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Die Medien im Jahre 2051. Der Kampf zweier Systeme. Wetten mit tödlichem Ausgang. Abenteuer zum Rande des Wahnsinns. Und darüber hinaus. Überwachung aller Bewegungen. Und Emotionen. Experimente mit Menschenmaterial. Endlos. Kein Ausweichen möglich. Panem et circenses in naher Zukunft. Von der scripted reality ins All der bösen Überraschungen. Todesfälle inklusive. EINSCHALTTOTE kreiert eine eigene Welt, auf die sich der Leser einlassen muss. Sie wird ihn nie wieder verlassen. Bis zur letzten Seite des Buches.
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Seitenzahl: 268
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Jürgen Alberts
Einschalttote
Krimi aus der Medienzukunft
Impressum
Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency
Foto: fotolia.de
© 110th / Chichili Agency 2015
EPUB ISBN 978-3-95865-736-6
MOBI ISBN 978-3-95865-737-3
Urheberrechtshinweis
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Die Medien im Jahre 2051. Der Kampf zweier Systeme. Wetten mit tödlichem Ausgang. Abenteuer zum Rande des Wahnsinns. Und darüber hinaus. Überwachung aller Bewegungen. Und Emotionen. Experimente mit Menschenmaterial. Endlos. Kein Ausweichen möglich. Panem et circenses in naher Zukunft. Von der scripted reality ins All der bösen Überraschungen. Todesfälle inklusive.
EINSCHALTTOTE kreiert eine eigene Welt, auf die sich der Leser einlassen muss. Sie wird ihn nie wieder verlassen. Bis zur letzten Seite des Buches.
Jürgen Alberts, Jahrgang 1946, Kriminalschriftsteller, lebt und arbeitet in Bremen und Las Palmas. Für seine fast 50 Romane erhielt er einige Auszeichnungen, zuletzt den Ehrenglauser des SYNDIKATS, dem er seit 1988 angehört. Zu seinen Werken zählen historische Romane wie "Landru" und "Fatima", Kriminalromane, darunter eine Serie von 10 Polizeiromanen, die in der Hansestadt Bremen spielen, und Reiseromane, die er zusammen mit seiner Frau Marita schreibt. Mehr unter: www.juergen-alberts.de
„Wo sind die Individual-Hubschrauber, die ihr uns versprochen habt?“
(W.S.Burroughs, 1969)
1
Die Eingangshalle des MOB ist vierzig Meter hoch. Die Wände aus Ferran, stahlgrau und basaltblau. Auf dem Fußboden Schriftzeichen aus allen Kontinenten und Archipelen. Die Beleuchtung auf Nacht geschaltet. Grelle Blendung. Sobald ein Mitarbeiter eintrifft, flammen hunderte Dioden Leuchten auf. Ein Gigantensaal, fensterlos. Überwachungskameras, Geruchssensoren, Selenzellen.
„Wo bleiben Sie denn?“
Der Satz klingt in seinem Kopf nach, seit mehr als 33 Minuten. In regelmäßigen Abständen repetiert. Körperscanner. Stillhalten. – Augendiagnose: Stillhalten. – Stimmerkennung.
„Willkommen, Jona Tan!“
Das wird sein Name für diesen Tag. Einen Tag, der mit einem großen Triumph aber ebenso mit einer schlimmen Niederlage enden kann.
„Wo bleiben Sie denn?“
Mit schnellen Schritten durcheilt er die Eingangshalle, ruft dem Rezeptionsroboter seinen Tagesnamen zu.
Dann steigt er in die T.
„KO ein!“, kommandiert der Lautsprecher.
Augenblicklich versinkt Jona Tan in Bewusstlosigkeit.
Die T schießt ihn nach oben.
In zehn Sekunden auf dreihundert Meter Höhe. Vorbei an den 50 Stockwerken, in denen Computer und Roboter arbeiten, vorbei an den unteren Chargen des MOB, vorbei an den Erholungsetagen, die mit Grünanlagen und kleinen Seen bestückt sind, vorbei an...
„KO aus!“
Jona Tan reckt sich, reibt über die Augen. Seit der letzten Linsen-OP hat er wieder Blitze im linken Augapfel. Die Künstliche Ohnmacht stimuliert jedes Mal sein Schmerzzentrum. Er muss diese Krankheit ernst nehmen, sonst erblindet er bald gänzlich.
Kaum hat er die T verlassen, ertönt wieder die metallische Stimme. Sein Persönlicher IT.
„Wo bleiben Sie denn, Jona Tan? Wir haben einen gespottet.“
Seit er diese Position innehat, kann er sich täglicher Präsenz nicht mehr entziehen. Alle seine Mitarbeiter arbeiten zuhause, müssen sich nicht im MOB einfinden, wenn ein call kommt. Schon mehrfach hat er versucht, mit den Leitenden darüber zu sprechen, ob man ihn nicht wenigstens zwei Tage pro Arbeitseinheit entbehren könne. Keine Chance, hieß es. Seine Position als I-Hunter erfordere...
Jona Tan eilt in die Schaltzentrale. Wie erwartet, keiner seiner Kollegen anwesend. Flimmernde Bildschirme, blinkende Leuchtdioden und ein screenmaster so groß wie eine Häuserwand.
Der weiße Fleck. Leicht zu spotten.
Ein rascher Blick über die gesamte Bildfläche.
Nur ein einziger weißer Fleck.
Keine Angaben, keine Datenbank, nichts.
Ein weißer Fleck. Ein Makel. Inmitten von leuchtenden Punkten.
Eine Bedrohung. White spots must be eliminated.
