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Am 23. Juli 1908 stirbt die 22-jährige Bürgermeistertochter Grete Beier im sächsischen Freiberg unter dem Fallbeil - das letzte Todesurteil im Königreich Sachsen ist vollzogen und ein kurzes, dramatisches Leben ausgelöscht. Wer war Grete Beier? Was verleitete sie, ihren vermögenden Bräutigam zu vergiften und ihm kaltblütig in den Kopf zu schießen? War es aus Abscheu gegen eine von den Eltern erzwungene Ehe? War es aus verzweifelter Liebe zu dem anderen Mann in ihrem Leben? Oder ging es um pure Habgier? Kathrin Hanke spürt diesen Fragen minutiös nach, lässt uns mit erzählerischer Leichtigkeit teilhaben an der Lebensgeschichte dieser eigenwilligen Frau und ihren dramatischen Wendepunkten und zieht uns damit in ihren Bann.
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Seitenzahl: 267
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Kathrin Hanke
Die Giftmörderin Grete Beier
Biografischer Kriminalroman
Mörderische Liebe Sachsen Anfang des 20. Jahrhunderts – die Hinrichtung der erst 22-jährigen Grete Beier löste eine heftige Diskussion aus, sowohl über die gesellschaftlichen Konventionen jener Zeit, als auch über die Todesstrafe, an der sich selbst Literaten wie Kurt Tuchholsky beteiligten. Jetzt, über 100 Jahre später, erzählt Kathrin Hanke die aufwühlende Lebensgeschichte der jungen Frau erneut: Es ist Liebe auf den ersten Blick. Der Mann mit den stahlblauen Augen nimmt sie sofort ein. Doch Hans Merker ist nur ein einfacher Angestellter und damit nicht standesgemäß für die Bürgermeistertochter aus Brand bei Freiberg. Das junge Paar muss sich heimlich treffen, bis Hans anfängt, seiner Geliebten untreu zu sein. Aus Rache lässt Grete sich mit dem vermögenden Curt Preßler ein. Ihre Eltern sind begeistert und hastig wird Verlobung gefeiert. Doch Grete kann Hans nicht vergessen, zumal Preßler sie schnell anwidert. Bald landet sie wieder in Merkers Armen – und wird schwanger. Das Drama nimmt seinen Lauf. Liebe und Verzweiflung lassen Grete Beier einen Plan fassen, der nicht nur ihr am Ende zum grausamen Verhängnis wird.
Kathrin Hanke wurde in Hamburg geboren. Nach dem Studium der Kulturwissenschaften in Lüneburg hatte sie das Glück, aus ihrer Leidenschaft, dem Schreiben, ihren Beruf machen zu können. Sie jobbte beim Radio als Redakteurin, schrieb Artikel für Zeitungen, arbeitete als Ghostwriterin und entschied sich schließlich für die Werbetexterei, um ihre Brötchen zu verdienen. Aber sie liebt auch die dunklen Seiten des Lebens und so liest sie genauso gern Kriminelles wie sie es schreibt. Kathrin Hanke lebt nach Stationen in anderen Städten mit ihrer Familie in ihrer Heimatstadt Hamburg und ist Mitglied im Syndikat, der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag,
zusammen mit Claudia Kröger:
Heidezorn (2017)
Mörderische Lüneburger Heide (2017)
Wermutstropfen (2016)
Heideglut (2016)
Eisheide (2015)
Heidegrab (2014)
Blutheide (2013)
Personen und Handlung sind zu Teilen fiktional.
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© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2017
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Landeshauptstadtarchiv Dresden: Bestandsnummer 11121 – Staatsanwaltschaft beim Landgericht Freiberg
ISBN 978-3-8392-5490-5
Für meinen Vater
»Ich war in den Augen der Herren, die mich ausfragten, selbst Dr. Nerlich nicht ausgenommen, entweder eine ruchlose Verbrecherin oder ›ein interessanter Fall‹. Das Erstere machte mich verstockt, das Letztere machte mich eitel. Ich kann nicht leugnen, dass ich mich zeitweilig als eine Romanheldin betrachtet und damit zeitweilig mein Gewissen beruhigt habe.«
(Marie Margarete Beier über das Geschehen, 1907)
Sie hörte die Wohnungstür. Er war wieder da. Ihr ekelte bei dem Gedanken, dass er sich gerade auf dem Abort im Hausflur auf halber Treppe erleichtert hatte. Ihr ekelte vor dem ganzen Mann, der bald ihrer sein sollte. Gerade vorhin noch, als er vom Kaffeetisch aufgestanden und zu der Ottomane gegangen war, hatte er sie betatscht. Sie hatte sich ihm entzogen, woraufhin er gesagt hatte: »Nun stell dich nicht so an. Bald sind wir verheiratet, und dann gehörst du sowieso mir. Warum also jetzt noch weiter warten? Ich habe dieses Warten satt. Außerdem wären wir schon lange verheiratet, wenn dein Vater nicht krank geworden wäre.«
»Aber sieh es doch einmal so«, hatte sie ihm mit einer Stimme erwidert, in der ein Versprechen gelegen hatte, »das würde doch die ganze Vorfreude auf unsere Hochzeitsnacht zunichtemachen. Und gerade diese Nacht ist doch die wichtigste unter Eheleuten. Und die aufregendste …«
