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Oberkommissarin Katharina von Hagemann wird zu einer im Bültenmoor aufgefundenen Frauenleiche gerufen - es handelt sich um Anne Pfeiffer, die seit drei Wochen als vermisst gilt. Rechtsmedizinerin Dr. Frauke Bostel stellt nicht nur frische Verletzungen an dem Leichnam fest, sondern ebenso ältere. Die Frau scheint jahrelang misshandelt worden zu sein. Der Verdacht fällt schnell auf den Ehemann. Doch ist der Fall tatsächlich so einfach? Hat Steffen Pfeiffer seine Frau einmal zu heftig geschlagen und sie dann verschwinden lassen?
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Seitenzahl: 331
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Kathrin Hanke
Heidequal
Der 11. Fall für Katharina von Hagemann
Finstere Abgründe Im Bültenmoor bei Lüneburg wird die Leiche von Anne Pfeiffer entdeckt, die seit drei Wochen als vermisst gilt. Frische und alte Verletzungen deuten auf langjährige Misshandlungen hin. Steffen Pfeiffer, der Ehemann, gerät schnell unter Verdacht. Doch ist der Fall wirklich so simpel? Hat er seine Frau einmal zu hart geschlagen und deswegen verschwinden lassen? Die Lüneburger Oberkommissarin Katharina von Hagemann zweifelt. Entschlossen begibt sie sich gemeinsam mit ihren Kollegen auf die Suche nach der Wahrheit, die sie in die Abgründe einer zerrütteten Ehe führt. Jeder Schritt ihrer Ermittlung führt sie tiefer hinein in ein Netz aus Geheimnissen, Lügen und zerstörten Träumen. Je mehr Katharina über das Ehepaar erfährt, desto komplexer und undurchsichtiger erscheint ihr der Fall.
Kathrin Hanke schreibt seit über einem Jahrzehnt als freie Autorin erfolgreich Krimis. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Heidekrimis rund um das Team des Ermittlerduos Katharina von Hagemann und Benjamin Rehder sowie ihre True-Crime-Bücher, die sie in die Tiefen von Archiven steigen ließen und die in enger Zusammenarbeit mit der Polizei entstanden sind. Kathrin Hanke ist Mitglied im Syndikat, der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur sowie aktiv bei den »Mörderischen Schwestern«, dem gemeinnützigen Verein zur Förderung der von Frauen geschriebenen, deutschsprachigen Kriminalliteratur.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © ArTo / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-7966-3
Für meine Kinder.Katharina, Vincent, Amelie & Konrad, ihr widerlegt eindeutig den Ausspruch, dass es nur eine große Liebe im Leben gibt.
»Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.«
Das Hohelied der Liebe (1 Kor 13), 13,1
22:07 Uhr
Ella hielt sich die Ohren zu. Dabei starrte sie, auf ihrer Unterlippe kauend, wie gebannt an ihre schummrig-dunkle Zimmerdecke, die nur vom Mondlicht beleuchtet wurde, das durch den Gardinenspalt fiel. Ihr Herz pochte fühlbar, ein dicker Kloß schien in ihrem Hals festzusitzen, und gleichzeitig quollen aus ihren Augen lautlose Tränen. Es war nicht das erste Mal, dass sie so in ihrem Bett lag und darauf wartete, bis es vorbei war. Irgendwann war es immer vorbei. Ein Glück. Dann hallten nur noch das Schluchzen ihrer Mutter und die Stimme ihres Vaters durchs Haus, der flüsternd versuchte, die Mutter zu beruhigen – auch Flüstern konnte laut sein. Das hatte das Mädchen inzwischen gelernt. Heute war der Streit anders als sonst. Heftiger und lauter, sodass Ellas Hände instinktiv zu ihren Ohren hochgeschnellt waren, als sie wie fast jede Nacht von dem Geschrei aufgewacht war, um diese zuzudrücken.
Eine Stimme in ihrem Inneren drängte sie, aufzustehen und nach ihrem kleinen Bruder zu sehen. Lasse war drei, und seit er auf der Welt war, war alles noch viel schlimmer geworden. Insgeheim gab Ella Lasse die Schuld für die regelmäßigen Streitereien ihrer Eltern. Als sie selbst noch kleiner war, hatte sie ihn deshalb auch immer geärgert. Daraufhin wurde es zwischen Mama und Papa jedoch wie ein wachsendes Geschwür nur noch doller, und der Streit fing schon an, wenn Papa von der Arbeit nach Hause kam. Darum hatte Ella Lasse irgendwann einfach nicht mehr beachtet, um ihn auf diese Weise für sein Auf-der-Welt-Sein zu bestrafen. Ihren Eltern schien das zu helfen, denn ab da fanden die Streitereien meistens wieder erst zur Bettzeit statt.
