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Als mehrere Frauen in Lüneburg brutal getötet werden, gerät Katharina von Hagemann in ihren bisher persönlichsten Fall. Die Kommissarin verdächtigt ihren ehemaligen Lebensgefährten. Doch Maximilian kann nicht der Täter sein - er sitzt hinter Gittern. Sie hatte ihn selbst in einem früheren Fall des Mordes überführt. Während Katharina an ihre Grenzen stößt und sich von allen allein gelassen fühlt, mordet der Täter weiter und kommt ihr dabei gefährlich nahe.
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Seitenzahl: 413
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K. Hanke / C. Kröger
Heidezorn
Kriminalroman
Alle Heide-Krimis finden Sie unter www.gmeiner-verlag.de
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © kmit / fotolia.comund © Olha Rohulya / fotolia.comISBN 978-3-8392-5304-5
Für Katharina
Kathrin Hanke
*
Für Renate
Claudia Kröger
Eyn Richter sey der armen Schutz,
Schaff Gleich undt Recht, nicht egen nutz,
Die warheidt auch erforsch mit Fleis
So wird ehr haben Rhum und preis!
(Inschrift am Lüneburger Rathaus, Am Markt, Niedergericht a. d. 1567)
16.02 Uhr
Während sie Waggon für Waggon ablief, wanderten ihre Augen oben über die Sitzreservierungsleiste, um zu sehen, wo noch ein freier Platz für sie war. Dabei fühlte sie sich wie eine Gehetzte. Immer wieder verkantete sich ihr kleiner Rollkoffer, sodass sie ihn schließlich hochnahm und als sperrigen Brustpanzer vor sich hertrug. Schwer war er nicht, nur unhandlich. Es war nicht viel darin, und dennoch hatte sie für zwei Tage mehr als letztlich notwendig gepackt. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, sich morgen einen Erholungstag zu gönnen und in den Englischen Garten zu gehen, um dort einen ausgiebigen Winterspaziergang zu machen und ein wenig die Seele baumeln zu lassen. Nachdem sie vorhin das Gericht verlassen hatte, wollte sie das nicht mehr. Da wollte sie nur noch weg. Weg aus der Stadt, die vor Jahren einmal ihre Wahlheimat gewesen war und die ihr erst alles gegeben und dann alles genommen hatte – ihr Vertrauen in die Menschen und damit in sich selbst, aber vor allem ihre beste Freundin. Deswegen hatte sie vorhin überstürzt ihre Sachen aus dem kleinen Design-Hotel in der Nähe des Marienplatzes geholt, hatte ausgecheckt und war dort in die U-Bahn eingestiegen, die sie in wenigen Minuten an den Münchner Hauptbahnhof brachte. Sie hatte Glück gehabt und musste nur eine Dreiviertelstunde auf den Zug warten, der sie nach Hause bringen sollte.
Vor einem geschlossenen Abteil blieb sie abrupt stehen, sodass die Frau, die sich hinter ihr durch den Waggon schob, in sie hineinlief. Eine kurze Entschuldigung murmelnd zog sie die Tür auf, verstaute ihren kleinen Koffer und ließ sich mit einem Seufzer auf dem Fensterplatz nieder – die digitale Anzeige hatte ihr gesagt, dass dieser Platz erst ab Fulda reserviert war, was bedeutete, dass sie gut dreieinhalb Stunden hier sitzen konnte. Von dort waren es nur noch etwa eineinhalb Stunden bis Hannover, wo sie sowieso in den Metronom in Richtung Lüneburg umsteigen musste.
Noch war Katharina von Hagemann allein in ihrem Abteil. Dankbar für die vermutlich nicht lang anhaltende Ruhe lehnte sie ihren Kopf gegen die Nackenstütze und schloss die Augen. Sie war erschöpft. Natürlich hatte sie erwartet, dass der Münchner Termin nicht einfach für sie werden würde, doch mit dieser körperlichen Entkräftung hatte sie nicht gerechnet. Sie fühlte sich fast wie nach dem Marathonlauf, an dem sie einmal zu Studienzeiten in Hamburg teilgenommen hatte. Als die Vorladung aus München vor einigen Wochen bei ihr angekommen war, hatte sie zunächst recht ruhig darauf reagiert. Sie sollte dort nochmals als Zeugin gegen Maximilian Furtner aussagen, ihren ehemaligen Lebensgefährten und zugleich mehrfachen Frauenmörder, den die Presse »Munich Jack« getauft hatte und der es geschafft hatte, seinen Prozess noch einmal aufzurollen. Sie selbst hatte ihn damals nicht nur entlarvt, sondern auch in ihrer gemeinsamen Wohnung überwältigen können, um ihn festzunehmen. Noch vor ein paar Tagen hatte sie sich gewundert, wie cool sie mit der bevorstehenden Reise nach München umging. Bene hatte angeboten, sie zu begleiten, doch sie hatte abgelehnt und gleichzeitig beschlossen, einen Tag als Urlaub dranzuhängen – ihrer Meinung nach lud die Stadt geradezu dazu ein. Auch als sie in der bayerischen Hauptstadt angekommen war, die sie seit den Geschehnissen und ihrem Umzug nach Lüneburg nicht mehr besucht hatte, war sie lediglich etwas fahrig gewesen, hatte dabei allerdings gleichzeitig ein angenehmes Gefühl der Vertrautheit verspürt. Erst als sie vorhin im Gericht aufgerufen worden war und keine zwei Minuten später Maximilian gegenübergestanden hatte, war die Erinnerung, die sie vorher so gut verdrängt hatte, über sie hereingebrochen.
Wie er sie angeschaut hatte. Verletzt, enttäuscht, wütend, aber auch hämisch. Er sah so aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte, nur etwas älter. Der Gefängnisaufenthalt hatte ihm anscheinend nichts anhaben können. Maximilians Gesichtszüge waren nach wie vor fein, sein dunkelblondes, an den Schläfen inzwischen leicht ergrautes, aber noch immer volles Haar war korrekt geschnitten, und lediglich der elegante Maßanzug zeugte aufgrund seines nicht mehr ganz modernen Schnittes davon, dass er bereits einige Jahre alt war.
Als er ihr zugelächelt hatte, hatte sie die Augen senken müssen. Sie wusste, dass es kein freundliches oder gar reumütiges Lächeln gewesen war, sondern ein rachsüchtiges. Schon vor rund fünf Jahren, als sie in dieser Konstellation zum ersten Mal im Gericht gesessen hatten, hatte er ihr Rache geschworen, und selbst aus der Haft heraus hatte sie sich durch Briefe von ihm bedroht gefühlt. Andererseits hatte ihr Verstand ihr immer wieder klargemacht, dass er ihr nichts anhaben konnte – schließlich saß er lebenslänglich, und trotz des neu aufgenommenen Prozesses würde sich daran nichts ändern. Da war Katharina sich sicher, denn der eine Formfehler, der seinerzeit bei der Ermittlungsarbeit gemacht worden war und den Maximilian jetzt nutzte, war in ihren Augen – und immerhin hatte sie auch ein paar Semester Jura studiert, bevor sie sich für eine Polizeilaufbahn entschieden hatte – nichts gegen die vielen erdrückenden Beweise gegen ihn. Das würde das Gericht ebenso sehen. Maximilian wusste das garantiert auch, schließlich war er selbst Jurist. Aber wie sie ihn kannte, hatte er seinen Spaß daran, das Gericht zu beschäftigen. Über den Beruf hatten sie sich gleich zu Beginn ihrer Laufbahn in München kennengelernt. Maximilian war der für ihre Behörde zuständige Staatsanwalt gewesen. Schon allein deshalb hatten sie relativ oft zusammengearbeitet, und Katharina hatte sich des Öfteren davon überzeugen können, wie brillant er in seinem Fach war. Als sie jetzt im Zug darüber nachdachte, keimte ein plötzlicher Gedanke in ihr, der schnell Gestalt annahm: Er hat es nur meinetwegen gemacht! Er wollte mich sehen, und ich sollte ihn sehen!