Sie hatte werbend gelächelt und inständig gehofft, ihre Worte würden bei ihm Gehör finden. Nicht, weil sie so sittsam war. Sie hatte einfach nicht gewollt, dass er sie mit seinen weichen, kurzen, etwas speckigen Händen befingerte. Bis auf ein paar harmlosere Zärtlichkeiten, die sie regelmäßig über sich ergehen ließ, hatte sie es stets geschafft, ihn im Zaum zu halten. Gerade war er jedoch sehr hartnäckig gewesen – zunächst in seinen Andeutungen und dann in seinen Forderungen. Er widerte sie an – seine Gestalt, seine Art, einfach alles! Außerdem stand er ihrem Glück im Weg. Sie hatte das Spiel lange genug mitgemacht. Sie konnte einfach nicht mehr. Sie trug sich schon seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, dem allen ein Ende zu setzen, und so war sie heute bereits mit dem Entschluss hierhergekommen, ihn sich vom Hals zu schaffen, hatte aber nicht gewusst, ob sie es auch wirklich machen und ihr nicht der Mut fehlen würde. Als er dann allerdings eben auf das, was sie ihm für die Hochzeitsnacht in Aussicht gestellt hatte, geantwortet hatte: »Vielleicht hast du recht, aber eines sage ich dir: Wir heiraten bald, ganz egal, ob dein Vater krank ist oder nicht. Und falls dein Vater stirbt, warte ich auf keinen Fall das Trauerjahr ab, um dich vor den Altar zu führen und endgültig in mein Bett zu holen«, hatte sie an das Gift und den geladenen Revolver in ihrer Tasche denken müssen und war sich ihrer Sache absolut sicher gewesen: Heute würde er sterben. Unabhängig davon, dass sie an anderer Stelle ein Versprechen zu halten hatte, hatten seine Worte sie einfach zu tief verletzt, gingen sie doch auch gegen ihren Vater – sie waren der berühmte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.
Während sie sich noch gesammelt und versucht hatte, sich nichts von ihrer Wut anmerken zu lassen, war er von der Ottomane aufgestanden, auf die er sie zuvor hatte ziehen wollen, und an das Vertiko herangetreten. Er hatte dessen Schranktüren geöffnet und mit der einen Hand zwei kleine Gläser herausgeholt. Mit der anderen Hand hatte er eine noch ungeöffnete Flasche Eierlikör gegriffen und sie vor ihren Augen geschwenkt.
»Vielleicht macht dich das ja etwas lockerer und stimmt dich um«, hatte er siegessicher gelacht, und sie hatte sich zusammenreißen müssen, sich nicht vor Abscheu zu schütteln. Sie hasste diesen Mann.
»Schenk uns schon einmal etwas ein, ich bin gleich wieder da«, hatte er gesagt und alles auf den Tisch gestellt, an dem sie vorhin noch gemeinsam Kaffee getrunken hatten. Dann war er zur Tür hinaus und die halbe Treppe hinuntergegangen. In ihrem Kopf hatten die Gedanken in diesem Moment angefangen, aus allen möglichen Richtungen Purzelbäume zu schlagen, um sich Sekunden später zu einem einzigen großen zusammenzufügen: »Jetzt oder nie!« Dann hatte sie gehandelt. Getragen von der Wut auf ihn, hatte sie, ohne zu zaudern, eines der Gläser erst mit Eierlikör gefüllt und dann das mitgebrachte Zyankali direkt aus dem Fläschchen hineinrieseln lassen. Damit sich die todbringenden Kristalle schnell auflösten, hatte sie sich einen Löffel von dem noch nicht abgeräumten Kaffeegeschirr gegriffen und damit das Gift in den Likör eingerührt. Als sie jetzt die Wohnungstür gehen hörte, wusste sie, dass sie nicht mehr tun konnte. Hastig zog sie den Löffel aus dem Glas und fast hätte sie ihn aus Gewohnheit sauber geleckt, doch eben noch rechtzeitig besann sie sich und wischte den Kaffeelöffel an ihrem Unterrock ab. Gerade als sie ihn wieder auf den Tisch zum Geschirr legte, betrat er das Zimmer. Er ließ sich wie zuvor auf der Ottomane nieder und klopfte auf das Polster neben sich: »Na, nun komm doch mal her zu mir – wenigstens ein bisschen herzen können wir uns doch. Und was ist mit dem Eierlikör? Ich sehe nur ein gefülltes Glas.«
»Ach, ich trinke besser keinen, du berauschst mich schon genug«, sagte sie, als hätte sie während seiner kurzen Abwesenheit ihre Meinung zu Intimitäten geändert. Er schürzte seine Lippen und ließ seine Zungenspitze über die Zähne gleiten wie ein Tier, das gleich seine Beute erlegt. Wieder stieg Ekel in ihr auf, und sie musste sich zusammenreißen, sich nicht vor Abscheu zu schütteln. Stattdessen griff sie das Glas Eierlikör vom Kaffeetisch, setzte ein verführerisches Lächeln auf und wiegte sich in den Hüften, als sie auf ihn zuging und ihm das vergiftete Getränk reichte.
