Charles«, gab sie zurück.

»Seit wann befinden Sie sich in London, Miss Bender? Oder darf ich Charlie sagen? Miss Bender ist tatsächlich … sehr umständlich auszusprechen.«

»Versuchen wir es doch mit Mrs Bender. Ich bin sicher, dies kommt Ihnen wesentlich angenehmer über die Lippen.« Sie lächelte kühl. Ungeheuerlich, sie so brüsk zu bitten, ihren Vornamen verwenden zu dürfen. Da fühlte sie sich in ihrer abweisenden Haltung doch gleich bestärkt.

»Mrs … Bender?« Sein Blick schoss zu Charles, dann zurück zu ihr. »Ist noch umständlicher. Charlie hingegen ist fast schon geläufig.«

»So? Sie dürfen gern meinen Vornamen verwenden, Lord Blackwell, wenn Sie im Gegenzug meine Augen schonen werden.« Sie war sich sicher, dass es nie dazu kommen würde, schließlich war Grau bereits die gedeckteste Farbe, die sie je an ihm gesehen hatte.

Das Grinsen verwischte und er runzelte die Stirn. »Leider verstehe ich nicht …«

»Grün, Blake«, unterbrach Charles ihn. »Ich fürchte, Charlie ist bieder.«

Ha! Sie unterdrückte den Ausruf, obwohl seine Meinung über sie absolut falsch war. Allerdings hatte sie schon vor langer Zeit aufgehört, ihn zurückgewinnen zu wollen. Sie waren Zwillinge, aber keine Einheit. Sie waren grundverschieden und es war besser, sich keine Illusionen darüber zu machen, welchen Stellenwert sie für ihn besaß.

»Grün?« Blackwell schaute an sich herab. »Oh.« Dann legte sich der Blick aus seinen verunsicherten Augen auf sie. Er rutschte von ihrem Gesicht ab und blieb wohl in ihrem Dekolleté hängen. Entrüstet biss sie die Zähne aufeinander. »Sie tragen nur Braun?«

»Nein.«

Erleichterung huschte über seine Miene.

»Auch Aubergine, Schwarz und ein sehr dunkles Grün oder Blau.«

Er klappte den Mund zu und nickte, während er nach seinem Weinglas griff. »Wie trostlos.«

»Wie das Leben.«

»Witwe?«

Charlie zuckte zusammen und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen.

Blake hielt ihren Blick selbst dann noch, als sie ihre Worte an ihren Bruder richtete. Das Gespräch verlief unerwartet. Sie war biestiger als angenommen und es erwies sich als schwierig, seine Neugierde zu stillen. Trotzdem konnte er sich nicht von ihr losreißen. Irgendetwas an ihr zog ihn fürchterlich an, und dabei war er sich bewusst, wie unhaltbar allein der Gedanke war, ausgerechnet Interesse an Mrs Charlotte Bender, der biederen, rüden Schwester seines Freundes, zu haben.

»Verzeih, Charles, hätte ich gewusst, dass du Gäste haben wirst, wäre ich auf meinem Zimmer geblieben. Es ist besser, wenn ich mich zurückziehe. Bitte genießen Sie das Dinner in Bender House, Lord Blackwell.« Sie erhob sich, wodurch er gezwungen war, ebenfalls auf die Füße zu kommen.

Sie knickste.

»Charlie, setz dich.« Charles griff nach ihrem Ellenbogen. »Es ist wahrlich keine unangemessene Frage und du kannst nicht ewig trauern.« Er drückte sie wieder auf ihren Stuhl herab. »Gavin starb vor acht Jahren.«

Blake nickte verwundert. Das war eine Ewigkeit in Trauer und … »Sie haben sehr früh geheiratet.« Und auch noch einen Verwandten. Hatte er deshalb nie etwas von ihr gehört?

