Mediensiff - Jürgen Alberts - E-Book

Mediensiff E-Book

Jürgen Alberts

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  • Herausgeber: 110th
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

K.O." heißt die neue Talkshow, die Michael Adler entworfen hat, um Feinde fürs Leben aufeinanderzuhetzen. Seitdem ein neuer Fernsehdirektor die Anstalt umkrempelt, sieht Adler in dieser Sendung seine letzte Chance, doch noch den Chefsessel der kleinen Fern-sehstation zu erklimmen. Schon die erste Ausgabe von "K.O." verspricht ein Spektakel: der Parteivorsitzende West trifft auf den früheren Schatzmeister Boysen, der nach stiller und stetiger Karriere ganz überraschend von seinem Posten zurückgetreten ist. Der Eklat ist vorprogrammiert.Schon nach drei Minuten fällt ein Schuss im nächtlichen Fernsehstudio. Obwohl der Mord auf offener Szene passiert, hat niemand etwas gesehen.

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Seitenzahl: 199

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Mediensiff

Kriminalroman

von

Jürgen Alberts

 

 

 

 

 

Impressum:

Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-061-9

MOBI ISBN 978-3-95865-062-6

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

 

 

Kurzinhalt:

„K.O.“ heißt die neue Talkshow, die Michael Adler entworfen hat, um Feinde fürs Leben aufeinanderzuhetzen. Seitdem ein neuer Fernsehdirektor die Anstalt umkrempelt, sieht Adler in dieser Sendung seine letzte Chance, doch noch den Chefsessel der kleinen Fernsehstation zu erklimmen. Schon die erste Ausgabe von „K.O.“ verspricht ein Spektakel: der Parteivorsitzende West trifft auf den früheren Schatzmeister Boysen, der nach stiller und stetiger Karriere ganz überraschend von seinem Posten zurückgetreten ist.

Der Eklat ist vorprogrammiert.

Schon nach drei Minuten fällt ein Schuss im nächtlichen Fernsehstudio. Obwohl der Mord auf offener Szene passiert, hat niemand etwas gesehen.

Man stürzt die Welt nicht um,

1

Zur besten Sendezeit, kurz vor Mitternacht, betraten die beiden Kontrahenten das abgedunkelte Studio. In angemessener. Entfernung. Noch hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Der Moderator in der Mitte. Auf keinen Fall wollte er die beiden bremsen. Showdown vor laufenden Kameras.

Der Oberbeleuchter dirigierte am Computer.

Die Kabelhilfen gähnten so laut, dass der Regisseur dazwischenging. Die Kameraleute erhoben sich.

»Wenn Sie sich bitte eins einprägen«, zischte, der Regisseur, »beim Auftritt müssen Sie exakt dort stehen, wo ich auf dem Boden die Kreuze markiert habe.« Er machte eine Pause. »Nur dann stehen Sie im Licht.«

Er nahm die beiden Kontrahenten an der Schulter und führte sie wie Schäferhunde an ihren Platz.

Die Maskenbildnerin, die auch beim Schminken nicht die Zigarette aus dem Mund nahm, hatte alle drei der vorgerückten Stunde gemäß etwas bleicher geschminkt. Als sollten sie in einem japanischen No-Spiel auftreten.

Der Moderator trug ein Jackett, das an die großen Shows der 50er Jahre erinnerte. Beiges Karomuster mit hellroten Streifen. Dies war seine letzte Chance. ‚K.O.‘ musste ein Erfolg werden.

»Kamera eins, hast du ihn drin?«

Müdes Kopfnicken.

Der Regisseur fuchtelte wild, mit den Armen, um darauf aufmerksam zu machen, wer der wichtigste Mann im Studio war.

Die Sendung, die an diesem Samstagabend zum ersten Mal ausgestrahlt werden sollte, war auf Krawall aus. Natürlich nicht so wie bei den bösen Privaten. Mehr Niveau. Mehr Schlagabtausch. Die Hunde sollten bellen und wenn möglich auch beißen.

Eine Redeschlacht ohne Regeln, ein Live-Talk ohne Limit. ‚K.O.‘ sollte Feinde fürs Leben zusammenbringen.

Der Moderator, nach dessen Konzept diese Sendung war, brauchte einen Sieg. Ganz gleich, wer von den beiden Kontrahenten zu Boden ging.

