Heideangst - Kathrin Hanke - E-Book

Heideangst E-Book

Kathrin Hanke

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Beschreibung

Alina Winkler wird von ihrem Exfreund auf Schritt und Tritt verfolgt. Lars Brückner stellt ihr nach, beobachtet ihre Wohnung, spioniert ihr hinterher, taucht an ihrem Arbeitsplatz auf, bombardiert sie mit Anrufen, Nachrichten und Geschenken. Unter dem psychischen Druck bricht Alina bald zusammen. Dies ruft ihre Freundin, Oberkommissarin Katharina von Hagemann, auf den Plan, die nun ihrerseits und abseits von dem irritierenden Fall, der sie im Kommissariat auf Trab hält, Lars Brückner in seine Schranken weist. Doch der sieht rot und bringt Alina in seine Gewalt …

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Kathrin Hanke

Heideangst

Zum Buch

Besessen Sie kann nicht mehr richtig schlafen, mag kaum etwas Essen, verlässt ungern das Haus, zuckt bei jedem unbekannten Geräusch zusammen, fürchtet die Dunkelheit und erkennt sich selbst nicht mehr wieder: Alina Winkler, die einst selbstständige und selbstbewusste, fröhliche junge Frau ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie hat einen Stalker. Lars Brückner akzeptiert die Trennung nicht und setzt seiner Exfreundin Alina extrem zu. In dem Glauben, er kämpfe um seine Beziehung, verfolgt er die junge Hebamme auf Schritt und Tritt, bombardiert sie mit Anrufen, Nachrichten und Geschenken. Unter dem psychischen Druck bricht Alina bald zusammen. Dies ruft ihre Freundin, Oberkommissarin Katharina von Hagemann, auf den Plan, die nun ihrerseits und abseits von dem irritierenden Fall, der sie im Kommissariat auf Trab hält, Lars Brückner in seine Schranken weist. Als Alina darüber hinaus scheinbar einen anderen Mann trifft, sieht ihr Exfreund rot und bringt Alina in seine Gewalt …

Kathrin Hanke wurde in Hamburg geboren. Nach dem Studium der Kulturwissenschaften in Lüneburg machte sie das Schreiben zu ihrem Beruf. Sie jobbte beim Radio, schrieb für Zeitungen, entschied sich schließlich für die Werbetexterei und arbeitete zudem als Ghostwriterin. Ihre Leidenschaft ist jedoch das reine Geschichtenerzählen, wobei sie gern Fiktion mit wahren Begebenheiten verbindet. Daher arbeitet sie seit 2014 als freie Autorin in ihrer Heimatstadt. Kathrin Hanke ist Mitglied im Syndikat, der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur, sowie bei den Mörderischen Schwestern.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Thorsten Chmielewski / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7508-5

Widmung

Für alle Stalking-Betroffenen und für Claudia2

Ein paar wenige Worte vorweg

Für die einen bedeutet es rührendes, einfühlsames Interesse oder ist gar ein Zeichen der Liebe, für andere die pure Belästigung. Ab wann ein Verhalten zum Stalking wird, liegt im persönlichen Empfinden und so sind die Grenzen zwischen Aufmerksamkeit und Aufdringlichkeit schwer zu ziehen.

Tatsache ist: Stalking gibt es. Spätestens ab dem Moment, ab dem jemand keine »Aufmerksamkeit« (mehr) will, der andere sie jedoch nicht einstellt und penetrant weitermacht. Laut Schätzungen wird jeder sechste Mensch mindestens einmal im Leben gestalkt. Meist sind es Frauen und die Täter Männer aus dem privaten Umfeld und hier vielfach ehemalige Partner. Doch auch abgewiesene Verehrer und Verehrerinnen, Kollegen und Kolleginnen oder Nachbarn und Nachbarinnen können zu Stalkern und Stalkerinnen werden.

Stalking belastet die Opfer über die Zeit oft schwer und die Folgen können psychisch wie physisch gravierend sein. Von Schlaf- oder Magen-Darm-Problemen über Herz-Kreislauf-Störungen bis hin zu Depressionen oder gar Suizidgedanken ist die Palette der Symptome erheblich. Glücklicherweise gibt es Wege aus dem Stalking heraus, wobei eigens eingerichtete Beratungsstellen Opfer, aber auch Stalker und Stalkerinnen unterstützen, den Teufelskreis zu unterbrechen. Doch der Gang dorthin ist nicht immer leicht, denn viele Opfer erliegen ihrer Scham, dass es überhaupt zum Stalking gekommen ist, und geben sich selbst dafür die Schuld. Ebenso gilt dies für die Stalker und Stalkerinnen selbst – wer gibt schon gern zu, sich falsch gegenüber einer anderen Person zu verhalten?

Auch ich habe in meinem Bekanntenkreis ein weibliches Stalkingopfer und so entstand in mir das Bedürfnis, »Heideangst« zu schreiben. Natürlich soll das Buch wie alle Heidekrimis spannend unterhalten, darüber hinaus ist es mir jedoch ebenso ein Anliegen, das Thema Stalking zu benennen und Opfern zu zeigen, dass sie nicht allein sind und vor allem nicht schuld an dem Verbrechen, das an ihnen begangen wird. Kurz und gut: Dieses Buch soll Mut machen. Deswegen widme ich es allen Stalking-Betroffenen.

Da dies der 10. Band der Heidekrimi-Serie ist und somit ein kleines Jubiläum, widme ich diesen Band aber auch Claudia. Und damit meine ich zwei Claudias, denn ohne diese beiden gäbe es die Heidekrimi-Serie nicht. So danke ich Claudia Kröger, die mit mir die Heidekrimis erschaffen und bis zum siebten Band mitgedacht und geschrieben hat sowie Claudia Senghaas, Programmleiterin und meine Lektorin vom Gmeiner-Verlag, die mich nach wie vor liebevoll und motivierend begleitet und ohne die die Heidekrimis nicht so wären, wie sie sind.