In einer dieser Nächte kam Lasse dann jedoch weinend zu ihr ins Zimmer getappt. Er hatte ihr furchtbar leid getan und trotz ihrer Wut auf ihn, hatte Ella ihn zu sich ins Bett gelassen. Sie wusste nicht mehr genau, wie alt er da gewesen war, nur noch, dass er kurz davor anstelle eines Schlafsacks eine richtige Bettdecke in sein Kinderbett bekommen hatte, denn auch diese Entscheidung von Mama hatte bei ihren Eltern zu Streit geführt. Mama hatte gesagt, dass Lasse sie auf diese Weise nachts nicht mehr rufen musste, sondern einfach ins Schlafzimmer kommen konnte. Papa hatte das viel zu gefährlich für Lasse gefunden, wegen der Treppe im Haus, aber Mama war hart geblieben. Ella hatte sich stillschweigend darüber gefreut, weil sie es ganz gut gefunden hätte, wenn Lasse etwas passiert wäre. Sie hatte gedacht, dann würde zwischen ihren Eltern wirklich alles wieder in Ordnung kommen. Mittlerweile hatte das Mädchen ein schlechtes Gewissen, das auch jetzt wieder in ihr hochschwappte, denn ihre Einstellung gegenüber Lasse hatte sich seit dem Augenblick geändert, als er an ihrem Bett gestanden hatte. Sie hatte in seinen Augen die gleiche Angst gesehen, die sie auch verspürte. Deswegen hatte sie damals ihre Bettdecke angehoben und ihn darunter schlüpfen lassen. Als sie seinen warmen, kleinen und vor unterdrücktem Weinen zitternden Körper, der sich Schutz suchend an sie schmiegte, gefühlt hatte, war all ihre Wut auf ihn in Liebe umgeschlagen. Sie hatte gar nicht anders gekonnt, als ihre Arme fest um ihn zu schlingen und ihn zu halten, bis er vor Erschöpfung wieder eingeschlafen war. Seitdem hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, ihren kleinen Bruder zu beschützen und sich vor allem um ihn zu kümmern, wenn Mama es nicht konnte. Das kam häufig vor, aber das machte Ella nichts. Auf diese Weise unterstützte sie Mama, die dadurch ruhiger wurde und ihr sogar manchmal ein Lächeln schenkte. Und Lasse dankte es ihr mit seiner bedingungslosen Liebe. Nur Papa guckte sie abends manchmal so merkwürdig an, wenn sie mit ihrem Bruder vom Abendbrottisch aufstand, um ihn ins Bett zu bringen. Irgendwie nachdenklich und traurig zugleich. Sein Blick wirkte dabei wie eine Last auf ihrem Körper, und sie zog dann den Kopf zwischen die Schultern, um kleiner zu wirken. Außerdem vermied sie in solchen Momenten direkten Augenkontakt mit Papa. Sie wusste nicht genau, ob er es gut fand oder es ihn böse machte, dass sie sich so um Lasse kümmerte. Dennoch ließ sie es nicht bleiben. Lasse brauchte sie, und irgendwie brauchte sie auch ihn. Ein bisschen so wie früher ihren Kuschelhasi, den Lasse in ihren Armen abgelöst hatte. Manchmal drückte sie Hasi, der immer in ihrem Bett lag, noch an sich und holte sich Trost von ihm.
Hasi! Das Mädchen löste die Hände von ihren Ohren und tastete nach ihrem Kuscheltier. Da, da war es. Sie nahm Hasi und legte ihn sich unters Kinn, während sie ihn mit beiden Händen hielt. Sollte sie nicht besser zu Lasse rübergehen und nach ihm sehen, als hier wach und beklommen auf das Ende des Streits zu warten? Ella war hin und her gerissen. Irgendetwas hielt sie zurück, doch sie kämpfte dagegen an, und gerade, als sie sich überwinden wollte, klirrte es plötzlich laut durchs Haus. Die Achtjährige zuckte zusammen, krallte ihre Finger tief in den Plüschtierkörper und blieb erschrocken liegen. Was war das gewesen? Es hatte geklungen, als hätte jemand ein Glas zerbrochen. Jetzt krachte es, und Mama schrie auf. Sie schrie so schrill und gruselig wie der Fuchs, der in den Herbstferien im Dänemark-Urlaub um ihr Haus geschlichen war. Vielleicht war es ja gar nicht Mama gewesen, sondern wieder ein Fuchs. Manchmal verirrten die sich auch in ihre Wohnstraße. Das hatte Papa ihr damals in Dänemark erzählt. Aber was war das Krachen gewesen? Ein Stuhl? Oder war es von draußen gekommen, und ein Baum war umgekippt und auf der Terrasse gelandet? Doch wieso sollte ein Baum einfach so umkippen? Sie hatten keinen Sturm, der ums Haus pfiff, oder so. Wieder klirrte Glas. Das Geräusch war eindeutig von unten aus dem Wohnzimmer gekommen. Dann herrschte Stille. Hatten die Eltern aufgehört zu streiten? Das war bisher noch nie so urplötzlich geschehen. Zumindest nicht so kurz nachdem sie mit dem Streiten angefangen hatten. Normalerweise ging es mindestens eine halbe Stunde mit Gebrüll und Getobe zu. Früher nicht jeden Abend, dann war es immer häufiger geworden, und seit einiger Zeit stritten Mama und Papa täglich. Was hatte das zu bedeuten, dass es heute nur so kurz gedauert hatte?
Ella glaubte nicht, dass ihre Eltern sich so schnell wieder vertragen hatten. Vor allem war es so eine drückende Stille, die aus dem Wohnzimmer durch das Haus drang. Kein Geschrei, kein Weinen, nichts. Auch kein Geflüster von Papa wie sonst nach einer Auseinandersetzung. Nur diese unheimliche Stille. Und dass die beiden einander wie ein Liebespaar im Fernsehen in die Arme gefallen waren und sich jetzt küssten, konnte Ella sich absolut nicht vorstellen. Das würde zwar die abrupte Ruhe im ganzen Haus erklären, aber Mama und Papa nahmen einander niemals in den Arm, so wie sie es manchmal bei den Eltern ihrer wenigen Freundinnen erlebte. Selbst wenn Mama und Papa sich mal verstanden, konnte sich Ella nicht daran erinnern, dass die beiden sich auch nur berührt hatten. Papa versuchte es manchmal bei Mama, doch die wich ihm immer aus. Ella hatte einmal bei der Sendung mit der Maus einen Film über Hunde und Katzen gesehen. Da hatten sie gesagt, dass diese Tiere sich nur in Ausnahmefällen vertrugen, weil sie einfach eine andere Sprache sprachen. Bei dem Film hatte das Mädchen sofort an Mama und Papa denken müssen, denn eigentlich vertrugen die beiden sich nie. Außer morgens. Denn am Morgen nach einem Streit war Papa immer ganz ruhig, sagte kaum ein Wort und machte alles, was Mama wollte. Darum gehörte für Ella und Lasse der Morgen zur schönsten Zeit des Tages – kein Gezanke zwischen den Eltern. Die plötzliche Stille, die sich jedoch jetzt eingestellt hatte, bereitete ihr nach wie vor Angst. Es war nicht dieses unangenehme Gefühl, das Ella beschlich, wenn Mama und Papa laut miteinander wurden und sie sich am liebsten unsichtbar machen würde, wenn sie dabei war. Das Mädchen verspürte vielmehr eine unbestimmte Furcht, die inzwischen ihren ganzen Körper zittern ließ und überall Gänsehaut bereitete.