Die Politiker standen vor der schwachbeleuchteten Kulisse und blickten gezielt aneinander vorbei. Schon bei der Begrüßung hatten sie es vermieden, sich, die Hand zu geben. Ein kurzes Nicken. Mehr nicht.

Der Moderator registrierte es mit Freude.

Zwei Kampfhähne.

Alte Freunde. Neue Feinde.

Sie würden übereinander herfallen, würden Leichen aus den Kellern hervorholen und zur Schau stellen, sich nicht scheuen, den anderen zur Strecke zu bringen. Dazu war in den letzten Wochen zu viel geschehen. Weiße Westen bespritzt. Schmutzige Wäsche kilometerweise. Vorwürfe. Denunziation. Menschenjagd. Ein Sockelsturz stand bevor.

»Ich fände es gut, wenn Sie mit einem Lächeln hereinkommen«, sagte der Regisseur zu dem älteren der beiden, »das macht Sie sympathisch. Mit so einer verbissenen Miene verschrecken Sie uns die weiblichen Zuschauer.«

Der Moderator hasste diesen Regisseur, der nur Aufträge bekam, weil die festangestellten Hausregisseure nicht bereit waren, um diese Uhrzeit zu arbeiten. Die Dienstvorschriften machten Programm. Seit Jahren betrieb der Regisseur ein privates Studio, werkelte an Werbung, Pornos und Pop, ließ sich Sondereinsätze fürstlich bezahlen und schikanierte seine Mitarbeiter. Wer ihn kritisierte, flog. Der Moderator hatte versucht, diesen Regisseur für seine ‚K.O.‘-Sendung zu verhindern, hatte Briefe geschrieben, Aktennotizen angefertigt. Vergeblich. Auch die heftige Auseinandersetzung darüber, ob ‚K.O.‘ live gesendet oder einige Stunden vorher aufgezeichnet werden sollte, hätte der Moderator beinahe verloren. Er musste die ganze Hierarchie hinauftraben, um sein Konzept zu verteidigen. Immer wieder die gleichen Argumente. Wenn es nicht live ist, gibt es nach der Aufzeichnung regelmäßig Krach, weil einer der beiden Kontrahenten dies, der: andere jenes herausgeschnitten haben will. Die Aufzeichnung als Vorzensur.

Der Intendant hatte ein Einsehen, obwohl er sich nur ungern in Programmfragen einmischte. »Das machen meine Mitarbeiter schon richtig«, sagte er, bevor er die wesentlichen Fragen selbst entschied. Der neue Fernsehdirektor, der ‚K.O.‘ unter keinen Umständen live auf den Sender gehen lassen wollte, musste klein beigeben. Er hoffte darauf, dass der Moderator mit seinem Konzept ins Trudeln geriet. Oder dass die gewünschten Gäste ausblieben.

»Wenn Sie bitte jetzt auf Ihre Positionen gehen würden«, befahl der Regisseur. Er wartete darauf, dass die drei Herren seinen Anweisungen folgten. Dann zog er sich zurück.

Im Regieraum wurden Wetten abgeschlossen, ob ‚K.O.‘ sich länger als ein halbes Jahr im Programm halten würde oder nicht.

Als der Regisseur eintrat, verstummten alle Gespräche. Seine Wutausbrüche waren gefürchtet.

»Noch zwei«, zeigte der Aufnahmeleiter an.

Die Kontrahenten standen mehrere Meter voneinander entfernt. Beide hielten die Hände vorm Geschlechtsteil gefaltet.

In der Mitte der Moderator, der als letzter das Licht des Studios betreten sollte, nachdem die beiden Gäste von einer Geisterstimme vorgestellt worden waren.

Bei ‚K.O.‘ handelte es sich um kein neues Konzept. In den weltbestimmenden Fernsehnationen gab es ähnliche Sendungen. In den USA liebte man Moderatoren, die ihre Gäste so provozieren konnten, dass es zu Handgreiflichkeiten kam. Wenn jemand die Beherrschung verlor, stiegen die Quoten.

Es hatte einen schweren Konflikt in der Fernsehanstalt um den Vorspann gegeben. Drei Grafiker lagen sich in den Haaren, bemühten ihre Anhänger, damit ihre Lösung akzeptiert wurde. Fußtruppen, Freunde, Angreifer. Feinde. Am Ende entschied sich der Fernsehdirektor für eine Schriftlösung, Wort-Effekte. Die Sequenz mit den beiden Boxern, die ein Grafiker Raging bull nachempfunden hatte, wanderte ins Archiv. Nun platzten Worte auf einander. Ausrufezeichen als Kinnhaken.