»Danke«, erwiderte er und führte das Likörglas an seinen Mund. Ihr stockte der Atem, als er trank. Würde der zuckerige Eierlikör den bitteren Geschmack des Giftes verdecken? Während sie noch darauf hoffte, hatte er bereits die tödliche Mischung geschluckt. Seine Augen weiteten sich und fixierten sie, doch bevor die Erkenntnis, dass seine Braut ihn vergiftet hatte, sein Hirn erreichte, fielen ihm die Lider schwer hinab und er sackte in sich zusammen. Das Likörglas glitt ihm aus der Hand, während er nach hinten kippte, wo er von der Rückenlehne der Ottomane gestoppt wurde. Obwohl er seine Augen geschlossen hatte, hatte sie das Gefühl, dass diese weiterhin vorwurfsvoll auf ihre Person gerichtet waren. Sie stand wie erstarrt vor ihm. War er jetzt tot? Konnte es wirklich so leicht gewesen sein? Oder war die Dosis zu gering gewesen? Vorsichtig trat sie dicht an ihn heran. Vielleicht tat er auch nur so, als sei er tot, und seine Sinne verfolgten jede ihrer Regungen. Was, wenn er sie gleich am Handgelenk packen würde? Oder seine Augen öffnete, die tief in ihren Höhlen lagen und von buschigen Augenbrauen überdacht waren? Sie drehte ihren Kopf weg. Der Anblick gruselte sie. Ihr Blick fiel auf eine der Servietten auf dem Kaffeetisch. Mit einer Handbewegung griff sie sich das Tuch und verband dem Daliegenden die Augen. Erst zaghaft, doch als er keine Regung machte, atmete sie erleichtert auf und drapierte das Tuch mit flinken Fingern um seinen Kopf, sodass es nicht verrutschen konnte. Wenn er nur bewusstlos war und gleich die Augen wieder aufmachen würde, konnte er wenigstens nichts sehen. Sie nicht sehen. Dafür sah sie von seinem Gesicht jetzt nur noch den offen stehenden Mund, doch das machte ihr nichts. Wieder überlegte sie, ob er wirklich tot war oder vielleicht nur ohnmächtig. Ich muss schnell machen, dachte sie, die von vornherein auf Nummer sicher hatte gehen wollen, auch wenn sie noch nicht gewusst hatte, wann das sein würde, und ob sie es überhaupt tun könnte. Jetzt war sie aber den ersten Schritt gegangen und musste auch den zweiten gehen. Danach war sie frei. Sie holte den Revolver aus ihrer Tasche, die etwas versteckt neben dem Vertiko stand. Sie entsicherte ihn, steckte den Lauf weit hinein in den geöffneten Mund ihres Bräutigams und drückte ab. In Sekundenschnelle verbreitete sich Blut auf dem Polster der Ottomane. Fast wäre sie durch den Rückstoß gestrauchelt und konnte sich gerade noch fangen. Der Schuss war ohrenbetäubend gewesen. Ob ihn jemand im Haus als Revolverschuss erkannt hatte? In ihren Ohren rauschte es vom Knall. Sie musterte den Revolver für einen Augenblick, dann platzierte sie ihn so, als wäre er dem Toten aus der Hand geglitten – ähnlich wie das leere Likörglas, das sie jetzt aufhob. Sie stand auf, räumte ihr Gedeck vom Kaffeetisch, spülte es zusammen mit dem Glas ab, stellte alles genauso wie die Eierlikörflasche ordentlich in das Vertiko zurück, nahm ihre Tasche auf, holte zwei Schreiben heraus und legte sie fein säuberlich auf den Tisch. Ihr Bräutigam hatte seine vermeintliche Liebe zu ihr nicht nur mit dem Leben bezahlt, er würde auch noch nach seinem Tod dafür bezahlen müssen.
Sie schaute nicht zurück, als sie die Wohnung ungesehen verließ, dafür wanderten ihre Gedanken in die Vergangenheit und sie fragte sich, was passiert war. Wie war sie zu einer kaltblütigen Mörderin geworden?
»Es gibt kaum etwas in diesem Drama, von dem man sagen kann: So war es. Vor allem halte ich eine Feststellung der Motive im Falle Beier für ausgeschlossen. Man kann nur glauben oder nicht glauben.«
(Rechtsanwalt Glaser, Dresden 1909)
»Siehst du den da hinten, Berti? Das ist mal ein Mann«, raunte Marie Margarethe Beier, die von allen nur Grete genannt wurde, ihrer Freundin Berta Winkler zu – sie waren gemeinsam mit anderen Freunden auf dem Maskenball des Kaufmännischen Vereins in Freiberg. Grete musste kichern, als sie sah, wie Bertas Gesicht sich nach ihren Worten sekundenschnell vom Hals an aufsteigend rötlich verfärbte. Das passierte ständig, wenn sie in Gesellschaft in eindeutiger Weise auf das andere Geschlecht zu sprechen kamen. Waren die beiden jungen Frauen hingegen allein, hörte Berta ihrer Freundin, die sie seit den ersten Schultagen kannte, stets mit großen Augen interessiert zu. Ganz ohne rot zu werden. Grete selbst kannte solche Anwandlungen von Scham überhaupt nicht. Die aschblonde 19-Jährige mit dem engelsgleichen Gesicht und den großen, runden blauen Augen hatte – spätestens seit sie aus dem Kindesalter heraus war – jede Menge Verehrer und genoss immer wieder das Spiel mit ihnen.