Ich wünsche Ihnen spannende Lesemomente,

Ihre

Kathrin Hanke

Zitat

»Alles in der Welt lässt sich ertragen,

nur nicht eine Reihe von schönen Tagen.«

(Johann Wolfgang von Goethe)

PrologSamstag, 2.5.2020

8.24 Uhr

Behutsam hob Alina Winkler die Decke an und rollte sich vorsichtig aus dem Bett. Dann schlich sie auf Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem aus dem Schlafzimmer. Achtsam zog sie die Tür hinter sich zu. Es klackte kurz, als der Schnapper ins Schließblech zurückglitt, obwohl sie die Türklinke nur langsam wieder hochkommen ließ. Angespannt blieb sie noch einen Augenblick in der Dunkelheit stehen und lauschte. Nichts. Sie hörte kein Geräusch. Scheinbar hatte sie ihn nicht geweckt. Erleichtert, aber nach wie vor darauf bedacht, bloß keinen weiteren Laut zu verursachen, huschte sie über den dunklen Flur zum Badezimmer. Sie machte bewusst kein Licht, damit dieses nicht durch den Türspalt leuchtete und ihn womöglich doch noch weckte. Er hatte einen leichten Schlaf. Erst als sie auch die Badezimmertür hinter sich geschlossen hatte, knipste sie den Lichtschalter an und entspannte sich wieder. Gern hätte sie die Tür abgeschlossen, doch er hatte alle Schlüssel aus den Zimmertüren herausgenommen und irgendwo versteckt. Natürlich hatte sie ihn darauf angesprochen und gebeten, die Schlüssel wieder zurück in die Schlösser zu stecken, vor allem den für das Badezimmer. Er hatte sie an sich gezogen, ein bisschen väterlich von oben auf sie hinuntergeblickt – er war stattliche ein Meter 95 groß und sie selbst gerade einmal ein Meter 67 – und lächelnd gesagt: »Schatz, wir sind hier zu zweit. Wofür müssen die Türen in der Wohnung abschließbar sein? Oder hast du Geheimnisse vor mir?«

Sie hatte zurückgelächelt, doch es war verkrampft gewesen. Ihre Brust hatte sich bei seinen Worten zusammengezogen, und sie hatte sich unwohl gefühlt. Sie hatte selbst nicht genau gewusst, weshalb, da er ja im Grunde recht hatte. Dann hatte sie gemeint: »Nein, habe ich nicht, aber wenigstens im Badezimmer fände ich es schön, manchmal für mich zu sein.«

»Aber Süße, das kannst du doch auch! Trotzdem musst du ja nicht abschließen. Stell dir vor, dein Kreislauf klappt mal zusammen oder so, da möchte ich nicht erst die Tür aufbrechen müssen, um dir zu helfen«, hatte er erwidert und ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben.

»Ich hatte noch nie Kreislaufprobleme!«, hatte sie sein an den Haaren herbeigezogenes Argument in einem nachdrücklichen Ton kommentiert.

»Ich weiß, aber es kann immer was sein«, hatte er versöhnlich gesagt. Sie hatte dazu nur ein vages »Hm« von sich gegeben und nicht weiter insistiert. Alina erinnerte sich noch gut daran, wie lächerlich sie sich in diesem Moment vorgekommen war, denn es stimmte schließlich. Sie waren nur zu zweit und konnten die Tür auch einfach hinter sich zu ziehen, wenn sie gerade im Badezimmer für eine Weile für sich sein wollten.

Das ist die Theorie, die Praxis sieht anders aus, dachte Alina jetzt und gähnte herzhaft, während sie sich der Badewanne zuwandte, um Wasser einlaufen zu lassen. Lars akzeptierte ihre Privatsphäre nicht. War die Tür geschlossen, kam er dennoch hinein, wenn ihm danach war. Er klopfte noch nicht einmal an. Und auch sonst machte er alles so, wie er es wollte. Wenn sie ihn darauf ansprach oder murrte, sah er sie lieb an und meinte, er mache das doch alles nur für sie. Damit nahm er ihr jedes Mal den Wind aus den Segeln.