»Durchgebrannt.« Charles schlug die Serviette aus und bedeutete dem Butler, aufzutischen. »Gavin war ein guter Kerl, aber ein Heißsporn.« Er schüttelte den Kopf. »Na ja. Schauen wir lieber in die Zukunft. Hast du vor, an der Sitzung am Dienstag teilzunehmen? Heute wurde heiß diskutiert …«

Charlie behielt den Blick auf ihren Teller gesenkt. Kein Wort verließ ihre Lippen, bis sie sich zum Ende des Dinners erneut verabschiedete.

»Ich nehme an, du hast nichts dagegen, uns Charlies Gesangskünste zu ersparen? Sie ist gnadenlos unbegabt.« Charles seufzte. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht.« Sie knickste.

Blake schaute ihr nach. Sie verschwand durch die Tür.

»Wollen wir nach oben gehen? Oder doch noch Browns frequentieren?« Charles deutete zur Tür. »Oder ist dir nach einer Zigarre?«

»Nein.« Er folgte ihm durch das Haus und ließ sich vor dem Kamin in Charles’ Arbeitszimmer nieder. »Ist sie immer so still?«

»Ich sehe sie nie.« Charles reichte ihm ein Glas Scotch und stieß mit seinem eigenen dagegen. »Und möchtest du dich tatsächlich über Charlie unterhalten? Frauen, fein, aber Charlie?«

»Vermutlich nicht.« Wenn man bedachte, welche Worte sie für ihn fand, wenn sie nicht gerade stumm blieb, war es wohl besser, Charlie aus seinem Gedächtnis zu streichen. Allerdings … »Was hast du mit ihr vor? Soll sie auf ewig dein Hausgeist sein?« Gast! Er riss die Augen auf und wollte sich korrigieren.

Charles lachte schallend. »Hausgeist, ja, so kommt sie mir manchmal vor. Sie ist da, aber auch wieder nicht. Sie verstellt Bücher oder die Tinte verschwindet, aber zu Gesicht bekomme ich sie eigentlich nicht.«

»Vermutlich sähest du sie, wenn du hier dinieren würdest.«

»Vermutlich.« Charles drehte sein Glas im Kreis und schaute dabei zu, wie sich die Lichtreflexe im Alkohol brachen. »Nur will ich das? Sie ist immer so.«

»Still oder bissig?«, fragte Blake nach und musste grinsen. Ja, es war unangenehm, sich ihren Worten ausgesetzt zu sehen, aber ebenso erfrischend. Wann hörte er schon Kritik? Oder ein aufrichtiges Wort? Selbst seinen Schwestern traute er zu, dass sie ihm schmeichelten, anstatt ihm seine Fehler vorzuhalten.

»Beides. Sie ist nicht auf den Kopf gefallen, aber eine Unterhaltung kann man dennoch nicht mit ihr führen. Sie ist auch nicht nett anzusehen oder zur Berieselung durch Musik zu gebrauchen. Ich weiß nicht, was Gavin so an ihr faszinierte.«

»Vermutlich kannst du es nicht sehen, weil du ihr Bruder bist.«

Charles schnaubte.

»Sie ist jung und hübsch genug, um eine zweite Ehe eingehen zu können. Du solltest dir also überlegen, ob du sie für den Rest deines Lebens in deinem Haus herumgeistern haben möchtest oder nicht.«

Der Freund runzelte die Stirn. »Sie fällt nicht auf.«

»Noch nicht. Früher oder später willst du eine Braut heimführen, dann wird es sicher haarig.« Zumindest, wenn Lady Bender ihre Schwägerin als Bürde auffasste oder sich nicht mit ihr verstand. »Aber das ist deine Angelegenheit. Eine Vogelscheuche am Tisch sitzen zu haben, ist für mich eben ein Graus. Braun. Dunkelgrün. Wie schrecklich eintönig!«

Charles lachte. »Oh ja, ich könnte mir keine bunt gemusterte Lady an meinem Tisch vorstellen und du stößt dich an brauner Kleidung!«

»Nun, Geschmäcker sind verschieden, nicht wahr?«

Bender House, Bryanston Square, Marylebone, London, 1821

Charlie schaute aus dem Fenster. Er ging einfach nicht. Sie wartete bereits zwei Stunden lang und bisher war nicht einmal seine Kutsche vorgefahren. Sie nahm ihr Buch auf und ließ es nach wenigen Zeilen wieder sinken. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie war aufgebracht. Gavin fand nicht häufig Platz in einem Gespräch, nicht einmal in jenen mit seiner Mutter war er oft thematisiert worden.

