Die Glücksschneiderin - Ulrike Sosnitza - E-Book

Die Glücksschneiderin E-Book

Ulrike Sosnitza

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Stoff, aus dem die Liebe ist

Clara hat sich ihren Traum erfüllt und in Würzburg ein Nähcafé eröffnet. Dort gibt sie Nähkurse, verwandelt alte Kleidungsstücke in neue und macht die Menschen mit maßgeschneiderten Röcken, Jacken und Hosen glücklich. Auf einem Flohmarkt findet sie eines Tages ein ganz besonderes Vintage-Kleid aus den Zwanzigerjahren. Als sie es anprobiert, steht plötzlich Finn, ihre erste große Liebe, vor ihr und behauptet, dass dieses Kleid ein Familienerbstück von ihm sei. Mit einem Schlag kehrt das Gefühlschaos von damals wieder. Was will er mit diesem Kleid? Und warum hat er sie vor vielen Jahren ohne ein Wort verlassen? Fragen, die Claras Leben vonn Jetzt auf Gleich völlig durcheinanderwirbeln.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 380

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Clara hat sich ihren Traum erfüllt und in Würzburg ein Nähcafé eröffnet. Dort gibt sie Nähkurse, verwandelt alte Kleidungsstücke in neue und macht die Menschen mit maßgeschneiderten Röcken, Jacken und Hosen glücklich. Auf einem Flohmarkt findet sie eines Tages ein ganz besonderes Vintage-Kleid aus den Zwanzigerjahren. Als sie es anprobiert, steht plötzlich Finn, ihre erste große Liebe, vor ihr und behauptet, dass dieses Kleid ein Familienerbstück von ihm sei. Mit einem Schlag kehrt das Gefühlschaos von damals wieder. Was will er mit diesem Kleid? Und warum hat er sie vor vielen Jahren ohne ein Wort verlassen? Fragen, die Claras Leben von Jetzt auf Gleich völlig durcheinanderwirbeln.

Die Autorin

Ulrike Sosnitza, 1965 in Darmstadt geboren, wuchs mit der Nähmaschine ihrer Mutter auf. Sie selbst strickte aber lieber und flickte die Kleidung ihrer Kinder mit der Hand. Der Klimawandel brachte sie dazu, sich näher mit dem Thema Mode zu beschäftigen, und ihre Kinder machten sie auf Nähcafés, Kleidertauschbörsen und Fashionflohmärkte aufmerksam. Besonders bezauberten Ulrike Sosnitza die vielfältigen Upcycling-Ideen von Nähbloggerinnen, die sie zu diesem Roman inspirierten. Sie lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Würzburg, dem Schauplatz von »Die Glücksschneiderin«.

Lieferbare Titel

Novemberschokolade

Hortensiensommer

Orangenblütenjahr

Sternenblütenträume

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 07/2021

Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Friederike Arnold

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München,

unter Verwendung von Fadenregal:

nWAlCB1tyvc © Annie Spratt/Unsplash.com,

Schere und Knöpfe: 937097172 © libertygal/IStockphoto,

Weiße Baumwolle Stoff: 1059543474 © natthanim/IStockphoto

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-26763-6V001

www.heyne.de

1

Clara

»Das Shirt hat auf jeden Fall noch eine zweite Chance verdient!« Auf dem Ärmel prangte ein großer Schokoladenfleck, der beim Waschen nicht rausgegangen war. Ich strich mit der Hand über den samtig weichen Stoff und hatte schon eine Idee, was ich mit dem Shirt machen könnte. Zum Wegwerfen war es auf jeden Fall zu schade.

Sonja stellte eine dampfende Tasse vor mich. Ich legte das Shirt zur Seite.

Schon beim ersten Schluck von Sonjas Zimtkaffee spürte ich, dass heute, an diesem Samstag im Mai 2019, ein ganz besonderer Tag vor mir lag. Einer, der etwas Neues brachte. Da konnte mir auch der Morgennebel nicht die Stimmung vermiesen, der draußen vor dem Café Maier alles verhüllte, sodass man glaubte, allein in einer nassen und kalten Welt zu sein. Aber ich war nicht allein. Mir gegenüber saß meine Tante, und ich wartete darauf, dass sie mich wie immer anlächelte.

»Was für ein Desaster«, sagte sie stattdessen und trank einen Schluck Melissentee. Tee am Morgen bedeutete nichts Gutes bei Sonja, normalerweise floss Koffein durch ihre Adern und brachte sie den ganzen Tag zum Lachen.

»Nein, kein Problem, ich glaube, ich schneide die Ärmel ab und ersetze sie durch farbige Volants oder Rüschen.«

»Das Shirt wird bestimmt wunderschön, aber schau dich doch mal um!«

Im Café herrschte gähnende Leere.