Als sie den Hahn aufdrehte, plätscherte das Wasser in die Wanne, und das Geräusch bereitete ihr sofort Unbehagen. In der vollkommenen Stille, die in der Wohnung herrschte, klang es dermaßen laut und dröhnend in ihren Ohren, dass es sicher auch durch die Zimmerwände drang. Hoffentlich wachte Lars davon nicht auf. Manchmal tat er das, manchmal hatte sie jedoch Glück. Aber es nützte nichts, wenn sie baden wollte, und das wollte sie. Es war Wochenende, und sie liebte es, sich von dem warmen Wasser bedecken zu lassen, die Augen zu schließen und sich wegzuträumen. Das konnte sie inzwischen noch nicht einmal mehr nachts im Bett. Dort lag Lars neben ihr und schien sie auch im Schlaf noch zu überwachen. Mitunter erwachte sie und sah direkt in seine Augen, die ihr Gesicht betrachteten. Ganz am Anfang ihrer Beziehung hatte sie das süß gefunden. Sie war geschmeichelt gewesen, wenn sie nachts wach geworden war und ihn dabei ertappt hatte, wie er sie betrachtete. Sie hatte gemeint, bisher von niemandem solchermaßen angeblickt worden zu sein. Damals hatte sie seinen Blick als liebevoll und zärtlich empfunden. Im Spaß hatte sie gemault: »Du hast mich wachgeguckt«, und er hatte erwidert: »Entschuldige, ich wollte mich einfach nur in deine Träume schleichen, um auch in ihnen bei dir zu sein.« Diese Antwort hatte sie nahezu dahinschmelzen lassen. Sie hatte sich trotz der kurzen Zeit ihres Zusammenseins schon so dermaßen geliebt gefühlt, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Sie war die mittlere von drei Geschwistern und hatte von ihren Eltern wenig Aufmerksamkeit bekommen, kaum Liebesbekundungen und schon gar keine Kuscheleinheiten. Vor allem ihre Mutter war ihr gegenüber immer recht abweisend gewesen. Deswegen hatte Alina als Kind immer versucht, dieser alles recht zu machen. Sie hatte darauf geachtet, sich nicht schmutzig zu machen, der Mutter im Haushalt geholfen, ihr immer wieder Blumen auf der Wildwiese neben ihrem Wohnhaus in Bleckede gepflückt, war fleißig in der Schule gewesen und hatte sich bemüht, nicht unangenehm aufzufallen. Trotzdem war ihre Mutter nie mit ihr zufrieden gewesen. Stets hatte diese etwas an ihr auszusetzen gehabt. Mit Alinas beiden Brüdern war die Mutter hingegen ganz anders gewesen. Sie hatte sie wie kleine Prinzen behandelt. Auch zwischen der Mutter und den Brüdern fanden kaum körperliche Berührungen statt, dennoch hatte die Mutter ihre Söhne gern mit Worten gestreichelt. So hatte es Alina als Kind empfunden, gestreichelt, und sie hätte alles gegeben, dass auch sie wenigstens einmal etwas Freundliches aus dem Mund ihrer Mutter hörte. In ihrer Wahrnehmung war das nie geschehen. Ihr Vater war da anders gewesen, konnte jedoch die Gefühlskälte seiner Frau nicht wettmachen, da er im Außenvertrieb arbeitete und in der Regel nur an den Wochenenden zu Hause war, bis er dann irgendwann gar nicht mehr kam. Da war Alina neun gewesen. Aus heutiger Sicht konnte Alina es ihrem Vater nicht verdenken, dass er ihre Mutter verlassen hatte, als Kind hatte sie sich jedoch von ihm verraten gefühlt, da er sie in sein neues Leben nicht mitgenommen hatte.

Alinas Gedanken wanderten zu Lars zurück, während sie jetzt aus ihren Schlafsachen schlüpfte, Schaum in das Wasser gab und es daraufhin abstellte. Sie gähnte. Auch heute Nacht hatte Lars sie wieder wachgeguckt. Sie war zwar noch einmal eingeschlafen, doch war es kein erholsamer Schlaf gewesen. So, als ob sie seinen Blick in ihren Schlaf mitgenommen hätte. Wie hatte sie damals nur denken können, dass seine Augen liebevoll auf ihr ruhten? Inzwischen meinte sie, es besser zu wissen: Es war der Blick eines stolzen Besitzers. Aber sie wollte nicht besessen werden. Von niemandem. Alina seufzte leise, während sie sich in die Wanne gleiten ließ. Sie fühlte sich schon seit geraumer Zeit nicht mehr wohl mit ihrem Freund, obwohl er nach wie vor aufmerksam war und ihre Freundinnen ihr immer wieder sagten, was für ein Glück Alina doch mit Lars hätte, da sich sein Leben allein um sie zu drehen schien. War das so? Hatte Alina Glück und war sie undankbar, wenn sie es nicht so empfand? Alina seufzte ein weiteres Mal. Sie hatte sich das in letzter Zeit schon so häufig gefragt und wusste, dass sich ihre Gedanken auf der Suche nach einer Antwort nur wieder im Kreis drehen würden. Darauf hatte sie bestimmt keine Lust. Sie wollte einfach nur entspannen.

Die junge Frau glitt noch tiefer in das warme Wasser und sog dabei den daraus aufsteigenden Duft ein – sie hatte vorhin bewusst einen Badeschaum gewählt, der Träum schön hieß. Das wollte sie jetzt, und so schloss sie die Augen und begann, sich wegzudenken. Aus ihrer Wohnung, aus Lüneburg hinaus auf ein weitläufiges Feld, auf dem sie allein war und rings um sich die Freiheit spürte, die ihr so fehlte.

»Guten Morgen, Liebes«, schreckte die tiefe Stimme von Lars sie aus ihrem Tagtraum. Alina riss ihre Augen auf, setzte sich abrupt in der Wanne auf und bedeckte ihre bloßen Brüste mit ihren Armen. So nackt kam sie sich verletzlich vor, obschon ihr Freund sie natürlich ohne Kleidung kannte. Sie hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass er ins Bad eingetreten war. Er musste es wieder einmal vorsichtig und leise getan haben. Wie sehr sie das hasste, wenn er sich wie ein Jäger an sie heranpirschte.

»Kaffee?«, lächelte er sie an und hielt ihr einen vollgefüllten dampfenden Becher hin. Am liebsten hätte sie ihm das heiße Getränk über die Füße geschüttet. Sie tat es nicht. Eigentlich meinte er es ja wirklich nur gut. Alina nahm den Becher entgegen und stellte ihn auf den Wannenrand – bevor sie aus ihm trank, musste er noch etwas abkühlen. So wie sie selbst.

 

Zitat

»Wo viel Licht ist, ist starker Schatten«

(Johann Wolfgang von Goethe)

Kapitel 1 Freitag, 25.3.2022

07.41 Uhr

Katharina von Hagemann konnte sich von dem Anblick kaum losreißen. Ihr lief schier das Herz über, und sie musste aufpassen, dass keine Träne ihre Augen verließ. Es wären keine Tränen aus Traurigkeit gewesen, sondern solche aus Rührung, dennoch wollte sie ihren Gefühlen nicht freien Lauf lassen. Die schlugen in letzter Zeit sowieso doppelte und dreifache Saltos, und schon in weniger als 30 Minuten brauchte sie definitiv einen klaren Kopf.

