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Mitten im Sommerloch des Jahres 1988 kommt es zu einer spektakulären Geiselnahme: In der Hansestadt Bremen wird ein ganzer Linienbus gekapert. Die drei Verbrecher halten die Fernsehnation in Atem, geben Interviews in Live-Sendungen, posieren für Fotografen mit gezückter Waffe. Im Verlauf der mehrstündigen Irrfahrt wird ein italienischer Junge erschossen. 12 Stunden in Bremen, die ein Schlaglicht auf Pannen und Fehlentscheidungen in der Polizeiarbeit und vor allem auf die Rolle der Medien werfen.
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Seitenzahl: 197
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Die Geiselnehmer
von
Jürgen Alberts
Impressum:
Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency
Foto: fotolia.de
© 110th / Chichili Agency 2014
EPUB ISBN 978-3-95865-055-8
MOBI ISBN 978-3-95865-056-5
Urheberrechtshinweis:
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Kurzinhalt
Mitten im Sommerloch des Jahres 1988 kommt es zu einer spektakulären Geiselnahme: In der Hansestadt Bremen wird ein ganzer Linienbus gekapert. Die drei Verbrecher halten die Fernsehnation in Atem, geben Interviews in Live-Sendungen, posieren für Fotografen mit gezückter Waffe.
Im Verlauf der mehrstündigen Irrfahrt wird ein italienischer Junge erschossen.
12 Stunden in Bremen, die ein Schlaglicht auf Pannen und Fehlentscheidungen in der Polizeiarbeit und vor allem auf die Rolle der Medien werfen.
23:20:28 h: »Ist das konkret, dass eine Geisel erschossen worden ist?«
23: 21:01 h: »Ja, das ist konkret.«
23: 21:06 h: »Herzlichen Glückwunsch.«
Aus dem Funkprotokoll vorn I7. August 1988
»Falsche Entscheidungen hat es nicht gegeben, aber einen Mangel an richtigen. « Polizeipräsident Ernst Dieckmann.
11:10 Uhr: Erste fernmündliche Mitteilung aus Nordrhein-Westfalen, dass Bremen als möglicher Zielort der Gladbecker Geiselnehmer in Betracht kommen kann. Der Anruf wird von Polizeioberkommissar Günther im Lagezentrum entgegengenommen.
»Frühstückspause«, sagte Rapka und lenkte den weißen Audi an die nächste Imbissbude. Er wollte polnisch essen, die gute Krakauer.
»Von mir aus«, erwiderte Kuhlebert missmutig. Jeden Morgen das gleiche Ritual. Wenigstens einmal könnten sie zu McDonald's fahren. Aber Hermann Rapka war am Steuer. Das ließ er sich nicht nehmen.
»Mit viel Senf, wie immer, Herr Präsident!« Die Frau am Wurststand kannte ihre Stammkunden. Sie wusste, wen sie freundlich bedienen musste und wem sie lustlos die pappigen Pommes auf die Theke knallen konnte.
Bernd Kuhlebert bestellte eine doppelte Cola, er bekam die stark gesalzene Wurst sonst nicht hinunter.
Frau Soltan versah ihren Dienst an dieser Würstchenbude seit mehr als fünfundzwanzig Jahren. Eine Stunde vor Arbeitsbeginn stellte sie den blankpolierten Grill an, scheuerte die Glastheke mir scharfem Chlorreiniger, die Kunden liebten Sauberkeit. Punkt 10 Uhr ging die Klappe auf. Dann standen dort der Käptain, sein versoffener Freund Ayatollah und die rotäugige Hilde und warteten auf ihr Frühstück. Sie hatten den Stand schon wieder verlassen, wenn Rapka und Kuhlebert in Erscheinung traten.
Seit die beiden Polizisten zum Mobilen Einsatzkommando versetzt worden waren, hatte sich ihr Dienst wesentlich verändert. Sie trugen Zivil. Auf dem Lehrgang war Rapka auferlegt worden, mindestens fünfzehn Kilo abzuspecken. Das war ihm gelungen. Er hatte es seinem Beifahrer Kuhlebert zu verdanken, dass man ihn beim MEK überhaupt akzeptierte. Schon seit dreizehn Jahren saßen sie zusammen auf dem Bock. Kuhlebert wollte nur mit seinem wesentlich älteren Kollegen die Beobachtungsaufgaben übernehmen, weil er sich an dessen Macken gewöhnt hatte.