Wieder kam ihr Lasse in den Sinn. Bestimmt lag ihr kleiner Bruder ebenso wie sie angsterfüllt in seinem Bett. Und vermutlich traute er sich nicht, aufzustehen und in Ellas Zimmer zu kommen. Oder er schleicht in diesem Moment, weil es gerade still ist, schnell zu mir, dachte sie erschrocken und setzte sich auf. Was, wenn ihr Gefühl richtig war? Was, wenn ihre Eltern noch immer stritten, nur eben leise? Und böser als sonst. Dann durfte Lasse nicht aus seinem Zimmer gehen, da er dazwischengeraten könnte, falls die Eltern ihren Streit nicht nur im Wohnzimmer austrugen. Ella selbst war das einmal passiert, und es war schrecklich gewesen. Da hatten die Eltern wie üblich laut gestritten. Lasse hatte neben ihr im Bett gelegen und sich plötzlich übergeben. Das Mädchen hatte nicht gewusst, was es tun sollte, hatte sich ein Herz gefasst und war hinunter ins Wohnzimmer gegangen. Sie kam gar nicht dazu, ihren Eltern zu berichten, dass Lasse gespuckt hatte, sondern war direkt mit den Worten angeschrien worden: »Verschwinde, sonst kannst du was erleben. Los, ab ins Bett!«
Getrieben von diesem Gedanken schlug Ella die Bettdecke beiseite und schlich auf Zehenspitzen zur geschlossenen Zimmertür. Langsam umschloss sie die Klinke mit ihren Fingern, drückte sie vorsichtig, um ja kein Geräusch zu verursachen, nach unten und zog die Tür einen kleinen Spalt auf. Sie lauschte in den Flur hinein. Nichts drang an ihre Ohren. Kein leises Gemurmel aus dem Wohnzimmer unten, kein anderes Geräusch. Noch immer erfüllte Stille das Haus. Obwohl Ella diese nach wie vor als bedrohlich empfand, war sie erleichtert – wahrscheinlich waren ihre Eltern eingeschlafen. Papa schlief sowieso häufig unten auf dem Sofa, und Mama war vielleicht, ohne sich vorher im Bad fertig zu machen – das hätte Ella gehört –, ins Bett gegangen. Auch das kam manchmal vor. Doch selbst wenn die Eltern noch nicht schliefen, waren sie zumindest nicht hier oben auf dem Flur oder kamen gerade die Holztreppe hoch. Dann würde es knarzen. Kurz entschlossen zog das Mädchen die Tür weiter auf, schlüpfte hindurch und erstarrte.
»Ich … ich muss mal«, brachte Ella nur krächzend heraus, weil die Angst ihr von einer Sekunde auf die andere die Kehle zuzuschnüren schien. Aber irgendetwas musste sie schließlich als Begründung für ihre Anwesenheit auf dem Flur sagen. Die Wahrheit ging nicht, weil sie Lasses Namen nicht nennen wollte. Auch das war eine Art, ihn zu beschützen. Überdies hätte sie keine Erklärung dafür, mitten in der Nacht nach ihrem kleinen Bruder sehen zu wollen, außer den lauten Streit der Eltern, und den konnte sie schlecht anbringen. Ob sie überzeugend genug gewesen war? Schnell senkte die Achtjährige ihren Blick auf den Boden. Zum einen, da das Bild, das sich ihr bot, zu schaurig war, zum anderen hatte sie das Gefühl, nicht nur der Schrecken, sondern auch die Lüge standen ihr ins Gesicht geschrieben. Andererseits, jetzt, da sie es ausgesprochen hatte, merkte sie, dass sie wirklich einmal musste. Trotzdem zögerte sie weiterzugehen. Würde sie durch die damit verbundene Aufmerksamkeit möglicherweise Zorn auf sich lenken? Aber sie konnte auch nicht einfach den Rückzug in ihr Zimmer antreten, das wäre merkwürdig. Und über kurz oder lang würde sie auf die Toilette müssen. Dann noch einmal aufzustehen und hier entlangzugehen wäre ein weiteres Mal riskant. Nein, sie musste wohl oder übel ins Bad gehen. Armer Lasse. Sie hätte so gern nach ihm gesehen, aber das traute sie sich in diesem Moment nicht. Vielleicht schlief er ja auch tief und fest, und sie machte sich umsonst Sorgen um ihn, beruhigte das Mädchen sich selbst. Oder er war wieder eingeschlafen, nachdem es so direkt nach dem Geschrei still im Haus geworden war. Ella hatte eine Ahnung, woran das lag, hoffte aber gleichzeitig, dass dem nicht so war, weil es einfach nicht sein durfte. Allein die Vorstellung ließ sie erzittern. Tränen drückten hinter ihren Augäpfeln. Das Mädchen war es jedoch seit Jahren gewohnt, seine Gefühle nach außen zu verbergen und sie allerhöchstens zuzulassen, wenn es allein war. Ihre ganze Familie war so. Selbst Lasse hatte dieses Verhalten inzwischen übernommen.
Ella schluckte und setze sich in Bewegung Richtung Badezimmer. Ob Papa sie beobachtete? Sachte hob sie den Kopf und blickte verstohlen zu ihm hin. Fast hätte sie erleichtert aufgeatmet, konnte es jedoch gerade noch unterdrücken. Papa schien sie völlig vergessen zu haben, und sie wollte sich bestimmt nicht wieder in Erinnerung rufen. Zumindest beachtete er sie überhaupt nicht. Er saß einfach nur auf der obersten Treppenstufe, lehnte mit dem Kopf am Geländer und stierte die nackte Wand ihm gegenüber an. Schnell schaute sie wieder weg. Was war bloß eben im Wohnzimmer geschehen? Wo war Mama? Bereits im Bett? Oder war sie etwa … Ella stockte der Atem bei diesem Gedanken. War Mama im Bad und sie hatte es nur nicht mitbekommen? Schließlich hatte sie ja auch nicht gehört, dass Papa die Treppe hochgekommen war.
Das Mädchen wollte keinesfalls seiner Mutter begegnen. Sie wollte nichts damit zu tun haben, was zwischen den Erwachsenen geschah. Vielleicht war Mama auch noch unten im Wohnzimmer. Möglicherweise schlief sie heute mal auf dem Sofa. Aber was, wenn nicht, und sie war doch im Badezimmer? Ella blieb kurz stehen. Unschlüssig. Ob Papa es merken würde, wenn sie jetzt doch in Lasses Zimmer schlüpfte? Auf der anderen Seite drückte ihre Blase nun schon merkbar.