Die Anfangsmusik.

Der Moderator zischte dem jüngeren der beiden Kontrahenten zu, er solle ins Scheinwerferlicht treten. Fast wäre der Auftritt verpatzt worden.

Fünfzig Sekunden.

Die Geisterstimme zählte Posten und Karrieresprünge auf, nannte Positionen und Kritik, Angriffsflächen, Schwachstellen.

Dann trat der andere Kontrahent hervor: Mit einem Lächeln, wie verordnet. Fünfzig Sekunden. Vorstellung: der Aussteiger, der kein Pardon kannte, aber alle Interna. Der Moderator drückte den rechten Zeigefinger zwischen seine Augenbrauen. Die heilige Stelle. Das machte er, um sich besser konzentrieren zu können. Eine Jin-Jindo-Lehrerin hatte ihm den Trick verraten.

Wenn diese Sendung scheiterte, konnte er sich nach einem neuen Posten umsehen.

‚K.O.‘ sollte die Gegner an einen Tisch bringen, die sich niemals mehr begegnen wollten.

Für die zweite Sendung gab es ebenfalls eine Krawallpaarung, die sich sehen lassen konnte: eine Sprinterin, die mehrere Jahre wegen Doping gesperrt war, und ihr Verfolger, ein Professor aus Köln, der sie zur Strecke gebracht hatte.

»Guten Abend, meine Damen und Herren, zum ersten Mal ‚K.O.‘, vielleicht nicht ganz zu der Sendezeit, die wir uns wünschen, aber dafür live aus Studio B. Es gibt keine Vorreden, keine…“

In diesem Augenblick krachte ein Schuss.

Von der Decke kam ein Echo.

Die Bildmischerin schaltete um.

Kamera eins schwenkte mit.

Fuhr ran. Großaufnahme, in schwachem Licht.

Der Verletzte, der sich zuckend bewegte.

»Aus«, schrie der Regisseur über das Studio-Mikrofon. Alle standen wie gebannt.

Niemand reagierte.

Der Oberbeleuchter schob die Regler hoch.

Nun war der Angeschossene gut zu sehen.

»Aus! Aus! Aus!« Die Stimme des Regisseurs überschlug sich.

Die Bildmischerin brachte die Studio-Totale.

Eine Kabelhilfe sprang ins Bild und drehte den Verletzten auf die rechte Seite.

2

Auf dieses Gespräch hatte Michael Adler lange gewartet. In Deckung gegangen. Im Unterstand eingegraben. Nicht vorgeprescht. Auf dem angestammten Platz ausgeharrt. Wer zu früh startet, den bestrafen die Hierarchien.

Ein früher Morgen im leeren Sender. Der Nachtportier döste. Ausgedehnt. Er gab Adler den Büroschlüssel und nickte gleich wieder ein. Tiefer Schlaf der Büromaschinen. Zwei Staubsauger unterwegs. Irgendwo klingelten Telefone.

Adler ging über den langen Flur. Noch gestern die heftigen Auseinandersetzungen, der bitterböse Streit über die letzte Sendung. Grottenschlechter Journalismus. Aber die jungen Spunde wollten über falsches Licht im Studio reden, über schwache Pullover und aufgeblähte Nüstern der Moderatorin. Das alles würde bald ein Ende haben.

»Kommen Sie kurz nach acht.«

Ein geheimes Treffen. Auf hoher Ebene. Gipfelkonferenz. Die Zukunft des kleinen Senders. Keine Lauscher und keine Mitwisser. Keine lustlosen Lamentierer, die in der Kantine herrschten.

Frustrierte Studiotechniker, die den ganzen Tag nur rumsaßen. Kabelhilfen beim Dauerskat. Jammernde Sekretärinnen, denen die Chefs davonliefen und die nach drei Telefonaten todmüde waren. Alkoholisierte Nichtstuer, denen man jegliches Programm gestrichen hatte und die nur noch in die Anstalt kamen, um internationale Zeitungen zu lesen. Pfennigfuchser, die sich wichtigmachen wollten. Formularhuber, denen monatlich eine neue Verordnung zur Überwachung des Verbrauches von Toilettenpapier im Studiobereich gelang.

Endlich war jemand bereit aufzuräumen. Schluss zu machen mit diesem aufgestauten Büromief.