»Ach Berti, nun hab dich nicht so. Wenn du dich weiter mit den Männern so anstellst, dann endest du noch als alte Jungfer«, sagte sie jetzt noch immer lachend, wobei sie ihren Blick wieder dem jungen Mann zuwandte, der selbstbewusst an der gegenüberliegenden Ecke zusammen mit einem anderen jungen Mann an der Wand lehnte. Grete nahm an, dass sie befreundet waren, da beide als Musketiere verkleidet waren. Auch von Weitem sah man den Gewändern an, dass sie schon bessere Tage erlebt hatten, doch das störte Grete nicht. Sie war nicht hier, um sich einen Ehemann zu suchen, sondern um sich zu amüsieren und so, wie der junge Mann sie aus seinen durchdringenden Augen ansah, schien er der richtige Kandidat dafür zu sein. Grete kam er nicht viel größer vor als sie selbst. Dabei wirkte er jedoch ausgesprochen kräftig, was ihr ausnehmend gut gefiel. Genauso wie sein rundes Gesicht mit der schmalen Nase. Jetzt öffnete er seinen Mund, der von einem blonden Bart umrahmt war, und grinste sie unverhohlen an, wobei Grete einige Zahnlücken ausmachen konnte. Als er sein Glas in ihre Richtung erhob, wurde sein Grinsen noch breiter. Sie tat es ihm gleich und lächelte dabei kokett.
»Grete, du prostest diesem Musketier doch wohl nicht zu«, kommentierte Berta das Verhalten ihrer Freundin.
»Warum nicht? Und schau mal seinen Freund an, vielleicht ist er ja was für dich«, lachte Grete frei heraus und nahm einen Schluck aus ihrem Sektkelch.
»Aber Grete, die sehen nicht gerade so aus, als seien sie standesgemäß!«, erwiderte Berta leicht pikiert und führte ebenfalls ihr Glas zum Mund.
»Oh Berti, du hörst dich an wie unsere Mütter! Du sollst ihn doch nicht gleich heiraten! Nur heute ein wenig Spaß haben.«
»Grete!«, entfuhr es Berta Winkler, wobei sie sich vor leichtem Entsetzen an dem Prickelwasser in ihrer Kehle verschluckte. Wieder musste Grete lachen, behielt jedoch den Blick auf den Musketier gerichtet. Der Mann gefiel ihr wirklich außergewöhnlich gut. Selbst die Zahnlücken störten nicht weiter – irgendwo hatte doch jeder einen Makel. Wie er wohl ohne sein Kostüm in normaler Alltagskleidung aussah?
Gretes Gedanken schweiften ab. Sie musste an Fritz Oelzner denken. Er war auch mit ihnen hier, aber sie hatte ihn zu ihrer Erleichterung schon länger nicht gesehen. Er war so ein ganz anderer Typ als der Mann dort drüben, der sie mit seinen stahlblauen Augen weiterhin fixierte. Fritz war aus gutem Hause. Er war blond und blauäugig, aber eher von schlaksiger Gestalt. Inzwischen wusste sie selbst nicht mehr, was sie an ihm gefunden hatte. Allein die Vorstellung, dass er sie vor noch nicht allzu langer Zeit alles andere als züchtig berührt hatte, ließ sie erschauern – weniger vor wonniger Erinnerung als vor Abneigung. Grete war froh, mit dem unwesentlich älteren Jungen unlängst gebrochen zu haben – er hatte es zwar noch nicht ganz verstanden, aber das würde er schon noch. Für sie war die Sache auf jeden Fall erledigt. Dabei hatte alles so harmlos angefangen. Es war in der Tanzschule gewesen, die sie und Berta, so wie es in ihren Kreisen üblich war, kurz nach ihrer Konfirmation besucht hatten. Gleich in einer der ersten Stunden hatte Fritz sie aufgefordert. Sie lachten bei ihren holperigen ersten Tanzschritten viel, und von Tanzstunde zu Tanzstunde hatte Grete sich mehr zu ihm hingezogen gefühlt, obwohl sie schnell merkte, dass er trotz des Besuchs des Gymnasiums nicht der Hellste war. Sie hatten einfach so viel Spaß miteinander, und vor allem fraß Fritz Oelzner ihr aus der Hand. Bald hatten sie sich auch abseits der Tanzschule häufiger getroffen, allerdings unter den Augen ihrer Eltern, wie es sich gehörte. Nachdem er ihr bei einem dieser Treffen verwegen ins Ohr geraunt hatte, dass er sie liebe, meinte auch sie, verliebt in ihn zu sein. Fortan waren ihre Treffen noch inniger, und sie warfen sich beim gemeinsamen Teetrinken mit Gretes Eltern heiße Blicke zu oder berührten sich während ausgedehnter Familienspaziergänge wie zufällig. Das war Gretes Mutter jedoch nicht verborgen geblieben. Ida Beier hatte dem zunehmenden Geturtel schnell einen Riegel vorgeschoben und ihre Tochter die Welt nicht mehr verstanden. Warum sollte sie Fritz nicht mehr sehen?