In Rapkas Personalakte stand, dass er in seiner Ausbildung versehentlich einen Schäferhund erschossen hatte. Das war zwar lange verjährt, doch der Vermerk haftete. Gelegentlich gab Rapka seinem Beifahrer Kuhlebert einen heftigen Schlag auf die Schulter. »Das haste gut gemacht, mein Junge.«
Von den drei Aufgaben des Mobilen Einsatzkommandos: Aufklärung und Überwachen möglicher Tatorte, Observation und Fahndung auf dem Gebiet der Schwerstkriminalität mit hohem Gefährdungsgrad, Vorfeldbeobachtung, traute man den beiden Polizisten nur die letzte zu. Auf dem Dienstweg und im persönlichen Gespräch war ihnen mitgeteilt worden, dass sie sich trotz Lehrgang und Versetzung zum MEK erst zu bewähren hätten. Kuhlebert nahm das gelassen, Rapka ärgerte sich darüber maßlos. »Nun bin ich bald dreißig Jahre bei der Truppe, und dann soll ich mich noch mal bewähren. Die spinnen da oben!«
»Extra viel Ketchup«, sagte Frau Soltan und wischte sich den Schweiß vom Handrücken. »So mögen Sie doch die Pommes, nicht?« Sie kniepte Kuhlebert zu.
Der Fünfunddreißigjährige hatte es ihr angetan. Sie wusste, dass er ledig war. Es gefiel ihr, wenn er mal seinen mürrischen Kollegen zurechtwies. Rapka hatte meist schlechte Laune und ließ es seine Umwelt auch wissen Einmal waren die beiden Polizisten angezeigt worden. Wegen Körperverletzung im Dienst. Sie hatten einen Mann vertrimmt, den Hauptkommissar Lindow einvernehmen wollte. Es gab nicht nur ein Dienstaufsichtsverfahren, sondern auch eine Verhandlung. Damals erschienen sie beide in Zivil vor Gericht, Rapka im Sonntagsanzug, Kuhlebert mit weißem. Rollkragenpullover und dunkelblauem Jackett. Das Verfahren endete mit einem Freispruch. Sie erhielten Beifall im Gerichtssaal. Von ihren Kollegen.
»Ich glaube, es piept«, sagte Kuhlebert und ging zum Wagen.
»Lass es piepen, Junge, wir haben Pause. Die können doch nicht mitten in meine Wurst piepen.« Rapka lachte laut. Frau Soltan schloss sich an. Sie hätte es lieber gesehen, wenn sie mal einen Augenblick mit Kuhlebert allein gewesen wäre. Schon lange hätte sie vor, ihn zu einem deftigen Spießbraten nach Hause einzuladen.
11:19 Uhr: Telefonische Mitteilung an das Lagezentrum, dass sich die Geiselnehmer mit zwei Geiseln auf dem Parkplatz Dammer Berge befinden.
»Hast du eine Ahnung, was eine Meerkatze ist?« fragte Piet Mews. Er legte den vierten Gang ein und beschleunigte den Mercedes auf 120 km/h.