»Alles klar, mein Schatz?«, hörte Ella jetzt ihren Vater von der Treppe her sagen, und ihr Herz blieb dabei fast stehen. Wäre sie doch bloß weitergegangen und hätte nicht gestoppt! Seine Stimme hatte müde und irgendwie tonlos geklungen. Auch ein bisschen traurig. Wut hatte darin auf jeden Fall nicht mitgeschwungen, vielleicht brauchte sie also gar keine Furcht zu haben. Vielleicht war der Sturm wirklich vorüber, und Mama entweder im Wohnzimmer oder im Schlafzimmer erschöpft eingeschlafen, sodass Ella nicht mehr befürchten musste, dazwischenzugeraten und auch was abzukriegen. Doch warum sah Papa dann so aus? Sie hatte ihn eben nur mit ihrem Blick gestreift, aber das hatte ihr schon gereicht.
»Ja«, antwortete das Mädchen nun zurückhaltend. Sie war noch immer auf der Hut. Während sie sich langsam, die Augen auf den Boden gerichtet, wieder in Gang setzte, drang ein »Entschuldige« an ihr Ohr. Es war so leise von ihrem Vater gesagt worden, dass sie sich nicht sicher war, ob sie sich nicht verhört hatte, deswegen reagierte sie sicherheitshalber nicht, sondern setzte ihren kurzen Weg zum Bad fort. Dann sagte er es jedoch noch einmal: »Entschuldige.« Dieses Mal schon etwas fester, sodass das Mädchen daraus schloss, sich zuvor nicht getäuscht zu haben. Es war nicht das erste Mal, dass ihr Vater sich bei ihr und auch manchmal bei Lasse für die Streitereien entschuldigte. Normalerweise machte er dies morgens, wenn er ihnen Frühstück zubereitete und Mama noch nicht runtergekommen war. Am Anfang hatte Ella sich über die Entschuldigungen gefreut. Inzwischen wusste sie jedoch, dass sie nichts bedeuteten, denn das Gestreite der Eltern hatte kein bisschen nachgelassen. Darum nahm sie es nicht mehr ernst, wenn Papa seine Entschuldigung oder sein Tut-mir-leid oder was auch immer vorbrachte. Jetzt jedoch schon. Heute sagte er es anders als sonst. Irgendwie nicht für sie, sondern für sich selbst. Ella konnte die Empfindung, die sie in sich hochkommen fühlte, nicht richtig einordnen, doch brachte diese sie dazu, absolut keine Angst mehr zu haben und erneut stehen zu bleiben. Das Mädchen wendete sich seinem Vater zu, und prompt war die Angst wieder da. Und zwar sehr viel mächtiger als zuvor. Ella schrie entsetzt auf und flüchtete in Lasses Zimmer, wo sie sich schnell hinter die Tür setzte und hoffte, ihre Kraft würde ausreichen, um sie zuzuhalten, falls der Vater ihr folgen sollte. Obwohl es dunkel und sie in Lasses Zimmer war, verschwand das Bild nicht vor ihren Augen: Papa, der blutbespritzt mit einer am Hals abgebrochenen und ebenso blutverschmierten Flasche in der Hand aufgestanden war und sie aus einem verzerrten und verweinten Gesicht ansah.
»Und wenn ich prophetisch reden könnte
und alle Geheimnisse wüsste
und alle Erkenntnis hätte;
wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte,
hätte aber die Liebe nicht,
wäre ich nichts.«
Das Hohelied der Liebe (1 Kor 13), 13,2
23:07 Uhr
Katharina drängelte sich durch die Menschen, die in Benes Wohnung Schulter an Schulter herumstanden und sich zu amüsieren schienen. Die meisten kannte sie, einige jedoch nicht. Es störte sie nicht weiter. So war das eben auf einer Geburtstagsfeier, selbst wenn es die des Freundes war, mit dem sie inzwischen knapp zehn Jahre zusammen war – einige Gäste kannte man, von anderen hatte man zumindest schon einmal gehört, und die nächsten waren einem komplett fremd. Ursprünglich hatte es eine kleine Feier werden sollen. Nur im Familienkreis. Doch dann hatte Bene plötzlich gemeint, er hätte mal wieder Lust, so richtig schön groß zu feiern. Katharina hatte nichts dagegen gehabt. Wieso auch? Es war Benes Geburtstag und deshalb seine Entscheidung, wie er ihn begehen wollte. Außerdem hatten sie in der ganzen Zeit ihrer Beziehung noch keine Party gegeben. Und seit Matilda auf der Welt war, waren sie ziemlich häuslich geworden und nicht mehr ausgiebig tanzen, geschweige denn einfach nur entspannt etwas trinken gegangen. Früher hatten sie das häufig getan, was auch daran gelegen hatte, dass Bene sein Geld als Barmann verdient und Katharina ihn des Öfteren abgeholt hatte. Manchmal hatte er ihr dann noch in der Bar einen oder sogar mehrere Absacker eingeschenkt oder sie waren weitergezogen – Lüneburg hatte als Studentenstadt einiges an Bars und Kneipen zu bieten und war alles andere als ein stilles Pflaster. Nach Tildas Geburt war Bene jedoch in Elternzeit gegangen und hatte nicht mehr hinter dem Tresen gestanden. Er versicherte Katharina immer wieder, dass ihm das überhaupt nicht fehlen würde. So ganz glaubte Katharina ihm das nicht, umso mehr hatte sie ihm die Party zu seinem Geburtstag gegönnt. Schon die Planung hatte ihn überaus glücklich gemacht, und seit die ersten Gäste eingetroffen waren, lief Bene mit einem scheinbar in sein Gesicht fest eingemeißelten Honigkuchenpferdgrinsen herum. Genauso wie überraschenderweise Ben, Benes eineiiger Zwillingsbruder und außerdem ihr Chef. Von ihm hatte Katharina dies nicht erwartet, denn er galt allgemein als Partymuffel. Sie war schon überaus erstaunt gewesen, dass Ben überhaupt mitfeierte – nicht als Besucher der Party seines Bruders, sondern ebenfalls als Gastgeber. Denn obgleich sie Zwillinge waren, waren die beiden Männer so unterschiedlich wie Tag und Nacht, sah man mal vom Äußeren ab.