Jona Tan lässt sich die Koordinaten des weißen Flecks geben. Kein Zweifel, der Mann hält sich illegal in seinem Zuständigkeitsbereich auf, wenn auch an der Peripherie. SEKTOR 14, outskirts, beliebtes Versteck für Zielpersonen. Jetzt muss er eine Maßnahme ergreifen. Wie er das hasst. Ansopax oder Letaleinsatz?
Alle anderen Objekte auf dem Riesenschirm werden begleitet von leuchtenden Punkten. Grün für weibliche Objekte, rot für männliche. Wenn er mit dem lighter auf einen dieser Punkte geht, erscheinen sämtliche verfügbaren Daten über die Objekte: letzte Aufenthaltsorte, Hoffnungen, Kontobewegungen, Ängste, Erfahrungen und Zukunftswünsche inklusive. Rund zehntausend Daten reichen aus, ein Objekt einzustufen. Nicht zuletzt um herauszufinden, wie dessen Prognose ist. Die zu erwartete Lebensdauer einer Person ist eine der letzten nicht geklärten Desiderate des MOB.
„Was schlagen Sie vor, Jona Tan?“
Er starrt auf den Bildschirm.
„Was wissen wir? Ist es ein Mann, eine Frau?“ Er fragt, um Zeit zu gewinnen.
„Entscheiden Sie... jetzt!“
Der Befehlston seines Persönlichen IT, alarmiert.
„Ansopax“, antwortet Jona Tan. „Wir müssen jemanden an das Objekt heranspielen und es markieren.“
„Ihre Verantwortung.“ IT, ruppig wie immer. Eines Tages wird er ihn austauschen müssen. Tan überlegt, wie es dem weißen Fleck gelingen konnte, beide Chips aus dem Körper entfernen zu lassen. Ab dem 12.Lebensjahr wird jedem Objekt ein Datenchip im linken Arm implantiert, der ihn für alle Zeiten gläsern werden lässt. Bewegungsprofile, vollständige Datensätze, zehntausend Infos. In der letzten Zeit häufen sich die Fälle, in denen sich Objekte diesen Datenchip herausoperieren ließen. Sie werden als Staatsfeinde Nr. 2 geführt. Von dem anderen Chip wissen nur die obersten Etagen des MOB und deren geheimdienstliche Mitarbeiter in den Gebärstationen.
Der weiße Fleck auf dem screenmaster muss davon erfahren haben.
Sonst könnte ihn das MOB einer direkten Bestrafung unterziehen.
Jona Tan prüft das Umfeld.
Hat der weiße Fleck Kontakt mit jemandem?
Die Zielperson sitzt an einer Theke. Vor sich ein gelbliches Gesöff. Die Arme vor der Brust verschränkt. Alles genau zu sehen. In gestochen scharfen Bildern.
Zwei Stühle weiter eine Frau: 37 Jahre, Datendealerin, zweimal geschieden, Erfahrungen als Perlentaucherin, keine Kinder, Angst vor Massenveranstaltungen, Ausbildung in gods own continent, 3 Jahre Internierung wegen illegalen Infoschmuggel, Hoffnung auf den großen scoop, auf der Suche nach einem Geschäfts- und/oder Lebenspartner...
Sie sprechen nicht miteinander.
Jona Tan blättert durch die Datensammlung, die diese Frau für jeden I-Hunter gläsern werden lässt.
IT: „Wir kriegen so schnell niemand in seine Nähe! Ein Letaleinsatz ist sinnvoller!“
Jona Tan lehnt sich zurück. Fällt seinem IT nicht auf, dass auch dazu jemand in die Nähe gebracht werden muss... Letaleinsätze haben immer fatale Folgen, auch wenn es sich nur um einen weißen Fleck handelt. Es gibt Leute, die davon erfahren, Leute, die mit der Nachricht handeln, Leute, die sich empören – jeder Letaleinsatz schürt die Erregung unter den Objekten nur noch mehr.
„Nein, wir warten ab!“, sagt Jona Tan. In einer halben Stunde steht die Sitzung des BoC an. Dann muss er ein Ergebnis präsentieren. Die wollen keine halben Sachen. Speziell, wenn es um die Staatsfeinde der Kategorie 1 geht. Und um so einen handelt es sich bei jedem weißen Fleck. Immer wieder entwischen derartige Zielobjekte dem MOB. Wechseln den Kontinent. In Zeiten, in denen Reisen so teuer ist wie früher eine ganze Behausung. Sie verschwinden von den screens, als besäßen sie Tarnkappen. Tan kann nicht einmal sicher sein, dass es sich um einen seit langem gesuchten Staatsfeind handelt. Nur ein weißer Fleck, der hin und wieder erscheint.
Weiße Flecken eliminieren! Seit Wochen auf dem gläsernen Boden in der Eingangshalle zu lesen. In allen Sprachen, in denen die Mitarbeiter des MOB miteinander kommunizieren. Sogar in karelisch. Der screenmaster zeigt einen schwarzen Leuchtpunkt, der sich schnell auf das Gebäude zu bewegt, in dem sich das Zielobjekt befindet.
Der Agent Komataran33. Ausgerechnet, denkt Tan. Hatte er mit dem nicht beim letzten Einsatz große Probleme, als es um die verdeckte Aktion gegen eine Widerstandszelle im SEKTOR 34 ging? Damals hat er wild um sich geballert, zwei Tote, sieben Schwerverletzte, ohne nennenswerten Ertrag in bezug auf die endgültige Ausschaltung der Zelle?
Jona Tan nimmt Kontakt mit dem Mann auf.