Natürlich dachte sie an ihn. Zumeist bevor sie einschlief, da in diesen Momenten ihre Einsamkeit greifbar wurde. Schmerzhaft und eindringlich, wie eben in dem Augenblick bei Tisch, in dem Blackwell ihre Witwenschaft aufgezeigt hatte.

Sie war einsam, und da war es gleich, ob sie sich in Kent aufhielt und die Schwiegermutter pflegte oder hier in London. Sie kannte doch niemanden. Anstatt ein Mädchenpensionat zu besuchen, war sie zu Hause unterrichtet worden, und als es Zeit gewesen war, in die Gesellschaft eingeführt zu werden, war sie mit Gavin durchgebrannt. Es hatte sich richtig angefühlt, und noch heute wollte sie es nicht als Fehler sehen, ihrem Herzen gefolgt zu sein.

Hufe schlugen auf Stein und sie beugte sich eilig vor. Aus dem Haus fiel gerade genug Licht, um Blackwell die Stufen hinabtänzeln zu sehen. Er stieg in die Kutsche, die sich in Bewegung setzte und aus ihrem Blickfeld verschwand.

Charlie stand auf, zog die Gardinen zu und begab sich ins Bett. Das niederbrennende Feuer warf flackernde Schatten bis auf ihre Decke, da sie die Vorhänge, die ihr Himmelbett umgaben, nicht zugezogen hatte. Sie mochte keine Dunkelheit. Die Sehnsucht in ihr nahm dann überhand und ihre Fantasie spielte ihr Streiche. Die Decke fühlte sich dann schon mal an, als streichle man ihre Haut. Ein Luftzug erinnerte sie an einen Kuss, und das Bedürfnis nach Nähe, nach einer realen Berührung, wurde unerträglich.

Charlie schloss die Augen, aber die Ruhe wollte sich nicht über sie ausbreiten. Da war etwas, was sie bereits den ganzen Tag verfolgte. Vermutlich hatte sie sich eine Erkältung eingefangen, da sie zu lange die nassen Sachen am Leib getragen hatte. Ein Frösteln lief über ihren Körper und sie kuschelte sich tiefer in ihre Decke. Eine Strähne kitzelte ihren Nacken und sie wischte sie fort.

Am Morgen war es Blackwells Atem gewesen, der sie gekitzelt hatte, als er sie umarmt und den Schleier herabgeklappt hatte. Sie zog die Schultern hoch, da sie erschauerte. Die erste Umarmung seit acht Jahren und sie hatte ihn fortstoßen müssen.

Ihre Augen brannten. Das war nicht gerecht. Sie vergrub das Gesicht in ihrem Kissen, damit es ihre Schluchzer verschluckte. Es tat weh. Ihre Sehnsucht nach einer simplen Umarmung, nach etwas Zuneigung und Nähe. Aber viel mehr schmerzte, dass es keinen Weg gab, ihr Bedürfnis zu stillen. Sie war allein und sollte es für immer bleiben.

Bender House, Bryanston Square, Marylebone, London, 1821

Charlie betrat den Morgenraum und blieb wie vor eine Wand gelaufen stehen.

»Charles.« Die Gardinen an seinem Fenster waren wie an jedem Morgen zugezogen gewesen, daher hatte sie angenommen, dass er noch nicht auf den Beinen war.

