Mordheide - Kathrin Hanke - E-Book + Hörbuch

Mordheide E-Book und Hörbuch

Kathrin Hanke

4,7

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Beschreibung

Der 10-jährige Leon, Pflegesohn einer Architektin, wird vermisst. Bald darauf wird der Junge gefunden - ermordet. Erste Verdächtige sind schnell ermittelt, darunter Leons leibliche Mutter, die ihrer dubiosen Vergangenheit nie ganz entkommen ist. Auch deren Freund gerät unter Verdacht, ebenso wie Leons leiblicher Vater. Dann ist da noch der etwas fragwürdige Nachbar, der auffallend viel Zeit mit Leon verbrachte. Und was ist mit der Pflegemutter? Katharina von Hagemann und ihre Kollegen haben viele Ansätze, aber keine konkrete Spur. Werden sie dennoch Leons Mörder finden, oder wird das ihr erster unaufgeklärter Fall?

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Seitenzahl: 318

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Zeit:7 Std. 5 min

Sprecher:Svenja Pages
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K. Hanke / C. Kröger

Mordheide

Der 6. Fall für Katharina von Hagemann

Zum Buch

Grausame Heide Der 10-jährige Leon Guntram, Pflegesohn der vermögenden Architektin Anja Buse, wird vermisst. Eine großangelegte Suchaktion hat schließlich Erfolg – ein Spürhund schlägt an einem Holzschuppen an, in dem die Ermittler die aufgebahrte Leiche des Kindes finden. Der Junge ist ermordet worden. Schnell findet sich eine stattliche Anzahl an Verdächtigen. Allen voran Leons leibliche Mutter, die als Webcam-Girl ihr Geld durch virtuellen Sex via Internet verdient. Und was ist mit deren Freund und „Manager“? Er ist anfänglich für die Kommissare schwer zu durchschauen, ähnlich wie Leons leiblicher Vater, ein verheirateter Geschäftsmann. Hinzu kommt der merkwürdige Nachbar von Anja Buse. Er hat sich gern um den Jungen gekümmert, wenn dessen Pflegemutter einen „Babysitter“ gebraucht hatte. Wird das Team um Katharina von Hagemann Erfolg haben und Leons Mörder auf die Spur kommen oder müssen Sie befürchten, dass ihm weitere Kinder zum Opfer fallen?

Kathrin Hanke studierte in Lüneburg Kulturwissenschaften, bevor Sie als Werbetexterin ihre Brötchen verdiente. Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie in Hamburg.

Claudia Kröger ist gelernte Verlagskauffrau und heute als freiberufliche Redakteurin und Texterin tätig. Sie wohnt mit ihrem Mann in der Nähe von Lüneburg.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © krottorfer/pixabay.com

und © pencake/photocase.de

ISBN 978-3-8392-5650-3

Widmung

Für Amelie

Kathrin Hanke

*

Für Constanze und Carsten

Claudia Kröger

Gedicht

Guten Abend, gut’ Nacht,

mit Rosen bedacht,

mit Näglein besteckt,

schlupf unter die Deck:

Morgen früh, wenn Gott will,

wirst du wieder geweckt.

(1. Strophe des Wiegenlieds von Johannes Brahms, ursprünglicher Text von Clemens Brentano)

 

Prolog:

Montag, 07.08.2017

19.03 Uhr

Im Gegensatz zu den Bergen, Wäldern oder auch dem Meer liebte er die Heidelandschaft. Nicht aus den Gründen, aus denen es die meisten Leute taten – weil sie die Heideblüte so hübsch fanden, weil sie hier aufgewachsen waren oder weil sie den perfekten Boden für allerlei Aktivitäten bot. Er liebte die Heide, weil sie nicht so war, wie andere Landschaften. Berge schauten entweder auf einen herab oder stießen einen gar vom Gipfel, Wälder ließen kaum Licht zu, und das Meer zeigte sich gern sanft, bevor es sich mit einer Welle nahm, was es wollte. Die Heide war nicht so bedrohlich und unberechenbar. Die flache, weit überschaubare Landschaft mit ihren Wacholderbüschen, den Birken und natürlich der Besenheide, die ihr ihren Namen gegeben hat, war für ihn das Sinnbild an Stärke, ohne ihre Macht demonstrieren zu müssen. Sie ließ sich einfach nicht bezwingen. Von niemandem, obwohl vor allem Wind und Wetter sie immer wieder zum Opfer machen wollten. Doch das, was sie hervorbrachte, blieb standhaft, indem es sich den Bedingungen beugte. Er wollte so sein wie sie, wie die blühende Heidelandschaft, die er gerade wehmütig durchwanderte.

Auch jetzt bogen sich wieder die Birken im Wind, oder, wie er es empfand, mit dem Wind, und so konnte dieser ihnen nichts anhaben. Und die Pflanzen der Heide, die es nicht geschafft hatten und nur noch als toter Stumpf aus dem Boden lugten oder gar entwurzelt ihr Terrain wie ein Mahnmal schmückten, waren für ihn diejenigen, die sich in ihrer natürlichen Reinheit wie Helden dem Bösen hingegeben hatten, um die Landschaft in ihrer Gänze zu retten. Hier, in dieser Landschaft, fühlte er sich verstanden und nicht so bedrängt wie von den Bäumen in dem Wald, in dem er noch vor gut einer Stunde gewesen war und den Jungen schlafen gelegt hatte. Der Wald war heute für seine Zwecke notwendig gewesen, da er es nicht noch einmal hatte riskieren wollen, dass er beim Spiel mit dem Kleinen gestört wurde. Und genau das war sein Fehler gewesen – in dem Bewusstsein, sich in Ruhe hingeben zu können, hatte er seinen Kopf verloren. Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Wie immer hatte er dem Jungen einen Heidekranz um den Kopf gelegt, doch dieses Mal hatte er ihn ihm gelassen und nicht wieder abgenommen. Das war sein größtes und letztes Geschenk an ihn gewesen und nur eine kleine Geste des Dankes, denn der Junge hatte ihm so viel mehr gegeben – der Kleine hatte ihn zumindest für eine Weile vor seinen inneren Dämonen gerettet.