„Du gehst an ihm vorbei, grüßt freundlich die Frau und schlägst ihm das Ansopax auf den Rücken, als würdest du einen alten Kumpel treffen. Verstanden?“
„Man hat mir gesagt: Letaleinsatz.“
„Ansopax hab ich angeordnet.“
„Hab ich nicht dabei.“
„Dann besorg dir welches, du...“
Tan vermutet, dass dieser Fehler nicht zufällig ist. Man leitet seine Anweisung nicht weiter. Will man ihn brüskieren? Er wird dem Board of Chancellors eine Antwort geben müssen, warum er nicht bereit war, den weißen Fleck augenblicklich zu eliminieren.
Wenn Ansopax an einer Zielperson haftet, hat sie noch sieben Tage zu leben. Das könnte sieben Tage zu lang sein. Niemand weiß, was dieser weiße Fleck als nächstes plant. Die Anschläge, die in immer rascherer Folge den Kontinent erschüttern, beschäftigen das Board seit Wochen. Das Thema steht auf der Tagesordnung an erster Stelle. Ansopax markiert jede Zielperson für die Überwachungsbildschirme violett, macht es möglich, sie zu verfolgen, ganz gleich auf welcher Insel oder welchem Kontinent sie sich bewegt. Vielleicht hat der weiße Fleck Hintermänner, Sympathisanten,, vielleicht führt er uns zu weiteren Staatsfeinden, vielleicht entdecken wir sogar eine bisher geheime Widerstandszelle - so will Tan seine Entscheidung begründen. Wenn sich erst mal herumspricht, dass in jedem Objekt zwei Chips stecken... Schon häufiger ist im BoC darüber spekuliert worden, welche Folgen es haben könnte...
„Noch zwanzig Minuten, Jona Tan.“
Er muss mit allen Mitteln versuchen, von dieser täglichen Präsenz wegzukommen: sein Persönlicher IT, der ihn an kurzer Leine hält, sein nerviger Befehlston, der enorme Zeitdruck. Vielleicht war es doch ein Fehler, die Beförderung, immerhin hat er mehrere Stufen auf einmal übersprungen, so widerspruchslos zu akzeptieren.
Der schwarze Leuchtpunkt.
„Hast du jetzt Ansopax dabei?“
Komataran33 japst, bekommt kaum Luft, muss sich wirklich beeilt haben.
„Sie tragen die Verantwortung“, presst er hervor.
„Wer sonst?“
Tan verfolgt auf dem screenmaster, wie sich der Agent der Theke nähert, ein bisschen zu offensichtlich, aber weder die Datendealerin noch das Zielobjekt scheinen Kenntnis von ihm zu nehmen.
Ansopax wurde im vorletzten Krieg mit dem Reich der Mitte entwickelt – eine biologische Waffe mit doppelter Nutzung: hochgiftig in ihrer Kurzzeitwirkung, bisher gibt es dazu kein Antidot, und problemlose Sichtbarmachung für sämtliche elektronischen Überwachungssysteme. Selbst auf seinem tragbaren micromaster wird Jona Tan ihn in Zukunft spotten können.
Der Agent stolpert.
Eine Knallcharge, dieser Komataran33. Hab ich ihm nicht gesagt, wie er es machen soll... Im letzten Moment klammert er sich an die Zielperson. Reißt sie samt Barhocker zu Boden.
Die Frau hilft ihnen hoch. Deutlich sichtbar: ihre Schadenfreude.
Sofort leuchten beide Personen auf.
Auch Komataran33 hat sich kontaminiert.
Das Hellviolett des Ansopax unterscheidet sich von allen anderen Farben auf dem Riesenschirm...
„Ein Letaleinsatz wäre einfacher gewesen“, bekommt Tan zu hören. Auf die Reaktionen seines Persönlichen IT kann er sich verlassen. Aggressiver Tonfall, was denn sonst.
Die Stigmatisierten stehen nebeneinander. Der Agent hat schnell das Weite gesucht. Neben seinem schwarzen Punkt leuchtet es hellviolett. Schade um den Mann, denkt Jona Tan. Auch dafür wird er sich rechtfertigen müssen. Agenten sind teuer in der Anschaffung, selbst wenn dieser ein nutzloser Trottel gewesen ist. Von ElektroRobotIndustries gefertigt. Halb Mensch, halb Maschine. Die Firma wird versuchen, Teile von ihm zu retten und wieder zu verwenden.
Tan kann hören, was die beiden miteinander sprechen. Der Sender ist platziert, wenigstens etwas hat Komataran33s Einsatz gebracht. Ihr Gespräch dreht sich um Leute, die in midtown arbeiten. Jona Tan scannt alle Namen, die erwähnt werden. Er stellt sofort fest, dass die zwei an der Theke sich schon länger kennen. Bei einem Letaleinsatz hätte er gar nichts über die beiden erfahren.
Zehn Minuten später ist die Sitzung des BoC.
2
„Wir wissen immer noch nicht, um wen es sich handelt, Jona Tan! Macht Sie das nicht nervös?“
„Sie sollten sich untersuchen lassen, warum Sie so zögerlich mit Staatsfeinden umgehen!“
„Auch beim letzten Mal haben Sie eine folgenschwere Fehlentscheidung getroffen. Der Anschlag auf die Peoples Bank geht auf ihr Konto. Schon vergessen?“ Jona Tan sitzt auf einem Drehstuhl und wendet sich den Mitgliedern des BoC zu, die auf unterschiedlichen Bildschirmen zugeschaltet sind. Die halten sich bedeckt, versteckt in ihren luxurehomes, und lassen mich die Drecksarbeit machen, denkt er.