Noch einmal fuhr sie mit ihrem Blick das kleine Gesichtchen ihrer Tochter ab. Sie konnte immer noch nicht fassen, was für ein Wunder ihr widerfahren war.

Sie gab dem Bündel in ihren Armen einen sanften Kuss auf die Stirn, dann reichte sie es ihrem Freund. Katharina schluckte und sagte mit belegter Stimme: »Ich muss jetzt los. Ich melde mich immer mal zwischendurch, und wenn was ist, melde du dich, okay? Ich komm dann sofort her und …«

»Ach Liebes«, unterbrach Bene sie lächelnd, »mach dir keine Sorgen. Was soll denn sein? Wir haben hier genügend abgepumpte Muttermilch von dir im Kühlschrank, der Windelvorrat reicht für die nächsten drei Monate, und ansonsten brauchen wir nichts. Wir kommen schon klar.«

»Ja, ich weiß, es ist ja nur … Ich war noch nie von ihr getrennt, seit sie auf der Welt ist. Und sie nicht von mir. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie es ohne sie war«, erwiderte Katharina.

»Das kann ich dir ganz genau sagen«, meinte Bene grinsend. »Wir waren nicht den ganzen Tag müde, hatten ein spontanes Sexleben, du konntest meine Knoblauch- und Zwiebelgerichte ohne Reue essen, es roch nicht in der ganzen Wohnung nach Fenchel-Anis-Kümmel-Tee, und vor allem haben wir selber über unseren Alltag bestimmt.«

Jetzt lachte auch Katharina auf und gab zu: »Da hast du recht, und trotzdem möchte ich um nichts in der Welt mehr zurücktauschen.«

Bene lächelte zu Katharinas Worten, und unwillkürlich richtete er für einen kurzen Moment seine Augen liebevoll auf seine kleine Tochter, bevor er Katharina wieder anblickte und sagte: »Weißt du eigentlich, was für ein Glück ich habe? Ich habe dich, und jetzt hast du mir noch eine Miniausgabe von dir geschenkt.«

Katharina wurde bei seinen Worten warm ums Herz. Er hatte sie zwar in den letzten Wochen schon so häufig gesagt, dennoch berührten sie sie jedes Mal wieder aufs Neue. Vor allem, weil er recht hatte: Ihre Tochter hatte ihre grünen Augen, und auf ihrem kleinen Köpfchen sprossen bereits ein paar rote Haare, und es war eindeutig das Rot, das auch Katharina als Baby und Kleinkind auf dem Kopf gehabt hatte und heute einfach nur nachgedunkelt war. Sogar ihre Fußform hatte sie an ihr Baby weitergegeben.

»Ich muss los«, sagte Katharina jetzt noch einmal, beugte sich zu ihrem Freund hin und gab erst ihm und dann ihrer Tochter einen Kuss. Sie merkte, wie das schlechte Gewissen in ihr hochschwappte, jetzt, da es soweit war. Ob ihre Entscheidung richtig war, so kurz nach der Geburt wieder arbeiten zu gehen? Sie und Bene hatten dies schon während ihrer Schwangerschaft besprochen, und er hatte absolut nichts dagegen gehabt, zu Hause zu bleiben und sich um ihr gemeinsames Kind zu kümmern. »Klar bleibe ich daheim und mache einen auf Hausmann«, hatte er damals in seiner laxen Art gesagt und dann ernst hinterhergesetzt: »Ich habe Leonie schon nicht aufwachsen sehen, und es war meine Schuld. Bei diesem Kind möchte ich das nicht noch einmal erleben.«

»Na ja, du warst jung und hast dich damals von Julie getrennt und Lüneburg verlassen, ohne zu wissen, dass sie schwanger ist. Mit uns beiden ist das ja anders«, hatte Katharina eingewandt.

»Das stimmt«, hatte Bene geantwortet, »aber trotzdem bleibe ich gern für unser Baby zu Hause, und du kannst arbeiten gehen. Ich kann gut und gern ohne meinen Job leben, aber du kannst das nicht. Du würdest über kurz oder lang eingehen. Du brauchst einfach dieses Räuber-und-Gendarm-Spielen. Und eines sag ich dir: Ist die Mutter glücklich, ist es die ganze Familie!«

»Und du? Du liebst es auch, hinter deinem Tresen zu stehen«, hatte Katharina ihrem Freund entgegengehalten, der als Barchef in einem der besten Hotels Lüneburgs arbeitete. »Ja, aber ich kann auch aus der Ferne lieben. Und wenn es mich dann doch in den Fingern juckt, kann ich immer mal eine Abendschicht in der Bar übernehmen, wenn du abends zu Hause bist«, hatte Bene geantwortet und seinen Kopf auf ihren hochschwangeren Bauch gelegt. Für einen Augenblick hatten sie beide geschwiegen, dann hatte Bene seinen Kopf wieder gehoben und gemeint: »Außerdem gibt es diese klassische Aufgabenverteilung schon längst nicht mehr, bei der die Mutter sich um die Kinder und den Haushalt kümmert und der Vater arbeiten geht. Das war bei unseren Eltern so, aber doch nicht mehr im Jahr 2021. Und in 2022, wenn unser Kleines geboren wird, schon gar nicht. Zu dir und mir würde das auch überhaupt nicht passen. Find ich. Ich meine, wer geht denn meistens einkaufen und kocht? Das bin ja wohl ich, und wie ein Bügeleisen oder Staubsauger funktioniert, weiß ich auch. Von daher finde ich es nur konsequent, wenn ich den Hausmann mache.«

»Liebes, du musst los, wenn du nicht zu spät kommen möchtest«, rissen Benes Worte Katharina aus ihrer Erinnerung.

»Oh ja, du hast recht«, erwiderte sie mit einem schnellen Blick auf die Uhr, bevor sie ein weiteres Mal ihre Tochter betrachtete. Plötzlich schien diese ganz ernst zu gucken, und dann verzog die Kleine ihren herzförmigen Mund zu einem Lächeln. Jetzt konnte Katharina doch die Tränen nicht mehr zurückhalten.