Inzwischen liefen ihm die Tränen über die Wangen – aus Trauer um den Jungen, aber auch vor Glück, denn er fühlte sich für den Moment frei. Er hoffte, dieses Gefühl würde lange anhalten. Sein Tun war der Liebe entsprungen und hatte sich im Rausch Bahn gebrochen. Wer sollte das besser wissen als er? Doch sicher würde niemand sonst es verstehen.

Als er die ersten Häuser des Dorfes sehen konnte, versiegte sein Tränenfluss wie auf Kommando. Sein Gesicht erstarrte zu einer Maske. Der Maske, die er den Menschen zeigte, seit das Schreckliche geschehen war.

Gedicht

Ein kleiner Schelm bist du

ja weißt du was ich tu,

ich steck dich in den Habersack

und bind ihn oben zu.

Und wenn du dann auch schreist,

ach bitte, lass mich raus,

dann bind ich ihn noch fester zu

und setz mich oben drauf.

(Kinderlied, Verfasser unbekannt)

1. Kapitel:

Dienstag, 08.08.2017

10.05 Uhr

Katharina sah in den Rückspiegel. Er stand noch immer am Parkplatz und winkte ihr hinterher. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie an die vergangenen Tage dachte. Bereits am Freitagnachmittag war sie in St. Peter-Ording angekommen und hatte ihr Zimmer im »Beach Motel« bezogen. Es war reines Glück gewesen, dass sie zu dieser Zeit überhaupt noch ein Zimmer in dem beliebten Urlaubsort an der Nordsee bekommen hatte, noch dazu in dem Hotel, das ihr bei der Onlinesuche als Erstes ins Auge gesprungen war. Nur fünf Minuten vor ihrem Anruf war eine Buchung in dem ansonsten voll besetzten Hotel storniert worden.

Katharina musste daran denken, wie es überhaupt zu ihrem Kurztrip gekommen war. Es war ein ziemlich spontaner Entschluss gewesen, und er war entstanden, als sie am Wochenende vor ihrer Reise bei Bene gewesen war. Nach einem köstlichen Essen, das er für sie beide zubereitet hatte, war er direkt auf den Punkt gekommen.

»Ich würde gern mit dir zusammenziehen«, waren seine ebenso liebevollen wie klaren Worte gewesen, die Katharina noch immer im Ohr klangen. Natürlich hatte sie sich im ersten Moment darüber gefreut, und es war ja auch nicht das erste Mal, dass dieses Thema auf den Tisch gekommen war. Doch zuvor waren es immer eher Andeutungen und Überlegungen für die Zukunft gewesen. Der konkrete Wunsch von Bene hatte sie an jenem Abend überfordert. Zwar war es bereits ein Dreivierteljahr her, dass ihre Mutter wieder bei ihr ausgezogen war und seitdem in einer süßen kleinen Zweizimmerwohnung im Lüneburger Hanseviertel wohnte, doch Katharina kam es vor, als sei es erst letzte Woche gewesen. Seitdem hatte sie ihre wiedergewonnene Freiheit mehr als genossen. Vor allem das Alleinsein, denn während der unfreiwilligen und über eineinhalb Jahre andauernden Tochter-Mutter-Wohngemeinschaft hatte sie sehr viel mehr Zeit bei Bene verbracht als in ihrer eigenen Wohnung. Das hatte sich seit Anne von Hagemanns Auszug wieder geändert. Katharina wusste, dass Bene darüber nicht unbedingt glücklich war, aber sie brauchte das einfach. Genauso wie das Gefühl, niemandem Rechenschaft darüber ablegen zu müssen, wohin sie ging oder wann sie nach Hause kam. Ein ums andere Mal fragte Katharina sich, ob sie ihre dahingehende Freiheit wirklich aufgeben wollte. Sie war sich da alles andere als sicher. Natürlich war es eine ganz andere Sache, mit seinem Freund zusammenzuwohnen, als die eigene Mutter bei sich zu beherbergen, doch in ihrer Unabhängigkeit, die der Kommissarin so immens wichtig war, würde sie auch dann eingeschränkt sein. So hatte sie Bene um ein bisschen Bedenkzeit gebeten. Begeistert war er nicht gewesen, doch er kannte Katharina inzwischen lange genug, und ihre Antwort hatte ihn nicht wirklich überrascht. Sie war ihm dankbar für sein Verständnis und schämte sich ein bisschen für ihre Unentschlossenheit, die ein anderer Mann vermutlich als Zeichen dafür gewertet hätte, dass ihre Liebe nicht ausreichend war. Als sie Bene dann jedoch mitgeteilt hatte, dass sie spontan ein paar Tage ans Meer fahren würde, um sich in Ruhe – und allein – Gedanken zu machen, hatte sie auch seine Geduld auf die Probe gestellt. Er hatte es zwar nicht gesagt, doch sein enttäuschter Blick hatte für sich gesprochen. Mit zwei dicken Büchern, luftigen Strandklamotten und der Entschlossenheit, für sich zu einem Ergebnis zu kommen, war sie dann an der Nordsee angekommen. Nun waren die Tage vorbei, und sie machte sich wieder auf den Rückweg nach Lüneburg und zu Bene – nur eine Entscheidung hatte sie noch immer nicht getroffen. Schuld daran war sie ganz allein, doch der Mann, der da hinten am Parkplatz stand und ihrem kleinen Sportwagen hinterher sah, war zumindest nicht ganz unbeteiligt.