„Laut Statistik haben wir einen Zuwachs an Staatsfeinden der 2. Kategorie von 7,5%. Dieser Trend ist außerordentlich bedrohlich!“
„Das Zielobjekt könnte zu einer Zeitbombe werden.“
„Sie lassen ihn laufen, ohne genau zu wissen, was er als nächstes plant.“
Nicht zum ersten Mal muss sich Jona Tan diese Vorwürfe anhören. Die Mitglieder des BoC reagieren verstört auf alles, was sich gegen das postdemokratische System wenden könnte. Ihr einziges Mittel: Letaleinsatz. Als würde der helfen, gärende Unruheherde im Keim zu ersticken. Eine viertel Stunde muss er sich die Beschwerden anhören, das Zielobjekt nicht umgehend ausgeschaltet zu haben. Tan hat sich angewöhnt, die BoC-Mitglieder sprechen zu lassen. Dann geht es um andere Bereiche, in denen dringender Handlungsbedarf besteht. Was machen die bestellten Programme von Jamie Jones? Wie weit sind die Arbeiten am Moskauhelm? Wann gelingt endlich der Durchbruch in Sachen Matrix der Lebenserwartung?
Jona Tan erfährt, dass die Projektleiterin der Forschungsgruppe Moskauhelm bei einem Testlauf gestorben ist. Ein schwerer Rückschlag für die Pläne des MOB. Die Frau, die sie ersetzen soll, hat wahrscheinlich nicht genügend Erfahrung, um das Projekt rechtzeitig fertig zu stellen. Auch die Programme des besten Inventers sind noch nicht auf Sendung gegangen – das postdemokratische System taumelt...
Auf seinem micromaster verfolgt Tan, wie sich die hellvioletten Punkte bewegen. Die Zielperson hat mit einer langen Umarmung die Datendealerin verabschiedet, nachdem er für beide die Drinks bezahlt hat. Wahrscheinlich dieses neumodische Zeugs Tamla, das in midtown Furore macht.
Jetzt verlässt er die Bar in Richtung Aufzug. Wie schade, dass er noch gar nichts über ihn weiß, denkt Jona Tan, aber er hütet sich diesen Gedanken laut zu äußern und ist froh, dass die BoC-Mitglieder sich jetzt mit anderen Fragen beschäftigen.
Als Jona Tan noch Kyle Wesley hieß und in gods own continent lebte, seine Ausbildung als I-Hunter liegt kaum mehr als zwei Jahre zurück, war seine Lieblingsbeschäftigung, in fremde Systeme und Netzwerke einzubrechen und dort Aufruhr zu erzeugen. Er war in der Lage, Sicherheitssperren und Zugangscodes zu überwinden. Als man ihn dabei erwischte, wie er die Datensammelstelle für Ex-Warriors torpedierte, wurde er vor die Alternative gestellt: Internierung für zehn Jahre ohne Zugang zu einem Rechner oder Integration in das postdemokratische System mit Versetzung auf einen anderen Kontinent inklusive einer neuen Identität. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht. Zehn Jahre auf sein Lieblingsspielzeug zu verzichten, kam für ihn jedoch nicht in Frage. Dazu war er zu gerne Nerd.
„Was meinen Sie, Jona Tan, sollten wir nicht das Experiment vorzeitig abbrechen?“
„Welches Experiment?“, fragt er, obwohl er genau weiß, wovon der Leitende des BoC spricht.
„Ihre Kräfte werden in den nächsten sieben Tagen gebunden sein, nur um diese eine Zielperson zu verfolgen... und dabei gibt es dringlichere Dinge zu erledigen.“
Welche, denkt Jona Tan? Ich bin doch euer wichtigster Spürhund, um die weißen Flecken zu eliminieren. Wer sonst sollte das für euch tun?
Aber auch diese Überlegungen behält er für sich.
Seit seinem rasanten Aufstieg im MOB hat er gelernt, dass es besser ist, die klügsten Gedanken zu verstecken und nicht aufmüpfig seine Meinung auszuposaunen. So gerne er das immer tat. Die Feiglinge im BoC, die das Sagen haben, trauen sich seit Jahren nicht mehr auf die Straßen, obwohl bei ihnen gar keine Gefahr für Leib und Leben besteht. Ihre Gesichter hat keiner je gesehen. Niemand weiß, wer in uptown regiert.
„Wir verkürzen die Lebensdauer dieser Zielperson um vier Tage. Wenn sich in den nächsten 72 Stunden nicht herausgestellt hat, was das Objekt vorhat, kommt es zum Letaleinsatz.“
Tan weiß, dass drei Tage viel zu kurz sind, um den Mann gläsern werden zu lassen. Er muss Agenten an ihn heranspielen, Datenbanken durchforsten, immerhin ist sein Gesicht jetzt bekannt und er kann mithören, was die Zielperson sagt, Tan braucht Iris-Werte, ausgefeilte Stimmanalysen, nicht nur sein gegenwärtiges Vorgehen ist interessant, wichtiger sind Vergangenheiten, ist er irgendwo bereits auffällig geworden, hat er Kontakte zu anderen weißen Flecken.
Als man Jona Tan als I-Hunter integriert hatte, wurde ihm häufig versichert, alle Objekte seien lückenlos erfasst. Durch die beiden Chips würde das MOB niemals die Kontrolle auch nur über ein einziges Objekt verlieren. Dann tauchten die ersten weißen Flecken auf und schon breitete sich Panik aus. Jedenfalls beim BoC.