Verwaltung mit eigenem Sendemast, so hatte Adler schon vor Jahren diesen Familienbetrieb genannt. Die Wasserköpfe kochten über. Mehrheiten für Bedenkenträger mit eigenem Aktenbock, Programm-Miesmacher mit falschen Federn am Hut, Redaktionsbeamte mit festem Blick auf die Pension. Kleberger wusste, was auf dem Spiel stand. Die Fernsehgewaltigen der Nation hatten schon Papiere ausgearbeitet, in denen dieser Sender nicht mehr auftauchte. Oder nur als Unterabteilung des nächstgrößten Verwaltungsapparates. Landesrundfunkanstalt. Ende. Die Fernsehgewaltigen spekulierten ganz offen darüber, wollten nicht weiter rote Zahlen addieren und den hanseatischen Zuschussbetrieb subventionieren.

Adler schloss sein Büro auf.

Wie lange würde es dauern, bis er zwei Stockwerke höher saß? Wie viele Monate musste er noch warten?

Ihm gingen die Worte nicht aus dem Kopf, die abends in der Kneipe gefallen waren. Wie immer nach dem Streit waren sie in verschiedene. Kneipen gegangen. Weiterreden. Weitere Messer wetzen. Wenn erst mal die bösen, und das waren immer die anderen, weg waren, konnte man richtig loslegen. Die Pfeile, die tagsüber im Köcher blieben, wurden abends abgeschossen. Sie trafen. Meistens tödlich.

Furz-Journalist, hatte eine gesagt. Minuten-Wichser, eine andere. Ein Redakteur bezeichnete einen Frischling, der erst seit sechs Wochen in der Redaktion der Nordschau war, als Blödian mit Rentenanspruch. Die deutschen Generaltugenden Neid, Feigheit, Eitelkeit beherrschten die gruppendynamischen Auseinandersetzungen.

Daran hatte sich in den vierundzwanzig Jahren, die Michael Adler schon bei diesem Sender verbrachte, kaum etwas geändert. Es kamen nur neue Tugenden hinzu: Geiz, Faulheit, Mittelmaß.

Während die Könner von den Privaten weggekauft wurden, und dies geschah mit rasender Geschwindigkeit, zunehmende Tendenz, hockten bei den Öffentlich-Rechtlichen die Versager.

»Kommen Sie kurz nach acht.«

Kleberger würde das ändern. Er hatte versprochen, den kleinen Sender wieder in die erste Reihe zu bringen.

Der war ein anderes Kaliber.

Als es in Paris brannte, hatte er die Kopfhörer auf und berichtete täglich von den Barrikaden. Aufgeregt. Aufregend. Mai. 68. Er pries das Spektakel, empfahl Nachahmung. Damals hing Adler jeden Abend am Rundfunkgerät, nur um Klebergers Lageberichte mitzubekommen. Er ließ sich auch nicht schurigeln, als ein Programmchef zufällig im Autoradio eine seiner Brand-Reportagen hörte und versuchte, den Korrespondenten sofort versetzen zu lassen.

Nun war Kleberger Programmchef.

Und Adler bekam seine Chance.

Ein Fernsehdirektor, mit dem er zurechtkommen würde.

Das Gerangel um den Posten war nationenweit. Auslandskorrespondenten versuchten, Kanäle heiß zu machen. Die hausinterne Frauenriege schrieb dutzende Erklärungen, um endlich eine Quotenfrau durchzusetzen.

Die Räte kreisten. Nickten. Winkten ab.

Endlose Sitzungen mit Wunschlisten. Unangenehme Personaldiskussionen mit Klatschgeschichten. Die trinkt. Der ist cholerisch. Jener soll seinen Arsch nicht mehr in der Hose tragen. Die Räte nickten. Kreisten. Winkten ab.

Adler hielt sich bedeckt. Ergriff keine Partei. Insbesondere, um nicht durch sein Votum seinen Kandidaten zu beschmutzen. Wenn der für den ist, dann müssen wir gegen den sein. Einige Kolleginnen nahmen ihm das übel. Feigling. Resigniertes Schwein. Das waren nur die harmlosen Beschimpfungen. Wenn Adler nach Kleberger gefragt wurde, sagte er, ohne Regung zu zeigen: »Der richtige Mann zum richtigen Zeitpunkt.« Mehr nicht.

Die Räte kreisten. Nickten.