Katharina hatte Ole bereits an ihrem ersten Tag am Meer getroffen. Sie hatte direkt nach ihrer Ankunft ihre Sachen nur kurz im Hotelzimmer verstaut, Shorts und ein ärmelloses Top übergestreift und war angesichts des schönen Wetters an den Strand gegangen. Nicht, um sich für Stunden in die Sonne zu legen, das war ihr zu langweilig und angesichts ihres eher blassen Teints obendrein nicht ratsam, sondern um einen ausgiebigen Spaziergang zu machen – sie liebte das Gefühl, wenn das Meerwasser ihre Füße umtanzte. Dabei, so hatte sie gehofft, würde sie den Kopf freibekommen, um sich darüber klar zu werden, was sie wollte. Weit war Katharina mit diesem Plan nicht gekommen. Sie war noch nicht einmal eine Stunde unterwegs gewesen, als ein paar Kitesurfer ihre Aufmerksamkeit erregt hatten. Die Kiter waren eindeutig keine Anfänger, das hatte Katharina sofort erkannt. So hatte sie sich bäuchlings in den Sand gelegt, um dem Treiben eine Weile zuzusehen. Sie bewunderte nicht zum ersten Mal das Können und die Eleganz von Menschen, die auf diese Weise mit der Kraft des Meeres spielten. Sie selbst hatte nie auf einem Brett gestanden. Als Kind hatte sie auf Drängen ihrer Eltern eine Segelschule besucht und war mit anderen Gleichaltrigen auf der Alster herum geschippert, aber wirklich Spaß hatte sie nicht daran gefunden. Irgendwann hatten ihre Eltern ein Einsehen gehabt und sie wieder abgemeldet. Inzwischen bereute sie, dass sie damals keinen längeren Atem gehabt hatte, und nahm sich immer wieder vor, ihre Segelkenntnisse von damals aufzufrischen. Über diese Gedanken musste Katharina am Strand offensichtlich eingeschlafen sein, denn als plötzlich ein paar dicke Wassertropfen auf ihren nackten Schultern gelandet waren, war sie erschrocken hochgefahren. Sie hatte nicht mitbekommen, dass die Kitesurfer inzwischen aus dem Wasser gekommen waren und bereits ihre Sachen zusammenpackten. Als sie dann hochgesehen hatte, die Augen gegen die Sonne mit einer Hand abgeschirmt, hatte sie direkt in ein grinsendes Gesicht gesehen, in dem ihr vor allem die graublauen Augen aufgefallen waren.

»Hi! Normalerweise schlafen die Leute nicht ein, wenn sie uns auf dem Wasser sehen«, hatte der Surfer, zu dem die graublauen Augen gehörten, lächelnd gesagt und sich dabei das nasse dunkle Haar aus der Stirn gestrichen. Ohne eine Antwort von Katharina abzuwarten, hatte er sich neben sie in den Sand fallen lassen. Katharina hatte nicht vermeiden können, dass ihr Blick über die muskulösen Arme glitt, die aus dem ärmellosen Neoprenanzug ragten und ebenso gebräunt waren wie das sympathische Gesicht des fremden Mannes.

Entspannt hatte sie ihn angelacht: »Das hat nicht an euch gelegen. Ich hab mich ja sogar extra hierher gelegt, um euch zuzusehen, aber offenbar hab ich ein paar freie Tage nötiger, als ich dachte.«

»Na, dann bin ich ja beruhigt. Ich bin übrigens Ole.«

»Katharina – hallo«, hatte sie geantwortet. Seine spontane und unkomplizierte Art hatte ihr sofort gefallen.

»Kitest du auch?«, hatte Ole gefragt.

»Ich? Um Gottes willen, nein. Das sehe ich mir lieber aus der Ferne an«, hatte Katharina erwidert.

»Warum? Unsportlich siehst du nicht gerade aus, und es macht echt Spaß, glaub mir.«

»Glaub ich dir sofort«, hatte Katharina bestätigt, »aber … ich denke, damit hätte ich früher anfangen sollen.« Fast hatte ihr auf der Zunge gelegen, dass sie sich dafür zu alt fand, doch das hatte sie dann doch nicht zugeben wollen.

»Dafür ist es nie zu spät!« Oles Augen hatten vor Begeisterung für seinen Sport geleuchtet. »Ich bringe es dir gern bei – da drüben ist unsere Surf- & Kiteschule.«

»Ach, daher weht der Wind«, hatte Katharina belustigt erwidert, »du versuchst, neue Kursteilnehmer zu gewinnen!«

Ole hatte eine gespielt beleidigte Miene aufgesetzt: »Wo denkst du hin? Das wäre höchstens ein … sagen wir mal, praktischer Nebeneffekt.«

Er hatte Katharina direkt in die Augen gesehen und erneut gegrinst. Wie alt mochte er sein?, hatte Katharina überlegt. Mindestens wohl zehn Jahre jünger als sie.

»Hast du Lust auf einen Kaffee?«, hatte Ole in ihre Überlegung hinein gefragt. »Oder lieber ein Bier, einen Prosecco oder Hugo?«

»Eigentlich wollte ich …« Katharina war nicht dazu gekommen, ihren Satz zu beenden, denn Ole war ihr ins Wort gefallen: »Ich denke, du hast Urlaub? Wo ist denn da die Spontaneität?«

Drei Stunden später hatte Katharina noch immer mit Ole in der gemütlichen Strandbar gesessen. Sie hatten über Gott und die Welt geredet, auffallend viel gelacht und dabei komplett die Zeit vergessen. Als Katharina sich dann endlich aufgemacht hatte, um anstelle des Strandspaziergangs wenigstens noch ein wenig durch den Ort zu bummeln, hatte sie Ole das Versprechen gegeben, ihn am nächsten Vormittag an der Surfschule zu treffen.

»Ich hab eine Idee, das wird dir garantiert gefallen. Es geht auch nicht aufs Wasser, versprochen!«, hatte er erklärt, und Katharina hatte keinen Moment gezögert zuzusagen.