„Geben Sie mir fünf Tage“, sagt Jona Tan. Er versucht es mit einem Deal. „In fünf Tagen krieg ich alles aus ihm raus. Umlegen lassen können wir ihn immer noch.“
„Ich verbitte mir dieses unbotmäßige Wort“, bekommt er umgehend zu hören. „In unserem postdemokratischen System will niemand jemanden umlegen lassen.“
Ach so. Jona Tan unterdrückt sein Mienenspiel. Auch diese Kunst hat er gelernt
3
Zwei Stunden später hat Jona Tan herausgefunden, dass es sich bei dem weißen Fleck um seinen Zwillingsbruder Kido handelt, der sich einer Gesichtsreformation unterzogen hat.
Die neue Kosmetechnik, die in goc entwickelt worden ist, erlaubt es jedem Zahlungsfähigen so auszusehen, wie er es sich erträumt. Wie die großen Stars aus Showbiz und Sport oder die einflussreichen Machthaber. Kosmetechnik macht es möglich, dass Dutzende Tony Romes herumlaufen, einem der bekanntesten Gesichter in midtown.
Kido stand seinem Bruder Kyle in den Künsten des Hackens in nichts nach, auch wenn er niemals so mutig war, irgendwo einzubrechen, um Chaos zu erzeugen. Kido hatte sich darauf spezialisiert, Lücken in Rechnersystemen aufzuspüren und diese Erkenntnisse profitabel zu vermarkten. Das Vermögen, das er im Lauf der Jahre angehäuft hatte, schien ihn in die Lage zu versetzen, sich eine neue Identität zu kaufen und zu reisen. Dass er ausgerechnet in einem meiner SEKTOREN auftauchen muss, denkt Tan. Konnte er nicht im Reich der Mitte landen? Oder auf einer der schönen Inseln, die von England übrig geblieben sind. Lauter kleine, äußerst warme Refugien für Betuchte.
Kido ist immer ein Träumer gewesen. Trotz seiner enormen struktur-informellen Begabung war er einer, der den ganzen Vormittag im Wald Ameisen beim Bau ihres Staates zuschauen konnte. Nachher hatte er eine Formel gefunden, mit der sich berechnen ließ, welche Wege sie krabbelten, um weitere Tannennadeln zum Bau ihres Staates herbeizuschaffen, wie die emsigen Tiere ihre Laufwege einhielten, ohne sich je in die Quere zu kommen. Ein Modell für die Steuerung komplexer Human-Massenbewegungen.
Wie kommt Kido dazu, sich die beiden Chips herausoperieren zu lassen? Er weiß doch genau, dass dies unmittelbar zur Hinrichtung führen kann. In goc ebenso wie auf anderen Kontinenten. Durch wen hat er überhaupt vom centerchip erfahren? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man Jona Tan die Frage stellen wird.
Der I-Hunter spürt, dass seine Erkenntnisse für ihn äußerst gefährlich werden können. Wenn er dem BoC verschweigt, was er herausgefunden hat, kann er selbst Opfer eines Letaleinsatzes werden. Wenn er es dem BoC mitteilt, wird man ihn verhören, wie viel er ab wann gewusst hat und ob er selbst die undichte Stelle in Sachen centerchip gewesen ist. Auf keinen Fall will er zulassen, dass...
Kido ist mit Ansopax kontaminiert, heilige Scheiße, fünf Tage Frist, verdammt, hätte ich das nicht verhindern können? Tan ruft die Daten des weiblichen Objektes auf, mit dem Kido in der Bar gesprochen hat. Vielleicht kann er diese Frau nutzen, mit seinem Zwillingsbruder Kontakt aufzunehmen. Es wäre viel zu gefährlich, selbst diesen Versuch zu wagen. Wenn ihn eine Überwachungskamera in der Nähe eines hellvioletten Punktes spottet... Einen Agenten einzuschalten, nach den Erfahrungen mit Komataran33, kommt kaum infrage.
Jona Tan lässt sich die Chancen ausrechnen, seinen Zwillingsbruder zu retten. Statt Kido setzt er den Namen einer schwedischen Killerin ein, die gelegentlich für das MOB gearbeitet hat. Die Chancen stehen äußerst schlecht.
Bei seiner Recherche, wann ein Antidot zu Ansopax gefunden wird, bekommt er eine Info, die ihn stutzig werden lässt: Keineswegs alle Opfer der Kontaminierung sind an dem Gift gestorben – die meisten wurden nach sieben Tagen zur Zielscheibe von Ex-Warriors, die als Kopfgeldjäger arbeiten und damit ihren aufwendigen Lebensstil finanzieren.
1
Magenrasseln. 7.74 nz. Shit. Er dreht sich auf die andere Seite. Streicht mit den Handballen über den geblähten Bauch. Shit. Drückt auf die Rippen. Irgendwas Falsches gegessen. Thorma, Kistona, Majolo. Wahrscheinlich Majolo. Diese verdammten Giftmischer. Shit. Warum kannst du nicht von diesem Fraß lassen? Wahrscheinlich wieder Durchfall. Die ganze Litanei, wie gehabt.
„Irma.“
Der Screen gegenüber dem Bett leuchtet auf. Eine junge Frau erscheint.
„Guten Morgen, Jamie.“
„Shit. Hab mir was gefangen.“
„Schlechtes Timing.“
Die Stimme seiner Persönlichen ist auf sonoren Alt eingestellt. IT spricht wie Greta Garbo.
„Kann mir das heute nicht leisten.“
„Ich weiß.“
„Brauch meinen Schlaf.“
„Zieh die Maske auf, ich schick dir was. Und nimm den Guanto. Ich lass dich durchs Labor laufen, mal sehen, ob du dir wirklich was gefangen hast.“
Jamie Jones stülpt den Handschuh aus Peleen über und zieht die Maske heran, die über seinem Bett baumelt. Atmet tief ein. Einmal, zweimal. Dann ist er weg.