»Eine Katze, die schwimmen kann«, antwortete Hanne, »oder eine besonders leckere Fischart. Was weiß ich.«
»Würdest du bitte, mal nachsehen? Ich melde mich wieder.«
Der Fotograf legte den Hörer des Autotelefons auf die Halterung. Einer von den Aufträgen, die ihm Spaß machten. Für die bunte Seite. »Mach uns ein schönes Bild von der Meerkatze, die ist entlaufen. Wollen wir groß mit aufmachen!« Bevor man ein Bild von einer entlaufenen Katze machen konnte, musste man sie finden Die Anhaltspunkte waren mehr als vage. Piet Mews Hatte gerade sein zehnjähriges Jubiläum gefeiert. Ein Kunststück, als freier Fotograf zehn Jahre gut über die Runden zu kommen, zehn Jahre den Trick zu beherrschen, Auftraggeber zufrieden zu stellen, immer bereit zu sein, Kompromisse in Kauf zu nehmen, zehn Jahre Politikerporträts zu knipsen, immer die gleichen, langweiligen Gesichter. Zehn Jahre Industriefotografie und aktuelle Bildberichterstattung. Die Feier zum Jubiläum verlief sehr feucht. Vor zehn Jahren hatte ihm ein Kollege geraten, sich einen an ständigen Beruf zu suchen, der Markt biete keine Chance, als freier Fotograf zu überleben. Piet Mews hatte es geschafft. Der Kollege nicht.
Das Telefon summte. Es war Hanne.
»Meerkatze, Cercopithecus, Gattung aus der Familie der Schmalnasen und der Unterfamilie der Hundsaffen, schlank gebaute Tiere von zierlicher Körpergestalt mit schlanken Gliedmaßen, feinen kurzen Händen, mit langen Daumen, langem Schwanz ohne Endquaste, weiten Backentaschen und großen Gesäßschwielen Reicht das? Hab ich im alten Meyers Konversationslexikon gefunden.«
»Toll, danke Was wurde ich ohne dich sein? Küsschen.« Piet Mews spitzte die Lippen In diesem Augenblick überholte ihn ein blauer Mercedes.
»Hast du das possierliche Tierchen denn schön vor der Linse?« fragte Hanne. Sie kannte Piet erst seit wenigen Monaten. Er war mit ein paar Fotos in die Werbeagentur gekommen, in der sie arbeitete. Sie hatte ihm Torte angeboten.
»Keine Sorge. Einen Affen finde ich immer!« Mews gab einen weiteren fernmündlichen Liebesbeweis ab und legte auf. Gut, dass er dem Redakteur nicht zu verstehen gegeben hatte, dass seine zoologischen Kenntnisse gleich Null waren.
Wenige Minuten später verließ er die Autobahn und fuhr nach Lesum, einem nördlichen Stadtteil von Bremen.
Seit er das Autotelefon hatte einbauen lassen, war er besser zu erreichen, konnte unterwegs Aufträge entgegennehmen, war noch mehr verfügbar als zuvor. Die Anschaffung hatte sich längst bezahlt gemacht. Piet Mews wusste, dass er sich den Neid seiner Kollegen zuzog. Erst zehn Jahre auf der Piste und schon erfolgreich. Das störte einige Konkurrenten.
Er erkannte die Meerkatze an den Gesäßschwielen. Rot aufgequollene Fleischklöpse.
Piet Mews stoppte den Wagen. Drehte die Seitenscheibe herunter und nahm die Kamera in die Hand. Schon die ersten Bilder gefielen ihm gut. Das Äffchen saß auf einem gelben Kasten der Deutschen Bundespost und flohte sich. Wie auf dem Präsentierteller.
Die Seitenstraße war leer. Kein Bürger auf dem Steig. Piet Mews verließ den Wagen, um mit dem Normalobjektiv näher heranzukommen.
Er schoss vier Bilder. Dann wurde die Meerkatze aufgeregt. Hob das Köpfchen und sah in die Richtung des Fotografen. Wunderbar. Das war die Einstellung, die er gesucht hatte. Ein waches Gesicht. Mews legte die Kamera in den Wagen und versuchte die Meerkatze zu fangen. Aber mit einem Sprung erreichte das Äffchen einen Apfelbaum.
Mews hatte zwar seine Fotos, aber das genügte ihm nicht. An der Straßenecke war ein Obstladen, in dem er drei Bananen kaufte. Eine aß er hastig auf. Die zweite schälte er und kehrte zu dem Affen zurück.
Die Meerkatze hatte sich noch etwas höher in den Baum zurückgezogen, konnte aber der Banane nicht widerstehen. Vergeblich versuchte der Fotograf, das Äffchen von hinten zu fangen. Mit der dritten Banane lockte er das Tier in seinen Wagen. Nun hatte er Foto und Objekt. Das Telefon summte.