»Hast du das gesehen? Sie hat gelächelt. Zum ersten Mal!«, sagte sie voller Gefühlsseligkeit zu Bene, der antwortete: »Siehst du, unsere kleine Matilda findet es auch super, wenn du arbeiten gehst!«

7.53 Uhr

Es war nicht der direkte Weg zu seiner aktuellen Arbeitsstelle, dennoch war es für ihn kein Umweg. Er hatte den kleinen Schlenker an ihrem Wohnhaus vorbei in seine morgendliche Routine eingeplant. Sowieso fuhr er ständig, wenn er unterwegs war, durch die Straße, in der sie wohnte. Das machte er nun schon seit über einem Jahr so, und es war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Manchmal hielt er auch an und stieg aus. So wie heute, denn er war früh dran und hatte vor Arbeitsbeginn noch ein wenig Zeit. Außerdem war seine Parklücke frei. Das wertete er stets als Zeichen, das ihm das Universum ganz persönlich sendete. Früher, als er noch hier gewohnt hatte, hatte er immer genau an dieser Stelle der Bucht geparkt, wenn sie frei war. Bald hatten das auch die Nachbarn gewusst und sich möglichst andere Parkplätze gesucht. Ihm war es eben wichtig gewesen, von der Wohnung direkt auf sein Auto blicken zu können. Nun war es leider anders herum, aber er hoffte darauf, dass er bald wieder aus dem Fenster gucken konnte und nicht nur sehnsüchtig hinein schauen musste. Insgeheim war er sich sicher, dass es demnächst soweit sein würde und Alina wieder normal war. Sie machte momentan eine schwierige Phase durch, war etwas verwirrt, doch sie würde sich fangen. Und dann wäre er wieder richtig für sie da. So wie damals. Derzeit war er natürlich auch für sie da und achtete darauf, dass ihr nichts und niemand schadete. Natürlich musste das aus der Entfernung geschehen, weil Alina es gerade so wollte. Er akzeptierte das, denn das war wahre Liebe. Er nahm ihr ihr merkwürdiges Verhalten auch nicht krumm. Das gehörte ebenso zum Lieben dazu, und schwierige Zeiten kamen in jeder guten Beziehung vor. Um das zu wissen, musste man noch nicht einmal täglich die Klatschblätter lesen oder Fernsehen gucken. Das wusste man einfach. »Pack schlägt sich, Pack verträgt sich«, sagte der Volksmund, und recht hatte er, außer, dass Alina nicht zum Pack gehörte.

Lars Brückner sah auf die Uhr. Fünf Minuten hatte er noch, dann musste er zur Arbeit aufbrechen. Der 41-Jährige öffnete die Tür seines Passats, stieg aus und ging nach vorn, wo er sich halb auf die Motorhaube setzte. Dann zog er eine Packung Zigaretten hervor und steckte sich eine an, während er ein auf Kipp stehendes Fenster in Alinas Erdgeschosswohnung fixierte. Wenn sie es schloss, würde sie direkt danach ihre Wohnung verlassen. Dummerweise hatte sie keine festen Zeiten, zu denen sie zur Arbeit ging und auf die er sich einstellen konnte. Natürlich, als sie noch zusammengelebt hatten, hatte er regelmäßig in ihren Terminkalender gesehen, damit er informiert war. In der jetzigen Lage war er auf Gedeih und Verderb dem Zufall ausgeliefert, außer, er rief bei ihrer Arbeitsstelle an. Das tat er inzwischen jedoch nur noch zu den Wochenenden und nicht mehr täglich. Und dann auch nicht mehr als Lars Brückner, sondern immer mit verstellter Stimme oder einem aufgesetzten Dialekt, da Alinas Kollegen ihm keine Auskunft mehr erteilten, wenn sie wussten, dass er in der Leitung war. Meist gab er sich für den Ehemann einer Patientin aus, deren Namen er dann etwas nuschelte, damit er nicht deutlich zu hören war. Bisher hatte es jedenfalls funktioniert. Aber er durfte es halt nicht mit seiner Nachfragerei übertreiben, sonst würde er doch noch auffliegen.

Lars hatte aufgeraucht. Achtlos schmiss er die Kippe auf die Straße. Er musste los, obwohl er hin und her gerissen war. Kein Job der Welt war so wichtig, wie Alina wenigstens einmal am Tag zu sehen und zu wissen, was sie angezogen hatte, ob sie ein trauriges, ernstes oder glückliches Gesicht hatte und all diese Dinge, die für einen liebenden Mann wie ihn von Bedeutung waren. Andererseits hatte er bereits drei Arbeitsstellen verloren, weil er Alina wenigstens aus der Ferne hatte sehen wollen und zu spät gekommen war. Oder ihm hatte der Antrieb gefehlt, überhaupt bei der Arbeit zu erscheinen, da seine Gedanken sowieso nur um diese eine Frau kreisten, und er es bevorzugte, an ihrer gemeinsamen Zukunft zu bauen, als für andere zu schuften. Auch heute hatte er keine Lust, seinem Job nachzugehen. Viel lieber wollte er den ganzen Tag in Alinas Nähe sein und schauen, wie sie ihn verbrachte, doch dies konnte er sich schlicht und ergreifend nicht leisten. Er hatte unlängst ein kleines Häuschen geerbt. Es war ziemlich baufällig, aber es war zum richtigen Zeitpunkt in seinen Besitz gekommen. Dummerweise musste er einiges an Geld in die Renovierung oder vielmehr Restaurierung stecken, damit es am Ende ein perfektes Zuhause bieten würde. Doch für Alina tat er dies gern. Er freute sich jetzt schon auf ihre großen Augen, die sie machen würde, wenn er ihr das Haus zeigen und sie dann über die Schwelle in ihr gemeinsames Heim tragen würde. Das Haus hatte ihm auch bereits auf andere Weise geholfen, Alina vermutlich schon in den nächsten Tagen erkennen zu lassen, dass er wirklich der Richtige für sie war – auf dem Dachboden hatte er in einer Kiste altes Zeug gefunden, das ihn auf diese Idee gebracht hatte, die er seit einigen Wochen umsetzte.

