Heideglut - Kathrin Hanke - E-Book

Heideglut E-Book

Kathrin Hanke

4,7

Beschreibung

In der Lüneburger Heide brennt es lichterloh. Zuerst sieht alles nach einem unglückseligen Zufallsbrand aus, entfacht durch pure Unachtsamkeit. Bei den Löscharbeiten wird jedoch eine verkohlte Leiche gefunden. Das ruft Kommissarin Katharina von Hagemann und ihre Kollegen auf den Plan - war es ein Unfall oder Mord? Die grausame Antwort lässt nicht lange auf sich warten, weitere Brände in der Umgebung folgen, doch der Täter ist kein klassischer Brandstifter. Der Feuerteufel ist mehr: Ein Serienmörder, der in jedem Feuer einen Menschen verbrennen lässt.

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Kathrin Hanke / Claudia Kröger

Heideglut

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Visions-AD – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4970-3

Widmung

Für Vincent

Kathrin Hanke

Für Wolfgang und Edda

Claudia Kröger

Brauchstumsfeuer

Das Abbrennen von Brauchtumsfeuern kann im Einzelfall auf Antrag genehmigt werden. Hierbei gilt:

Der Antrag ist spätestens zwei Wochen vorher bei der Hansestadt Lüneburg zu stellen.

Als Brennmaterial sind nur trockenes Holz, Gehölz und Strauchschnitt zu verwenden.

Das Brennmaterial darf erst am Tag der Veranstaltung auf die Feuerstelle gelegt werden.

Zum Anzünden des Feuers dürfen nur feste Brennstoffe verwendet werden.

Bei starkem oder böigem Wind darf das Feuer nicht abgebrannt werden.

Das Feuer ist ständig durch für den Feuerschutz geeignete Personen unter Aufsicht zu halten.

Innerhalb der bebauten Ortslage darf das Feuer maximal eine Grundfläche von 2 m2 und eine Aufschicht–höhe von 1 m haben. Der Abstand des Feuers zur Wohnbebauung muss mindestens 50 m betragen, zu anderen Gebäuden, Baumbeständen, Gehölzen, Hecken und Einzelbäumen 25 m und mindestens 100 m zu öffentlichen Verkehrsflächen. In begründeten Einzelfällen können die Abstände verringert werden.

Außerhalb der bebauten Ortslage darf das Feuer maximal eine Grundfläche von 16 m2 und eine Aufschicht–höhe von 3 m haben. Der Abstand des Feuers zur Wohnbebauung muss mindestens 100 m betragen, zu anderen Gebäuden, Baumbeständen, Gehölzen, Hecken und Einzelbäumen 50 m und mindestens 100 m zu öffentlichen Verkehrsflächen. In begründeten Einzelfällen können die Abstände verringert werden.

(aus: Dritte Verordnung der Hansestadt Lüneburg zur Änderung der Verordnung der Stadt Lüneburg über die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (SOV) vom 20.10.1994 in der Fassung der zweiten Änderungsverordnung vom 29.09.2005, § 9 Offene Feuer im Freien)

Prolog:

Samstag, 4. April 2015

23:37 Uhr

Er starrte in die Flammen. Er hatte es nicht gewollt, doch nun war es passiert. Es war ein Missgeschick gewesen, eine Unachtsamkeit, Zufall. Oder vielleicht auch Schicksal. Je nachdem, ob man daran glaubte. Er hatte es bisher nicht getan. Dafür war sein erstes Leben zu mies gewesen und sein zweites in jedem Schritt von ihm vorhergeplant. Konnte ja sein, dass der Spruch »Das Leben ist wie ein Bumerang, irgendwann kommt alles zurück« doch stimmte. Er musste grinsen, und wenn ihn jemand in diesem Moment beobachtet hätte, hätte er sich bei dem Anblick gegruselt. Es war ein diabolisches, fratzenhaftes Grinsen, was nicht nur am Feuer lag, das auf seinem Gesicht auf diese ganz eigentümliche Art Licht und Schatten tanzen ließ. Er fühlte sich unerwartet gut. Irgendwie befreit. Von einem Schmerz befreit. Keinem großen, kurzen und heftigen Schmerz, sondern von einem eher kleineren, dafür immerwährenden. Ein Schmerz, wie ihn ein winziger Splitter verursacht, der sich nicht mit der Pinzette oder einer Nadel erwischen lässt. Einer, der sich Stück für Stück immer weiter ins Fleisch schiebt, bis es ihn hinaus zu eitern beginnt. Die Flammen, die er zu Beginn gar nicht beabsichtigt hatte, waren sein Eiter. Seine ganz persönliche Wunde hatte sich sprichwörtlich entzündet. Wieder musste er grinsen. Der Vergleich gefiel ihm. Er hatte das Gefühl, für ihn habe gerade ein drittes Leben begonnen, obwohl er es gar nicht geplant hatte.

Als es ihm zu heiß wurde, trat er langsam drei Schritte zurück. Dann drehte er sich ganz von den Flammen weg, die inzwischen auch die umliegenden Bäume erfasst hatten, stieg in sein wenige Meter entfernt stehendes Auto und fuhr davon. Nach mehreren Regentagen war es heute ausnahmsweise trocken, und er musste seine Scheibenwischer nicht anstellen.

Gedicht

Die Glocken läuten das Ostern ein

In allen Enden und Landen

und fromme Herzen jubeln darein!

Der Lenz ist wieder entstanden.

Es atmet der Wald, die Erde treibt

und kleidet sich lachend mit Moose

und aus den schönen Augen reibt

den Schlaf sich erwachend die Rose.

Das schaffende Licht, es flammt und kreist

und sprengt die fesselnde Hülle

und über den Wassern schwebt der Geist

unendliche Liebesfülle.

(Am Ostersonntag, Adolf Böttger)

1. Kapitel:

Ostersonntag, 5. April 2015

00:08 Uhr

Katharina von Hagemann fuhr nicht über die Autobahn nach Lüneburg zurück, sondern über die kleinen Ortschaften. Sie hatte ein Glas billigen Sekt zu viel getrunken und wollte eine Begegnung mit einer Streife vermeiden. Natürlich wusste sie als Kommissarin, dass sie besser nicht mehr hätte fahren sollen. Und sie wusste auch, dass ihr ebenso auf der Landstraße eine Streife begegnen konnte. Aber hier konnte sie wenigstens langsamer fahren und wurde nicht von anderen nächtlichen Heimfahrern mit der Lichthupe bedrängt.

Katharina pustete sich eine rote Locke aus dem Gesicht, warf einen kurzen Blick auf den Sitz neben sich und fühlte, wie ihr warm ums Herz wurde. Sie nahm ihre rechte Hand vom Lenkrad und legte sie sanft auf das Knie ihres Beifahrers. Bene schlief tief und fest neben ihr und kommentierte ihre Berührung mit einem kleinen Aufschnarchen. Katharina musste lächeln. Wenn sie ihm das erzählen würde, würde er es wie immer vehement abstreiten. Er wollte einfach nicht wahrhaben, dass er schnarchte. Er tat es auch nicht regelmäßig. Nur wenn er, was recht selten vorkam, Alkohol getrunken hatte. Als Barmann, der nahezu täglich mit alkoholischen Getränken zu tun hatte und nicht weniger häufig mit betrunkenen Gästen, gehörte es für ihn zu seinem Berufsethos, selbst keine harten Spirituosen zu sich zu nehmen. Das hieß nicht, dass Bene gänzlich auf Alkohol verzichtete. Doch trank er sowieso nur, wenn er privat unterwegs war, und hier ausschließlich mit Menschen, denen er vertraute. Als er jünger war, hatte er wohl häufiger einmal einen über den Durst getrunken – sehr viel wusste Katharina nicht über diesen Lebensabschnitt von Bene, da sie ihn erst vor etwa vier Jahren kennengelernt hatte und er nicht gern über seine Vergangenheit sprach. Sie hatte hier und da etwas aufgeschnappt, und ganz zu Beginn ihrer Zeit in Lüneburg hatte Benes Zwillingsbruder Benjamin Rehder, der gleichzeitig ihr Chef war, ihr in groben Zügen davon berichtet, aus Sorge, dass sie aus anderen Ecken falsche Informationen bekam. Auf jeden Fall wusste sie, dass Bene damals auf die schiefe Bahn geraten war, und er es in erster Linie Benjamin zu verdanken hatte, dass er nicht hinter Schwedischen Gardinen gelandet war.