Es war ein Redakteur der Weser-Nachrichten: »Hast du gehört, dass die Gladbecker Geiselgangster auf dem Weg nach Bremen sind?«
Mews sah auf seine Beute, die gerade dabei war, die Telefonschnur anzuknabbern. Hoffentlich fahren sie vorbei, dachte er und sagte: »Bleib dran.« Der Kollege hatte ausgezeichnete Verbindungen zur Polizei. Mews hielt mehr auf Distanz.
Im Tierladen wurde die entlaufene Meerkatze mit großer Freude begrüßt. Wie eine alte Bekannte. Mews fragte den Besitzer, ob er ein paar schöne Fotos von dem Tier haben wolle. Bevor der alte Zoohändler antworten konnte, war die Meerkatze wieder entlaufen. Sie hatten in der Aufregung vergessen, die Ladentür zu schließen.
Mews fuhr zurück in sein Labor. Die Redaktion wollte ein Schmuckfoto für den Aufmacher, da konnte er schlecht erneut auf Affenjagd gehen.
11:22 Uhr: Die Polizeiführung in Gladbeck ersucht die bremische Polizei, die Tankstellen Langwedel an der Bundesautobahn A27 und Grundbergsee an der Bundesautobahn A1 durch Sondereinsatzkräfte (SEK) abzudecken. In zwei weiteren Telefonaten um 11:30 Uhr und 11:44 Uhr übermittelt die Polizeiführung zwei mögliche Anlaufadressen der Täter in Bremen-Nord, in der Rekumer Straße und Am Fillerkamp, später eine Adresse im Lämmerweg.
An diesem Morgen war Hauptkommissar Lindow voll guter Absichten ins Präsidium gefahren. Am Wochenende sollte sein kleines Büchlein mit Polizeiwitzen erscheinen. Ein Empfang wurde vorbereitet, den der Pressesprecher zum wichtigsten Ereignis des Jahres erklärte. Es sei ja nicht nur so, dass Polizisten interessante Hobbys hätten, sondern an diesem Büchlein könne man sehen, dass die Polizei durchaus in der Lage sei, über sich selbst zu lachen. Es sollte eine wunderbare Public-Relations-Aktion werden. Der Pressesprecher hatte die regionalen Zeitungen beliefert, mit Sperrvermerk, damit niemand vorpreschte. Und jeder Zeitung, gleich ob es sich um die Weser-Nachrichten, die tageszeitung oder ein Anzeigenblatt handelte, hatte er exklusiv einen Polizeiwitz zugeteilt. »Nur Sie werden diesen Witz in Ihrer Zeitung drucken«, fügte er handschriftlich hinzu.
Lindow war noch aus einem anderen Grund so gut gelaunt. Er stellte bei der morgendlichen Kalenderdurchsicht fest, dass er weniger als fünfzehn Monate den täglichen Weg in die Mordkommission antreten musste. Was für eine Aussicht! Wenn er die unüberschaubare Menge an Überstunden abrechnete, konnte es vielleicht sogar nur noch ein Jahr sein. Die Skatfreunde hatten schon vorsichtig angefragt, ob dann ihr gemeinsamer Termin gefährdet sei. Lindow versicherte ihnen, dass Skat zu heilig sei, als dass seine Pensionierung etwas an ihren Treffen ändern könnte. »Im Gegenteil, ihr müsst mir dann aus dem Tollhaus berichten. Ich will ja nicht wie der Franz jeden zweiten Tag auf der Matte stehen und betteln, ob es eine schöne Leiche für mich gibt.« Fritz Pinneberger, Marianne Kohlhase, seine Freundin und der Kollege Karl Schlink waren beruhigt. Wolfgang Lindow war ein guter Verlierer. Nicht nur im Skat. Der Hauptkommissar nahm den langsamen Beamtenaufzug in den ersten Stock. Er hatte an diesem Vormittag versucht, etwas über den Mordfall Sammer herauszubekommen. Eine verwickelte Geschichte. Ein Mann war tot in seiner Wohnung aufgefunden worden. Mit einem großen Loch im Kopf. Es gab keine Tatwaffe. Nur wenige Blutspuren. Keine Fingerabdrücke. Alle Türen und Fenster waren verschlossen und nicht durch äußere Gewalt beschädigt. Es hatte kein Kampf stattgefunden. Seit Wochen rätselten sie an diesem Verbrechen herum. Lindow bekam diese Fälle auf den Tisch. Der Einzelgänger ins der Mordkommission. Er liebte die verzwickten Fälle. Bisher stand nur eines fest: Der Mann war nicht beraubt worden, in der Wohnung lagen mehr als fünfzigtausend Mark, in verschiedenen Währungen.