Do wat Du wullt,
de Lüd snackt doch!
(Hausinschrift, Kunkelberg 31, Lüneburg)
22.10 Uhr
Bene klappte den Kragen seiner dicken Jacke hoch und trat von einem Fuß auf den anderen. Er stand erst seit wenigen Minuten auf dem zugigen Bahnsteig, doch der eisige Wind war gnadenlos. Beschweren wollte er sich dennoch nicht. Den ganzen Dezember über hatten alle gejammert, dass es für die Jahreszeit viel zu warm war und deshalb keine Weihnachtsgefühle aufkamen. Zu Recht – wer wollte an Heiligabend schon bei rund 15 Grad den Glühwein genießen. Nun war kurz nach Neujahr doch noch der Winter über Deutschland hereingebrochen, und es schneite seit ein paar Tagen. Bene überlegte, ob er zurück in die kleine Halle des Lüneburger Bahnhofs gehen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Da sich fast alle Wartenden dort aufhielten, war es unangenehm voll, und er mochte ein solches Gedränge nicht. Außerdem würde Katharinas Zug ohnehin gleich eintreffen. Bisher zumindest war auf der großen Anzeigetafel keine Verspätung angekündigt.
Er zog sein Handy aus der Jackentasche, um nachzusehen, ob Katharina ihm eine Nachricht geschickt hatte, doch der Bildschirm war leer. Er hatte sich gefreut, als seine Freundin ihm vorhin geschrieben hatte, dass sie doch schon heute zurückkommen würde, anstatt wie geplant die Nacht und einen weiteren Tag in München zu verbringen. Den Grund dafür hatte sie nicht geschrieben, aber dafür gefragt, ob er sie vom Bahnhof abholen würde. Er hatte sofort zugesagt. Zu dieser Jahreszeit war in der Hotelbar im Heideglanz, die er als Barchef leitete, nicht allzu viel los, und er konnte seine Kollegin für die letzten ein oder zwei Stunden allein den Dienst verrichten lassen. Er würde stattdessen Katharina in die Arme schließen, sie mit zu sich in die Wohnung nehmen und mit ihr den gemeinsamen Abend genießen. Bevor er zum Bahnhof gefahren war, hatte er sogar ein paar Leckereien fürs morgige Frühstück besorgt und schnell in seine Wohnung gebracht. Er würde sie richtig verwöhnen, denn er nahm an, dass der Termin in München nicht ganz spurlos an ihr vorübergegangen war, auch wenn sie bis zu ihrer Abreise erstaunlich locker damit umgegangen war. Bene kannte die Geschichte von Maximilian in groben Zügen. Schon vor einiger Zeit hatte Katharina ihm alles geschildert, danach hatten sie, wie ihm nun auffiel, nie wieder davon gesprochen. Auch jetzt nicht, als die Vorladung in Katharinas Briefkasten gelandet war. Er hatte angeboten, sie zu begleiten, doch das hatte sie sofort abgelehnt. Von Anfang an hatte sie ihr Leben in Lüneburg und die Vergangenheit in München strikt voneinander getrennt, und es war typisch für Katharinas geradlinige Art, dass sie dabei blieb. Genau diese Geradlinigkeit war eine der Eigenschaften, die Bene an ihr liebte. Er musste über sich selbst schmunzeln, als er jetzt daran dachte. Ja, er liebte diese Frau, inzwischen war er sich absolut sicher. Anfangs, als die Beziehung zwischen ihnen von einer unverbindlichen sexuellen Verbindung in eine sehr viel engere und offizielle übergegangen war, hatte er oft gezweifelt, ob er das wirklich wollte, doch diese Zweifel hatte er längst hinter sich gelassen. Ganz im Gegenteil, er wollte mehr. Das hatte Bene sich für das neue Jahr fest vorgenommen. Angesprochen hatte er es noch nicht, dafür hatte ihm bisher die passende Gelegenheit gefehlt. Und es als »guten Vorsatz« beim Anstoßen an Silvester zu verkünden, wäre ihm zu spießig gewesen. Katharina vermutlich noch viel mehr. Sie hatten ganz entspannt mit ein paar Freunden zusammen in seiner Wohnung gefeiert und eine Menge ungetrübten, zwanglosen Spaß gehabt. Die Tatsache, dass Katharina keinen Dienst gehabt hatte – also auch nicht in Bereitschaft gewesen war, hatte zu dieser Entspanntheit sicher beigetragen. Zum ersten Mal hatten sie pünktlich zur Jahreswende ihre Gläser gehoben und sich mit einem leidenschaftlichen Kuss ins neue Jahr begeben. Bene erinnerte sich gern an diesen Moment. Möglicherweise ergab sich ja in den nächsten Tagen die passende Gelegenheit, Katharina zu sagen, was er sich von der Zukunft erhoffte. Da sie eigentlich in München hatte bleiben wollen, hatte sie morgen ebenfalls dienstfrei, und sie könnten den ganzen Tag gemeinsam verbringen. Sein eigener Dienst begann erst am Abend. Bei dem Gedanken, dass sie bei diesem ungemütlichen Wetter nicht einmal einen Grund haben würden, das Bett zu verlassen, wurde Bene prompt wärmer. Mit einem Lächeln im Gesicht sah er dem Metronom entgegen, der in diesem Augenblick in den Bahnhof einfuhr. Wenige Sekunden später sah er Katharina aussteigen und ging ihr entgegen. Als er sie in den Arm nahm, spürte er, wie sie sich versteifte. Auch der Kuss fiel kühl und oberflächlich aus und passte so gar nicht zu den Gedanken, die ihm gerade durch den Kopf gegangen waren. Während sie dann zu seinem Wagen gingen, liefen sie fast wie zwei Fremde nebeneinander her.
22.23 Uhr
Joy verließ ihren Fensterplatz und zog einen Sweater und eine Jogginghose über ihr violettes Negligé, unter dem sie einen dazu passenden Spitzenstring und -BH trug – Strümpfe und Turnschuhe folgten. Sie griff nach ihrer warmen Daunenjacke, stieg in ihre Ugg-Boots und verließ das kleine Häuschen mit den steilen Treppen und den winzigen Zimmern, in denen sie und ihre Kolleginnen ihre Dienste an den Mann brachten. Manchmal auch an die Frau oder beides gleichzeitig.
Heute war hier, Hinter der Sülzmauer, nicht viel los gewesen, was sicherlich an der plötzlich über Lüneburg hereingebrochenen Kälte, aber auch am Januar an sich lag. Im Januar schauten die Menschen bewusster auf ihr Geld, weil sie in den Monaten zuvor und besonders in der Vorweihnachtszeit meist zu viel ausgegeben hatten. So erklärte sich Joy den in der Regel nicht lukrativen ersten Monat im Jahr. Sie war schon länger im Geschäft und mit ihren 37 Jahren nicht mehr die Jüngste. Allerdings sah man ihr das Alter nicht an, wie ihr vor allem ihre Stammkunden bestätigten. Gut, Joy tat inzwischen auch einiges dafür, um in Form zu bleiben. Sie rauchte nicht mehr oder nur noch ganz wenig, sie achtete auf eine halbwegs gesunde Ernährung und trieb Sport.