»Guten Morgen. Setz dich.« Er deutete auf den Platz ihm gegenüber. Carter servierte ihm sein Frühstück und die Morgenzeitung lag gebügelt neben ihm auf dem Tisch.

Sie trat näher und ließ sich auf dem Stuhl nieder, den er ihr zugewiesen hatte. Eine Tasse Tee wurde vor ihr abgestellt.

»Wünschen Sie Ihr Frühstück, Mrs Bender?«

»Ja, bitte, Carter.« Sie rang die Hände auf dem Schoß. »Wie überraschend, dich anzutreffen.«

»Ich konnte nicht schlafen.« Er zuckte die Achseln. »Mir gingen zu viele Dinge im Kopf herum.«

»Aha.« Sie hielt sich zurück, ihn nicht nach der Art dieser Dinge zu fragen.

»Ich will dich nicht ewig hier herumgeistern haben.« Er seufzte und nippte an seinem Tee. Er verzog das Gesicht und pustete dann in sein Getränk.

Charlies Nägel bohrten sich in ihr Fleisch. »Oh.« Es gab keinen anderen Ort, an dem sie bleiben konnte, und dies wusste er auch.

»Aber ich kann dich auch nicht drängen, flügge zu werden, nicht wahr?« Sein Blick sprang nachdenklich zu ihr.

»Flügge? Charles, ich war bereits aus dem Haus. Unglücklicherweise starb Gavin und …« Die Stimme versagte ihr.

»Ja. Immerhin hast du keine Kinder.«

Was er als glückliche Fügung sah, stürzte sie bisweilen in tiefe Verzweiflung.

»Mehr«, fügte er hinzu. »Was ich sagen will: Du kannst dir einen Gatten suchen. Dann bist du wieder aus dem Haus und kannst Kinder haben.« Er nickte. »Der Plan gefällt mir immer besser.«

Ihr nicht. Sie griff nach ihrer Tasse und nahm einen Schluck Tee, um sich zu beruhigen. »Wie stellst du dir das vor?« Würde er ihr wöchentlich einen Kandidaten an den Dinnertisch setzen und schauen, wie sie sich vertrugen?

»Du kannst uns zu einigen Veranstaltungen begleiten. Blake ist sich sicher, dass du schon jemanden finden wirst, wenn du lächelst und den Mund hältst.« Charles musterte sie kritisch. »Vielleicht hat er recht.«

Sie atmete tief durch. Sie hätte ihn häufiger schlagen sollen. Blackwell, nicht Charles, obwohl sie durchaus den Drang verspürte, auf ihn einzuprügeln. »Oh.«

»Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Oh?« Er verdrehte die Augen. »Nun, irgendwem wirst du schon gefallen.«

Sie senkte den Blick. Gavin hatte sie gefallen.

»Nur heul nicht ständig.«

Sie sah ihn an, obwohl die Tränen tatsächlich bereits in ihren Augen brannten.

»Niemand möchte sich mit einer Frau beschäftigen, die gleich weinend davonläuft, wenn man ihr eine einfache Frage stellt.« Charles seufzte verdrossen. »Und etwas Farbe ist vielleicht wirklich nicht verkehrt. Sosehr ich gegen grelles Gelb oder diesen schrecklichen Grünton plädieren muss, könnte dir …« Er musterte sie angestrengt. »… Blau stehen?«

Sie trug Blau, nur eben ein tiefes Marineblau. »Meine Ausstattung ist nicht dazu gedacht, unter Menschen zu sein.«

»Ja, das sagte Blake auch.« Er verdrehte die Augen. »Hausbacken und unmodern. Nun, ich habe Tante Clara angeschrieben, dass sie sich um deine Ausstattung kümmern soll. Bitte übertreibe es nicht.«

Charlie nickte. Die Aussicht, neue Kleider zu bekommen, ließ sie völlig kalt, und auch die Ankündigung, bereits in der nächsten Woche ihr Debüt geben zu sollen, bewirkte keine Gefühlsregung. Hausbacken und unmodern.