»Was hast du gegen ihn?«, hatte sie die Mutter unter Tränen am Abendbrottisch gefragt. »Fritz passt doch gut zu mir. Wir lieben uns!«
Ida Beier hatte ihrer Tochter zunächst keine Antwort gegeben, dafür aber mit einem Blick bedacht, der Bände sprach. Gretes Vater hatte dabei mit gesenktem Kopf auf seinen Teller gestarrt, als hätte er noch nie ein Perlhuhnbrüstchen gesehen. Gretes Blick war nach einer Begründung suchend von einem zum anderen gewandert. Gönnte ihr die Mutter etwa ihre Liebe nicht? Nur, weil sie selbst eine gefühlskalte Ehe führte? Grete hatte zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, dass ihre Eltern hatten heiraten müssen. Als ihre Großmutter noch gelebt hatte, hatte sie ihr erzählt, dass Ida Beier bei ihrer Heirat bereits mit Grete schwanger gewesen war. Die Großmutter hatte ihr damit die Lieblosigkeit, die zwischen den Eltern herrschte, erklären wollen. Jetzt, auf dem Maskenball, überfiel Grete auch wieder dieses wehmütige Gefühl, das sie häufig hatte, wenn sie an ihre Eltern dachte. Seit sie zurückdenken konnte, hatte sie nie einen Austausch auch nur von kleinen Zärtlichkeiten zwischen Theodor und Ida Beier bemerkt. Dabei war ihr Vater ein durch und durch liebevoller Mensch. Als Kind hatte Grete oft bei ihm auf dem Schoß gesessen, und auch heute noch strich der Bürgermeister ihr immer mal wieder über die Haare und konnte ihr kaum einen Wunsch abschlagen. Leider hatte in der Regel ihre Mutter das letzte Wort in der Familie, und ihr Vater zog sich dann in seine eigene Welt zurück. Oder suchte wenigstens das kurze Glück woanders. Grete wusste davon – in Brand und Umgebung war es ein offenes Geheimnis, dass der Bürgermeister Trost in den Armen anderer Frauen suchte. Sie verstand ihren Vater. Auch zwischen Grete und ihrer Mutter gab es keine Liebkosungen. Ganz im Gegenteil. Ida Beier war stets hart gegen ihre Tochter. Nichts konnte Grete ihr recht machen, immer gab es irgendetwas auszusetzen. Deswegen hatte sie sich auch so sehr in der Liebe von Fritz Oelzner gesonnt. Und gerade bei ihm hatte das Mädchen gedacht, dass ihre Mutter sich für sie freuen würde. Gretes Erinnerung wanderte wieder zum Abendbrottisch und der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter, die ihr nach einer Weile geantwortet hatte: »Von wegen, der passt gut zu dir! Gegen den jungen Herrn Oelzner persönlich habe ich nichts, dafür umso mehr gegen sein leeres Portemonnaie. Es ist bekannt, dass sein Vater bis zu den Ohren in Schulden steckt.« Dann hatte die Mutter hinzugefügt: »Du bist Bürgermeistertochter, und er ist keine gute Partie. Und wenn du mir jetzt mit Liebe kommst, sage ich dir eines: Liebe ist für eine Heirat nicht notwendig. Das ist reine Gefühlsduselei. Damit basta. Ob dein Ehemann etwas auf dem Bankkonto hat, darauf kommt es an. Schließlich soll er dir etwas bieten können.«
Grete hatte aus Mitleid sich selbst gegenüber drei Tage lang dicke Krokodilstränen geweint, die auf die aufgeschlagenen Seiten des 16. Bandes von Meyers Konversations-Lexikon getropft waren, wo hinein sie ein Vergissmeinnicht zum Pressen gelegt hatte, das Fritz ihr zu Beginn ihrer Freundschaft einmal geschenkt hatte. Irgendwann waren aus den Tränen um eine verlorene Liebe Tränen der Wut gegen ihre Mutter geworden, und Grete hatte einen Entschluss gefasst: Sie würde sich den Umgang mit Fritz nicht verbieten lassen. Seine Gesellschaft tat ihr viel zu gut, als dass sie darauf verzichten wollte. Außerdem, und das wog stärker als alles andere, wollte sie ihre Mutter nicht über sich siegen lassen – sie war kein kleines Kind mehr, hatte die Volksschule abgeschlossen und das immerhin als eine der Klassenbesten! Kurz entschlossen hatte sie sich an ihren Sekretär gesetzt, Papier und Feder hervorgeholt und eine Nachricht an Fritz Oelzner verfasst.