Benjamin Rehder, genannt Ben, war der Erstgeborene. Er war ruhig, eher introvertiert, grüblerisch und selten spontan, dafür aber ausgesprochen verlässlich. Sein um nur wenige Minuten jüngerer Bruder Bene, der mit vollem Namen Benedikt hieß, war wiederum das komplette Gegenteil. Manchmal dachte Katharina bei sich, die Eltern hätten ihren Söhnen diese verdammt ähnlichen und in Gesprächen oftmals zu Verwechslung führenden Namen gegeben, um genau diese Persönlichkeitsunterschiede zu verbergen, denn gerade bei Bene hatte es eine Zeit gegeben, die er laut eigenen Bekundungen bereute. Auch aus dieser Zeit hatte er zwei Männer eingeladen, und als sein Bruder sie auf der Gästeliste entdeckt hatte, hatte er die Nase gerümpft und gemeint: »Sag bloß, du hast wieder mit diesen beiden Gestalten zu tun! Ich dachte, du hättest dich damals ein für alle Mal von ihnen losgesagt! Und ehrlich, ich habe absolut kein Verlangen, auf die beiden zu treffen. Schon gar nicht auf meiner eigenen Party.«
»Sie sind inzwischen genauso sauber wie ich. Und auch Familienväter. Na ja, zumindest Torben. Der hat zwei Kinder. Niklas ist verheiratet und das auch schon lange«, hatte Bene in beschwichtigendem Ton erwidert.
»Das hat überhaupt nichts zu sagen, was meinst du, wie oft Katharina und ich schon verheiratete Männer und Familienväter hinter Gitter gebracht haben, nicht wahr?«, hatte Ben missmutig erwidert und Katharina dabei angesehen. Die hatte es überhaupt nicht witzig gefunden, in die Auseinandersetzung der Brüder hineingezogen zu werden, deshalb nur mit den Schultern gezuckt und gemeint: »Ich kenne die beiden nicht. Ich habe bisher noch nicht einmal deren Namen gehört.«
Das stimmte zwar, trotzdem hatte sie eine Ahnung, wer die Männer waren. Bene hatte eine kriminelle Vergangenheit, die dazu geführt hatte, dass er seine Heimat Lüneburg für einige Jahre verlassen und vor allem auch mit Ben keinen Kontakt gehabt hatte – obwohl es diesem zu verdanken gewesen war, dass Bene für seine Tat nicht belangt worden war. Bene sprach nicht gern darüber genauso wie Ben. Deswegen war sie nie tiefer in die lang zurückliegende Geschichte, die sich vor ihrer Zeit in Lüneburg abgespielt hatte, eingedrungen. Sie wusste nur, dass es mit Autoschiebereien zu tun gehabt hatte und Ben sich als Polizist damals auf sehr dünnes Eis begeben hatte, um seinen Zwilling aus der Sache ohne böses Nachspiel rauszuhauen.
»Sei froh«, hatte Ben brummig auf ihren Kommentar geantwortet, woraufhin Bene mehr murmelte als deutlich aussprach: »Das waren damals Dummejungenstreiche.«
»Aha«, hatte Ben dies kommentiert und seinen »kleinen« Bruder gemustert, der darauf gesagt hatte: »Ja, ich sage es gern noch mal: Es tut mir leid, was damals zwischen uns passiert ist, und ich werde dir für deine … deine Hilfe ewig dankbar sein. Aber komm, gib dir einen Ruck und mir und den Jungs eine Chance, ja? Ich habe Torben neulich zufällig beim Spazierengehen am Ilmenau Ufer mit seiner Familie getroffen und mich echt gefreut. Er hat noch zu Niklas Kontakt, und da dachte ich …«
»Jaja, ist schon gut. Ich muss mich mit den beiden ja nicht abgeben«, hatte Ben ihn unterbrochen und dann etwas zu forsch vorgebracht: »Außerdem habe ich auch noch jemanden, der nicht auf der Gästeliste steht. Ich habe sie aber schon eingeladen, und sie kommt.«
Sofort hatten Bene und Katharina verblüfft wie aus einem Mund gefragt: »Sie?«
Bei keinem anderen hätten sie wohl so eine Reaktion gezeigt. Seit seiner Scheidung vor über zehn Jahren hatte Ben keine Beziehung geführt. Zwei, drei Mal hatte er sich nach Katharinas Wissen mit Frauen getroffen, doch etwas Ernsthaftes war nicht daraus entstanden. Insgeheim glaubte Katharina, dass dies auch an ihr liegen könnte, denn zwischen ihr und dem Bruder ihres Freundes gab es durchaus gewisse Schwingungen, die über die Freundschaft und vor allem das Kollegiale hinausgingen. Doch entweder hatte sie in delikaten Situationen einen Riegel vorgeschoben, oder Ben hatte das selbst getan. Zumindest hatte sie es so empfunden. Katharina hatte nie mit irgendjemandem und schon gar nicht mit Ben auch nur im Ansatz über diese manchmal sie verwirrenden Gefühle gesprochen, und sie hatte es definitiv auch nicht vor. Vor allem jetzt nicht mehr, seit Simone wieder in Bens Leben aufgetaucht war, wie sie seit dieser Gästelistenunterhaltung wusste und hier auf der Party mit eigenen Augen sehen konnte.