Sie war nie zuvor so gedemütigt worden, denn sicherlich hatte Charles keine Bresche für sie geschlagen und jedes uncharmante Wort abgenickt.

Bender House, Bryanston Square, Marylebone, London, 1821

»Lass mich sehen«, forderte Lady Pennington und öffnete ungeniert Charlies Kleiderschrank. Sie betrachtete den Bestand und wandte sich ihr dann mit überaus ernster Miene zu. Sie war die jüngere Schwester ihrer Mutter und damit zwar keine Unbekannte, aber eben auch keine Vertraute. »Desolat.«

»Es war ausreichend.«

Tante Clara schüttelte den Kopf. »Für deine Verbannung vielleicht. Ich könnte Bender immer noch windelweich schlagen.«

So hatte sie es nicht gesehen, wollte darüber aber auch nicht streiten.

»Ich hätte nicht übel Lust, ihm eine gepfefferte Rechnung für eine angemessene Garderobe an die Brust zu schlagen!« Tante Clara stapfte zur Kommode und zog die Schubladen auf. »Kläglich!«

Charlie ließ sich auf die Fensterbank sinken. »Wenn ich eine Alternative hätte, ließe ich ihn nicht über meine Zukunft entscheiden.«

»Oh nein!« Die Tante drängte sich neben sie und legte die Arme um sie. »Es ist endlich mal die richtige Entscheidung! Er hätte dich gleich nach London holen sollen, mit neunzehn hättest du viel bessere Chancen gehabt. Nun solltest du zumindest genießen, was London zu bieten hat.«

Charlie ließ sich vorsichtig auf die Umarmung ein. Tränen stürmten ihre Augen und sie konnte sie nicht zurückhalten, sosehr sie es auch versuchte.

»Schhh, meine Kleine.« Tante Clara rieb über ihren Rücken. »Es gibt keinen Grund zur Traurigkeit.«

»Ich bin allein.« Sie schniefte. »Und manchmal sehne ich mich so nach …« Sie biss sich auf die Lippe.

»Oh, aber das soll doch behoben werden. Bender stattet dich aus und dann findest du einen netten älteren Herrn, der dich auf Händen tragen wird.«

»Alt?«, quietschte sie entsetzt und drückte sich von der Tante fort. »Warum denn alt?«

Lady Pennington zuckte die Achseln. »Jüngere Männer wollen eine Jungfrau. Einem Witwer ist das meist egal.«

Es lief Charlie eiskalt den Rücken hinab.

»Am Ende ist es gleich, Charlotte.« Tante Clara griff nach ihren Händen und drückte sie. »Nachts ist es dunkel und du schaust dir deinen Gatten schließlich nicht entblößt an, bevor er das Bett mit dir teilt.«

Sie musste an Gavin denken. Sie hatte ihn gern angeschaut, wenn er zu ihr ins Ehebett gekommen war, und andersherum war es ebenso gewesen. Wenn sie ihren Gatten ausgezogen nicht anziehend fand, war dann vielleicht auch der Rest nicht so, wie sie es mit Gavin gewohnt war?

Tante Clara tätschelte ihre Wange. »Keine Sorge, man gewöhnt sich auch daran.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, murmelte Charlie. Ein anderer Mann sollte sie berühren? Allein die Vorstellung ließ ihren Magen hüpfen.

»Du warst noch sehr jung, Charlotte, und Gavin sicherlich bemüht, dir das Ehebett schmackhaft zu machen. Es wird anders sein, aber man kann an jedem Mann Gefallen finden.« Röte stieg der Tante in die Wangen und sie stand eilig auf, um sich erneut Charlies Schrank anzuschauen und die Kleider darin zu kommentieren.

»An jedem Mann?«, griff Charlie auf. Blackwood tauchte vor ihrem inneren Auge auf, aufgeplustert in all seinen schillerndsten Farben. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«