Als Lindow sein Büro betrat rochen die Akten. Niemand hielt es für nötig, die Fenster zu öffnen. Nicht mal im August.
Er ging zu seinem Schreibtisch, studierte die eingegangene Post. Seit bekannt war, dass er seine Sammlung von Polizeibriefmarken aus aller Welt auf einer Auktion versteigern lassen wollte, bekam er Briefe von eifrigen Sammlern. Der eine war an dieser, der andere an jener Marke interessiert. Aber Lindow wollte einen Sammler finden, der alle dreihundert Stück kaufte. Vielleicht konnte er das Polizeimuseum in Miami für seine einzigartige Kollektion interessieren.
»Was rausgefunden?« Fritz Pinneberger steckte den Kopf herein.
»Ja«, antwortete der Hauptkommissar, »ich weiß genau, wie der Sammer es gemacht hat.«
Pinneberger stutzte. »Und wie?« Lindow war zuzutrauen, dass er das Rätsel lösen konnte.
»Sammer hat sich mit einem dicken Hammer ein Loch in den Kopf geschlagen und ihn dann im Mullschlucker versenkt.«
Lindow öffnete die beiden Fensterflügel.
Pinneberger zeigte ihm den deutschen Gruß und ließ den brummigen Skatbruder allein.
Bevor er sich die Akte Sammer hervorholte, pinnte Lindow den Einkaufszettel an die Schreibtischlampe. Helga hatte nicht nur vermerkt, was er zum Wochenende beitragen musste, sondern auch, welche Lebensmittel sie einkaufte. In der Mitte war ein Strich gezogen. Jeder von ihnen musste sieben Teile einkaufen. Seine Frau war in dieser Beziehung sehr korrekt.
Das Telefon schrillte mitten hinein in die Überlegung, ob er vorzeitig zum Mittagessen in die Pfanne gehen sollte. »Kommen Sie ins Lagezentrum, Lindow, gehen Sie nicht über Los, ziehen Sie keine viertausend Mark ein, sondern begeben Sie sich direkt hierher.«
Einen Teil der guten Absichten für diesen 17. August konnte er vergessen.
12.32 Uhr: Zwischen dem Einsatzleiter in Gladbeck und dem leitenden Kriminaldirektor in Bremen findet ein Gespräch statt, in dem über das Einsatzkonzept gegen die Geiselnehmer informiert und abgesprochen wird, dass die Gesamteinsatzleitung weiter in Gladbeck liege und der Bremer Polizeiführer sich mit seinen Kräften unterstellen solle.
Die Geiselnahme begann als Banküberfall. Am Dienstag, dem 16. August 1988, um 7.40 Uhr stellten zwei Männer ein gestohlenes Motorrad vor einer Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck-Rentfort ab. Die Bank lag im Innenhof eines Einkaufszentrums. Kurz vor acht Uhr wollten der 34-jährige Kassierer Reinhold Alles und die 23jährige Kundenberaterin Andrea Blecker das Gebäude betreten, als die beiden Männer, die sich maskiert hatten, sie in den Eingang drängten. Ein irakischer Arzt, Dr. Ali Kemmuna, sah, wie Reinhold Alles, einer seiner Patienten, hinter der Innentür der Schalterhalle kniete und die untere Sperre der Tür verschloss. Mit einer Pistole im Genick hielt ihn einer der Männer in Schach. Über Notruf 110 alarmierte der Augenzeuge das Polizeiamt Gladbeck. Im Einsatzvordruck hieß es:
»16. August 1988; 08:04 Uhr, Anrufer: Dr. Kemmuna, Einsatzgrund: Banküberfall gegenwärtig, Person bewaffnet, Einsatzort: Deutsche Bank, Schwechater Straße 38.«
Der diensthabende Polizist schickte zwei Streifenwagen los.