Obwohl die Scheidung von Simone und Ben bereits vor Katharinas Zeit in Lüneburg vollzogen worden war und Ben bislang kaum mehr Kontakt zu seiner Ex-Frau gepflegt hatte, war Katharina ihr ein paar wenige Male begegnet, und sie war ihr alles andere als sympathisch. Auch jetzt, bei dem Gedanken an Simone, verzog sie innerlich ihre Mundwinkel – oder war sie etwa eifersüchtig? Konnte das sein? Seit Matilda auf der Welt war, hatte Ben sich von ihr zurückgezogen. Zwar ruhten seine Blicke hin und wieder noch immer auf Katharina, wenn er meinte, sie würde es nicht bemerken, doch fragte er sie nicht mehr, ob sie mit ihm joggen gehen wollte, und auch ihre Mittagspausen verbrachten sie seitdem höchstens gemeinsam, wenn auch die anderen Kollegen mit von der Partie waren. Sie hatte es auf Matilda zurückgeführt, doch möglicherweise war Ben gar nicht so moralisch und verbot sich, für eine Frau zu schwärmen, die in einer festen Beziehung mit Kind lebte. Vielleicht lag es auch an Simone, und er hatte sich von Katharina abgewandt, weil er wieder mit seiner Ex-Frau anbandelte. Oder hatte sie gar die Zeichen, die Ben ihr über die Jahre immer wieder gesandt hatte, falsch gedeutet? War da gar nichts zwischen ihr und ihm, außer, dass er sie einfach als Kollegin und die Freundin seines Bruders gern mochte, jetzt jedoch einfach keine Zeit mehr zum Joggen fand, weil er Simone traf? Denn dass er dies tat, hatte sie auch an jenem Abend mit der Gästeliste erfahren. Auf ihren und Benes zeitgleichen Ausruf hatte Ben mit fester Stimme, so als wolle er sich selbst davon überzeugen, dass es keine Überraschung war, wie selbstverständlich geantwortet: »Ja, Simone. Wir sehen uns in letzter Zeit wieder häufiger, und ich möchte sie bei meiner Geburtstagsfeier dabei haben.«
»Seid ihr wieder zusammen?«, hatte Bene neugierig gefragt.
»Nein, aber Simone geht es gerade nicht so gut, und sie braucht mich. Immerhin waren wir verheiratet«, war Bens Antwort gewesen. Bene und sie hatten nur dazu genickt. Was hätten sie auch sagen sollen? Ben war erwachsen und konnte tun und lassen, was er wollte. Doch ganz unabhängig von ihren widersprüchlichen Gefühlen ihm gegenüber machte Katharina sich Sorgen. Als Simone Ben verlassen hatte, hatte es ihm erst einmal den Boden unter den Füßen weggezogen. Das hatte sein bester Freund Alex ihr einmal erzählt. Simone war damals wohl auf einem Selbstfindungstrip gewesen, hatte sich in ihren Yogi verliebt und war diesem nach Indien in ein Yoga-Resort gefolgt. Simone soll damals auch einige Zeit in einem Ashram gelebt haben, doch irgendwann kam sie ohne ihren Yogi zurück und machte in Hitzacker ein Schmuckgeschäft auf. Zu dem Laden, den sie Goldene Momente nannte, gehörte eine kleine Wohnung, in der sie seitdem lebte. Hitzacker war in der Nähe von Lüneburg, doch wiederum weit genug weg, um sich nicht zufällig über den Weg zu laufen. Auch hatte Ben seine Ex-Frau seit Jahren schon nicht mehr erwähnt, deswegen wunderte es Katharina durchaus, dass die beiden anscheinend wieder zusammengefunden hatten. Selbst wenn es nur freundschaftlich war, was jedoch nicht den Anschein machte, wie sie auch jetzt wieder aus den Augenwinkeln sehen konnte. Schon als Simone, sie war der erste Gast gewesen, angekommen war, hatten die beiden sich sehr innig umarmt, was bei Bene Kopfschütteln hervorgerufen hatte – er hatte Simone noch nie gemocht. Simone merkte solche Empfindungen nicht oder sie waren ihr gleichgültig. Als hätten nicht mehrere Jahre zwischen ihrer letzten Begegnung und heute gelegen, hatte Simone Bene überschwänglich begrüßt, der darauf deutlich reserviert reagierte. Katharina wiederum hatte sie nur ein kurzes »Hallo« und ein »Glückwunsch zum Nachwuchs« entgegengebracht und ihr mit den Worten: »Mein Beitrag zu einer gelungenen Party für Kinder der End-60er«, ein Tablett mit einem Mettigel in die Hand gedrückt. Bene und sie hatten daraufhin einen Blick getauscht – der Mettigel passte so gar nicht zu dem Büfett, das Bene ausnahmslos selbst bestückt hatte und sie im Wohnzimmer aufgebaut hatten. Katharina hatte ohne ein Wort des Dankes den Mettigel an den Büfetttisch getragen und überlegt, wohin sie das Tablett stellen könnte, damit der darauf liegende Fleischklumpen – nichts anderes war das rohe gemischte Hack für sie – nicht so sehr auffiel zwischen der Antipasti, den Sushirollen, Gemüse- und Obstspießen, Salaten und den liebevoll in hübsche Gläschen abgefüllten Desserts. Am Ende hatte sie den Igel, der mit seinen Olivenaugen und Zwiebelstacheln so tot aussah, wie es sein durch den Fleischwolf gedrehter Mettkörper auch war, hinter einen großen Korb mit Pizzabrötchen gestellt. Auch diese, wie alles andere bis auf den Igel, hatte Bene gestern selbst zubereitet. Das hatte er sich nicht nehmen lassen und einen Caterer genauso abgelehnt, wie die Gäste zu bitten, etwas zum Büffet beizusteuern. Bis auf Simone hatte sich in dieser Hinsicht auch niemand aufgedrängt. Schließlich wusste jeder, wie gern Bene seine Zeit in der Küche verbrachte, um dort Leckeres zu zaubern. Ben wiederum hatte sich um die Getränke gekümmert.
Wäre Ben nicht gewesen, hätte Katharina den Mettigel verschwinden lassen und nicht aufs Büfett gestellt. Simones Gefühle wären ihr gleichgültig gewesen. Die Frau mit den bunten Strähnen in ihrem schwarzen Haar hatte ihr persönlich zwar nichts getan, dennoch hegten sie beide eine offensichtliche Abneigung füreinander.