Normalerweise hielt sie es auch an solch mauen Tagen wie diesen länger hinter ihrem Fenster aus – schließlich konnte immer ein Freier vorbeikommen, gerade in den späten Abendstunden. Jetzt hatte sie jedoch einen Grund zu gehen. Vor gut einer Stunde war sie auf ihrem Handy angerufen worden und in ein Apartmenthotel bestellt worden. Der Anrufer hatte gesagt, er habe ihre Nummer von einem ihrer Stammkunden, und da er auch den Namen genannt hatte, zweifelte Joy nicht an der Richtigkeit der Worte. Darüber hinaus barg ihr Beruf immer ein gewisses Risiko. Ein Grund, weshalb sie Pfefferspray in ihrer Handtasche bei sich trug. Bisher war es noch nicht häufig zum Einsatz gekommen, wofür Joy dankbar war und was vielleicht am überschaubaren Lüneburger Milieu lag. Sie lebte und arbeitete jetzt seit zehn Jahren hier und hatte erst zwei unangenehme Vorfälle erlebt, aus denen sie glimpflich davongekommen war. In Hamburg, wo sie mit knapp 17 Jahren mit dem Gewerbe begonnen hatte, hatte das schon anders ausgesehen. Ja, Joy arbeitete und lebte gern in dem beschaulichen Lüneburg mit seinen rund 77.000 Einwohnern, zumal die Preise für die Dienste, die sie anbot, fast auf Hamburger Niveau lagen.
Joy besaß kein Auto. Sie hätte auch ein Taxi nehmen können, doch das Geld wollte sie sich sparen. Der Anrufer hatte zwar gesagt, er würde es ihr bezahlen, doch sie konnte genauso gut auch mit dem Bus zum Hotel fahren. Sie war schon ein paarmal dort gewesen und kannte die Verbindung. Das Taxi-Geld wollte sie trotzdem nachher von dem Freier kassieren. Für diesen Zweck hatte sie ein paar abgestempelte Quittungen in ihrer Handtasche – einer ihrer Stammkunden war Taxifahrer. Wenn sie erst im Bus saß, würde sie die leeren Felder ausfüllen und mit einer realistischen Summe versehen.
Trotz Sweatshirt, Jogginghose, Daunenjacke und Fellstiefeln fror Joy auf dem kurzen, nur etwa 200 Meter langen Weg von ihrem Arbeitsplatz bis zur Bushaltestelle Lambertiplatz, was an dem kalten, feuchten Wind lag, der ihr direkt ins Gesicht blies. Glücklicherweise kam der Bus fast zeitgleich mit ihr an der Haltestelle an, und sie konnte schnell hineinspringen. Joy war froh, bereits diesen Bus erwischt zu haben, denn sie wollte vor der verabredeten Zeit beim Hotel sein, damit ihr Kunde nicht sah, dass sie kein Taxi genommen hatte. An ihrer Zielhaltestelle stieg sie als Einzige der wenigen Fahrgäste aus und ging zügig die wenigen Schritte zum Hotel. Die Rezeption war um diese späte Uhrzeit nicht mehr besetzt, und Hotelgäste benötigten einen Schlüssel, um hineinzugelangen. Darum hatte der Anrufer sich mit Joy vor dem Hotel verabredet, in das er, wie er ihr sagte, bereits eingecheckt haben würde.
Als Joy vor dem Hotel ankam, stand zu ihrer Erleichterung wie von ihr geplant noch niemand davor. Sie schaute auf die Uhr. Sie war erst in zehn Minuten verabredet. Zehn Minuten, die sie nun in der Kälte verbringen musste, aber die sich finanziell lohnen würden.
Sic itur ad astra
(Hausinschrift, Stresemannstraße 6, Lüneburg,
Übersetzung: Also gehen wir zu den Sternen)
09.13 Uhr
»Oh Mann«, stöhnte Kommissar Tobias Schneider. »Die hatte sich das neue Jahr bestimmt auch anders vorgestellt.« Er blickte von der Frauenleiche auf und wandte sich an seinen Chef, Kriminalhauptkommissar Benjamin Rehder. »Ehrlich gesagt hätte ich auch nichts dagegen, wenn wir wenigstens den Januar mal ohne Leiche erlebt hätten.«
»Allerdings«, stimmte Rehder zu. »An so einen Anblick werde ich mich wohl nie gewöhnen.«
Die Frau lag auf dem ungemachten Bett der kleinen Wohnung im Lüneburger Stadtteil Schützenplatz. Um ihren Hals war ein buntes Tuch geschlungen, es war offensichtlich, dass sie erdrosselt worden war. Viel auffälliger war jedoch eine klaffende Wunde im Gesicht der Toten. Ein tiefer Schnitt verlief von der Schläfe bis zum Mundwinkel und entstellte die zuvor sicher nicht unattraktive Frau. Über die Leiche gebeugt stand die Gerichtsmedizinerin Dr. Frauke Bostel.
»Kannst du uns schon was zur Tatzeit sagen, Frauke?«, fragte Benjamin Rehder.
»Ich würde sagen, vergangene Nacht zwischen 23 und ein Uhr«, antwortete die Medizinerin, während sie sich gerade aufrichtete. »Wie ihr schon vermutet habt, ist sie erdrosselt worden. Die Wunde dürfte ihr erst nach dem Tod zugefügt worden sein, sonst müsste es stärker geblutet haben, aber das bekommt ihr detailliert in meinem Bericht.«
»Ist sie vergewaltigt worden?«, wollte Tobias wissen.
»Kann ich nicht endgültig sagen, aber die Vermutung liegt nahe«, erklärte Frauke Bostel. Kopfschüttelnd betrachtete sie den Körper der Frau. Die Jogginghose war bis zu den Knöcheln heruntergezogen, der Slip zerrissen. Unter dem Sweatshirt, das sie trug, lugte die spitzenbesäumte Kante eines Negligés hervor.
»Merkwürdige Kombination«, sagte sie. »Wisst ihr was über sie?«
»Nicht wirklich«, erklärte Benjamin Rehder. »Der Aussage der Nachbarin nach, die sie heute früh gefunden hat, heißt sie Tanja Groß und lebt allein in dieser Wohnung. Wir warten, bis die Spusi durch ist, dann sehen wir uns genauer um.«
»Okay, dann lasse ich die Leiche abholen und in die Gerichtsmedizin bringen. Alles Weitere …«
»… später in deinem Bericht«, unterbrach Tobias sie grinsend.
»Exakt, Kollege«, lächelte Frauke zurück. »Spätestens morgen früh wissen wir mehr«, fügte sie hinzu und drehte sich Richtung Tür, um die Wohnung zu verlassen. Während sie ihr Handy aus der Tasche zog, sah sie sich um. »Wo ist eigentlich Katharina?«
»Die hat heute frei«, sagte Ben und verzog das Gesicht zu einem humorlosen Lächeln. »Es sei ihr gegönnt, dass ihr dieser Anblick erspart geblieben ist.«
Er winkte Frauke Bostel kurz zum Abschied und wandte sich Tobias zu, als einer der Kollegen von der Spurensicherung an ihn herantrat.
»Wir sind so weit fertig. Wenn ihr wollt, habt ihr jetzt freie Bahn.«
»Danke«, erwiderte Ben und sagte dann zu Tobi: »Ich würde vorschlagen, du …« Das Klingeln seines Handys unterbrach ihn. Auf dem Display sah er Katharinas Namen. Verwundert nahm er den Anruf an.
»Hi, Katharina, was gibt es? Alles so weit in Ordnung bei dir in München?« Er zuckte mit den Schultern, als Tobias ihn fragend ansah.
»Du bist was? Okay … Ja, Schützenplatz, richtig, eine Frauenleiche … Nein, das ist nicht … Katharina …« Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf, konnte ein leichtes Schmunzeln jedoch nicht unterdrücken. »Ja, ich schicke dir gleich die genaue Adresse. Bis dann.«
»Was ist los?«, wollte Tobias wissen.