»Sie sind schon da?« rief eine Putzfrau völlig entsetzt, als habe sie das Morgengrauen erblickt, »ich wollte mal durchsaugen.«

»Heute nicht nötig«, sagte Adler.

Nachdem sie die Tür leise zugezogen hatte, nahm er den schmalen Hefter aus dem Regal.

Ideen für neue Sendungen. Handgeschrieben. Pläne für einen Anfang. Auf dem Hefter stand: Altpapier. Schon länger beflügelten Adler diese Einfälle. Es wäre falsch gewesen, sie mit vollen Händen, voreilig in die Menge zu streuen. Die Privaten machten sie sofort zu Sendungen. Solche Ideen sickerten schneller in die Medienlandschaft ein, als Regenwasser in Wüstensand.

Manches Mal hätte Adler gern das Terrain gewechselt, wie die Edelfedern im Gewerbe, deren Namen er Woche für Woche lesen musste. In den Gazetten des Ruhms. Zwischen Pfauen und Königstigern. Strahlende Namen. Mit Überheiligenschein. Viele waren nach ihm ins journalistische Gewerbe gekommen und hatten Adler rasch überholt. Namen in gelber Schrift, halbfett von Neid.

Adler begann im Funk. In der wilden Zeit. Brechts Radiotheorie als Bibel. »Durch immer fortgesetzte, nie aufhörende Vorschläge zur besseren Verwendung der Apparate im Interesse der Allgemeinheit haben wir die gesellschaftliche Basis dieser Apparate zu erschüttern, ihre Verwendung im Interesse der wenigen zu diskutieren.« Dieses Zitat hing fast ein Jahrzehnt über seinem Schreibtisch. Skandale blieben aus. Gelegentlich ein Streit im Rundfunkrat. Mal ein blankes Entsetzen über eine Live-Sendung von der Rekrutenvereinigung, als es Keile zwischen Jugendlichen und Polizei gab, oder ein Aufschrei über eine Satire zur Frage: Was wäre aus uns geworden, wenn Maria im Heiligen Land ihren Sohn abgetrieben hätte? Die rotfleckigen Gesichter, die wütenden Schreie der Christdemokraten. Noch eine Handvoll weiterer Beschwerden. Irgendwann nahm Adler den Spruch von der Wand und wechselte zum Fernsehen.

Er hätte mobil bleiben müssen. Neue Aufgaben. Zwei, maximal drei Jahre auf einer Stelle, pendeln zwischen Printmedien und Fernsehpräsenz, langsamer, aber unaufhörlicher Zugewinn an Kompetenz und Einfluss. Nie verharren.

Jetzt konnte endlich der Sprung gelingen. Mit diesem Fernsehdirektor. Mit diesen neuen Projekten.

Zwei Stockwerke. »Wo bleiben Sie denn?« Kleberger über die Gegensprechanlage.

»Komme«, antwortete Adler prompt. Er schnappte sich den Hefter mit der Themenliste.

Die Uhr zeigte 07:57.

Auch gut.

Mehr Zeit zu reden. Das erste Treffen war immer wichtig. Weichen stellen. Auf sich aufmerksam machen. Abtasten. Einen positiven Eindruck hinterlassen.

»Nehmen Sie Platz, Herr Adler«, sagte Kleberger und warf seinen leichten Trenchcoat über das grün-weiß gestreifte Sofa. Ein scheußliches Möbelstück, das er von seinem Vorgänger, einem Werder-Fan erster Ordnung, geerbt hatte. Der ließ für Auswärtsspiele Studiotermine absagen.

Adler blickte vom fünften Stock des Gebäudes auf die Autobahn und das angrenzende Industriegebiet. Keine besondere Aussicht.

»Tee und Kaffee kommt erst mit der Sekretärin, und die kommt nie vor halb zehn. Aber das wird ab kommenden Montag abgestellt sein.«

90 Minuten Zeit, dachte Adler und setzte sich. Kleberger zog den Bürorollstuhl näher heran, verringerte die Distanz zu dem Redakteur.