Den Pieks in seinen rechten Zeigefinger spürt er nicht mehr.
8.18 nz. Kopfdruck, Zahnschmerzen.
„Irma.“
IT erscheint auf dem Screen. In einem froschgrünen Overall, die Haare noch feucht.
„Ausgeschlafen, Jamie?“
„Überhaupt nicht, könnte noch mindestens 24 Stunden gebrauchen.“
„Deine Werte sind o.k., keine Sorge.“
„Mach mir aber Sorgen.“
„Das Labor gibt Entwarnung.“
„Shit. Labor. Was wissen denn die schon... Die haben doch kein Magenrasseln... Jetzt spür ich wieder diesen Druck im Kopf.“
„Zieh die Maske auf, ich schick dir was.“
Jamie Jones nimmt die Maske.
Und weg ist er.
8.65 nz. Die Schmerzen sind weg. Dank Instantmed. Auch die Backenzähne spürt er nicht mehr.
„Irma.”
IT trägt eine durchsichtige Bluse, hat die Haare hochgesteckt, sie fährt sich über die Lippen.
„Jamie, wie immer?“
„Heute nicht. Brauch meine Kräfte.“
„Es würde dich entspannen. So kannst du nicht in das Meeting gehen.“
„Eine Partie Schach, komm ich am besten runter.“
„Willst du gewinnen?“
„Shit, was denn sonst!“
Jamie und IT spielen Blitzschach, in zwei Minuten ist alles vorbei. Ab und zu korrigiert sie einen seiner Züge, ohne dass er es merkt.
„Noch eine?“
„Muss jetzt aufstehen.“
„Tamla oder Soma?“
„Soma krieg ich heute nicht runter. Mach mir einen Doppelten.“
„Ist schon unterwegs.“
Beim Aufstehen spürt Jamie seine Erektion. Wäre vielleicht doch besser gewesen...
„Jamie, da steht etwas zwischen uns.“
IT legt die Bluse ab. Führt ihre Linke an den Busen, bis der Nippel steif wird, dann zwischen die Schenkel. Das Schamhaar leuchtet rötlich.
In vier Minuten ist er gekommen.
„Danke, Irma.“
„Für dich doch immer, Jamie.“
Während IT sich anzieht, trinkt Jamie den Doppelten.
„Verdammt, wieder kein Süßstoff.“
„Jamie, du darfst keinen Süßstoff.“
Der Screenin der Küche ist kaum kleiner als im Schlafzimmer. Die Persönliche kann in jedem Raum des Lofts angesprochen werden. Aber nicht nur in seiner Etage im achtzigsten Stock des Wohnturms. Überall wo es IT-Screens gibt. Auf der ganzen Welt. Wenn ein Schirm Jamies Stimme identifiziert, was 0,01 Sekunden dauert, taucht die Persönliche IT auf. Mal rotblond, mal blauschwarz, mal angezogen, mal nackt, ganz wie Jamie sie sehen möchte.
„Das Meeting ist um 3 tz. Jamie. Machen wir noch ein bisschen Training.“
„Shit. Brauch kein Training.“
„Du bist nicht gut drauf. Du willst es doch nicht vermasseln, oder?“
„Heute keine Folter.“
„Gerade heute, Jamie.“
IT sieht ihn streng an. Der Blick seines Vaters, kurz bevor er ihm eine Ohrfeige verpasst hat.
„Oder soll ich dir die lettische Krankenschwester schicken?“
Jamie geht widerwillig zu der Kraftmaschine, stellt sich auf die Fußstützen. „Hello Decadence“, tönt die Maschine.Metallene Bänder schlingen sich um Brustkorb, Arme, Hüften und Unterschenkel und ab geht’s. Zwölf Minuten Muskelarbeit, äußerst schweißtreibend.
Jamie wird schwindlig.
Als die Maschine ihn entlässt, rennt er ins Bad.
„Ich hab doch gesagt, ich hab mir was gefangen. Das verdammte Majolo.“
„Hast du noch was davon?“
„Im Frio.“
„Hol es raus, ich schick es ans Labor.“
„Im Bad ist kein Frio. Sitz auf dem Klo.“
„Das sehe ich, Jamie.“
Was für ein grausiger Start, tausend Meilen unter dem Meer. Das Meeting, diese verdammten Weichgriffel, die über Top oder Flop entscheiden. Als hätten die irgendeine Ahnung...
Wenigstens fällt sein Kontrahent aus, dessen Konzept war sowieso völliger bullshit. Aber wenn er selbst nicht in Form ist, kann es eine Vollpleite werden.
„Jamie, wir gehen jetzt noch mal die punchlines durch, o.k.?“
„Kenne meine punchlines.“
„Einmal mehr kann nicht schaden.“
„Lass uns lieber noch ein Spielchen machen. Shit“
„Jamie, du bist nicht bei der Sache. Heute gilt es und das weißt du auch.“
IT hat schon wieder die Kleidung gewechselt. Sie ist im Ornat einer Ordensschwester des Internates in Ephrata Cloister, wo Jamie fünf Jahre getriezt wurde.
2.91 tz. Jamie korrigiert vor der Kamera sein Aussehen. Der Hemdkragen blitzweiß, bestickt mit seinem Monogramm, metallene Ecken, der Anzug aus Cuman, in dezentem Silberweiß, Krawatte Texasstil. Obwohl die Stiefel wahrscheinlich kaum im Bild sein werden, hat er sie angezogen. Fühlt sich besser an...