Jetzt kamen sie beide gerade aus Hamburg, der Stadt, in der Katharina aufgewachsen war und die sie dennoch nicht als Heimatstadt empfand, was nicht zuletzt an dem schlechten Verhältnis zu ihren Eltern, insbesondere zu ihrem Vater, lag. Ihre Heimat war inzwischen das nur ungefähr 50 Kilometer von Hamburg entfernte Lüneburg, in das sie als Kind mit ihren Eltern manchmal Ausflüge gemacht hatte. Damals hatte sie die Heidestadt mit ihrem mittelalterlichen Stadtkern als friedvoll empfunden, wenn nicht sogar als langweilig beschaulich – heute wusste sie als Kommissarin, dass auch Lüneburg seine Abgründe hatte, die sie immer wieder vor Herausforderungen stellten, und alles andere als langweilig waren. Im Gegenteil waren sie oftmals sogar ziemlich nervenaufreibend. Und dennoch: Obwohl sie erst seit vier Jahren in Lüneburg lebte – auf den Tag genau so lange, wie sie auch Bene kannte, schoss es ihr durch den Kopf – fühlte sie sich in dem Heideort bereits tief verwurzelt und der Stadt mehr verbunden, als der, in der sie geboren und aufgewachsen war. Das lag in erster Linie an den Menschen, die sie hier kennengelernt hatte und die zu Freunden geworden waren. Aber es lag auch an Lüneburg selbst, der kleinen alten Hansestadt, die inzwischen eine angesehene Universitätsstadt war und trotz ihrer langen, bewegten Geschichte so pulsierend und jung geblieben war. Katharina hatte einfach das Gefühl, dass die Stadt selbst sie verstand. Sie konnte es nicht besser als mit diesen Worten beschreiben, aber Lüneburg passte sich, so kam es ihr vor, jederzeit an ihre persönlichen Launen an. Hatte sie gute Laune und wollte unter Menschen sein, ging sie einfach in der Innenstadt ein wenig flanieren oder setzte sich in eines der unzähligen Cafés. Hatte sie schlechte Laune blieb sie in ihrer kuscheligen Giebelhauswohnung. War sie nachdenklich gestimmt, setzte sie sich an die Ilmenau und schaute dem steten Fließen des Flusses zu. War ihr nach Kultur, fand sich immer irgendwo etwas Interessantes, und für weite Spaziergänge lud die nähere Umgebung sowieso jederzeit ein. Aus all diesen Gründen hatte Katharina sich auch anfänglich gesträubt, zum Osterfeuer an den Hamburger Elbstrand zu fahren. Bene hatte sie jedoch am Ende überredet, da seit diesem Jahr in Lüneburg eine neue Regelung für Osterfeuer galt, die unter anderem eine bestimmte Feuergröße vorschrieb, die die Feuer im Vergleich zu den letzten Jahren auf die Hälfte ihrer Größe reduzierten.