»Um Ihre erste Frage gleich zu beantworten«, begann er mit einem schmalen Lächeln, »ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass ich den Posten erklettern könnte. Bei meiner schlechten Reputation. Müssen einige Herrschaften im Mark getroffen sein. Alte Feinde jaulen auf. Haben Sie die spöttische. Notiz im SPIEGEL gelesen?«

Adler hatte. »Stört Sie dieses Wadenbeißen?« Er wusste nicht, wohin er den schmalen Hefter legen sollte. Unmöglich konnte er ihn die ganze Zeit auf dem Schoß halten. Von Schreibtisch und niedrigem Couchtisch war er zu weit entfernt. Auf den Boden wollte er das kostbare Stück auch nicht legen. Schnell drehte er den Hefter um, damit Kleberger nicht die Aufschrift las. Er könnte denken, Adler sei bei der Müllabfuhr angestellt.

Kleberger beantwortete die Frage des Redakteurs nicht. Er lehnte sich zurück und dozierte.

Über den langen Weg und die vielen Umwege, die Umleitungen und Sackgassen, über Dienstwege, die beim Programmachen nur störten, über Schleichwege, auf denen Karrieren gemacht würden, eingefahrene Wege, ausgetrampelte Pfade, über die Kriechspuren, an denen die rechtlichen Öffentlichen kaputtgehen würden, Schleimspuren, die er schon hundert Meter gegen den Wind ausmachen könne. »Wenn nicht wenigstens die Hälfte des Personals freigesetzt wird, gehen wir schneller unter als die Titanic. Unser System gleicht jenem der Saurier ... das war, nicht gerade eine gute Metaphern-Folge.«

Adler hörte seinem neuen Fernsehdirektor zu. So ungeschützt hatte er noch nie jemanden über die eigentlichen Probleme reden hören. Niemand traute sich, solche Gedanken öffentlich zu äußern. Obwohl sie selbst auf dem sinkenden Schiff saßen und die restlichen grünen Blätter von den Bäumen fraßen.

Dann ließ sich Kleberger informieren. Wer gegen wen. Wer mit wem. Wer ohne wen. Aufsteiger. Absteiger. Resignanten. Ärmelschoner. Leichen, Leichen, Leichen. Bleistiftspitzer. Süsslupinisten, die mit hauseigenen Produktionsmitteln in die private Tasche wirtschafteten.

Adler versuchte, auf Distanz zu bleiben. Hinweise mussten genügen. Kooperationsbereitschaft zeigen. Namen nannte er auch auf dringende Nachfragen nicht.

»Ich brauche einen Vertrauten, Herr Adler. Von außen kann ich diesem Laden nicht ansehen, warum er lendenlahm geworden ist. Aber immer, wenn ich irgendwo eine Redaktionstür aufstoße, habe ich das Gefühl, Ruhestörung zu betreiben.«

Das lang erhoffte Gespräch. Endlich war es geschafft.

Adler stimmte in die Klage ein. Gab ein paar Anekdoten zum Besten. Absteigerwitze. Sozialgelächter. Mit welchen Ausreden die jungen Reporter vom Dreh kamen und nichts zustande gebracht hatten. »Mitten im, Interview ist dem Senator das Gebiss rausgefallen«, habe sich eine Journalistin entschuldigt. »Und habt ihr es im Bild?« wollte Adler wissen. »Nein, der Kameramann hatte gerade abgeschaltet.«

Sie lachten. Vertraut.

»Wollen Sie Chefredakteur werden?« fragte Kleberger und brachte seinen Rollstuhl in Schwung.

Er fuhr eine Pirouette und landete sicher vor dem Einbauschrank. Mit einem kleinen Schlüssel öffnete er die rechte Tür und schnappte sich einen blassrosa Aktenordner.

»Ich würde die Stelle nehmen«, erwiderte Adler; »aber es geht mir in erster Linie um Veränderungen im Programm.«

»Ach ja«, Kleberger sah ihn überrascht an.

»Ich habe hier ...« Adler hob den Hefter mit der Aufschrift ‚Altpapier‘ hoch, als bräuchte es jetzt eine Geste.

»Augenblick«, unterbrach ihn der Fernsehdirektor. »Chefredakteur oder nicht?«

Im Sender war schnell bekanntgeworden, dass Kleberger darauf bestand, den alten Chefredakteur in die frühzeitige Pensionierung zu schicken. Als Morgengabe. Die Stelle für den neuen war noch nicht ausgeschrieben. Pietätvoll wollten sie die Trauerzeit einhalten. Ein paar Wochen.

»Ich werde mich bewerben«, sagte Adler mit fester Stimme. Wenn er diese Klippe umschifft hatte, bekam er Zugang zu den Schaltkonferenzen, einen Platz im Kommentatoren-Team der Tagesschau. Ein Zuwachs um mehrere hundert Prozent. Das vermehrte Gehalt war auch nicht zu verachten.