Bald darauf trafen sie sich. Hierfür hatten sie Hilfe von Therese Kunze bekommen. Die Hebamme wohnte in der Erdgeschosswohnung des Bürgermeisterhauses zur Untermiete, was Grete für ihr Vorhaben sehr zu pass gekommen war. Sie selbst lebte mit ihren Eltern in den oberen Geschossen des Hauses, das ihr Vater bereits gekauft hatte, bevor er Bürgermeister von Brand geworden war. Den Garten nutzten sie alle, und genau um den war es Grete bei ihrem ersten heimlichen Treffen mit Fritz Oelzner gegangen. Damit es überhaupt stattfinden konnte, hatte sie die Hebamme gebraucht. Therese Kunze war Grete, seit deren geliebte Großmutter nicht mehr lebte, eine enge Vertraute geworden. Sie sprach mit ihr über Dinge, die sie sonst niemandem anvertrauen konnte. Auch nicht Berta. In diesem Fall hatte sie ihre beste Freundin jedoch eingeweiht, weil sie selbst so aufgeregt war wie sonst nur als kleines Kind einen Tag vor Heiligabend. Berta hatte ihr natürlich vehement davon abgeraten, sich über das Verbot von Ida Beier hinwegzusetzen, aber das hatte Grete nicht beeindrucken können. Die Hebamme war eigentlich immer auf Gretes Seite, und als diese ihr Anliegen bei ihr anbrachte, nickte sie sofort zustimmend und ihre Augen hatten zu leuchten angefangen. Grete hatte vermutet, dass die Frau sich einfach noch sehr gut daran erinnern konnte, wie es war, ein junges Mädchen in einem kleinen Ort zu sein, in dem nicht wirklich etwas los war. Aber eigentlich war ihr die Motivation der Hebamme gleichgültig gewesen, sie hatte einzig und allein deren Unterstützung gebraucht und bekommen.
»Wie romantisch! Natürlich kannst du auf mich zählen. Jetzt müssen wir nur noch überlegen, wie wir es am geschicktesten anstellen«, hatte Therese Kunze gesagt, doch Grete hatte bereits einen Plan. Fritz Oelzner sollte nachts in die Laube des Beierschen Gartens kommen. Hierfür sollte er bei der Hebamme anklopfen, damit diese ihn durch ihren Eingang hinaus in den Garten lassen konnte – auf diese Weise würden Gretes Eltern nichts davon mitbekommen.
Grete konnte sich noch gut daran erinnern, wie aufgeregt sie bei ihrem ersten heimlichen Treffen mit dem jungen Mann gewesen war. Am betreffenden Abend hatte sie früh Müdigkeit vorgetäuscht und sich in ihr Mansardenzimmer zurückziehen dürfen. Dort hatte sie sich hübsch zurechtgemacht. Sie hatte ihr schönstes Nachthemd angezogen, ihre Haare gekämmt und sich ein wenig Rouge auf die Wangen und Lippenstift auf die vollen Lippen aufgetragen – gerade so viel, dass es noch natürlich aussah und nicht gleich auffallen würde, wenn ihre Mutter oder ihr Vater später noch einmal in ihr Zimmer käme. Beim Betrachten ihres Spiegelbildes war sie mit sich zufrieden gewesen, und bevor sie sich in ihr Bett gelegt hatte, hatte sie sich bei einem Blick zurück in den Spiegel einen Luftkuss zugeworfen. Im Bett hatte sie die Decke bis zum Kinn gezogen, das Licht gelöscht und so getan, als würde sie schlafen. Wie immer und auch von Grete so einkalkuliert, hatte ihre Mutter, bevor diese selbst sich zurückzog, tatsächlich in ihr Zimmer geschaut. Als sie die vermeintlich schlafende Grete gesehen hatte, hatte sie jedoch die Tür sachte wieder zugezogen und war ebenfalls ins Bett gegangen. Kurz darauf hatte Grete die Schritte ihres Vaters auf den Dielen gehört. Sie hatte noch eine Weile gewartet, dann war sie leise aufgestanden, hatte sich ihren Morgenmantel über das spitzenbesetzte Nachthemd gezogen und war, um möglichst keinen Laut zu verursachen, mit nackten Füßen hinaus in den Garten gegangen. Es war stockdunkel gewesen. Kein Stern hatte am Himmel geleuchtet, und der Mond hatte sich nur als schmale Sichel gezeigt. Von Weitem hatte Grete jedoch das flackernde Licht einer Kerze wahrgenommen, und ihr Herz hatte vor Freude einen Hüpfer gemacht. Auch jetzt, auf dem Maskenball, erinnerte sie sich noch daran, dass sie gedacht hatte: Wie süß von Fritz, er muss mich wirklich sehr gern haben, wenn er die Laube so schön vorbereitet.