»Da kann ich mich auch alleine mit dem Feuerkorb auf irgendeinen Parkplatz stellen«, hatte Bene spöttisch gesagt, und weil es Katharina letztlich nicht wirklich wichtig gewesen war, hatte sie zugestimmt, mit ihm nach Hamburg zu fahren. Den Sekt hatten sie an einer kleinen Bude ausgeschenkt bekommen, und als Katharina jetzt durch die Dunkelheit fuhr, merkte sie einen aufsteigenden Kopfschmerz. So selten, wie sie Sekt trank, so wenig vertrug sie ihn. Sie durfte auf keinen Fall vergessen, vor dem Schlafengehen noch ein Aspirin zu nehmen, um einen Kater am nächsten Morgen zu verhindern.

Katharina gähnte. Sie fuhr gerade durch Vierhöfen. Zum Glück war sie gleich zu Hause und konnte schlafen. Sollte sie Bene noch kurz in der Grapengießerstraße absetzen? Er hatte gestern schon bei ihr übernachtet, und normalerweise vermieden sie es, zweimal hintereinander die Nacht miteinander zu verbringen. Warum eigentlich?, fragte sich Katharina, denn darüber gesprochen hatten sie nie. Es hatte sich einfach so eingebürgert. Dann würde sie das heute ändern. Sie hatte schlicht keine Lust, noch bei Bene rumzufahren, um ihn abzusetzen. Außerdem war es nach so einem netten Abend wie diesem schön, nebeneinander einzuschlafen. Katharina musste lächeln. Vor ein paar Monaten hatte sie noch ganz anders darüber gedacht. Da hatten sie eine unverbindliche, mehr oder minder auf Sex reduzierte Beziehung geführt. Doch dann hatte sie einen Fall zu klären gehabt, der nicht nur ihr, sondern auch Bene hart an die Nieren gegangen war: Benjamin Rehder war entführt worden, und sie beide hatten nicht gewusst, ob sie ihn je lebend wiedersehen würden. Noch jetzt musste Katharina schlucken, wenn sie daran dachte – sie hätte nicht nur ihren Chef verloren und Bene seinen Bruder, sondern beide auch einen guten Freund.

Katharina wurde aus ihren Gedanken gerissen. Ungefähr dort, wo ihrem Gefühl nach das Waldbad Westergellersen liegen musste, erregte ein hochflackerndes Licht ihre Aufmerksamkeit. Sie runzelte die Stirn. Natürlich konnte das noch eines der unzähligen Osterfeuer im Landkreis sein, aber die Flammen schienen ihr sehr hoch angesichts der neuen Begrenzung der Osterfeuer. Oder war das außerhalb der Stadt Lüneburg anders geregelt? Katharina wusste es nicht, und im Grunde war es ihr auch egal. Es war nicht ihre Aufgabe, dort nach dem Rechten zu schauen und höchstwahrscheinlich einige feucht-fröhlich feiernde Jugendliche aufzuscheuchen. Sie musste erneut gähnen und konzentrierte sich wieder auf die Straße.