»Nichts, was wir von der Kollegin nicht gewohnt sind. Sie ist schon wieder in Lüneburg und der Meinung, sie müsse unbedingt herkommen und uns unterstützen, anstatt sich den geplanten freien Tag zu gönnen.«
09.21 Uhr
Katharina fühlte sich schäbig, als sie die Haustür ihres Wohnhauses in der Münzstraße aufschloss. Bene hatte sich so viel Mühe für sie gegeben, doch sie hatte nichts Besseres zu tun, als seine Einladung zum Frühstück auszuschlagen und ihm zu sagen, dass sie lieber arbeiten gehen wollte.
»Aber du hast noch einen Tag Urlaub, und ich muss erst heute Abend hinter die Bar, lass uns doch die Zeit bis dahin gemeinsam genießen«, hatte Bene ihr verständnislos entgegnet und eine auffordernde Geste mit der Hand gemacht, sich an den Frühstückstisch zu setzen. Er hatte ihn gedeckt, während sie unter der Dusche stand, und noch bevor er seinen Satz beendet hatte, hatte sie gewusst, dass sie ihn enttäuschen würde.
Bereits gestern Abend wäre sie am liebsten allein gewesen, doch ihre eigene Wohnung war besetzt, wie sie es ironisch bezeichnete, und sich am eigenen Wohnort ein Hotelzimmer zu nehmen, hätte sie für mehr als überspannt gehalten. Darüber hinaus war Bene ihr Freund, und inzwischen war seine Wohnung ein bisschen zu ihrem zweiten Zuhause geworden. Das waren ihre Gedanken gewesen, als sie die Nachricht an ihn geschrieben hatte. Spätestens jedoch, als sie zwischen Hannover und Lüneburg im Metronom gesessen hatte, hatte sie es bereut, Bene gebeten zu haben, sie vom Bahnhof abzuholen. Aber da konnte sie es nicht mehr rückgängig machen. Dabei hätte sie einfach in den sauren Apfel beißen und in ihre eigene Wohnung gehen können. Ob besetzt oder nicht. Sie hätte einfach in ihr Schlafzimmer gehen, die Tür hinter sich schließen und den Kopf unter dem Kissen vergraben können. Sie wusste, warum sie diese Option nicht gewählt hatte, und schalt sich innerlich für ihr albernes Verhalten, aber nun war das Kind eh in den Brunnen gefallen. Als sie Bene am Bahnsteig hatte stehen sehen, hatte sie sich natürlich gefreut, wie immer, was jedoch an der Tatsache nichts änderte, dass sie lieber mit sich allein gewesen wäre. Ihr war es immer schon schwergefallen, sich zu verstellen, aber nachdem ihr bewusst geworden war, wie kühl ihre Begrüßung am Bahnhof ausgefallen war, hatte sie sich zusammengerissen und es sich eine Weile mit Bene auf dem Sofa gemütlich gemacht, das Gespräch allerdings so geschickt gelenkt, dass er von seinen Erlebnissen in den letzten beiden Tagen erzählt hatte. Als er sie schließlich nach ihrem Termin in München gefragt hatte, hatte sie Müdigkeit vorgetäuscht, und sie waren ins Bett gegangen. Heute Morgen unter der Dusche hatte sie ganz spontan entschieden, zur Arbeit zu gehen. Das würde sie am besten von den Gedanken an München und Maximilian ablenken. Zumindest hatte sie das zu diesem Zeitpunkt gedacht. So war sie nach dem Duschen zu Bene in die Küche gegangen und hatte ihm möglichst fröhlich verkündet, dass sie »einfach mal« im Kommissariat vorbeischauen wolle. Sein Blick hatte Bände gesprochen. Der Abschied an Benes Wohnungstür war entsprechend kühl ausgefallen, so wie die Begrüßung am Vorabend, nur diesmal war nicht sie es gewesen, die sich distanziert gegeben hatte.
Nun stand sie im Treppenhaus, das zu ihrer Wohnung führte, und war unschlüssig. Sollte sie wirklich nach oben gehen, wo ihr eine Begegnung mit ihrer Mutter bevorstehen würde? Und das nur, um ihren Koffer loszuwerden? Katharina schüttelte gedanklich den Kopf, machte auf dem Absatz kehrt und stand Sekunden später mitsamt ihrem Reisekoffer auf der Münzstraße, die in die inzwischen einigermaßen belebte Große Bäckerstraße führte, Lüneburgs Hauptader der Fußgängerzone. Schon eben, auf dem Weg von Bene zu ihrer Wohnung, hatte Katharina aus einer Laune heraus im Kommissariat angerufen, um sich anzukündigen, dort jedoch von der Zentrale erfahren, dass Tobi und Ben sich an einem Tatort befanden. Als sie das Wort »Tatort« gehört hatte, hatte ihr Herz angefangen zu klopfen, und es war ihr sofort besser gegangen. Ein Tatort verhieß Arbeit, und Arbeit bedeutete Ablenkung! Kurzerhand hatte sie Ben angerufen und ihn um den genauen Standort gebeten. Als ihr Handy jetzt den Ton für eine eingehende Nachricht von sich gab, hatte Katharina sich gerade eine Zigarette angesteckt und war langsam in Richtung Kommissariat gegangen. Dort wollte sie sich einen Dienstwagen organisieren, um in den Lüneburger Stadtteil Schützenplatz zu kommen. Katharina blieb kurz stehen und öffnete die Nachricht. Wie erwartet war sie von Ben, der ihr die genaue Tatortadresse gesandt hatte. Katharina stapfte weiter durch die Brühe unter ihren Füßen. Sie war froh, ausnahmsweise keine Turnschuhe, sondern wasserabweisende Chelsea-Boots zu tragen. Gestern Nacht hatte es geschneit, doch jetzt begann alles wegzutauen. Zu allem Übel setzte nun auch noch Regen ein. Na toll. Das passte ja bestens zu ihrer Stimmung! Noch war sie nah genug an ihrer Wohnung. Sie könnte ihren eigenen Wagen nehmen, dafür musste sie nur den Autoschlüssel aus ihrer Wohnung holen. So schnell, wie er gekommen war, so schnell verwarf Katharina diesen Gedanken. Sie hatte partout keine Lust auf eine Begegnung mit ihrer Mutter, die sicher nicht hinnehmen würde, dass sie nur den Schlüssel holte und direkt wieder zur Arbeit verschwand. Stattdessen würde sie sie mit Fragen löchern, und danach stand Katharina momentan gar nicht der Sinn. Seit rund neun Monaten wohnte Anne von Hagemann bei ihr. So lange war es tatsächlich inzwischen her, dass ihre Mutter sich von ihrem Vater getrennt hatte – wie die Zeit verflog! Ursprünglich als vorübergehende Lösung gedacht, fand Katharinas Mutter die Mutter-Tochter-Wohngemeinschaft allem Anschein nach recht angenehm – ganz im Gegensatz zu Katharina. Zwar hatte Anne von Hagemann immer mal verkündet, sich eine eigene Wohnung zu suchen, doch Katharina schien es, als hätte ihre Mutter es damit nicht gerade eilig. Eher im Gegenteil. Die Kommissarin hatte den Eindruck, dass ihre Mutter sich inzwischen nicht nur in der Rolle einer alleinstehenden Frau gefiel, sondern auch in der der Mutter, die mit ihrer erwachsenen Tochter zusammenlebte, auch wenn sie auf dem Sofa im Wohnzimmer schlief. Als wollte Anne von Hagemann ihre Versäumnisse in Katharinas Kindheit wiedergutmachen, bot sie sich ihrer Tochter öfter als mütterliche Freundin an. Wenn Katharina allerdings eines nicht brauchte, dann war es das. Auch aus diesem Grund war sie mittlerweile so oft es ging bei Bene und hatte seit Kurzem einen Teil ihrer Kleidung in seiner Wohnung. Aber so schön das war – sie hatte nur sehr selten die Gelegenheit, mal ganz für sich zu sein. Nachdem sie seit ihrem Weggang aus München die ganze Zeit allein gelebt hatte, vermisste sie diesen Zustand stärker, als sie gedacht hätte.