Bis auf die Kerze war die Laube jedoch wie immer gewesen. Das hatte Grete sofort gesehen, als sie dort angekommen war. Die Kerze diente also einzig und allein als Lichtquelle und war von Fritz nicht als romantisches Accessoire gedacht gewesen. Grete hatte überlegt, ob sie darüber enttäuscht sein musste, hatte aber dann entschieden, es nicht zu sein. Sie selbst hatte ja noch nicht einmal an so etwas wie eine Lichtquelle gedacht, von romantischem Zeugs ganz zu schweigen.
»Da bist du ja endlich«, hatte Fritz ihre Gedanken unterbrochen und dabei trotz seiner gewählten Worte kein bisschen vorwurfsvoll geklungen.
»Ja, da bin ich«, hatte Grete schlicht erwidert.
Als Fritz daraufhin im Kerzenschein auf sie zugetreten war, ihre Hand in seine gelegt und sie zur Bank geführt hatte, hatte ihr Herz aufgeregt zu klopfen angefangen. Dann hatte er sich gesetzt. Anstatt sich neben ihn zu setzen, hatte Grete auf seinem Schoß Platz genommen. Sie hatte gewusst, dass es sich nicht schickte, aber es schickte sich für sie als Bürgermeistertochter ebenso wenig, nachts heimlich aus ihrem Zimmer zu schleichen, um einen Verehrer zu treffen.
»Wer einen Schritt geht, der geht auch einen zweiten«, hatte ihre Großmutter gern gesagt. Als sie klein war, hatte sie diese Weisheit nicht verstanden, doch spätestens in diesem Augenblick in der Laube hatte sie gewusst, was die Mutter ihrer Mutter damit hatte ausdrücken wollen. Versunken in ihren Gedanken an dieses Treffen, das ihr wie Jahre her vorkam, jedoch erst vor einigen Monaten stattgefunden hatte, rieb Grete sich an der Nase. Irgendetwas hatte sie dort gekitzelt. Sie musste an »Melusine« denken, das geklaute Buch, das nach wie vor versteckt unter ihrer Matratze lag. Gut, Marie Kircheis, das Dienstmädchen der Bürgermeisterfamilie, wusste vielleicht davon, weil sie schließlich die Betten machte, aber das störte Grete nicht weiter. Marie würde nie etwas sagen.
Das Buch hatte Grete inspiriert. Als sie es zuerst gesehen hatte, hatte ihr der Haupttitel »Melusine« nichts gesagt. Auch nicht der Autor Jakob Wassermann. Sie hatte das Buch nur aus dem Bücherschrank von Bertas Mutter gezogen, weil als Unterzeile »ein Liebesroman« zu lesen war. Mehr aus einer Laune heraus als aus Vorsatz hatte sie es in ihrer Tasche verschwinden lassen und mit nach Hause genommen. Dort angekommen war sie direkt in ihr Mansardenzimmer gegangen und hatte das Buch unter ihrer Matratze versteckt. Nachdem sie dann am Abend zu Bett gegangen war, hatte sie es hervorgezogen und zu lesen begonnen. Sie war von der ersten Seite an gefesselt gewesen und in jener Nacht nicht zum Schlafen gekommen – sie hatte unbedingt wissen wollen, wie es mit Melusine ausging. Weil sie so ein merkwürdiges prickelndes Gefühl direkt unter ihrer Haut auslöste, hatte Grete seitdem vor allem die Stelle im Buch immer wieder aufgeschlagen, in der Vidl seine unbehandschuhte Hand auf Mellys nackte Brust legt. Vor allem diese Szene, aber auch noch einige andere, hatten ihr ein Gefühl für echte Leidenschaft vermittelt. Sie hatte gehofft, diese auch mit Fritz Oelzner zu erleben, doch bis heute war sie überzeugt, dass es nicht der Fall gewesen war. Wie das wohl mit dem Musketier dort hinten aussehen würde? Sie hätte einen solchen Mann für ihre ersten Erfahrungen wählen sollen und nicht so einen wie Fritz, der noch grün hinter den Ohren gewesen war, als sie sich näherkamen. Grete seufzte leise auf. Es war, wie es war, und ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Dabei hatte sie in ihren Augen alles dafür getan, damit es gelang. Nachdem sie sich in jener Nacht auf Fritzens Schoß niedergelassen hatte, hatte sie ihren Morgenmantel von den Schultern gleiten lassen, sodass sie nur noch ihr dünnes Nachthemd anhatte. Obwohl es eine laue Nacht gewesen war, hatten sich ihre Brustwarzen aufgerichtet, was auch Fritz nicht entgangen war. Er hatte stumm dagesessen, und seine Augen hatten ein Glänzen angenommen, das sie davor noch nicht an ihm gesehen hatte. Als er sich nicht weiter geregt hatte, hatte sie seine Hände in ihre genommen, angehoben und auf ihre schweren Brüste gelegt.