13.03 Uhr

Hauptkommissar Benjamin Rehder tigerte in seinem Büro auf und ab. Wo blieb Katharina bloß? Als sie sich letzte Woche kurzfristig Urlaub genommen hatte, hatte nichts dagegen gesprochen, und er hatte ihn gern bewilligt, doch jetzt brauchte er seine beste Ermittlerin hier in Lüneburg. Katharina war für ein paar Tage an die See gefahren und hatte sich bis heute Mittag freigenommen. Sie hatte gesagt, sie würde dann um halb eins wieder hier sein. Jetzt war es schon nach 13 Uhr, und was ihn zusätzlich fuchste, war die Tatsache, dass er sie auf ihrem Handy nicht erreichen konnte. Es sprang ständig nur die Mailbox an, auf die er innerhalb der letzten halben Stunde bereits dreimal gesprochen hatte. Jetzt drückte Ben ein weiteres Mal auf Wiederwahl an dem Telefon in seiner Hand und führte es an sein Ohr. Genau in diesem Moment sah er durch die Glasscheibe, die sein Büro vom Gemeinschaftsbüro seines Teams trennte, wie Katharina ihm zuwinkte. Erleichtert beendete er die noch nicht aufgebaute Verbindung, stellte das Telefon zurück in die Station auf seinem Schreibtisch und ging auf Katharina zu.

»Hi, Ben«, strahlte sie ihm entgegen und sprudelte los. »Da bin ich wieder. Ich muss als Erstes gleich mal meinen Akku aufladen, mein Handy macht keinen Mucks mehr – ich hoffe, du hast nicht versucht, mich zu erreichen? Stell dir vor, ich hatte mein Ladekabel zu Hause vergessen. Das ist mir noch nie passiert! Na ja, so schlimm war es auch nicht. Nur ungewohnt. Wo ist Tobi? Ach, ich kenne die Antwort. Mittagessen, richtig?«

»Er ist in St. Dionys«, antwortete Ben, während er seine Kollegin musterte. Sie wirkte erholt. Und sie war für die kurze Zeit erstaunlich braun geworden. Nicht tiefbraun, schließlich war sie rothaarig und musste mit der Sonne aufpassen, sondern eher karamellfarben, und das stand ihr ziemlich gut, wie er nicht zum ersten Mal feststellte. Genauso wie die Sommersprossen, die ihrem Gesicht einen jugendlichen Charme verliehen, der zu ihrer offensichtlich blendenden Stimmung passte. Wie die rote Zora, dachte Ben bei sich, doch dann waren seine Gedanken wieder in St. Dionys, dem sonst so ruhigen und recht wohlhabenden Bilderbuchdorf mit seinen knapp 400 Einwohnern.

»In St. Dionys? Gibt es da jetzt eine ganz besondere Würstchenbude, oder was?«, fragte Katharina amüsiert – ihr Teamkollege Tobias Schneider war bekannt dafür, dass er gern aß.

»Das weiß ich nicht«, sagte Ben ernst. Er wollte Katharina nur ungern die gute Laune verderben, doch er hatte keine Wahl: »Tobi ist dort, weil ein Junge verschwunden ist. Leon Guntram. Seine Pflegemutter hat ihn gestern Abend als vermisst gemeldet, nachdem er nicht da war, als sie von einem Besuch bei ihrer Mutter im Pflegeheim nach Hause gekommen ist. Als sie wie verabredet gegen 18 Uhr nach Hause gekommen ist, war Leon nicht da. Zuerst dachte sie, er sei zu einem Schulfreund, der in der Nähe wohnt, gegangen und hätte bloß vergessen, einen Zettel hinzulegen. Als er um 19 Uhr noch nicht da war, hat sie sich Sorgen gemacht und dort angerufen, ebenso bei seinen anderen Freunden. Fehlanzeige. Dann hat sie die Polizei angerufen.«

Für einen Moment herrschte Stille zwischen den beiden. Katharinas Gesicht wurde ebenso ernst wie das von Ben. Vorbei war jeglicher Gedanke an ihren Kurztrip. Die Kommissarin ging langsam zu ihrem Schreibtisch und stellte dort ihre Tasche ab.

»Wie alt?«, fragte sie tonlos.

»Zehn«, kam es von Ben.

13.36 Uhr

Das Schrillen der Türklingel durchschnitt die Stille im Haus, und Anja Buse ließ vor Schreck die mit heißem Tee gefüllte Tasse fallen, die sie eben gerade von der Arbeitsfläche in ihrer Küche genommen hatte. Ihr Blick huschte zu dem Kommissar, der auf der Bank am Küchentisch saß. Auch er schien für einen kurzen Augenblick wie erstarrt, dann erhob er sich langsam und sagte: »Das werden meine Kollegen sein. Ich gehe schon, bleiben Sie am besten hier.«