Beim Kommissariat angekommen, holte sie sich einen Dienstwagen und fuhr Richtung Dahlenburger Landstraße.
Hinter dem Steuer kehrten Katharinas Gedanken zu ihrer Mutter zurück. Auch sie glaubte inzwischen nicht mehr daran, dass ihre Eltern noch einmal zusammenfinden würden. Umso wichtiger war es, ein klärendes Gespräch mit ihrer Mutter zu führen. Sie musste ihr eben nicht mehr nur durch die Blume, sondern ganz direkt sagen, dass es so nicht weitergehen konnte und diese Mutter-Tochter-WG keine Dauerlösung war. Und da sie selbst keine Veranlassung sah, ihre gemütliche kleine Wohnung in der Münzstraße und außerdem die Nachbarschaft zu ihrer inzwischen besten Freundin Julie aufzugeben, würde ihre Mutter sich nach einer Alternative umsehen müssen. Katharina graute es vor dem Gespräch, doch sie nahm sich fest vor, es nicht länger hinauszuschieben. Bei nächster Gelegenheit würde sie mit ihrer Mutter sprechen – vielleicht sogar mit ein paar Wohnungsangeboten unter dem Arm. Katharina hoffte, ihre Mutter würde das richtig verstehen und sich nicht von ihr verraten fühlen, denn die Wunde, die Katharinas Vater hinterlassen hatte, würde sicher nie ganz verheilen: Anne von Hagemann war tief verletzt, seit sie erfahren hatte, dass ihr Mann Henning ihr mehr als 20 Jahre lang einen unehelichen Sohn verheimlicht hatte, der aus einer Affäre mit seiner damaligen Sekretärin hervorgegangen war. Darüber hinaus war Katharinas Vater zu keinem Gespräch oder Entgegenkommen bereit. Er fühlte sich – warum auch immer – im Recht und hatte bisher seiner Frau gegenüber nicht einmal eine anständige Entschuldigung über die Lippen gebracht. Sie solle sich nicht so anstellen, so etwas könne in jeder guten Familie mal vorkommen, hatte er als Begründung genannt, warum sie zu ihm zurückkommen sollte. Mehr nicht. Katharina konnte gut verstehen, dass ihre Mutter nicht wieder in die Hamburger Villa zog, und zollte ihr insgeheim sogar Respekt dafür. Schließlich kannte sie ihre Mutter sonst nur als unselbstständigen Schatten ihres Vaters, aber nicht als eigenständige Persönlichkeit. Gegenüber Katharina hatte er sich nicht einmal zu dieser ganzen, durchaus etwas prekären Situation geäußert, obwohl sie ihn mehrfach darum gebeten hatte. Schließlich war auch sie davon betroffen – sie hatte plötzlich und völlig unerwartet einen erwachsenen Halbbruder, von dem sie bisher nicht mehr als den Vornamen wusste. Im Prinzip interessierte er sie auch nicht sonderlich, doch es blieb ein merkwürdiges Gefühl.
Als die Kommissarin registrierte, dass sie bereits im Ortsteil Schützenplatz angekommen war, wischte sie die Gedanken an ihre Eltern aus dem Kopf und konzentrierte sich darauf, die richtige Adresse zu finden. Sie parkte den Wagen, stieg aus, atmete tief durch und war sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben – Arbeit war das Einzige, das sie sinnvoll ablenken würde.
10.03 Uhr
»Moin, Kollegin«, begrüßte Tobi Katharina freudestrahlend, während Ben sie mit forschendem Blick musterte. Er fragte sich mit einer unguten Ahnung, warum Katharina nach dem Gerichtstermin direkt nach Lüneburg zurückgekommen war, wollte sie hier und jetzt aber nicht darauf ansprechen.
»Hallo, zusammen«, sagte Katharina sachlich, »und, was habt ihr bis jetzt?«
»Noch nicht viel«, antwortete Tobi. »Nachdem wir wussten, dass du uns das nicht allein zutraust, haben wir auf dich gewartet.« Er grinste, und Katharina verdrehte gespielt die Augen.
»Natürlich weiß ich, dass ihr das ohne mich hinbekommt«, erwiderte sie. »Aber ich muss mir ja schließlich ohnehin ein Bild machen, und so braucht ihr mir später nicht alles zu erzählen. Ich wollte es nur für alle einfacher machen.«
»Schon gut«, sagte Tobi. »Wenigstens hast du das Glück, dass die Leiche schon abgeholt wurde, wir konnten dir also zumindest den Anblick am frühen Morgen ersparen. Also: Die Frau heißt Tanja Groß und ist Mieterin dieser Wohnung. Die Nachbarin, eine gewisse Irmgard Gruber, hat heute Morgen bemerkt, dass die Wohnungstür nur angelehnt war. Das kam ihr komisch vor. Daraufhin hat sie nachgesehen und die Leiche auf dem Bett im Schlafzimmer entdeckt.«
»Habt ihr von ihr mehr erfahren können?«, wollte Katharina wissen.
»Nein, bis jetzt nicht«, ergriff Ben das Wort. »Es ist eine ältere Dame, und sie steht ziemlich unter Schock.«
»Unsere Tote ist erdrosselt worden«, erklärte Tobi weiter. »Außerdem wurde sie mit einem Messer im Gesicht verletzt. Laut Fraukes erstem Eindruck allerdings erst, nachdem sie bereits tot war.«
Ben bemerkte, dass Katharina bei diesen Worten fast unmerklich zusammenzuckte, konnte diese Reaktion aber nicht einordnen. Vielleicht hatte er sich auch getäuscht und sie fröstelte nur. In der Wohnung hatten er und Tobi eben die Fenster gekippt, um Frischluft hineinzulassen.
»Ist denn die Wohnung beziehungsweise das Bett der Tatort?«, wollte Katharina wissen.
»So wie es aussieht ja, aber auch hier müssen wir die Ergebnisse der Gerichtsmedizin und die von der Spusi abwarten«, antwortete Tobi.
»Okay. Und wisst ihr, was sie beruflich gemacht hat?«, erkundigte Katharina sich.
»Nachdem, was wir hier in der Wohnung auf den ersten Blick gesehen haben, dürfte sie im Rotlichtmilieu gearbeitet haben. Das passt auch zu einer Andeutung der Nachbarin, aber wie gesagt, viel war aus der nicht rauszuholen.«
»Eine Prostituierte?«, fragte Katharina an Ben gewandt, doch es klang eher wie eine Feststellung. Erneut registrierte er an seiner Mitarbeiterin einen irgendwie besorgten Blick.
»Ja, zumindest weisen diverse Klamotten und … sagen wir mal Spielzeuge in ihrem Schlafzimmer darauf hin«, erläuterte er, während er Katharina nicht aus den Augen ließ. »Es sieht allerdings nicht so aus, als ob sie ihre Freier hier empfangen hat, dazu ist die Wohnung zu persönlich gehalten. Es kann also ebenso sein, dass sie das ganze Zeug hier hat, weil sie darauf steht. Wer weiß das heutzutage schon.«
»Sonst noch was, was ich wissen sollte?«
»In ihrer Handtasche haben wir eine Taxiquittung von gestern Abend gefunden«, übernahm Tobi wieder das Gespräch. »Demnach ist sie von Hinter der Sülzmauer zu einem kleinen Apartmenthotel in Goseburg gefahren. Auch das passt zu unserer Vermutung, dass sie eine Nu… Prostituierte war.«
Katharina nickte und begann, sich in der Wohnung umzusehen. Ben beobachtete sie und registrierte verwundert, dass sie sich im Schlafzimmer bückte und dem Flokati, der vor dem Bett ausgebreitet war, besondere Aufmerksamkeit schenkte.
»Nach Blut musst du da nicht suchen, das war nur auf dem Bett und auch nicht viel, weil sie schon tot war, als der Schnitt gemacht wurde«, erklärte er.