»Schlagen Sie es sich aus dem Kopf«, sagte Kleberger ohne Regung, »ich brauche junge Kräfte. Wir wollen die Hierarchie auf den Kopf stellen. Nur wenn junge Kräfte den alten Stuhlinhabern Dampf machen, kann aus diesem morschen Apparat etwas werden. Hier muss ein Generationenkampf her.«

»Ach ja«, mehr bekam Adler nicht heraus.

Nun hieß es vorsichtig sein, keine falsche Bewegung. Jeder Schritt konnte zum Absturz führen.

Kleberger öffnete den Aktenordner.

»Ich habe das gründlich studiert, Herr Adler. Die ganze letzte Woche habe ich Personalakten durchgearbeitet. Und ich will Sie auch nicht länger auf die Folter spannen. Ich glaube, dass für uns beide in der gleichen Anstalt kein Platz ist. Sie können es auch drastischer haben, wenn Sie darauf Wert legen.«

Adler sprang auf.

Der Hefter fiel zu Boden. Sie mich rausschmeißen?«

»Sie sind klug genug, es vorzuziehen, sich selbst nach einer neuen Stelle umzusehen. Irre ich mich da?«

Auf dem Teppichboden verstreut lagen die handschriftlichen Ergüsse, die neuen Programmideen. Hektisch sammelte Adler die Blätter ein.

Kleberger sah seinem Untergebenen zu.

Ganz zufrieden mit dem Schock, den er ihm versetzt hatte.

Im Kriechgang kam ihm dieser Michael Adler wie ein Hamster vor, der mit Mühe den Vorrat für den Winterschlaf zusammenscharrt.

3

Boysen reiste mit kleinem Gepäck. Ein paar Wochen abtauchen. Deckung suchen. Effekte studieren, aus sicherer Entfernung. Wer sich selbst in den Regen stellt, den bestraft der Parteivorsitzende.

Der Flug nach London war noch nicht aufgerufen. So blieb genügend Zeit, in der Senator-Lounge einen Kaffee zu nehmen.

Boysen liebte Gewissheiten, Mutmaßung lehnte er ab. Er hatte lange genug im Schatten gestanden, um zu wissen, wie elegant man sich darin bewegen konnte.

Ein klares Ziel vor Augen. Ohne Hast.

Boysen rechnete. Brauchte Zahlenkolonnen. Fraß Prozente und verschlang Umfragen.

Die Sonntagsfrage. Ein Prozentpunkt rauf. Das gab heitere Mienen in der Partei. Ein Prozentpunkt runter. Schon konnte es überraschend hageln. Die Meinungsmacher wurden ernst genommen.

Boysen hatte alle Skandale überstanden. Im Schatten. Der brave Parteisoldat. Eine Bilderbuchkarriere, stetiger Aufstieg. In der Hansestadt keine Ortsvereinssitzung ausgelassen. Im Unterbezirk immer mit der Mehrheit gestimmt. Auf Delegiertenversammlungen stets für Heiterkeit gesorgt.

Liebe Genossinnen und Genossen, es kann euch doch nicht entgangen sein, dass wir immer noch an der Regierung sind.

Beifall auf offener Szene. Das Bundestagsmandat war überfällig gewesen. Kein Hinterbänkler. Finanzausschuss. Zahlenexperte. Kostenanalytiker. Kalkulationsjongleur. Und als Krönung: Schatzmeister der Partei.

Nun war Boysen alle Ämter los. In der Senator-Lounge kannten ihn alle. Die Köchin wollte ein Autogramm. Boysen las die Börsenberichte, verglich die Kurse der verschiedenen Bankenplätze, notierte einzelne Werte.

Manche nannten ihn einen Pedant, andere das ruhige Gewissen der Partei, wieder andere lobten ihn, dass er im Geschirr nicht ausscherte.

Das sichere Gefühl für Mehrheiten. Erst abwarten, dann mitstimmen. Emotionen gar nicht erst hochkommen lassen. Niemals Opfer eines Ränkespiels werden, lieber selbst eins entfachen.

Es waren Indianerspiele, die Boysen durchkreuzte. Phantasien von Räuber und Gendarm, Träumereien mit geschlossenen Augen.