„Jamie, keine Sonnenbrille diesmal. Sieht blöd aus! Und lass den Stetson weg.“
„Der ist mein Markenzeichen.“
„Aber für die hiesigen controllers...“
„Die Weichgriffel wollen einen aus goc und sie kriegen einen aus goc mit Stetson und sunglasses.“
Jamie nimmt ein paar Züge aus der Inhalationsmaske. Ein sanftes Aufputschmittel auf der Basis des früheren Prozac, gemischt mit ein paar Gran mexikanischen suenos dorados.
„Fühlst du dich besser, Jamie?“
„Könnte nicht schlimmer sein, Irma. Am liebsten würde ich das Meeting canceln.“
„Die Herren sind schon versammelt. Ich schalte gleich um.“
Jamie Jones macht es sich in seinem Sessel bequem, legt die Stiefel auf den gläsernen Schreibtisch. Eine Kamera nimmt ihn von der linken Seite. Jones stellt sich schlafend. Er wird die Weichgriffel das Fürchten leeren. Shit! Horror pur!!
x – o – x
Truck rot rattert durch eine Straßensperre, die Planken wirbeln durch die Luft. Ein Streifenwagen nimmt die Verfolgung auf.
Truck blau brettert durch ein Gartenlokal und rasiert das Gestühl. Der Koch schleudert ihm ein Hackbeil hinterher.
Truck schwarz schießt auf eine Leitplanke zu. Im letzten Moment schafft er die Kurve und schliddert auf die Landstraße zurück.
Truck gelb galoppiert durch Schlaglöcher, die Stoßdämpfer ächzen. Fast hätte es ihn auf dem ersten Kilometer aus dem Rennen geworfen.
Truck weiß fährt mit Hundertzehn durch eine Ortschaft und erwischt ein Ehepaar auf dem Zebrastreifen.
Das Zweihundertkilometerrennen ist gestartet.
Eine Hetzjagd über Landstraßen. Zwei- und mehrspurige Autobahnen sind tabu.
Truck schwarz plättet zwei Fahrräder und einen Roller. Ein Dreirad kann sich noch in Sicherheit bringen.
Truck gelb nimmt eine Kurve zu eng, knallt gegen Straßenschilder und landet in einem Bettengeschäft.
Truck weiß donnert durch zwei Ortschaften, lässt die Sirene aufheulen. Fußgänger spratzen zur Seite. Die geballten Fäuste lassen den Fahrer kalt.
Truck rot hat den Streifenwagen nicht abhängen können und beschleunigt auf einer kurvigen Straße, die bergauf führt. Der Streifenwagen setzt zu einem Überholmanöver an, wird zur Seite drängt.
Truck blau hat freie Bahn, bis er in ein Kiesbett gerät und in Schräglage zum Halten kommt. Die Räder drehen durch. Nur langsam kann er sich befreien.
Fünf Trucks, fünf Farben, ein Sieger.
Bisher zwei Tote.
Völlig demoliert nimmt Truck gelb die Fahrt wieder auf, an seiner Stoßstange flattert eine Steppdecke.
Truck schwarz hat links vorne einen Platten, das Rad eiert, der Fahrer verlangsamt die Fahrt nicht.
Truck weiß verbreitert einen Feldweg und kann gerade noch einem Mähdrescher ausweichen.
Die Polizisten zielen auf das Führerhaus von Truck rot, werden aber mit einem powerslide-Manöver gegen geparkte Autos gedrängt. Der Streifenwagen explodiert. Gibt es Tote?
Truck blau sprüht Kies nach allen Seiten, beschleunigt wieder auf Hundertzwanzig Km/h.
Dem Sieger winkt eine Prämie von einer halben Million.
Das Rennen dauert zwei Stunden dreißig.
Truck rot beendet seine Fahrt vorzeitig. An einer Friedhofsmauer.
Truck schwarz erreicht als erster das Hundert-Kilometer-Banner.
Truck gelb hat erheblich aufgeholt und liegt auf Rang drei.
Truck weiß biegt in die Hauptstraße ein und überfährt einen Motorradfahrer.
Truck blau liefert sich ein Rennen mit einem Sportwagenfahrer.
Die letzten fünfzig Kilometer müssen auf der gleichen Straße absolviert werden.
Bisher vier Tote.
Truck weiß hat die Nase vorn.
Gefolgt von Truck gelb.
Truck schwarz liefert sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Truck blau. Parallel rasen sie durch eine Einkaufsstraße. Niemand wird verletzt. Truck blau hat das Nachsehen und landet an einem Betonpfeiler.
Die Quoten steigen.
Kann Truck schwarz aufholen? Nur fünfhundert Meter hinter Truck gelb, der seinerseits Truck weiß angreift. Mit einem Schnellfeuergewehr.
Auf den letzten zwanzig Kilometer sind Waffen erlaubt. Allerdings keine Handgranaten oder Raketenwerfer.
In einem packenden Zweikampf versuchen sich Truck gelb und Truck schwarz aus dem Rennen zu werfen.
Truck weiß unterquert das Fünf-Kilometer-Banner.
Dicht gefolgt von Truck schwarz.
Truck gelb rast in eine Tankstelle und geht in Flammen auf. Dem Fahrer gelingt es brennend aus dem Führerhaus zu entkommen.
Finish. Auf breiter Landebahn. Beide Trucks beschleunigen auf Höchstgeschwindigkeit.
Das Feuerduell ist ohrenbetäubend.
Truck weiß reißt das Steuer herum und versperrt Truck schwarz den Weg. Der schiebt Truck weiß vor sich her.
Über die Ziellinie.
Sieger: Truck schwarz.
Tote: 8.
Ende. Over.
Wetteinnahmen: voraussichtlich 13,75 Millionen.