Nachdem der Kommissar die Küche verlassen hatte, begann Anja Buse am ganzen Leib zu zittern. Was, wenn es nicht die Kollegen von diesem Kommissar Schneider waren, die ihn einfach nur ablösen wollten? Was, wenn es einer vom Suchtrupp war, der sie informieren wollte, dass sie Leon gefunden hatten? Anja Buse mochte diesen Gedanken nicht weiterverfolgen, denn jedes Mal, wenn sie an Leon dachte, dachte sie auch an das Wort »tot«. Aber das durfte sie nicht denken. Sie musste ganz fest daran glauben, dass Leon noch am Leben war, dann würde es auch so sein. Ein weiterer Gedanke schoss ihr in den Kopf. Vielleicht gab ja auch jemand an der Tür eine Nachricht von den Entführern ab! Sie hatten zwar keinen Anhaltspunkt dafür, dass ihr Pflegesohn entführt worden war, aber für sie war das ein Strohhalm, an den sie sich klammerte. Im Fall einer Entführung standen zumindest die Chancen gut, dass Leon wirklich noch am Leben war. Dass er weggelaufen war, glaubte Anja Buse keine Sekunde, auch wenn die Polizei sie nach dieser Möglichkeit sofort gefragt hatte, als sie ihn als vermisst gemeldet hatte. Nein, er würde nicht weglaufen. Dafür waren sie und Leon ein viel zu gutes Team. Sie liebte ihn, und er war glücklich bei ihr. Das wusste sie einfach. Es war das Einzige, das sie gerade mit Gewissheit wusste. Das Zittern hatte aufgehört, und mechanisch griff Anja Buse nach der Küchenpapierrolle, von der sie einige Blätter abriss. Sie ging in die Knie und nahm mit dem Papier in ihrer Hand die größten Scherben der zersprungenen Teetasse auf. Wie gern hätte sie jetzt gerufen »Vorsicht, Leon, komm’ mal einen Augenblick nicht in die Küche, hier liegen überall Scherben herum«, doch das brauchte sie nicht. Leon war nicht da. Ob sie ihn jemals wiedersehen würde? Anja Buse kamen die Tränen, während sie mit einem weiteren Papiertuch nun die kleinen Scherbensplitter zusammen mit dem Teewasser aufwischte. Plötzlich fühlte sie einen Stich in ihrem Zeigefinger. Sie öffnete automatisch ihre Hand und ließ das Papier achtlos fallen, dann führte sie sich ihre Hand mit gespreizten Fingern vor die Augen. Ein kleiner Splitter hatte sich in die Kuppe ihres rechten Zeigefingers gebohrt. Mit spitzen Fingern zog sie den Splitter heraus, und ein einzelner Blutstropfen folgte ihm. Anja Buse richtete sich langsam wieder auf und steckte den Zeigefinger in den Mund. Der eisenhaltige Geschmack des Blutes ließ ein Bild in ihr hochsteigen: Leon lag rücklings in einer riesigen Blutlache, mit bereits toten Augen, doch sein rechter Arm bewegte sich unrhythmisch in Wellen, denn seine Finger, aus denen das Blut strömte, schrieben in seiner noch unfertigen Jungenhandschrift auf den weiß gefliesten Untergrund »Mama, hilf mir!« Die Frau, die ihn geboren hatte, nannte er beim Vornamen. Mama war sie. Anja Buse wollte sich erheben, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Ihr wurde schwarz vor Augen, und noch bevor sie mit dem Kopf auf den Küchenfliesen aufschlug, dachte sie: Aber wie, Leon? Wie kann ich dir helfen?

13.41 Uhr

»Was war das?«, fragte Katharina alarmiert. Sie stand mit Ben und Tobi zusammen im großzügigen Eingangsbereich der Buse-Villa. Wie die äußere Form des Hauses war er kreisförmig und durch eine breite Glastür, die jetzt offenstand, von einer weiteren Halle getrennt. Tobi hatte sie eben ins Haus gelassen, und sie hatten sich noch am Eingang gegenseitig leise auf den neuesten Stand der Ermittlungen gebracht. Das war schnell gegangen, denn sowohl Tobi als auch Katharina und Ben hatten keinerlei neue Ergebnisse. Sie wollten gerade in die Küche gehen, als ein dumpfes Geräusch aus dem Inneren des Hauses zu hören gewesen war. Nun herrschte wieder absolute Stille.

»Frau Buse?«, rief Tobi und eilte den anderen voraus in die Küche, deren Tür von der zweiten Halle abging. Die Küche war ein langer Raum mit allerlei modernen Geräten und einer halbmondförmigen Sitzecke am hinteren Ende, wie Katharina mit einem Blick feststellte – hier mochte jemand runde Formen. Mitten im Raum, auf Höhe der Spüle, lag eine Frau auf dem Boden. Sie schien nicht bei Bewusstsein zu sein, um ihren Kopf herum hatte sich eine kleine Blutlache gebildet. Tobi ging sofort in die Knie und legte seinen Zeige- und Mittelfinger an die Halsschlagader der Frau.

»Sie atmet, aber ich fühle nur einen schwachen Puls«, erklärte er, während Katharina bereits eines der Zierkissen von der Sitzbank gegriffen hatte und Ben den Notarzt rief. Katharina hockte sich neben Tobi.

»Woher kommt das Blut?«, fragte sie ihn.

»Ich schätze vom Sturz, sie wird gegen die Schubladenkante gefallen sein, und der Aufprall auf den Steinfliesen hat dann den Rest erledigt«, meinte ihr Kollege und deutete auf die leicht geöffnete Schublade gleich unter der Arbeitsplatte. Dann hob er den Kopf der bewusstlosen Frau behutsam an, sodass Katharina das Kissen darunter platzieren konnte. Dabei sahen sie, dass Tobi recht hatte: Anja Buse hatte eine etwa zwei Zentimeter lange Platzwunde an der rechten hinteren Seite ihres Kopfes. Die beiden Kommissare tauschten einen erfahrenen Blick und brachten die Frau, ohne sich weiter absprechen zu müssen, in die linksgerichtete stabile Seitenlage.