»Das ist es auch nicht«, antwortete sie. »Aber hier sind Abdrücke im Teppich … Sind euch die nicht aufgefallen?«
Interessiert traten beide Kollegen zu ihr, bemüht, den Teppich trotz der Plastiküberzieher an ihren Schuhen so wenig wie möglich zu betreten.
»Was für Abdrücke?«, fragte Tobi.
»Ich würde sagen, es sieht aus, als hätte hier ein Stativ gestanden«, vermutete Katharina und zeigte auf drei rundliche Abdrücke, die nur schwach erkennbar waren.
»Möglicherweise hat die Spusi das aufgenommen, die sind gerade erst raus. Vorsichtshalber sollten wir aber ein Foto davon machen«, erwiderte Ben und zog sein Handy hervor. Er bückte sich, zoomte die Abdrücke so dicht wie möglich heran und machte einige Fotos.
»Du meinst, sie hat sich mit ihren Freiern im Bett gefilmt?«, fragte Ben.
»Könnte sein, allerdings meint ihr ja, dass sie hier nicht gearbeitet hat.«
Tobi kam eine Idee. »Vielleicht hat sie als Cam-Girl ihr Geld verdient.«
»Möglich«, lobte Ben.
»Habt ihr denn in der Wohnung ein Stativ und eine Kamera gefunden? Oder einen Computer? Ich sehe hier keinen«, stellte Katharina fest.
»Ja, einen Laptop, den hat die Spusi mit in die KTU genommen. Genauso wie das Handy. Beides war mit einem Sperrcode versehen. Allerdings wird sie sich mit ihrem Handy wohl kaum für solche Zwecke gefilmt haben. Obwohl, wer weiß«, sagte Tobi und begann, alle Schränke und Schubladen ein weiteres Mal durchzusehen – zunächst die im Schlafzimmer und dann in den anderen Räumen.
»Nichts«, erklärte er, als er nach wenigen Minuten aus dem Nebenraum ins Schlafzimmer trat. »Keine Kamera, kein Stativ, keine Bänder. Dann bin ich mal gespannt, ob auf dem Laptop oder Handy was drauf ist.«
»Okay, fürs Erste kommen wir nicht weiter«, stellte Ben daraufhin fest und fuhr fort: »Wenn du nun schon mal da bist, Katharina, können wir uns umso besser aufteilen: Du versuchst bitte herauszufinden, ob du Tanja Groß im Netz findest, und fragst beim Taxiunternehmen nach der Fahrt von gestern Abend.« Er reichte ihr die Quittung, die sie zuvor der Handtasche von Tanja Groß entnommen hatten, sowie eine Fotografie, die die Tote zu Lebzeiten zeigte. »Tobi, du klapperst bitte die Nachbarschaft ab und fragst, ob jemand etwas mitbekommen hat. Frag auch nach, ob hier regelmäßig Männer ein und aus gegangen sind. Nur weil wir finden, dass die Wohnung sehr privat aussieht, muss das nichts heißen. Und dann recherchierst du bitte im Milieu. Am besten startest du bei den Damen in der Bordellgasse. Nimm ein Foto mit, an der Pinnwand draußen im Flur habe ich noch eins mit ihr gesehen. Vielleicht erkennt eine der Frauen sie und kann uns sagen, wo sie gearbeitet hat.«
»Mit dem größten Vergnügen«, stimmte Tobi grinsend zu, bevor Ben sagte: »Ich fahre zu dem Hotel und erkundige mich dort. Danach sehen wir uns alle auf dem Kommissariat.«
15.56 Uhr
»Wer zuerst?«, fragte Ben in die kleine Runde hinein. Der Hauptkommissar und seine beiden Mitarbeiter hatten sich wie verabredet im Kommissariat getroffen und am Besprechungstisch Platz genommen.
»Dann fang ich an, ich hab sowieso nicht viel zu berichten«, meinte Katharina und stellte ihren Kaffee, von dem sie gerade probiert hatte, der ihr aber noch zu heiß war, wieder vor sich auf den Tisch.
»Also, vom Tatort aus bin ich zum Taxiunternehmen gefahren – es lag fast auf dem Weg. Ein Anruf von Tanja Groß ist dort nicht eingegangen, um ein Taxi zu bestellen, und auch der Fahrer, den wir anhand der Nummer auf der Quittung identifizieren konnten, hat der Zentrale keine Fahrt von Hinter der Sülzmauer nach Goseburg zum Hotel gemeldet.«
»Wie geht das denn?«, fragte Tobi. »Ich dachte, die Fahrer müssen das tun, auch wenn sie einen Fahrgast von der Straße aufgabeln? Na ja, außer, sie kassieren den Fahrpreis als Schwarzgeld vorbei an ihrem Unternehmen. Aber warum hatte die Tote dann eine sauber ausgefüllte Quittung?«
»Genau das habe ich mich auch gefragt«, stimmte Katharina ihrem Kollegen zu. »Die Zentrale hat mir den Kontakt zu dem besagten Taxifahrer, einem gewissen Ralf Döhler, hergestellt. Er hatte gerade keine Fahrt und stand mit seinem Wagen Am Stint. Ich bin direkt hin und hab ihn befragt. Zuerst wollte er nichts sagen und hat sich dumm gestellt. Erst als ich ihm das Foto von Tanja Groß gezeigt und ihm erklärt habe, dass sie tot ist und er sich mit seinem Verhalten verdächtig macht, ist er eingeknickt. Ralf Döhler ist ein Stammfreier von Tanja Groß, die er, wie er sagt, nur als Joy kennt. Sie ist tatsächlich eine Prostituierte, aber das wirst zumindest du schon wissen«, sie nickte in Tobis Richtung, dann fuhr sie fort: »Der Döhler geht wohl schon seit etlichen Jahren zu Tanja Groß, aber nicht in ihre Privatwohnung, sondern in ein Haus Hinter der Sülzmauer. Da hat sie sich für ihr Gewerbe eingemietet. Meist geht er montags am Nachmittag, weil da sowohl in der Bordellgasse als auch bei Taxifahrern wenig los ist. Das hat er wenigstens gesagt. Vergangenen Montag war er auch bei ihr. Er ist 53 Jahre alt, alleinstehend und wohnt in Adendorf. Als er es realisiert hatte, war er mächtig geschockt, dass er sich eine neue Dame für seine wöchentliche Bettstunde suchen muss. Zumindest hat es den Anschein gemacht, und ich glaube nicht, dass es gespielt war.«
»Was genau hat ihn geschockt?«, fragte Tobi. »Dass er sich eine Neue suchen muss oder dass Joy, also Tanja Groß, tot ist?«
»Dass sie tot ist«, antwortete Katharina und fuhr fort: »Also auf jeden Fall hat er ihr seit Jahren immer mal wieder eine Blanko-Quittung zugesteckt. Warum sie die haben wollte, wusste er nicht, aber ich nehme an, dass Tanja Groß diese getürkten Taxifahrten wohl kaum von der Steuer abgesetzt, sondern eher Freiern vorgelegt hat, die sie irgendwo hinbestellt und ihr dafür die Taxifahrt bezahlt haben. Ich könnte mir vorstellen, sie hat das zusätzliche Geld eingesackt und für ihre Fahrten öffentliche Verkehrsmittel genutzt, wenn es sich angeboten hat. Einen Führerschein hat sie nämlich nicht gehabt, das habe ich übergeprüft. Wir sollten auf jeden Fall einen Handschriftenvergleich durchführen, ob das auf der Quittung die Handschrift von Tanja Groß ist. Und eventuell sollten wir die Buslinie überprüfen, die sie von Hinter der Sülzmauer genommen haben könnte, um zum Hotel zu kommen, ebenso wie die Linie, die sie zu ihrer Wohnung gebracht haben könnte. Tja, mehr habe ich nicht. Ralf Döhler kommt morgen früh vorbei und gibt seine Aussage zu Protokoll.«
Katharina atmete einmal tief durch und nahm ihren inzwischen abgekühlten Kaffee in die Hand. Bevor sie einen Schluck trank, hielt sie inne und setzte hinzu: »Oh, eins habe ich vergessen. Ralf Döhler hat ein Alibi für die Tatzeitspanne – er hatte eine längere Fahrt nach Geesthacht, und danach war nicht mehr viel los. Er ist als Leerfahrt zurück nach Lüneburg und hat mit einigen Kollegen zusammen am Taxistand Am Sande auf Fahrgäste gewartet. Als keiner mehr kam, hat er um 1.30 Uhr Schluss gemacht und ist nach Hause. Er hat mir eine Liste der Kollegen gegeben, die seine Aussage bestätigen können.«
»Na, das ist doch schon mal was«, kommentierte Hauptkommissar Benjamin Rehder Katharinas Bericht. »Wir haben dann jetzt schon mal die Bestätigung, dass das Opfer tatsächlich eine Prostituierte war, und können außerdem davon ausgehen, dass Tanja Groß nicht mit dem Taxi zum Hotel gefahren ist«, fasste er zusammen. »Lasst uns die Handschriftenprobe abwarten, bevor wir die Busfahrer der infrage kommenden Linien befragen. Vielleicht saß sogar ihr Mörder mit im Bus. Hast du Tanja Groß oder, ähm, wie nannte sie sich im Milieu?«
»Joy«, half Katharina aus.