Ben und Simone hatten sich bereits 2009 getrennt und direkt ein Jahr später scheiden lassen, und doch hatte Katharina sie kennengelernt, obwohl sie erst 2013 nach Lüneburg gezogen war. In diesem Jahr hatte Katharina ihre Stelle als Oberkommissarin im Fachkommissariat 1, das für Mord, Totschlag, Brand und Sexualdelikte zuständig war und von Ben als Hauptkommissar geleitet wurde, angetreten. Über kurz oder lang hatte sie einiges über Simone erzählt bekommen, und auch das war nicht gerade schmeichelhaft für diese gewesen. Aufgrund eines Falles konnte sie sich dann selbst ein Bild machen und feststellen, dass niemand, vor allem in Hinblick auf Simones egozentrische Art, untertrieben hatte. Katharina würde diesen Fall nie vergessen und sie wusste nicht nur das Jahr, 2016, noch genau, sondern ebenso die Zeit, denn alles hatte sich um Weihnachten herum abgespielt. Damals war Ben von einer Frau, seiner Nachbarin, entführt worden und in einem Zimmer, von dem niemand etwas wusste, in seinem eigenen Haus gefangen gehalten worden. Bens Nachbarin hatte seine Freundlichkeit verkannt, ihn unter Drogen gesetzt und für sich beansprucht. Außerdem hatte sie es auf Katharina abgesehen und dieser über diverse Kanäle sehr persönliche Fragen zu Ben gestellt. Nur wenn Katharina alle richtig beantwortete, wollte sie Ben freigeben. Glücklicherweise waren Katharina und ihre Kollegen schneller gewesen und konnten Ben aus den Fängen der psychisch verwirrten Frau befreien – ob diese den Hauptkommissar tatsächlich freigegeben hätte, wusste niemand, und keiner hatte es darauf ankommen lassen wollen. Deswegen hatte Katharina gerade für die zum Teil sehr intimen Fragen von Simone Antworten eingefordert – sie selbst konnte sie natürlich nicht beantworten – doch Bens Ex-Frau hatte alles andere als kooperiert, so galt sie für die Ermittlerin zwischenzeitlich sogar als mögliche Täterin. Im Laufe der Zeit hatte sich darüber hinaus und so ganz nebenbei gezeigt, dass es Simone einzig um sich selbst und ihre persönlichen Interessen ging, und das konnte Katharina ihr nicht vergessen. Ben, der das damals alles im Nachhinein erfahren hatte, hat scheinbar nicht so ein gutes Erinnerungsvermögen, dachte sie nun, als sie die beiden in einer Ecke des Wohnzimmers entdeckte. Simone hatte sich an die Wand gelehnt und das in Katharinas Augen ziemlich aufreizend. Bens Ex-Frau sah überhaupt nicht so aus, als würde es ihr nicht gut gehen, wie Ben es erwähnt hatte. Sie war in ihren typischen Althippie-Schlabberlook gekleidet, hatte den Kopf tief in den Nacken gelegt, die knallrot geschminkten Lippen zu einem Schmollmund hervorgestülpt und ihre weit aufgerissenen Augen auf Bens Gesicht gerichtet – ein bisschen erinnerte Katharina dies an die Duckface-Selfies, die eine Zeit lang bei Mädchen angesagt gewesen waren. Ben wiederum stand ziemlich dicht vor Simone. Er hatte seinen linken Arm an der Wand abgestützt und schaute sie, wie es Katharina schien, völlig verzaubert an und erzählte ihr mit einem verschwörerischen Schmunzeln im Gesicht irgendetwas. Katharina schüttelte innerlich den Kopf. Männer waren so einfach gestrickt. Ein ordentlicher Schmollmund, bewundernde Blicke aus Rehaugen, ein bisschen körperliche Nähe, und schon waren sie Feuer und Flamme. Sicherlich wusste Simone auch noch von früher, welche Knöpfe sie bei Ben drücken musste, damit er auf sie ansprang.
Katharina wandte sich von den beiden ab und schob sich in Richtung Eingangstür durch, während sie hier und da einzelnen Personen zulächelte. Sie wollte nach Matilda schauen, die in der anderen Wohnung hoffentlich selig in ihrem Bettchen schlummerte. Zwar schlief ihre Tochter inzwischen durch, aber bei so viel Trubel im Haus wusste man ja nie. Außerdem war Matilda ein guter Grund, sich kurz mal eine Verschnaufpause von der Party zu nehmen. Eben hatte Kriminalrat Stephan Mausner – Ben hatte ihren obersten Vorgesetzten eingeladen – ihr in der Küche von seinen jüngsten Erfolgen beim Golfen erzählt, und bevor sie vor Langeweile gegähnt hätte, hatte sie Matilda als perfekte Ausrede für eine Unterbrechung seines Redeschwalls vorgeschoben. Während Katharina nun den Schlüssel in das Schloss der gegenüberliegenden Wohnung steckte, schmunzelte sie bei dem Gedanken, wie praktisch doch die zwei Behausungen waren. Damals, als sie und Bene beschlossen hatten zusammenzuziehen, war sie noch nicht so weit gewesen, sich komplett auf eine einzige Paarwohnung einzulassen – sie war in dieser Hinsicht ein gebranntes Kind und hatte darüber hinaus das Gefühl gehabt, sie bräuchte einen privaten Rückzugsort nur für sich. Letzteres hatte sie sehr selten genutzt, und spätestens seit Matilda auf der Welt war, hielten Bene und sie sich mit ihrem Töchterchen sowieso nur noch in Katharinas Wohnung auf. In seine ging Bene höchstens einmal rüber, wenn Tilda schlief und ihn das dringende Bedürfnis packte, auf seinem Saxofon zu spielen. Gerade neulich hatten sie überlegt, diese zweite Wohnung zu kündigen. Sie brauchten sie im Grunde nicht, höchstens für Gäste, doch dafür Monat für Monat Miete zu zahlen, wollten und konnten sie sich auf Dauer nicht leisten. Derzeit lebten sie mehr oder minder nur von Katharinas Gehalt, da es für Bene in der Elternzeit weniger gab als vorher.