Boysen ließ sich stets einen Zusammenhang erklären, auch wenn er ihn längst kannte. Er liebte die Nachfrage, das wohlüberlegte Abwägen, währenddessen er herausfand, was sein Gegenüber, was die anderen, was die Oberen dachten und zu tun trachteten.

Boysen hatte ein anderes Ziel. Und das setzte er sich beim Eintritt in die Partei. Ausstieg mit 45.

Es war ihm nicht ganz gelungen. Da hatte er sich um zwei Jahre verrechnet.

Nun war es geschafft.

»Wünschen Sie noch eine weitere Tasse Kaffee, ein Körnchen dazu?« Die Bedienung kannte die Vorlieben ihrer Stammgäste.

Boysen zog diesmal einen Cognac vor.

Immer wieder gab es Leute in der Partei, die glaubten, in die Zukunft sehen zu können. Die spekulierten mit der Bevölkerung, mit Thesen und lächerlichen Theorien.

Boysen lehnte das ab.

Wenn ihn waghalsige Vermutungen erschütterten, zählte er die Toten in den Nachrichtensendungen, addierte Katastrophenopfer, überprüfte die Ergebnisse der verschiedenen Sendestationen. Erst die Fakten, dann die Politik.

Boysen verblüffte jeden mit seiner Gedächtnisleistung, kannte Ergebnisse, die zwölf Jahre zurücklagen, im Fußball und im Spendenaufkommen, im Mitgliederstand und im Öchslegrad.

Boysen vergaß nie.

Er führte über alles Buch. Und über alle. Seit seinem Parteieintritt. Sauber vermerkt. Jede Intrige. Jede Schweinerei. Jedes Ausbüchsen. Jede Zuwendung. Jede Absprache. Jede Abmachung.

Boysen vergaß nie.

Er kannte die Hintertüren der Parlamente, die lauschigen Plätze der Verschwiegenheit, die verrauchten Kneipen, in denen Mehrheiten ausgekungelt wurden.

Boysen hörte Telefongespräche mit, besaß eine kleine Sammlung von brisanten Mitschnitten, kopierte Schecks und vertrauliche Briefe.

Boysen wusste, wer sado, wer maso, wer beides zugleich brauchte, wer homo, wer hetero, wer bi war, wer eine, wer zwei, wer fünf Gespielinnen unterhielt, wer wen und wann betrog, wer Journalisten schmierte, damit sie über ihn schrieben, wer Geliebte auf Steuerzahlerkosten nach Brüssel, nach Straßburg, nach Berlin einfliegen ließ, potente Potentaten, die bereit waren, für Liebesdienste Pässe, Permits und Posten zu vergeben, wer versuchte, Medienleute zu verhindern, die einmal schlecht über sie geschrieben hatten. Alte Rechnungen.

Boysen wusste, wer die Staatsanwaltschaft bestach, um Affären nicht hochkommen zulassen.

Boysen wusste alles.

Er hatte von Anfang an diesen Plan gehabt.

Ein Röntgenbild der führenden Funktionäre. Seine private Sammlung war mehr wert als der Wahlkampffonds. Fakten über Freunde, die Feinde waren, und Feinde, die sich gegenseitig aus dem Weg zu räumen suchten.

Das Gerangel um die Listenplätze bei den Wahlen. Öffentlich geübt das Abschießen der Kandidaten auf den sicheren Plätzen. Wer ausreichendes Stehvermögen hatte und genügend Aggressivität besaß, konnte aus hinterer Position auf der Delegiertenversammlung auf einen vorderen Platz kommen. Nur über einen Kadaver.

Boysen stand nie zur Debatte. Niemand, der sich an ihn wagte. Listenplatz drei. Den machte ihm keiner streitig.

Boysen war ein sicherer Kantonist.

Sein Image: ohne Fehl und Tadel. Ein Mann mit sauberen Händen. Treu wie ein Blindenhund, zuverlässig wie die Morgenandacht, schnell wie der finale Rettungsschuss.

Wenn Boysen jemand erledigte, geschah dies meist geräuschlos. Das Opfer konnte sich nicht wehren, weil es sich nur noch tiefer verstrickte. Boysen griff mit einem Detail an, einem Bruchteil, und ließ durchblicken, welche weiteren Erkenntnisse er zur Verfügung hatte. Methode Spinnennetz, so nannte er das Verfahren.

»Was werden Sie nun unternehmen, Herr Boysen?« sagte ein Industriemanager, der sich ohne zu fragen auf dem Polstersessel neben ihm niederließ.