»Frau Buse, hören Sie mich?«, fragte Katharina jetzt sanft. Sie kniete nach wie vor neben der Frau. Tobi war inzwischen mit Ben nach vorn zum Hauseingang gegangen, um dort auf den Rettungswagen zu warten. Katharina lauschte. Hatte sie da nicht gerade ein schwaches Stöhnen gehört? Die Kommissarin hielt den Atem an und lauschte. Nein, sie musste sich geirrt haben. Sie betrachtete die bewusstlose Frau vor sich. Anja Buse war eine überaus attraktive Person. Sie war nicht gerade groß und schien dabei eine Top-Figur zu haben, wie Katharina neidlos feststellte. Die kinnlangen brünetten Haare waren leicht gewellt, und ihre Haut zeigte keinerlei Makel. Katharina schätzte sie in etwa auf ihr eigenes Alter – oder ein paar Jahre jünger, aber nicht viel. Gekleidet war sie wie die Kommissarin: Sie trug Jeans und ein schlichtes T-Shirt. Ben hatte auf der Herfahrt erzählt, dass Anja Buse als selbstständige Architektin arbeitete, und als Katharina jetzt daran dachte, machte es plötzlich Klick in ihrem Kopf. Natürlich, sie kannte Anja Buse. Nicht persönlich, aber aus der Presse. Anja Buses Geschichte hatte es damals sogar bis in die überregionalen Zeitungen geschafft, und Katharina hatte in München, wo sie zu der Zeit noch gelebt hatte, davon gelesen. Die Kommissarin rechnete zurück. Es musste ungefähr neun Jahre her sein. Eigentlich war es ein Bericht über den Hamburger Star-Architekten André Picu gewesen. Ein Nachruf, denn Picu war kurz davor bei einem Segelunfall umgekommen. Katharina hatte den Bericht damals interessiert gelesen, weil sie Picu Jahre zuvor ein paar Mal im Haus ihrer Eltern begegnet war. Der Architekt mit den wirren längeren Haaren war nur unwesentlich jünger als Katharinas Vater gewesen und hatte immer, wenn sie auf ihn getroffen war, einen weiten, zerknitterten Leinenanzug getragen. Dem Bericht hatte sie entnommen, dass Picu damals auf dem Land im Speckgürtel von Hamburg ein feudales Haus errichtet hatte, und dass nicht er es entworfen hatte, sondern seine um 30 Jahre jüngere Frau – Anja Buse, eine ehemalige Praktikantin aus Picus Architekturbüro. Die Zeitung hatte weiter zu berichten gewusst, dass Picu neben seiner Ehefrau einen Pflegesohn sowie ein beträchtliches Vermögen hinterließ. Der Journalist hatte damals die Frage gestellt, ob Anja Buse nun als Witwe und damit Alleinerziehende die Pflegschaft behalten dürfe. Scheinbar war es so gekommen, gab Katharina sich jetzt die Antwort, und das Vermögen hatte sie wohl ebenfalls geerbt. Katharina bemerkte durch die Fenster das Blaulicht des Rettungswagens – keine Sirenen, die musste die Ambulanz hier bei dem geringen Verkehrsaufkommen nicht anstellen. Stattdessen hörte Katharina erneut ein leises Stöhnen, und dieses Mal kam es eindeutig aus dem Mund von Anja Buse, deren Lider einen Moment lang flackerten, bevor sie sie aufschlug.

»Leon? Wo bist du, Leon? Ich komme … Ich helfe dir …«, kam es schwer aus dem Mund der Frau, die Katharina erst allmählich wahrzunehmen schien.

»Wer … wer sind Sie? Was ist passiert?«, fragte Anja Buse jetzt mit brüchiger Stimme, und ihre Augen waren dabei angsterfüllt. Sie versuchte sich aufzurichten, doch Katharina hielt sie sanft in ihrer Position auf dem Boden.

»Mein Name ist Katharina von Hagemann, Kripo Lüneburg. Bitte bleiben Sie ruhig liegen, Frau Buse. Sie haben für eine kurze Weile das Bewusstsein verloren. Der Notarzt wird jeden Moment da sein und nach Ihnen sehen.«

Die anscheinend noch immer leicht verwirrte Frau wollte etwas erwidern, doch im selben Moment betraten bereits zwei Rettungssanitäter die Küche. Katharina stand auf und trat zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Momentan konnte sie hier nichts ausrichten, außer zu hoffen, dass es gelang, Anja Buse wieder einigermaßen auf die Beine zu bringen. Vor allem, wenn es sich tatsächlich um eine Entführung handeln sollte – wovon sie angesichts des stattlichen Vermögens ausgingen – brauchten sie die Frau, falls sich die Kidnapper melden sollten. Sie trat aus der Küche heraus in den angrenzenden Raum, der Esszimmer und eine großzügige Sofalandschaft vereinte und dazwischen noch so viel Platz bot, dass locker drei Paare dort Rock ’n Roll tanzen konnten. Katharina schmunzelte selbst über diesen Gedanken. Dass ihr ausgerechnet Rock ’n Roll in den Sinn gekommen war, kam nicht von ungefähr. Das Lächeln hielt sich noch in ihrem Gesicht, während sie an den Grund dafür dachte, als Ben an sie herantrat: »Die Technik ist jetzt soweit eingerichtet, dass wir alle eingehenden Anrufe, sowohl aufs Festnetz als auch auf das Handy von Frau Buse mitschneiden und zurückverfolgen können, sofern die Anrufer lange genug in der Leitung bleiben – na ja, du kennst das ja«, erklärte er. »Ich möchte gern, dass du die erste Schicht übernimmst und bis morgen früh hier im Haus bleibst. Dann wirst du wieder von Tobi abgelöst. Sollte sich in der Zwischenzeit etwas ergeben, sind wir natürlich mit dem gesamten Team sofort bereit. Okay für dich?«

»Natürlich«, bejahte Katharina. »Gibt es noch irgendetwas über Frau Buse oder ihren Pflegesohn, was ich wissen sollte?«

»Das ist eigentlich der Grund, warum ich möchte, dass du am Anfang hier bist. Ich denke, einer Frau gegenüber wird sie aufgeschlossener sein und zumindest ein wenig entspannter. Bisher wissen wir so gut wie gar nichts über die Lebensumstände, außer …«

»… außer, dass hier sicher einiges zu holen ist«, unterbrach Katharina ihn und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.

»Freunde, Verwandtschaft, mögliche Feindschaften … alles, was wir in Erfahrung bringen, könnte wichtig sein. Wobei bei einer Entführung natürlich auch völlig Fremde infrage kommen. Wenn es sich tatsächlich um eine handeln sollte, dürfen wir das nicht außer Acht lassen.«

»Gehst du inzwischen denn nicht mehr davon aus?«, wunderte sich Katharina.

»Doch, irgendwie schon«, sagte Ben. »Aber vielleicht ist es auch nur meine Hoffnung. Eine Entführung mit Lösegeldforderung würde zumindest die Chance erhöhen, dass der Junge noch am Leben ist.«

»Was ist mit den Suchtrupps?«, wollte Katharina wissen.