Der erste Funkspruch erreichte zwei Beamte des Streifenwagens Herta 13/21. Sie kontrollierten einen Lastwagen, der liegen geblieben war. Ihre Aufgabe: die Rückfront der Bank zu sichern. Sie fuhren los. Ohne Martinshorn, um kein Aufsehen zu erregen. Schalteten das Blaulicht hundert Meter vor dem Tatort aus und fuhren zur Bankfiliale. Mitten ins Blickfeld der beiden Täter.
Ein nachrückender Polizeihauptmeister erreichte mit den Kollegen von Herta 13/20 den Tatort. Wie im richtigen Kino sprang er, mit einer Maschinenpistole bewaffnet, hinter einen Blumenkübel, um Deckung zu suchen. Die beiden Täter waren Zuschauer dieser Aktion, die schräg vor dem Eingang der Bank stattfand.
Hinter der Bank fand eine dritte Polizeistreife das abgestellte Motorrad, eine rote Honda 250 mit geknacktem Lenkradschloss. Als die beiden Männer auch diese Polizisten entdeckten, änderten sie ihre Absichten.
Der Banküberfall wurde zur Geiselnahme.
Über Notruf nahmen sie Verbindung zur Polizei auf und stellten ihre Forderungen: 300 000 DM, ein Fluchtauto, vom Typ BMW 735i und den zweiten Tresorschlüssel. Die Täter wussten, dass der Kassierer nur dann den Tresor öffnen konnte, wenn der Filialleiter ihm den zweiten Schlüssel aushändigte.
Vor der Bank rüstete die Polizei auf: Dutzende von Schutzpolizisten, fast die komplette Gladbecker Kripo, Scharfschützen, Überrumpelungsspezialisten aus Essen, Fachleute für Beobachtung, und Verfolgung aus Münster und Köln. Die Verhandlungsführer kamen aus Dortmund. Die Polizei drängte die Schaulustigen vom Tatort und evakuierte Frauen und Kinder aus den Wohnungen, die über der Filiale lagen. Auch der St.-Franziskus-Kindergarten wurde geräumt.
Einer der Geiselnehmer feuerte einen ersten Schuss auf einen beigefarbenen Personenwagen der Kripo.
Die Täter waren schwer bewaffnet: eine Selbstladepistole Modell »Colt Government«, Kaliber neun Millimeter Luger, Trommelrevolver »Highway Patrolman«, Kaliber .357er Magnum; 350 Schuss Munition; ein Kampfmesser mit 20 Zentimeter langer Klinge, Rambo-Stil.
Zwei Stunden nach Beginn des Überfalls brach die Geisel Reinhold Alles zusammen. Der Hausarzt Dr. Kemmuna informierte die Polizei, dass sein Patient an Herzrhythmusstörungen leide. Auch die weibliche Geisel Andrea Blecker war seelisch kaum belastbar, wie ihre Mutter mitteilte.
Im Kundenraum der Bank telefonierten die Geiseln mit ihrem Vorgesetzten sowie mit den Nachrichtenredaktionen des Westdeutschen Rundfunks und der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Fast von Beginn an waren die Medien eingeschaltet.
Kriminalhauptkommissar Doerks gab gegen elf Uhr den Geiselnehmern eine Telefonnummer, unter der er als Gesprächspartner ständig zu erreichen war.
DOERKS: Wen spreche ich jetzt von den beiden Herren?
TÄTER: Ja, wen wohl?
DOERKS: Ja, einer hat gesagt; ich soll ihn »Eh« nennen.
TÄTER: Ja, ja, genau ...
DOERKS: Egon, vielleicht, Egon?
TÄTER: Lass, dir einen schöneren Namen einfallen.