»Richtig, Joy. Hast du sie im Netz gefunden?«
»Nein, habe ich nicht. Nicht unter Tanja und auch nicht unter Joy, zumindest nicht so, wie wir meinen.«
»Wie jetzt?«, fragte Ben und beugte sich gespannt vor. »Hatte die Dame noch ein Geheimnis?«
»Nein, entschuldige, so habe ich das nicht gemeint. Bei meinen Recherchen bin ich nur auf ein paar Seiten gestoßen, auf denen über Joy gesprochen wurde.«
»Gesprochen?« In Bens Ton lag Verwunderung.
»Ja, oder geschrieben. Das ist wohl richtiger. Was ich meine sind Foren, in denen sich die Mitglieder damit beschäftigen, Prostituierte zu bewerten, sich diese gegenseitig zu empfehlen und so weiter. Und eine Joy, die Hinter der Sülzmauer arbeitet, wurde auch ein paarmal genannt. Mit Beschreibung, wie sie aussieht, wo man sie genau findet, wie viel Geld sie nimmt und was sie so macht, also anbietet«, erklärte Katharina. »Anhand dieser Infos bin ich mir sicher, dass es sich dabei um unsere Joy handelt.«
»Echt, so etwas gibt es?«, rutschte es Tobi ungläubig heraus.
»Ja, Herr Kommissar, allem Anschein nach gibt es so etwas«, bejahte Katharina grinsend.
»Also, ich kenne die Hausnummer des Hauses, in dem unsere Joy hinter dem Fenster saß. Wenn die mit der Adresse in diesen Foren übereinstimmt, dann ist sie ein und dieselbe. Warte«, sagte Tobi, holte sein Smartphone heraus, in das er seit Neuestem alle seine Notizen eingab, tippte ein wenig darauf herum und hielt es Katharina hin.
»Jepp, ist dieselbe«, bestätigte Katharina nach einem kurzen Blick auf das Handy.
»Hm. Ich überlege gerade, ob wir die Kollegen vom Dezernat für Sexualdelikte hinzuziehen sollten. Die kennen sich im Milieu besser aus als wir, schließlich gehört Prostitution in ihren Bereich«, dachte Hauptkommissar Rehder laut nach.
»Warum nicht, schaden kann es auf keinen Fall«, bestätigte Katharina, und Tobi fügte hinzu: »Finde ich auch, zumal ich in der Bordellgasse nicht viel über Tanja Groß herausgefunden habe. Ich hab zwar mit den Mädels dort sehr nett geplaudert …«
»Das kann ich mir denken«, murmelte Katharina und grinste in sich hinein, wovon ihr Kollege sich jedoch kaum beirren ließ und einfach fortfuhr: »… aber ich habe nicht wirklich etwas über Joy, also Tanja Groß – Mann, wie sollen wir sie denn jetzt nennen? Ich bleibe bei Joy, okay? Also, bei der Befragung der Nachbarn von ihrer Privatwohnung habe ich sie natürlich Tanja Groß genannt. Da hat übrigens niemand etwas davon mitbekommen, wie sie ihr Geld verdiente. Die haben keinen großartigen Kontakt zu ihr gehabt. Der ein oder andere hatte so seinen Verdacht, weil sie in der Regel abends zur Arbeit gegangen ist, aber gewusst hat niemand etwas. Und Kundschaft scheint sie zu Hause wirklich nicht empfangen zu haben. Es hieß sogar recht einhellig, dass sie kaum Besuch gehabt hat. Ach ja, ich konnte doch noch die Nachbarin Frau Gruber, die die Leiche gefunden hat, befragen, aber da ist auch nichts Neues bei rumgekommen. Na, und dann bin ich direkt zur Bordellgasse, da hab ich nur von Joy gesprochen, aber ergiebig war das ebenfalls nicht. Das meiste von dem wenigen hat mir ihre Kollegin Xenia gesteckt. Ein süßes Ding. Höchstens 22. Total klug und hübsch. Die passt da so gar nicht rein.«
»Aber du willst hoffentlich keinen auf Richard Gere machen. Denk dran, solche Zeiten sind vorbei, du hast jetzt Kind und Kegel«, unkte Katharina.
»Ha, ha«, sagte Tobi und setzte hinzu: »Ich habe meine beiden Pretty Women zu Hause. Und eins kann ich euch sagen: Meine süße kleine Prinzessin wird mal mindestens so hübsch wie Julia Roberts. Die langen Beine hat sie jetzt schon.«
»Ähm, wie alt ist deine Tochter noch? Sechs Monate? Und da kann man das schon sehen?«, zog Katharina Tobi weiter auf, der das jedoch nicht merkte, sondern im Brustton der Überzeugung von sich gab: »Natürlich!«
»Okay«, mischte der Hauptkommissar sich in das Geplänkel seines Teams ein, »was hat dir diese Xenia erzählt?«
»Wie gesagt, nicht viel. Xenia arbeitet im selben Haus wie Joy. Sie hat da ein Zimmer, wo sie … ähm …«
»Ja, ja, wir wissen es«, wurde Ben langsam ungeduldig.
»Die beiden kannten sich, wie Kolleginnen sich eben kennen, wobei Joy um einiges älter war und entsprechend länger im Gewerbe. Xenia hat von ihr ab und zu Tipps bekommen, und manchmal sind sie privat etwas trinken gegangen. Ansonsten hat Joy sehr zurückgezogen gelebt. Xenia war nie bei ihr zu Hause. Joy muss Privat- und Berufsleben strikt voneinander getrennt haben. Angeeckt ist sie bei ihren Kolleginnen nur selten. Sie hat laut Xenia immer gesagt, dass es genug Freier auf der Welt gäbe und in Lüneburg sowieso, und es sich deswegen nicht lohnen würde, sich um einen zu streiten.«
»Aha«, kommentierte Ben das Gehörte, während Katharina eine Augenbraue hochzog.
»Auch mit den Freiern gab es laut Xenia nie Streit. Sie scheint sehr umgänglich gewesen zu sein. Joy hatte, wie die meisten ihrer Kolleginnen, einige Stammfreier. Von dem Taxifahrer wissen wir das bereits, aber ansonsten … Vielleicht finden wir was bei ihr zu Hause oder eine Liste in ihrem Handy. Xenia meinte, sie würde Joys Stammfreier bestimmt wiedererkennen, aber die Namen wüsste sie nicht. Da war Joy sehr diskret. Das war es. Mehr hab ich momentan nicht«, schloss Tobias.