»Die sind noch unterwegs und werden es auch bis zum Anbruch der Dunkelheit bleiben. Tobi wird gleich losfahren und sich nach dem aktuellen Stand vor Ort erkundigen. Ich bleibe erst mal noch hier, bis wir uns ein Bild von Frau Buses Verfassung gemacht haben. Sollte sie ins Krankenhaus müssen, stünden wir wieder vor einer neuen Situation.«

Als hätte er es gehört, trat in diesem Moment der Notarzt, der kurz nach den Sanitätern eingetroffen war, zu den beiden Kommissaren. »Die Frau ist wieder stabil, ich habe ihr ein leichtes Beruhigungsmittel gespritzt.«

»Was ist mit der Kopfwunde?«, fragte Katharina.

»Das ist nichts Ernstes«, erwiderte der Arzt. »Wenn überhaupt, könnte eine sehr leichte Gehirnerschütterung vorliegen. Da Frau Buse aber nicht ins Krankenhaus will, um sich noch einmal gründlich untersuchen zu lassen, bleibt das abzuwarten.«

Katharina sah, dass er die Weigerung der Patientin nicht guthieß, doch insgeheim war sie froh über deren Entscheidung. Abgesehen davon konnte sie Anja Buse nur zu gut verstehen. Sie selbst hätte in einer solchen Situation nicht anders gehandelt.

»Wir werden auf sie achten«, versprach sie dem Notarzt. »Wenn es Anzeichen für eine Verschlechterung ihres Zustands gibt, bringen wir sie umgehend in die Klinik.«

»Gut«, antwortete er knapp. »Sie braucht Ruhe.«

Nachdem der Notarzt gemeinsam mit den Sanitätern das Haus verlassen hatte, ging Katharina zurück in die Küche, wo Anja Buse sehr blass und etwas zittrig an der großen Kochinsel lehnte, die die komplette Mitte des Raumes einnahm.

»Frau Buse? Wie fühlen Sie sich?«, fragte Katharina vorsichtig. Erschrocken blickte die Frau auf. »Warum? Haben Sie Leon gefunden? Was ist mit ihm?«

»Nein, Frau Buse, bitte bleiben Sie ruhig«, versuchte Katharina zu beschwichtigen und trat an die Architektin heran. »Es gibt noch keine neuen Erkenntnisse. Aber mein Kollege, Hauptkommissar Rehder, und ich möchten gern ein paar Dinge mit Ihnen besprechen. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?«

»Sicher«, antwortete Anja Buse. »Ich würde mich allerdings gern hinsetzen.«

»Natürlich«, stimmte Katharina zu. »Kommen Sie, wir gehen nach nebenan.«

Während Leons Pflegemutter auf immer noch wackligen Beinen zu Ben in den Wohnraum ging, winkte Tobi seine Kollegin zu sich.

»Ich wollte dir nur sagen, dass ich jetzt hier verschwinde«, erklärte er.

»Ja, Ben hat mich schon informiert«, erwiderte Katharina. »Du fährst zum Suchtrupp?«

»Ja. Und ich hoffe inständig, so blöd es klingt, dass die Kollegen bisher keinen Erfolg hatten. Zumindest keinen, der den Jungen … ach du weißt schon.«

»Ja, ich weiß, und das klingt gar nicht blöd«, antwortete Katharina. »Mir geht es nicht anders. Im allerbesten Fall ist er nur abgehauen oder hat sich verirrt. Aber selbst eine Entführung würde mir noch Hoffnung lassen.« Dann setzte sie noch leise hinzu: »So denkt wohl jeder momentan.«

»Wär ja auch schlimm, wenn nicht!«, entfuhr es Tobi entgegen seiner sonstigen Art ungewöhnlich heftig, was Katharina veranlasste, ihn zu fragen: »Ist alles okay mit dir?«

»Ja, aber, es ist nur …« Er zögerte einen Moment und blickte um sich, ob es weitere Zuhörer in der Nähe gab. Als er sicher war, dass niemand außer Katharina ihn hören würde, sprach er weiter: »Weißt du, seit ich selbst Vater bin, ticke ich schon irgendwie anders, was ich ziemlich erschreckend finde. Ich kann sogar bestimmte Filme, in denen es um Kinder geht, nicht mehr angucken. Und das hier geht mir einfach viel mehr an die Nieren als früher.«

Katharina strich ihm freundschaftlich über den Arm. »Das ist doch völlig natürlich. Ich brauch nur daran zu denken, dass so etwas mit Leonie passieren könnte … Wie es da sein muss, wenn man selbst ein Kind hat, kann ich mir vorstellen.«

Tobi ballte eine Faust: »Wenn jemand meiner Kleinen etwas antun würde …«

Katharina sah ihn fragend an: »Möchtest du lieber, dass jemand anderes für dich einspringt? Soll ich mit Ben sprechen?«

»Natürlich nicht! Ich war schon lange nicht mehr so motiviert. Aber es fühlt sich irgendwie scheußlich an. Also, ich meine, wir sind die Mordkommission. Normalerweise finden wir eine Leiche und suchen dann nach dem Mörder. Jetzt suchen wir nach einem Kind, um hoffentlich das Schlimmste zu vermeiden.« Er schüttelte den Kopf. »Genau deshalb fahre ich jetzt auch los. Ich hoffe, ihr könnt noch ein paar Sachen in Erfahrung bringen, die uns bei der Suche helfen. Ich bin auf Bereitschaft, auch die ganze Nacht, wenn also was ist, ruf mich an. Ansonsten bin ich morgen früh um sieben hier und löse dich ab.«

»Okay, aber versuch trotzdem, ein wenig zu schlafen, ja?«, riet Katharina und blickte dem jüngeren Kollegen nach, der zu ihren letzten Worten nur genickt hatte, bevor er durch die breite Haustür die Villa verließ.