Lars Brückner saß wieder in seinem Wagen, startete ihn, parkte aus und fuhr langsam die Straße in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Sein Blick huschte dabei immer wieder zum Rückspiegel, in der Hoffnung, Alina käme doch noch aus ihrem Wohnhaus heraus. Sie tat ihm nicht den Gefallen. Vielleicht trug die Idee, die ihm das Haus geschenkt hatte, ja bereits Früchte …

7.58 Uhr

Hauptkommissar Benjamin Rehder tigerte in seinem vom Großraumbüro mit Glaswänden abgetrennten Einzelbüro auf und ab, die Jalousien hatte er heruntergelassen. Er war nervös. Jeden Augenblick würde Katharina kommen. Eigentlich nichts Außergewöhnliches, schließlich war sie keine neue Mitarbeiterin, von der er nicht wusste, wie sie sich gebärden würde, und darüber hinaus war es noch nicht allzu lange her, dass sie ihren Schreibtisch aufgeräumt hatte und in den Mutterschutz gegangen war. Im Grunde war die Situation so ähnlich wie ihr Wiederkommen aus einem längeren Urlaub. Insgesamt waren es nur knapp drei Monate gewesen, in denen ihr Stuhl leer geblieben und auf ihrem Schreibtisch nicht das übliche ordentliche Chaos geherrscht hatte, das nur Katharina zustande brachte. Trotzdem er es besser gewusst hatte, waren Bens Augen jedoch jeden Morgen, wenn er das Büro in den vergangenen Wochen betreten hatte, an ihren verwaisten Schreibtisch gehuscht. Und jedes Mal war er ein kleines bisschen enttäuscht gewesen, dass sie nicht daran saß. Sie hatte es nur ein einziges Mal in dieser Zeit getan, und da war er so überrascht gewesen, als er nach seiner Mittagspause wieder ins Büro gekommen war, dass ihm anstelle eines »Hey, was für eine Überraschung« ein »Was machst du denn hier?« herausgerutscht war. Glücklicherweise hatte Katharina ihm das nicht krummgenommen, sondern strahlend geantwortet: »Ich wollte euch überraschen. Scheinbar ist mir das gelungen. Außerdem wollte ich Matilda mal zeigen, wo ihr Onkel arbeitet, und ich wollte kurz mit dir reden. Hast du einen Augenblick Zeit für mich?«

Ben hatte umständlich auf seine Uhr geguckt, obwohl er genau wusste, wie spät es war, und dann gemeint: »Ja, aber leider nur zehn Minuten. Danach habe ich ein Meeting mit unserem verehrten Kriminalrat.«

»Das trifft sich gut«, hatte Katharina geantwortet und hinzugesetzt: »Das, was ich mit dir besprechen möchte, kannst du Mausi dann gleich mitteilen.« Mausi war der Spitzname des Kriminalrats, der eigentlich Stephan Mausner hieß, doch hinter seinem Rücken nannten ihn alle in der Polizeidirektion Lüneburg »Mausi«.

Der Hauptkommissar erinnerte sich auch jetzt noch gut an sein spontanes Gefühl nach diesen Worten von Katharina: Angst. Die Angst, dass sie ihm sagen würde, dass sie nicht zurückkäme, weil sie sich ausschließlich um ihre kleine Tochter kümmern wollte. Sowieso hatte ihn sofort, nachdem er von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte, der Gedanke beschlichen, sie verloren zu haben. Kurz zuvor hatte er sich selbst eingestanden, dass er in die Freundin seines Bruders verliebt war. Damals, vor etwa einem Jahr, meinte er, auch bei Katharina Gefühle für ihn bemerkt zu haben. Sie hatten nie darüber gesprochen, doch zwischen ihr und seinem Zwillingsbruder Bene lief es seinerzeit dem Anschein nach nicht gut, und sie hatte häufig seine Nähe gesucht. Natürlich hätte er niemals den ersten Schritt getan. Er war grundsätzlich niemand, der aktiv in eine bestehende Beziehung einbrach, selbst wenn sie porös erschien. Vor allem aber würde er nie versuchen, seinem Bruder die Freundin abspenstig zu machen. Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn Katharina wiederum auf ihn mit deutlichen Absichten zugekommen wäre. Es wäre beruflich und privat sicher nicht leicht gewesen, doch das hätte Ben durchgestanden. Allerdings war Katharina nicht direkt geworden, und dann war sie schwanger – wie er inzwischen wusste, war das nicht nur für ihn überraschend gewesen, sondern ebenso für Katharina und Bene. So liebte Ben die Freundin seines Bruders jetzt aus der Ferne. Dementsprechend hatte er sich auch immens darüber gefreut, als sie ihm bei ihrem Besuch im Büro mitgeteilt hatte, dass sie bereits nach ihrem Mutterschutz ins Team zurückkehren wollte. Und das war genau heute. Stur, wie Katharina eben war, hatte sie darauf bestanden, auch wirklich diesen Freitag ihre Arbeit aufzunehmen, obwohl er ihr angeboten hatte, erst nach dem Wochenende am Montag zu beginnen. »Nein«, hatte sie gesagt. »Nur, weil ich jetzt Mutter bin, möchte ich keine Extrabehandlung.«

Erst später, als er Stephan Mausner über Katharinas Entscheidung informierte und der sich laut darüber wunderte, dass Katharina keine Elternzeit in Anspruch nahm, war Ben aufgefallen, dass er sie nicht danach gefragt hatte. Bei jeder anderen Mitarbeiterin hätte er das sicher getan. Ihr geraten, noch ein wenig Zeit mit ihrem Kind zu verbringen, und versprochen, dass sie sich keine Sorgen um ihre Position im Team machen musste. Zwar hatte Ben noch nie ein solches Gespräch geführt, doch war er sich fast sicher, dass er so reagiert hätte. Außer anscheinend bei Katharina, denn hier hatte er mehr an sich gedacht und wie schön es sein würde, sie wieder um sich zu haben.