09:21 Uhr

Benjamin Rehder schimpfte leise vor sich hin. Seit zehn Minuten kämpfte er nun bereits mit Geschenkpapier, Tesafilmabroller und Schleifenband und war mit dem Ergebnis dennoch unzufrieden. Zum wiederholten Male ärgerte er sich, dass er das Geschenk für seine elfjährige Nichte Leonie nicht direkt im Laden hatte einpacken lassen. Nächstes Mal würde er das tun, oder aber etwas schenken, was sich einfacher verpacken ließ, einen Spielekarton zum Beispiel. Gleichzeitig wusste er jedoch, dass es ihm auch beim nächsten Mal nur darauf ankommen würde, was seine Nichte sich wünschte, egal wie unförmig es war. Er liebte Leonie, als wäre sie seine eigene Tochter, und konnte ihr keinen Wunsch abschlagen, sehr zum Leidwesen von Juliane Lippert, Leonies Mutter. Juliane, die von allen nur Julie genannt wurde, war der Meinung, dass Leonie von den Großeltern, also Bens und Benes Eltern, bereits genug verwöhnt wurde. Und seit Bene vor vier Jahren unerwartet nach Lüneburg zurückgekehrt war, um festzustellen, dass er Vater einer damals bereits achtjährigen Tochter war, hatte auch er keine Gelegenheit ausgelassen, seinen kleinen Engel zu beschenken und glücklich zu machen. Ben lächelte bei dem Gedanken an seinen Zwillingsbruder. Nachdem Bene Jahre zuvor Lüneburg Hals über Kopf verlassen hatte, nicht ahnend, dass Julie von ihm schwanger war, hatte Ben ein Stück weit nicht die Vater- aber zumindest die Beschützerrolle für Julie und ihre Tochter übernommen. Er war nicht nur Leonies leiblicher Onkel, sondern zudem noch ihr Pate. Dass Bene sich nach seiner Rückkehr und nachdem er den ersten Schock über die unverhoffte Vaterschaft verdaut hatte, so gut in das Dasein des fürsorglichen Papas einfinden würde, hatte niemand vermutet. Auch wenn aus ihm und Julie nicht wieder ein Paar geworden war, kümmerten sie sich inzwischen beide in harmonischer Abstimmung um das Mädchen. Leonie wiederum nahm die viele Liebe, die ihr entgegengebracht wurde, gern entgegen und gab sie ebenso zurück. Sie war nicht nur ein hübsches Mädchen, sondern obendrein ziemlich aufgeweckt, und vor neuen Freundinnen machte sie sich gern einen Spaß daraus, dass es »ihren Vater gleich zweimal gab«, wie sie immer dann lachend betonte. Auch die Tatsache, dass Vater und Onkel fast den gleichen Namen hatten, fand sie urkomisch. Das konnte allerdings niemand so recht nachvollziehen, am allerwenigsten Benjamin und Benedict Rehder, die diese Namensgleichheit ziemlich nervig fanden und ihren Eltern schon immer Vorwürfe deswegen gemacht hatten. Für das gleiche Aussehen der Zwillinge konnte schließlich keiner etwas, für die Vornamen jedoch schon. »Aber Benjamin hat ein kurzes E und Benedict ein langes, ich weiß also gar nicht, was ihr habt«, wehrte ihre Mutter, Sigrid Rehder, jedoch stets ab, und die Söhne beließen es meistens mit einem Augenrollen dabei, denn ändern konnten sie es jetzt sowieso nicht mehr.

Heute hatte Julie, die nicht nur eine enge Freundin von Ben, sondern, wie es der Zufall wollte, auch noch die Nachbarin und mittlerweile gute Freundin von Katharina war, zum Osterbrunch eingeladen. Ben freute sich darauf. Er war nicht religiös, deswegen ging es ihm nicht darum, dass Ostern ein kirchliches Fest war. Er fand Ostern schlicht und ergreifend deutlich entspannter als Weihnachten, und seit seinem letzten schaurigen Weihnachtsfest, das er beinahe nicht überlebt hätte, sowieso. Doch Ostern hatte für ihn auch etwas mit dem Beginn der Sommermonate zu tun, der Zeit, in der alles neu zum Leben erwachte und die Umgebung immer grüner wurde. Außerdem würden Katharina und Bene auch dort sein sowie sein Freund Alexander. Das wunderte ihn zwar ein wenig, da Alex kein Familienmitglied war, aber vielleicht hatte Julie einfach freundlich sein wollen. Schließlich war Alex schon seit Schulzeiten Bens bester Freund, und als Alex neulich seinen Geburtstag etwas größer gefeiert hatte, hatte er Julie ebenfalls eingeladen. Nur seine und Benes Eltern würden heute fehlen. Sie genossen mal wieder ihr Rentnerdasein und verbrachten die Osterfeiertage auf Island.