Fahrtzeit: 2 Stunden 17 Minuten. Rekord!
x – o – x
Auf dem wandgroßen Screen erscheinen fünf besorgte Mienen.
Fünf gegen eins. A real challenge.
„Das kann man nicht zeigen, niemals. Wie weit wollen Sie denn noch gehen?“
Jamie: „Gibt keine limits mehr, vorbei mit den Zwängen. All or empty, das ist die Alternative.“
„Ziemlich aufwändig so was zu drehen, Mr. Jones?“
„Nicht für uns.“
„Wie viele Folgen könnten Sie liefern von diesem... Trucker-Race?“
„So viele Sie ordern!“
„Das wird doch bald langweilig.“
„Glaub ich nicht. Sie haben ja jetzt noch schweißnasse Hände. Trucker-Race vereint genau das, was die Zuschauer sehen wollen: Action, action, action, verbunden mit direkter Beteiligung durch hohe Wetteinsätze.“
Die Herren haben Bedenken.
„Wo bitte wollen Sie Werbung unterbringen?“
„Wer sollte in diesem wahnsinnigen Umfeld überhaupt werben wollen?“
„Die Zuschauer wollen keine Werbung mehr sehen. Das ist das Neue an Trucker-Race. Wir verdienen das Geld mit den Wetten. Haben Sie die Einnahmen laufen sehen. Werbung ist abgefahren, grau, vorgestrig. Da können Sie noch so teure Filmchen ausstrahlen...“
„Aber die Toten müssten nicht sein! Ansonsten fand ich das ganz amüsant, nicht wahr?“
Drei Herren nicken Zustimmung.
Der GeneralManagingDirector fragt, wann sich der zweite Anbieter melden würde.
Einer der Herren erwidert, er könne sich das nicht erklären. Noch vor wenigen Tagen habe er persönlich mit Monsieur Sardó konferiert.
Jamie Jones schaltet sich ein. „Heute ist deadline. Unser Angebot gilt nur bis 7 tz. Sonst ziehen wir weiter.“
Der GMD: „Langsam, ganz langsam, Mr. Jones. Wir haben noch nicht entschieden.“
Aber irgendwann müsst ihr Weichgriffel euch entscheiden müssen, denkt Jamie.
Der GMD möchte die Alternative kurz referieren.
Die anderen Herren haben nichts dagegen, auch wenn sie lieber einen Piloten von Monsieur Sardó gesehen hätten.
„Also, es ist eine ganz neue Form des Surprise-TV, es gibt gar keine Sendungen mehr, sondern nur noch Überraschungen...“
Jamie Jones hört nicht mehr zu. Das Konzept ist älter als seine Fußnägel. Oma wird mit einem farbigen Enkelchen überrascht - Opa hat sich schon immer eine neue Herzklappe gewünscht, jetzt bekommt er eine - Vati trifft nach dreißig Jahren seinen verlorenen Sohn, ein Torwart wird mit einer Schokoladentorte überrascht, auf der die Anzahl seiner gehaltenen Elfmeter... grau ist gar kein Ausdruck für dieses Schnarch-ein-schnarch-aus-Konzept... Schlafgut...
„Also, es kann pro Tag hundert Schauplätze geben, die Kameras sind überall, eine 24-Stunden-Konferenzschaltung, irgendwo kommt es zu einer überraschenden Entwicklung und schon ist man live auf dem Sender, keine Nachrichtenstrecken, keine Features, keine Filme, sondern pausenlos surprise, das wird die Zuschauer bei der Stange halten, weil sie wissen wollen, wie es weitergeht. Beispiel: Erdbeben auf dem Archipel Sizilien, alles wackelt, stürzt zusammen, Leute laufen schreiend davon... oder eine Explosion im Archipel Moskau, irgendwo geht nach Jahren eine Atomruine hoch...
„Da werden unsere Zuschauer nicht dranbleiben“, wirft einer der Herren ein.
Der GMD gibt noch nicht auf, aber er stimmt zu, dass es besser gewesen wäre, Monsieur Sardó hätte für das Meeting rechtzeitig den Piloten geliefert.
Kann er aber nicht, denkt Jamie Jones. Gutes Timing eben.
Der GMD bittet um Abstimmung.
„Sie haben den Auftrag, Mr. Jones. Wir bestellen 50 Folgen von Trucker-Race.“
„Und wenn Sie weitere Vorschläge haben. Unsere Tür steht Ihnen offen.“
Das ist erst der Anfang, denkt Jamie.
„Gewonnen, Jamie“, flüstert IT.
Die fünf Herren werden im Sekundentakt ausgeschaltet.
„Sie stehen schwer unter Druck, Jamie. Die brauchen dich und deine Ideen.“
IT spielt auf die ständig sinkenden Einschaltquoten der vier supranationalen Stationen an.
Jamie Jones erhebt sich aus seinem Sessel.
Und riecht die Bescherung.
„Ich lass dir gleich ein neues Sitzmöbel reinstellen. Mit deinem Monogramm als Brandzeichen. Das hast du dir doch schon lange gewünscht, oder?“
„Danke, Irma.“
„Du könntest mich zur Feier des Tages auch mal bei meinem richtigen Namen nennen, Jamie.“
„Und der wäre?“
2
Dr. Susan Franck lässt sich verkabeln. An den Zehen, an den Unter- und Oberschenkeln, an den Hüften, im Brust- und Rückenbereich, am Nacken – Saugnäpfe mit Elektroden werden aufgesetzt – die Ohren mit Hörstöpseln verschlossen, die Augen werden mit einer E-Brille bedeckt. Der Mund wird sorgsam abgeklebt.
Das Team wünscht ihr viel Glück.