Unglaublich, wie sehr sich ein Mensch verändern kann, wenn er ein Kind hat, dachte sie bei sich, während sie zurück zu Ben und Anja Buse ging. Es war immer wieder schön zu sehen, mit welcher Begeisterung Tobi von seiner kleinen Mia sprach – in diesen Momenten war er wie früher der große Junge, der immer zu Späßen aufgelegt und eher unbedarft war. Ansonsten hatte er seit seiner Vaterschaft tatsächlich ein bisschen was von seiner früheren Leichtigkeit verloren. Aber so war das eben, wenn man plötzlich nicht mehr nur für sich allein die Verantwortung trug. Katharina kam ein Gedanke, der sie zum Schmunzeln brachte: Tobi war tatsächlich erwachsen geworden, wer hätte das gedacht.

 

Gedicht

Der Hahn ist tot, der Hahn ist tot,

der Hahn ist tot, der Hahn ist tot.

Er kann nicht mehr krähn, kokodi, kokoda,

er kann nicht mehr krähn, kokodi, kokoda,

koko koko koko kokodi, kokoda.

(Kanon aus Frankreich, Verfasser unbekannt)

2. Kapitel:

Mittwoch, 09.08.2017

07.11 Uhr

Katharina hatte ihre große Sporttasche auf ihren Futon gestellt. Sie war noch immer voll mit den Sachen von ihrem Nordsee-Trip, die die Kommissarin jetzt herausnahm und in ihren Wäschekorb neben dem Schrank warf. Nur die Kulturtasche ließ sie direkt darin. Dann ging sie an ihren Schrank, griff sich ein paar schlichte T-Shirts, Jeans und Wäsche und legte alles dazu. Das würde für ein paar Tage reichen, obwohl sie hoffte, dass es nicht nötig sein würde. Ben hatte heute Morgen entschieden, die Zuständigkeiten doch anders zu besetzen, als ursprünglich gedacht. Tobi würde ab sofort die Koordination der Suchtrupps übernehmen, während Katharina komplett bei Anja Buse im Haus blieb. Als Fallanalytikerin und Verhörspezialistin war sie am ehesten auch für einen möglichen Kontakt zu den Entführern geschult und auf diese Weise wäre sie in jedem Fall vor Ort, falls es einen Anruf oder eine Lösegeldforderung geben sollte. Für Katharina war diese Entscheidung völlig in Ordnung, zumal sie davon ausging, dass Tobi bei der Suchaktion besser aufgehoben war als bei der Pflegemutter. Dort konnte er aktiv sein und organisieren, was ihm beides eher lag, als einfach nur abzuwarten. Die Suchaktion war groß ausgelegt. Neben den Ausbildungs-Hundertschaften war die Feuerwehr mit zahlreichen Leuten dabei, und auch das DRK nahm mit einigen Mantrailer-Hunden teil, die aufgrund ihres extrem feinen Geruchssinns bei derartigen Aktionen schon oft hilfreich gewesen waren. Bei Anja Buse waren andere Fähigkeiten gefragt, zumal es für die Frau sicher auch angenehmer war, eine Kripobeamtin im Haus zu haben und keinen Mann. Die Architektin hatte gestern zunächst kaum ein Wort gesprochen, und Katharina hatte sie nicht übermäßig drängen wollen. Dennoch war es wichtig gewesen, so viel wie möglich über Leons Umfeld, seine Gewohnheiten und mögliche Schwierigkeiten zu erfahren, und deswegen hatte Katharina sie in ein Gespräch verwickelt. Tatsächlich hatte Anja Buse sich allmählich ein wenig entspannt, sodass die Kommissarin ihr ein paar konkrete Fragen hatte stellen können. Es fiel Katharina auch jetzt mit etwas Abstand schwer, die Frau einzuschätzen. Natürlich befand diese sich momentan in einer Ausnahmesituation, aber das war es nicht allein. Anja Buse strahlte eine Distanz aus, die Katharina nicht mit der aktuellen Lage verband, sondern für einen generellen Charakterzug hielt. Die wichtigsten Informationen über Leon hatte Katharina jedoch von seiner Pflegemutter gestern Abend in Erfahrung bringen können. Alles schien ganz normal – der Junge hatte viele Freunde in der Schule, war aufgeschlossen und ein guter Schüler. Anja Buse hatte ihn als stets fröhliches und glückliches Kind beschrieben. Natürlich hatte Katharina sich gefragt, ob das möglicherweise mehr die verklärte Wahrnehmung einer Mutter als die Realität war, doch vorerst musste sie sich mit dieser Antwort begnügen. Irgendwann hatte sie sich in das Gästezimmer zurückgezogen, das Anja Buse ihr angeboten hatte. Ausreichend geschlafen hatte sie nicht. Sie war lediglich zu einer Art Halbschlaf in der Lage gewesen. Auch wenn es nur darum gegangen war, in der Villa Buse auf ein Zeichen möglicher Entführer zu warten – die Kommissarin hatte sich für Anja Buse verantwortlich gefühlt und war unterschwellig die ganze Zeit in Alarmbereitschaft gewesen. Das würde heute nicht anders sein, dachte sie bei sich und verschloss ihre Tasche, als ihr Handy einen Ton von sich gab, der den Eingang einer SMS verkündete. Sie zog das Telefon aus der Jackentasche und las: »Hey – geht’s dir gut? Meld dich mal. Ole«

Die Kommissarin stöhnte innerlich. Was hatte sie da nur angezettelt? Ole hatte gestern Abend schon eine Nachricht geschickt, als sie bereits im Gästezimmer von Anja Buse gelegen hatte. Sie hatte ihm nicht geantwortet. Vielleicht war das nicht ganz fair gewesen, doch sie hatte sich nicht die Finger verbrennen wollen. Ohnehin dachte sie viel zu oft an den smarten Surflehrer. Immer wieder schlich er sich unversehens in ihre Gedanken, dabei war gar nichts Großartiges zwischen ihnen beiden passiert. Klar, sie hatten während ihrer kurzen Zeit in St. Peter-Ording Spaß zusammen gehabt und vielleicht ein bisschen geflirtet, aber das war es auch schon gewesen. Und so sollte es auch bleiben.