Katharina hatte den Schlüssel inzwischen herumgedreht und drückte nun die Tür auf, die sie schnell wieder hinter sich schloss, damit die laute Musik aus der anderen Wohnung nicht eindrang und Matilda womöglich weckte. Sie lauschte. Obwohl die Türen in diesem Haus wirklich massiv waren, konnte sie noch leises Gemurmel hören. Sie ging weiter in die Wohnung hinein und stellte überrascht fest, dass das Gemurmel nicht von außen, sondern aus dem Wohnzimmer kam. Nach einem weiteren Schritt konnte sie Benes Stimme ausmachen und auch die Worte, die er in diesem Augenblick sagte: »… nein. Wie gesagt, das ist nicht gut. Überhaupt nicht gut.«
Mit wem redet Bene da?, fragte Katharina sich. Hatte er Matilda aus ihrem Bettchen geholt, weil sie wach geworden war? Was war nicht gut? Ging es ihrer Tochter schlecht? Sie war stehen geblieben, setzte sich jetzt aber wieder in Gang. Gerade als sie bei der angelehnten Wohnzimmertür angekommen war, erklang eine weitere Stimme, die sie erneut innehalten ließ: »Ach komm, Bene. Du warst doch früher nicht so eine Lusche. Es ist nur dieses eine Mal. Wir brauchen dich dabei. Hast du etwa Angst vor deinem Bruder und deiner Kommissarfreundin?«
Beim letzten Wort versteifte Katharina sich für den Moment eines Augenaufschlags, dann stieß sie wütend die Tür auf und meinte: »Hat mich einer gerufen? Mit ›Kommissarfreundin‹ kann ja nur ich gemeint sein!«
Sie blickte in drei verdutzte Gesichter. Zwei davon kannte sie nicht.
*
23:17 Uhr
Es klopfte behutsam an ihrer Zimmertür. Sie rief nicht »Herein«, denn sie wusste, dass derjenige, der dahinterstand, nicht auf ihr Zeichen warten würde. Sie hatte noch nicht geschlafen, sondern versucht, sich von dem lauten Gezanke, das wie so häufig von unten kam, durch Lesen abzulenken. Jetzt legte sie ihr Buch beiseite, und in dem Moment ging auch schon die Tür auf und Lasse schlüpfte hinein. Automatisch lupfte Ella ihre Decke, rückte in ihrem Bett ein wenig zur Seite und meinte: »Komm.«
Ihr Bruder, der die Tür leise wieder zugezogen hatte, kam einen Schritt in das Zimmer, blieb dann jedoch stehen und schüttelte den Kopf. Er weinte dabei. Lautlos. So, wie er es von klein auf tat. Auch das war nicht überraschend für die 15-Jährige, allerdings verwunderte es sie, dass er nicht in seinem Schlafanzug steckte. Ella musste nicht lange auf eine Erklärung warten.
»Ich ziehe zu Theo«, sagte Lasse mit erstickter Stimme, aber einem entschlossenen Gesichtsausdruck. »Ich wollte nur Tschüs sagen, damit du dir keine Sorgen machst.«
Das Mädchen setzte sich in ihrem Bett auf. Sanft erwiderte sie: »Zu Theo? Jetzt? Weiß er davon?«
Theo war Lasses Freund, der mit seiner Familie nur zwei Häuser weiter wohnte. Die beiden kannten sich bereits aus dem Sandkasten, waren im selben Kindergarten gewesen, in die gleiche Grundschulklasse gegangen, und jetzt besuchten sie zusammen die 5. Klasse der weiterführenden Schule, auf der auch Ella war. Auch das Verhältnis der Eltern ging über eine gute Nachbarschaft hinaus, und die Familien verbrachten an den Wochenenden, vor allem im Sommer zur Grillsaison, viel Zeit miteinander.
»Nein, aber er hat gesagt, ich kann immer zu ihm kommen, wenn ich will«, antwortete Lasse, der jetzt aufgehört hatte zu weinen, und schob seine Unterlippe nach vorn. Für Ella sah das so aus, als wolle ihr kleiner Bruder zeigen, dass er sein Vorhaben durchziehen würde – egal welche Einwände sie dagegen hatte. Das Mädchen seufzte leise, und das Herz wurde ihr wieder einmal schwer. Sie konnte Lasse so gut verstehen! Wie oft hatte sie in den letzten Jahren schon selbst daran gedacht, einfach von zu Hause abzuhauen. Einzig Lasse war es gewesen, der sie im Elternhaus gehalten hatte. Sie hätte ihn niemals allein gelassen. Zwar hatte sie sich an die ewigen Auseinandersetzungen ihrer Eltern und die kalte Atmosphäre, die dadurch in ihrem Zuhause herrschte, inzwischen einigermaßen gewöhnt, aber Lasse war jünger und suchte vor allem noch Schutz bei ihr. Sie selbst fand Zuflucht bei Büchern. Wenn sie las, konnte sie in der Geschichte versinken und nahm kaum mehr etwas um sich herum wahr.
»Hast du Theo von unserem Geheimnis erzählt?«, wollte Ella jetzt wissen. Sie hatte ihren Worten bewusst einen beiläufigen Ton gegeben – Lasse sollte nicht merken, wie sehr sie der Gedanke erschreckte, dass jemand wusste, was hier zu Hause zwischen ihren Eltern abging. Eigentlich hatte sie ihrem Bruder eingeimpft, niemandem etwas davon zu erzählen, dennoch konnte sie sich nicht sicher sein. Schließlich kannte sie das Bedürfnis, sich einem Fremden, ihrer Klassenlehrerin oder dem Pastor, bei dem sie Konfirmandenunterricht hatte, anzuvertrauen, allerdings hatte immer die Scham überwogen und sie hatte geschwiegen. Freundinnen hatte sie keine. Weil sie es so wollte. Sie war lieber für sich. Auch das lag an ihren Eltern, denn sie vermied es, irgendjemandem Einblick in ihr Zuhause zu gewähren. Lasse hatte zwar Freunde, aber bis auf Theo, der manchmal mit seinen Eltern herkam, lud auch er keinen von ihnen zu sich nach Hause ein. Sie hatten nie darüber gesprochen, jedoch nahm Ella an, dass sein Grund derselbe wie ihrer war.
Lasse kam nun doch an ihr Bett, setzte sich und kuschelte sich an sie. Dann sagte er leise: »Ja, weil ich ihn gefragt habe, ob ich nicht bei ihm und seinen Eltern wohnen kann. Er ist doch ein Einzelkind, und seine Eltern sind so lieb.«
Ella nickte, obwohl Lasse, der den Kopf an ihre Schulter gelehnt hatte, dies nicht sehen konnte. Doch sie wusste, was er meinte.