Der Hauptkommissar ging jetzt zu seiner Bürotür, öffnete sie und trat in das Gemeinschaftsbüro, in dem bereits die anderen beiden Teammitglieder zugange waren. Vivien Rimkus und Tobias Schneider waren wie er heute ein bisschen früher gekommen, um den Raum mit einer »Willkommen zurück«-Girlande zu schmücken. Außerdem hatten sie ein paar Luftballons aufgepustet, die sie an die Girlande gehängt hatten, und auf Katharinas Schreibtisch stand ein Teller, auf dem ein Franzbrötchen lag – ihr Lieblingsfrühstück.

Vivien und Tobi saßen bereits an ihren Schreibtischen und lasen auf ihren Computern, welche Polizeieinsätze es in der Nacht gegeben hatte. Vor allem für Vivien war das wie Zeitunglesen und seit einiger Zeit ein festes Ritual in ihrer morgendlichen Routine, kaum war sie ins Büro gekommen. Die beiden hatten noch nicht einmal aufgeblickt, als er eben gerade ins Gemeinschaftsbüro getreten war, und vielleicht war dies der Grund, weswegen Ben sich plötzlich fehl am Platz fühlte – ein bisschen wie bestellt und nicht abgeholt. Möglicherweise war es aber auch nach wie vor seine Nervosität. Dabei hatte er Katharina erst letzten Sonntag bei seinen Eltern zum Essen getroffen. Allerdings war Katharina gemeinsam mit seinem Bruder und der kleinen Matilda dort gewesen, und er hatte sie als Mutter und allem Anschein nach wieder glücklicher Freundin von Bene erlebt. So wie schon die Male davor, seit sie ihre Tochter geboren hatte. Jetzt gleich aber, im Grunde jede Sekunde, würde sie hier im Büro erscheinen. Allein. Ohne ihre kleine Familie. Und so wie früher. Das hoffte er zumindest. Ben ermahnte sich selbst. Er dachte gerade als Privatmensch und nicht als Vorgesetzter, den es grundsätzlich sehr freute, dass seine beste Mitarbeiterin sich dazu entschieden hatte, direkt nach ihrem Mutterschutz die Arbeit wieder aufzunehmen. Aktuell vor allem, da sie gerade einen Fall auf dem Tisch hatten, der wie für Katharina mit ihren klar strukturierten Gedanken bei gleichzeitiger Empathie und extremem Einfühlungsvermögen in die Dinge, die in der Regel hinter einem Fall und in diesem ganz bestimmt steckten, gemacht zu sein schien. Andererseits hatte er es noch vor ein paar Tagen befremdend gefunden, dass Katharina nicht bei ihrem Baby zu Hause bleiben wollte und seinem Zwillingsbruder Bene zumindest am Tage die Fürsorge überließ. Inzwischen dachte er anders darüber, und das lag ausgerechnet an seiner Mutter. Die hatte am letzten Sonntag, nachdem Katharina und Bene mit Matilda nach Hause gegangen waren, genau dieses Thema angesprochen. Ihre Augen hatten vor Bewunderung und Anerkennung geleuchtet wie bei einer jungen Frau, als sie ihrem überraschten Mann und ihm, ihrem Sohn, verkündete, wie großartig sie Katharinas Entscheidung fand, ihre Arbeit nicht für Matilda aufzugeben. »Aber ein bisschen länger könnte sie schon bei ihr zu Hause bleiben. Bis die Kleine drei Jahre alt ist, steht ihr das schließlich zu, und sie bekommt in der Zeit auch Geld«, hatte sein Vater vorsichtig eingewandt.

»Klar könnte sie das, aber wieso sollte sie. Sie steckt Matilda ja nicht in eine Krippe, sondern der Vater ist tagsüber für die Kleine da, was ich von Bene übrigens auch toll finde und, ehrlich gesagt, gar nicht von ihm gedacht hätte. Aber der Junge ist halt auch älter und vernünftiger geworden. Katharina hat nun einmal den besseren Job, verdienstmäßig. Wenn sie da aber erst einmal raus wäre, wäre das sicher nicht von Vorteil, oder was meinst du, Ben?«, hatte sich seine Mutter dann an ihn gewandt.

»Na ja, als Beamtin hätte sie keine Schwierigkeiten, auch nach einer längeren Zeit wieder da einzusteigen, wo sie aufgehört hat«, hatte Ben geantwortet.

»Ach ja, stimmt«, hatte seine Mutter ihm recht gegeben, dann aber beharrt: »Trotzdem finde ich es konsequent von Katharina, auch als Mutter das weiter fortzuführen, was ihr Spaß bringt. Und heutzutage zeigt doch niemand mehr mit dem Finger auf eine Mutter, die ganztags arbeiten geht. Schon gar nicht, wenn der Vater für das Kind da ist. Ich hätte mich das damals nicht getraut.«

»Wir haben so einen Rollentausch auch niemals in Erwägung gezogen«, hatte Bens Vater eingeworfen.