Ihr Atem war dabei vor Vorfreude schneller gegangen, und auch seine schweren Atemzüge hatte sie deutlich hören können. Ansonsten waren sie beide stumm geblieben. Fritz hatte begonnen, seine Finger zu bewegen und ihre Brüste durch das Nachthemd zu kneten. Erst zaghaft, was Gretes Körper gefallen hatte, doch dann waren seine Bewegungen nach und nach forscher geworden, und die junge Frau war sich schnell vorgekommen wie ein Hefeteig, den Fritz akribisch auswalkte. Einmal hatte er so fest zugedrückt, dass sie vor Schmerz aufgequiekt hatte. Daraufhin hatte Fritz zu stöhnen angefangen – lang und anhaltend. Und dann war plötzlich alles vorbei gewesen. Als hätte er sich daran verbrannt, hatte Fritz abrupt seine Hände von ihren Brüsten gezogen und sie neben sich auf der Bank aufgestützt. Dabei hatte er zur Seite geblickt. Grete hatte sich von seinem Schoß erhoben, sich nach ihrem am Boden liegenden Morgenmantel gebückt, ihn wieder angezogen und den Gürtel straff gezogen. Sie wusste noch genau, wie sie sich gefragt hatte, ob es das jetzt gewesen sei, und als hätte Fritz ihre stille Frage gehört, hatte er ihr den Kopf zugewandt und sie verschämt angeblinzelt. Daraufhin war auch er aufgestanden, hatte ihr mit spitzen Lippen einen kurzen harten Kuss auf den Mund gedrückt und mit belegter Stimme »Danke« gemurmelt.
»Gern«, hatte Grete erwidert, weil ihr in diesem Moment nichts Besseres eingefallen war. Sie könnte sich jetzt noch dafür ohrfeigen. Nicht sie hatte ihm ein Geschenk machen wollen. Er hätte ihr eines machen sollen! Eines, das besser als alle Bücher zusammen war. Die Verabschiedung war entsprechend kurz ausgefallen – Fritz war mitsamt der ausgeblasenen Kerze in der Dunkelheit verschwunden. Grete hatte sich leise die Treppe hinauf in ihre Stube geschlichen, in ihr Bett gelegt und erst spät einschlafen können. Diesmal war es nicht die Aufregung gewesen, die sie wachgehalten hatte, sondern die Ernüchterung. Dennoch waren auf dieses erste Treffen noch einige weitere nachts in der Dunkelheit gefolgt. Fritz Oelzner hatte sich dabei von Mal zu Mal weiter an ihrem Körper vorgetastet, während sie sich mit jedem Mal mehr dem Bann der ersten Verliebtheit entzogen hatte. Körperliches Zusammensein hatte sie sich anders vorgestellt. So hatte sie oft Fritzens Hand geführt, damit ihr wenigstens nicht allzu unwohl bei der Sache wurde. Vor jedem weiteren Treffen hatte sie gehofft, seine Berührungen würden nicht mehr ganz so linkisch sein, wurde jedoch jedes Mal wieder enttäuscht. Es war gekommen, wie es kommen musste: Am Ende hatte sie ihm ihre Jungfräulichkeit geschenkt, woraufhin ihre Empfindungen für ihn gänzlich erkalteten. Gerade jetzt, hier auf dem Maskenball, war sie dankbar dafür, so klug gewesen zu sein, mit Fritz zu brechen. Andernfalls würde vermutlich jetzt nicht Berta neben ihr stehen, sondern Fritz, und er würde ihr keine Möglichkeit lassen, sich anderweitig umzuschauen. Grete wusste selbst, dass sie nach Liebe oder wenigstens Gunstbezeugungen lechzte, weil ihre Mutter Ida ihr so wenig entgegenbrachte. Und war Mutterliebe nicht das Elixier eines jeden Kindes? Obwohl sie Berta immer wieder damit aufzog, beneidete sie die Freundin insgeheim um deren Mutter, die ihre drei Kinder mit Liebe überschüttete. So konnte Berta in Ruhe auf den Richtigen warten und musste ihn sich nicht suchen wie sie selbst.
»Einen schönen Abend die Damen«, wurde Grete plötzlich von einer ihr unbekannten Männerstimme aus ihren Gedanken gerissen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie den Blick während ihrer Erinnerungen zu Boden gesenkt hatte. Sie schaute auf und sah sich dem grinsenden Gesicht des Musketiers gegenüber. Sofort fielen ihr seine durchdringenden blauen Augen auf, die sie frech fixierten: »Lust auf ein Tänzchen?«
Grete lächelte. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass sie gerade den ersehnten Richtigen vor sich sah und ihre Suche endlich ein Ende hatte.
*
Grete und der Musketier tanzten fast den ganzen Abend miteinander. Die junge Frau kam sich vor wie die inoffizielle Ballkönigin, so sehr machte ihr der junge Mann, der sich ihr als Johannes Merker vorgestellt hatte, vor aller Augen den Hof. Sie schätzte ihn auf etwas über 20. Wie sie später erfahren sollte, war er 22 Jahre alt – knapp dreieinhalb Jahre älter als sie selbst.
Ihre Großmutter, die für jede sich bietende Situation eine Volksweisheit auf Lager gehabt hatte, hatte auch eine zum Tanzen gehabt: »Harmoniert ein Paar gut auf dem Parkett, passt es auch sonst im Rhythmus des Lebens gut zusammen.«