»Hm, das bringt uns nicht wirklich weiter. Wir können dieser Xenia kaum Fotos vorlegen, wer weiß schon, welche Lüneburger alles die Bordellgasse aufsuchen, wir müssen also diese Kundenliste suchen, wenn sie denn existiert, oder so etwas wie ein Adressbuch«, kommentierte Ben Tobias’ Bericht, und sowohl Tobias als auch Katharina nickten dazu.
Ben hob entschuldigend die Schultern: »Ich habe auch nichts, was uns voranbringt. Im Hotel selbst ist Tanja, ich meine Joy, scheinbar nicht gewesen. Die Rezeption ist dort ab 22 Uhr nicht mehr besetzt, allerdings wird die kleine Lobby, durch die jeder noch so späte Gast gehen muss, um zu den Zimmern zu gelangen, videoüberwacht. Ich habe mir vor Ort die Bänder zeigen lassen, und zwischen 22 und ein Uhr morgens ist niemand in das Hotel hinein- oder hinausgegangen.«
»Niemand?«, wiederholte Tobi.
»Niemand«, bestätigte Ben.
»Hm, dann war Joy also gar nicht da oder ist nie dort angekommen«, überlegte Katharina laut.
»Doch, sie war da«, widersprach ihr der Hauptkommissar und erklärte: »Von draußen wird das Apartmenthotel ebenfalls videoüberwacht. Die Kamera ist so eingestellt, dass der gesamte Eingangsbereich und ein Stück der Straße aufgenommen werden. Joy hat von 22.50 Uhr bis 23.30 Uhr vor dem Hotel gestanden. Es sieht auf den Bändern so aus, als habe sie auf jemanden gewartet. Sie ist auf und ab gegangen und hat immer wieder auf die Uhr geguckt. Es ist aber keiner gekommen. Um 23.30 Uhr ist sie nach links aus dem Bild gegangen. Ich hab das gecheckt: Linker Hand ist etwa 500 Meter weiter eine Bushaltestelle.«
»Das würde für meine Theorie sprechen, dass Joy den Bus genommen und die Quittung selbst ausgefüllt hat«, sagte Katharina.
»Jepp«, bestätigte Ben und setzte hinzu: »Mach aber trotzdem einen Handschriftenvergleich. Ich hab die Bänder vom Hotel etwa eine halbe Stunde weitergeguckt. Auch in der Zeit ist niemand hinausgegangen oder vorbeigekommen, der dem Opfer von dort aus gefolgt sein könnte. Ansonsten können wir gerade nicht viel ausrichten und müssen erst einmal auf Frauke und die KTU warten. Ich werde gleich Malte anrufen, ob sein Dezernat uns mit Informationen unterstützen kann, und du, Tobi, ruf doch mal in der Gerichtsmedizin an, ob Frauke schon was für uns hat. Sie ist ja immer sehr schnell.«
»Und ich?«, fragte Katharina.
»Du kannst dir das Franzbrötchen vom Teller schnappen und es dir damit gemütlich machen, während Tobi und ich die Kollegen anrufen. Schließlich hast du eigentlich Urlaub«, erwiderte Ben und ging an seinen Schreibtisch, um zu telefonieren.
17.37 Uhr
»Hey, Frauke«, begrüßte Katharina die Gerichtsmedizinerin fröhlich, als sie deren Räumlichkeiten betrat.
»Hallo, Katharina«, erwiderte Frauke Bostel und sah von den Papieren hoch, die sie auf einem Klemmbrett in der Hand hielt. »Schön, dich zu sehen! Ich dachte, du hättest heute frei.«
»Hatte ich eigentlich auch, aber …« Katharina brach die Erklärung ab. Sie mochte Frauke Bostel sehr gern und sah in ihr inzwischen mehr als nur eine sehr patente und loyale Kollegin, doch zu privat wollte sie nicht werden. Zumindest nicht mit dem Thema, das sie veranlasst hatte, ihren Urlaubstag in den Wind zu schießen, denn – davon ging die Kommissarin jedenfalls aus – die Gerichtsmedizinerin wusste nichts über Katharinas früheres Leben in München und über Maximilian, und das sollte auch so bleiben. »Egal«, ergänzte sie. »Ich bin halt hier.«
Frauke grinste sie an. »Schon klar, du bist ja mit deiner Arbeitswut schlimmer als ich. Wollen wir gleich anfangen? Allerdings habe ich noch nicht viel, das habe ich Tobi schon am Telefon gesagt.«
»Ja, das hat er weitergegeben. Lass uns trotzdem warten. Ben und Tobi wollten auch kommen. Sie mussten kurz zu Mausner, und da bin ich vorgegangen.«
»Das ehrt mich, dass du meine Gesellschaft der unseres hochverehrten Kriminalrats vorziehst«, witzelte Frauke Bostel.
»Davon kannst du ausgehen«, sagte Katharina lachend.
»Apropos Gesellschaft leisten, wann kommst du denn mal wieder mit ins Fitnessstudio?«
Die Gerichtsmedizinerin war an Katharinas Seite getreten und sah sie auffordernd an. Vor einem knappen Jahr hatten die beiden Frauen sich gemeinsam entschlossen, mehr Sport zu machen. Der Entschluss war bei Katharina mehr aus einer Laune heraus entstanden, doch hatte sie schnell gemerkt, dass Frauke es durchaus ernst gemeint hatte. Wenige Tage später war die quirlige Medizinerin mit dem Flyer eines Lüneburger Fitnessstudios und obendrein mit einem bereits vereinbarten Termin für ein Probetraining in Katharinas Büro aufgetaucht und hatte keine Ausflüchte vonseiten der Kommissarin zugelassen. So war Katharina vor allem zunächst mitgegangen, um die Kollegin nicht zu enttäuschen, hatte dann jedoch schnell gemerkt, wie gut es ihr tat, sich regelmäßig gezielt zu bewegen und Sport zu treiben. Seitdem gingen die beiden Frauen zwar nicht immer gemeinsam hin, bedingt durch die Arbeitszeiten, doch sie trafen sich häufig zufällig dort und trainierten dann gemeinsam. Katharina musste zugeben, dass es weit vor Weihnachten gewesen war, als sie das Fitnessstudio das letzte Mal von innen gesehen hatte. Dann waren die ganzen Feiertage gekommen, und jetzt hatte München angestanden. Tatsächlich verspürte sie große Lust darauf, sich mal wieder auszupowern. Von den Weihnachtspfunden auf den Hüften ganz zu schweigen. Demonstrativ fasste sie sich an den Bauch. »Du hast recht, das wäre dringend an der Zeit!«
»Dass ich nicht lache«, erwiderte Frauke Bostel und verdrehte die Augen. Die Gerichtsmedizinerin war locker zehn Zentimeter kleiner als Katharina und hatte eine deutlich kräftigere Figur, die ihr aber gut stand und zu ihrem Typ passte. »Als ob du auch nur ein Gramm zu viel auf den Rippen hättest. Aber mir fehlt deine Gesellschaft im Studio!«
Katharina lächelte. »Okay, abgemacht – morgen Vormittag?«
Frauke Bostel überlegte kurz. »Ja, das passt. Treffen wir uns um zehn am Studio?«
Katharina nickte, denn in diesem Moment betrat ihr Chef Benjamin Rehder zusammen mit Tobias die Gerichtsmedizin.
»Hallo, Frauke«, sagten beide Männer wie aus einem Mund, und die kleine Medizinerin lachte laut auf.
»Wow, Begrüßung im Chor, heute werde ich aber verwöhnt!«
»Und, was hast du für uns?«, kam Ben direkt zur Sache.