»Ja, ich war ja auch schon vor den Kindern Hausfrau. Das war damals halt so, aber ehrlich gesagt, nervt mich der Begriff ›Rollentausch‹. Eigentlich ist das heutzutage doch ein Unwort. Die Gesellschaft hat sich gewandelt …«, hatte Bens Mutter gesagt, war jedoch von ihrem Mann unterbrochen worden: »Die Gesellschaft wandelt sich seit jeher.«

»Ja, sag ich doch«, war sie aus ihrem Redeschwall herausgekommen, und Ben vermutete auch jetzt noch, dass sein Vater genau das mit seinem Kommentar bezweckt hatte. Er selbst hatte es genutzt, um seinen Aufbruch anzukündigen, und keine zehn Minuten später war er dann auch gegangen. Dennoch hatte ihn die Meinung seiner Mutter beschäftigt. Vor allem, weil er sich bislang nie darüber Gedanken gemacht hatte, dass sie eventuell ihre ganz persönlichen Bedürfnisse für die Familie hintenangestellt hatte. Er hatte sie immer als glücklich empfunden und gemeint, sie würde in ihrer Rolle als Hausfrau, fürsorgliche Mutter und Ehefrau vollends aufgehen. Aber war dem so? Füllte sie die ihr zugeschriebene Rolle einfach nur perfekt aus und kamen jetzt, im Rentenalter, lang unterdrückte Sehnsüchte in ihr hoch? Gerade in den letzten Tagen hatte Ben sich gefragt, ob er sie jemals anders denn als seine Mutter gesehen hatte. Er hatte sich eingestehen müssen, dass er dies tatsächlich nie getan hatte. Dann hatte er versucht, sich in sie hineinzufühlen und sie nicht in dieser Rolle zu sehen, sondern unbeeinflusst von ihrer Kind-Mutter-Beziehung. Es war ihm nicht gelungen und auch jetzt, in diesem Augenblick, gelang es ihm nicht. Ben wurde von seinen Gedanken über seine Mutter abgelenkt. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er die ganze Zeit auf die Bürotür geblickt hatte. Jetzt sah er, wie langsam die Klinke nach unten ging. Gleich würde Katharina eintreten.

8.06 Uhr

Alina Winkler hatte langsam die Türklinke heruntergedrückt und die Eingangstür des Mietshauses, in dem sie wohnte, nur einen Spalt geöffnet, sodass sie heraus auf die Straße linsen konnte. Seit ein paar Wochen machte sie das jedes Mal so, wenn sie aus dem Haus gehen wollte, und hoffte stets, dass keiner ihrer Nachbarn sie bei diesem Vorgang antraf. Sie ging davon aus, dass diese sie sowieso bereits für seltsam hielten, und wenn sie mitbekamen, wie sie sich beim Verlassen des Hauses verhielt, würden sie sie für komplett meschugge halten. Sie konnte es ihnen nicht verdenken: Ihre Wohnungstür hatte drei Schlösser und von drinnen noch einmal einen Vorlegeriegel. Wenn einmal jemand bei ihr direkt an der Wohnungstür klingelte und nicht unten an der Haustür, machte sie nicht auf, sondern fragte nach dem Anliegen durch die Tür hindurch. Oder sie tat so, als sei sie nicht zu Hause. Außerdem hatte sie sich einen batteriebetriebenen Plastikhund besorgt, der jedes Mal wie ein echter bellte, wenn doch jemand in ihre Wohnung trat – meist war sie es allerdings selbst. Alina ging davon aus, dass ihre Nachbarn den Hund in ihrer Wohnung bellen hörten, allerdings ging sie niemals mit einem Tier Gassi. Wie auch? Sie hoffte inständig, dass niemand auf die Idee kam, ihr deswegen den Tierschutz auf den Hals zu hetzen. Und dieses ganze Getue entsprang allein ihrer Furcht vor Lars. Es hatte gleich ein paar Tage, nachdem sie sich endlich von ihm getrennt hatte, angefangen. Seitdem fühlte sie sich von ihm verfolgt. Ständig. Schon während ihrer Beziehung hatte sie sich von ihm kontrolliert gefühlt und manches Mal gemeint, ihn zu sehen, wenn sie allein mit Freundinnen unterwegs war. Zunächst hatte sie geglaubt, sie bilde sich das ein – Lars sah nicht gerade außergewöhnlich aus, sondern durchschnittlich. Abgesehen davon, dass er recht groß war und die meisten Menschen überragte, kleidete er sich nicht auffällig, hatte eine besondere Frisur oder sonst etwas Ausgefallenes an sich. Nachdem das ein paar Mal vorgekommen war, hatte Alina bewusster auf ihre Umgebung geachtet, wenn sie ohne Lars unterwegs gewesen war. Oft war sie sich sicher gewesen, ihn gesehen zu haben. Doch dann war er sofort wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden. Wie ein kurzer Windhauch einen im Vorübergehen streicht. Natürlich hatte sie ihn, wenn sie wieder zu Hause war, darauf angesprochen. Nicht gleich zu Beginn, aber später. Er hatte es nie zugegeben und stets eine Antwort parat gehabt, wo er sich aufgehalten hatte, als sie dachte, ihn gesehen zu haben. Das hatte sie zusehends verwirrt und sie hatte sich immer häufiger gefragt, wieso sie sich so hatte täuschen können. Mit ihren Freundinnen mochte sie bald nicht mehr darüber reden. Sie hatte nicht gewollt, dass die sie für merkwürdig hielten. Und so stand sie ihren Gedanken allein gegenüber. Hatte sie etwa Wahnvorstellungen, was Lars betraf? War gar sie es, die auf ihn fixiert war und ihn deswegen auch überall sah? Und wollte sie dies nicht wahrhaben und unterstellte deswegen ihrem Freund Kontrollsucht? Solche Fragen trieben Alina damals um. Heute hatte sie zwar nach wie vor keine Antworten, aber eines wusste sie: Lars war nicht der, für den sie selbst ihn einst gehalten hatte. Lars war gefährlich, und seine angebliche aufopferungsvolle Liebe zu ihr einfach nur Besessenheit.