20 Minuten später und etwas zu früh stand Ben vor der Tür zu dem Mehrfamilienhaus, in dem Julie mit Leonie wohnte, und klingelte. Der Summer ertönte sofort, und während er noch das Treppenhaus betrat, wurde bereits die Tür zu Julies Wohnung stürmisch aufgerissen. Leonie flog ihm freudig entgegen, als er oben ankam. »Hallo, Ben! Toll, dass du da bist!«

»Klar«, antwortete Ben grinsend und gab seiner Nichte, die für ihr Alter recht groß und nicht mehr viel kleiner war als er selbst, einen Kuss. »Ich muss doch schließlich Ostereier für meine Lieblingsnichte verstecken.«

»Haha«, antwortete Leonie ein wenig entrüstet, »für so einen Babykram bin ich ja nun langsam echt zu alt.«

»Ach ja, stimmt! Wahrscheinlich bist du also auch zu alt für dein Ostergeschenk. Das kann ich ja dann jemand anderem schenken, zum Beispiel …« Ben kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn Leonies vor Vorfreude strahlende Augen hatten längst das große unförmige Paket entdeckt, das er hinter seinem Rücken in einer Tüte verborgen hielt, und nach dem sie jetzt griff. Er reichte es Leonie und sah ihr lächelnd hinterher, als sie damit in Richtung Wohnzimmer verschwand. Ben trat in die Wohnung und ging auf die Küche zu, wo er Julie vermutete. Außer ihm war sicher noch niemand da, weil es noch früh war. Als er die Küche betrat, sahen ihm jedoch vier Augen entgegen. Julie stand wie erwartet am Herd, und direkt daneben, in Bens Augen sehr dicht, stand Alexander.

»Hi!«, begrüßte sein ältester Freund ihn, trat auf Ben zu und nahm ihn in den Arm. Ben erwiderte die Geste, schlug Alexander freundschaftlich auf die Schulter und sah dann zu Julie. Täuschte er sich oder hatte Julie etwas betreten dreingeschaut? So, als hätte er sie bei irgendetwas ertappt? Er verwarf den Gedanken, nahm sie in den Arm und sagte fröhlich: »Hallo, Julie! Vielen Dank für die Einladung, und Fröhliche Ostern! Wenn es so schmeckt, wie es jetzt schon duftet, dann wird das hier wieder einmal ein Festmahl!«

»Schmeichler«, lächelte Julie und gab Ben einen Kuss auf die Wange. »Schön, dass du da bist!« Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr. »Bene und Katharina werden bestimmt auch gleich rüberkommen, denn wenn ich mich nicht täusche, ist Bene schon bei ihr – oder immer noch«, fügte sie mit einem verständnisvollen Lächeln hinzu.

Die drei Erwachsenen gingen ins Wohnzimmer, wo Leonie auf dem Sofa saß, neben sich das große Paket von Ben. Gespannt sah sie ihre Mutter an. »Darf ich schon auspacken, Mama?«

Julie lächelte. »Na mach schon, Süße«, sagte sie. »Ist ja schließlich nicht Weihnachten, wo wir eine feierliche gemeinsame Bescherung machen.« An Ben gewandt sagte sie: »Etwas kleiner hätte es auch getan, Ben. Es ist Ostern, nicht Weihnachten und Geburtstag zusammen.«

Ben zuckte nur mit den Achseln. »Lass mich ihr doch eine Freude machen, ich hab schließlich nur diese eine Nichte.«

»Noch zumindest«, grinste Alexander. »Man weiß ja nie …« Ben wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte. Er hatte sich zwar längst damit abgefunden, dass seine beste Mitarbeiterin und sein Zwillingsbruder eine Beziehung führten, aber das enge Verhältnis der beiden in den letzten Monaten war dann doch etwas anderes als die lose Geschichte in den Jahren davor. Die Vorstellung, Bene und Katharina könnten eine eigene Familie gründen … Das Klingeln seines Handys riss Ben aus seinen Gedanken, und er war nicht unglücklich, dass ihm dadurch eine Antwort auf Alex’ Bemerkung erspart blieb. Als er die Nummer auf dem Display sah, stöhnte er jedoch – es war seine Dienststelle. Mit dem Handy am Ohr verschwand er in Richtung Flur. Als er zwei Minuten später wieder das Wohnzimmer betrat, sah er Julie entschuldigend an.