DOERKS: Ernst, Erwin. Erwin ist gut.
TÄTER: Lass mal bei Egon sein.
DOERKS: Okay. Gut, sach ich Erwin. Ich wollte eigentlich mal so'n bisschen von Mensch zu Mensch mit Ihnen sprechen. Wir ham uns die Sache hier überlegt. Ihr habt ja eigentlich das alles nicht gewollt, was da eingetreten ist.
TÄTER: Sag mal, bist du am Spinnen, du Pimpf!
Immer wieder wurde der Hörer aufgelegt. Das Gespräch unterbrochen. Mal rief Doerks an, mal ein Täter.
DOERKS: Mit deiner Einstellung, mit deiner, entschuldige, wenn ich das so sage, passt vielleicht nicht zu dir, aber vielleicht lachst du darüber, mit Ethik und Moral. Haste davon mal was gehört?
TÄTER: Moral, wat is dat denn?
DOERKS: Ja, Moral.
TÄTER: Hab ich nie gehört. Hab keine Moral …
DOERKS: Du bist ja auch geboren worden, von einer Mutter. Du bist doch irgendwann mal …
TÄTER: Ach, Scheißmutter…
DOERKS: …im Arm gehalten worden, zärtlich. Du bist mal getauft worden, du bist mal zur Kirche gegangen und so was alles.
TÄTER: Ich zur Kirche? Bei dem Himmelskomiker, was soll ich denn da?
Einige Stunden später wusste Kriminalhauptkommissar Doerks, wie einer der beiden Täter hieß.
DOERKS: Ja, bist du doch der Hans-Jürgen?
RÖSNER: Ja.
DOERKS: Hast mich ganz schön linken wollen.
RÖSNER: Na, ich musste aufpassen, nich.
DOERKS: Also soll ich dir was sagen. Mann, du bist doch ein blöder Kerl, du.
RÖSNER: Nö, bin nicht blöd.
DOERKS: Wärste nur auf das eingegangen, was wir dir geboten haben.
RÖSNER: Ne, ne, ich hab elf Jahre hinter mir und diese dreckige Justiz, ne.
DOERKS: Soll ich dir was sagen, Junge, du hast das hinter dir, aber sonne Latte hast du doch gar nicht vor dir!
RÖSNER: Ne, die haben mich kaputtgemacht da drin! Und ich gehe keinen Tag mehr da rein. Ich hab mir das geschworen: Inne Kiste einmal irgendwann geh ich drauf, egal. Ne.
Das Angebot des Staatsanwaltes, sechs Monate Gefängnis, wenn Degowski und Rösner sich ergeben, schlugen die Täter aus. Sie forderten 300 000 DM und einen schnellen Fluchtwagen
Mehrere Rundfunksender und Zeitungsreporter machten Interviews mit den Tätern, weil die Telefonnummer der Zweigstelle nicht gekappt wurde. Rösner sagte einem Journalisten der Westdeutschen Allgemeinen: »Wir haben zwei dicke Pusten im Moment in der Hand und wenn da irgendwat unternommen wird, wat mich in Gefahr bringt und meinen Kumpel, dann is vorbei, dann klink ich aus, dann gibt dann oben ein Peng inne Birne, und dann wern wir wohl alle sterben.«
Die Polizei suchte Zugriffsmöglichkeiten, während die Verhandlungen über Telefon liefen. Lageskizzen wurden ausgebreitet: Einstieg über das Dach oder die Fenster. Mit Mikrofonen durch die Rohre der Klimaanlage konnten sie die Gespräche der Täter mithören. Allerdings nur bruchstückweise: Es wurde diskutiert, ob die Polizei mit einem Panzerwagen durch die Glasfront in den Kassenraum brechen sollte. Blendschockraketen für ein Ablenkungsmanöver wurden herangeschafft. Immer wieder schossen die Täter aus dem Gebäude oder gegen die Decke der Bank.