»Sag, dass das nicht wahr ist«, bedauerte Julie. »Du musst jetzt nicht schon wieder los, oder?«

»Doch, ich fürchte ja. Und so wie es aussieht, muss ich dir auch Katharina entführen, bevor sie überhaupt hier ist – Tobi ist im Urlaub, und wir haben einen Leichenfund, das möchte ich nicht mal eben schnell allein abwickeln. Es tut mir wirklich leid, das weißt du …«

Leonie sah ihn an, und ihr Blick spiegelte Verärgerung und Enttäuschung wider. »Och nö. Eigentlich finde ich es ja ganz cool, dass mein Onkel bei der Polizei ist, aber an so Tagen wie heute ist das einfach nur doof. Dann mach ich dein Geschenk jetzt doch noch nicht auf. Du versprichst, dass du später noch mal herkommst, und dann packe ich es aus. Versprichst du, dass du nachher wiederkommst?« Ben lächelte seine Nichte an. »Versprochen! Ich weiß aber nicht, wann das sein wird.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Okay, ich muss echt los. Sei nicht böse, Julie, ich hoffe, es dauert nicht lange, und dann komme ich auf jeden Fall mit Katharina zusammen wieder her.« Sein schlechtes Gewissen stand ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben wie Julie der Verdruss. »Wenn ich darf«, setzte er hinzu.

Julies Miene entspannte sich, und sie grinste. »Hau schon ab, Herr Hauptkommissar. Wir kennen das ja schließlich von dir. Und wenn du nachher nicht kommst, bekommst du richtig Ärger, das verspreche ich dir!« In diesem Moment klingelte es an der Tür. Ben öffnete sie, sah in die strahlenden Gesichter von Katharina und seinem Zwillingsbruder und hatte nun endgültig ein mieses Gefühl – jetzt würde er den beiden auch noch den gemeinsam geplanten Tag verderben. »Tut mir leid, Katharina«, sagte er knapp, »schnapp dir eine Jacke – wir müssen los.«

Zitat

Ein dreifaches Gut-Schlauch!

(Schlachtruf der Ortsfeuerwehr Lüneburg-Oedeme)

2. Kapitel:

Ostermontag, 6. April 2015

10:17 Uhr

Benjamin Rehder saß an seinem Schreibtisch im Büro und blätterte seine Notizen vom Vortag durch. Viel hatte der Besuch des Tatorts gestern nicht ergeben. Bisher wussten sie nicht einmal, ob es wirklich ein Tatort war. Die Feuerwehr war zwar relativ sicher, dass es sich bei dem Feuer auf der kleinen Lichtung in dem Waldstück bei Westergellersen um kein natürliches handelte, sondern ging von Fahrlässigkeit oder sogar mutwilliger Brandstiftung aus, doch auch das musste noch nachgewiesen werden. Die Tatsache, dass man noch während der umfangreichen Löscharbeiten einen verkohlten Leichnam im mutmaßlichen Brandherd entdeckt hatte, verstärkte die Vermutung auf Brandstiftung, aber noch konnte niemand sagen, ob es sich bei der Leiche um eine vorsätzliche Ermordung oder um ein überraschtes Opfer des Feuers handelte. Vielleicht sogar um den Brandstifter selber? Zum jetzigen Zeitpunkt gab es weit mehr offene Fragen als klare Ergebnisse – bis auf Reifenspuren, etwas weiter von der Brandstelle entfernt, die jedoch zum Teil durch den Feuerwehreinsatz zerstört worden waren, hatten sie bisher nichts gefunden. Aus diesem Grund hatte Ben sich heute mit Katharina im Büro verabredet, obwohl damit auch der zweite Osterfeiertag dem Job zum Opfer fiel.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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