Die Geldübergabe fand am späten Nachmittag statt. Ein nur mit Badehose bekleideter Polizist musste den Geldboten spielen, die Banknoten wurden in Klarsichtbeuteln transportiert. Er legte sie nicht am Eingang ab, sondern ein paar Schritte davor. Rösner war damit nicht einverstanden und forderte über Telefon, dass die Beutel ganz an die Tür herangeschoben wurden. Mit einem Besenstiel schob der Polizist das Geld in die gewünschte Position. Der Kassierer kroch auf allen vieren an die Tür, am Hals mit einem Band gefesselt, das mit einem Elektrokabel verbunden war, öffnete sie und zog die Tüten mit 300 000 DM herein.
Auf die gleiche Weise erhielten die Täter den zweiten Tresorschlüssel. Sie räumten den Tresor leer, verstauten das Geld in einer Sporttasche.
Die telefonischen Verhandlungen über das Fluchtauto dauerten weitere drei Stunden.
In dieser Zeit stattete das Mobile Einsatzkommando Essen einen Audi 100 aus. Versteckte Mikrofone für die Gespräche im Wageninnern, ein Peilsender für die Verfolgung durch Hubschrauber und eine Fernsteuerung, mit der die Motorzündung ausgeschaltet und das Fahrzeug gestoppt werden konnte.
Um 21.47 Uhr verließen die Täter die Bank. Die Hände der beiden Geiseln waren mit Elektrokabeln vor dem Bauch gefesselt, wie an einer Hundeleine. Rösner hielt den Kassierer in Schach, Degowski drückte seinen Revolver der Kundenberaterin an den Hals.
Freier Abzug. Unter, Blitzlichtgewitter der Fotografen. Vor laufenden Fernsehkameras. Rösner am Steuer: Auf der Rückbank Degowski mit den beiden Gefangenen.
12.47 Uhr: Die Geiselnehmer passieren mit ihrem Fahrzeug, Mercedes-Benz 230, Kennzeichen: E-ZY 395, die Kontrollstelle Wildeshausen auf der Bundesautobahn A1. Im Polizeirevier 22, Bremen—Blumenthal, wird ein Einsatzabschnitt-Ort eingerichtet.
Dem Friseur wäre beinah die Brennschere aus der Hand gefallen. Der Bürgermeister und Senatspräsident ließ sich über die Schönheiten des Sommerloches aus.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich es dieses Jahr genieße. Da braucht keine Sonne zu scheinen. Von mir aus kann es den ganzen Sommer regnen. Ich liebe Regen, ganz bestimmt. Von mir aus könnte das Sommerloch bis Weihnachten dauern. Im ersten Jahr nach der Wahl ist es besonders angenehm.«
Zweimal die Woche suchte der Bürgermeister, der den alten Manitou abgelöst hatte, seinen Friseur auf, um sich für die öffentlichen Auftritte pflegen und legen zu lassen. Seine Wellen waren nördlich getrimmt.
Der Friseur, dessen kleiner Laden für die Zeit des hohen Besuches geschlossen blieb, musste nur zuhören und bereit sein, die Launen des obersten Bürgers zu ertragen.
»Das Sommerloch ist zugleich die Ruhe vor und die Ruhe nach dem Sturm. Die Basis ist in Urlaub. Da quäkt keiner rum. Die halben, und Viertelbürgermeister haben Pause. Von daher ist nichts zu erwarten Die Senatorenrunde dreht Däumchen, die meisten sind mit ihren Kindern außer Landes. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich das genieße. Noch besser wäre es, wenn die Zeitungen sechs Wochen, ach was, drei Monate nicht erscheinen würden. Dann hätte ich wirklich Ruhe.«
Der Friseur gehörte zwar der Regierungspartei an, aber der Bürgermeister wusste nicht, dass er vor Jahren Freundschaft mit Klaus Watermann geschlossen hatte, der inzwischen bei der Bremer Ausgabe der tageszeitung arbeitete. Da floss manche Information ab.
»Im ersten Sommer nach der Wahl ist noch Schonfrist. Keiner muss zurücktreten, keiner wird öffentlich aufgeknüpft. Der erste Sommer ist der schönste. Findest du nicht?«
Der Friseur wusste, dass keine Antwort von ihm erwartet wurde.