»Nur weil uns die Kundinnen nicht von Anfang an die Bude einrennen, ist unser Nähcafé kein Desaster, sondern immer noch ein Traum, der wahr geworden ist. Unser Traum vom gemeinsamen Nähen und Gästebewirten!«

»Deinen jugendlichen Optimismus hätte ich auch gerne.«

Irgendetwas stimmte nicht. Sonja war keine Frau, die ständig rumjammerte.

»Seit wann hältst du dich für alt? Erst gestern hat der Buchhändler von der Sanderstraße geglaubt, wir wären Schwestern.«

Das passierte oft – allein schon wegen der auffallend roten Locken, die wir beide hatten, den Sommersprossen und der geringen Körpergröße, und normalerweise schmeichelte ihr das. Sonja war die jüngste Schwester meiner Mutter Jutta und nur elf Jahre älter als ich.

»Und, hat er sich was nähen lassen?«, konterte sie.

»Nein.« Automatisch blickte ich in mein Nähzimmer hinüber, das hinter dem Café lag. In meiner Vorstellung steckten am Nähtisch die Frauen die Köpfe zusammen, Kreativität ließ die Luft vibrieren, und gemeinsam wurden tolle Projekte umgesetzt.

Aber leider existierte diese Vorstellung nur in meiner Fantasie. Enttäuscht löffelte ich die Zimtsahne aus meiner Tasse.

»Wir hätten das Café Sehnsucht nennen sollen«, meckerte sie weiter und trank ihren Tee aus. »Sehnsucht nach Kunden.«

»Ach komm, Sonja, wer geht bei diesem Nebel schon vor die Tür. Bei dir im Café ist es doch immer voll.«

»Und bei dir?« Sie trug ihre Tasse zur Theke und kam mit einem Lappen wieder.

»Du übertreibst!«, verteidigte ich mich und trank den dickflüssigen Kaffee aus. Sonja bereitete ihn mit viel Honig, Kakao und Milch zu, er wärmte die Seele, machte satt und eigentlich immer glücklich. Aber jetzt schmeckte er bitter, denn ich überlegte, ob sie recht haben könnte. Und der Nebel vor dem Fenster war noch immer dick wie Dekowatte.

»Wir werden den Kredit nie zurückzahlen können.« Mit hängenden Mundwinkeln wischte sie über den Tresen.

Die Tür öffnete sich, und zwei junge Frauen traten ein. Ganz kurz hoffte ich, sie wollten etwas nähen, aber dann setzten sie sich an einen Tisch am Fenster, bestellten bei Sonja zwei Latte macchiato und redeten ununterbrochen über ihre Shoppingpläne.

Ich stellte meine leere Tasse in die Geschirrspülmaschine. »Mach dir keine Sorgen, Sonja! Wir haben erst seit März auf, zwei Monate, das ist doch gar nichts.«

Sonja öffnete eine Tüte Kaffeebohnen, und ihr intensiver Duft verbreitete sich verheißungsvoll im Café.

Wieder die Türglocke. Die beiden grauhaarigen Damen waren schon häufiger bei uns gewesen.

»Schau, wir haben sogar schon Stammgäste.«

Sonja schüttete die Bohnen in die Maschine. »Heute ist bereits der achtzehnte Mai. Das sind schon fast drei Monate. Ein Vierteljahr! Ich finde deine Nähideen ja großartig, aber unsere Kunden anscheinend nicht.«

Langsam ging sie zu den älteren Damen an den Tisch. Als sie wiederkam, füllte sie heißes Wasser in zwei hohe Gläser und schnitt Ingwerscheiben hinein.

»Babyschuhe aus Flanellhemden, das macht einfach nichts her. Du brauchst was mit Wumms!«

»Wumms?«

»Ja, es muss reinknallen, die Leute reinlocken, sodass sie durchs Café direkt in dein Nähzimmer gehen. Es muss leuchten, strahlen!«

Sie stellte Honig auf ein Tablett und servierte den Ingwertee.

Reinknallen. Leuchten. Strahlen. Was sollte das sein?

Ich ging hinüber ins Nähzimmer, legte das Shirt auf den Tisch und ließ meine Hände über meine Stoffsammlung gleiten. Weiche Wolle, festes Leinen, zarte Baumwolle, sie erinnerten mich an fremde Länder und interessante Menschen, und ich spürte die Möglichkeiten, die in ihnen steckten. Sie begleiteten mich seit vielen Jahren, brachten mich zum Träumen und hatten ganz eindeutig Wumms. Jedenfalls für mich.

Außerdem strahlte unser Nähcafé! Zumindest im Vergleich mit Eugens Weinstube, die früher hier gewesen war, einer düsteren Raucherkneipe. Sonja und ich hatten die dunkle Wandvertäfelung weiß gestrichen und aus dem vorderen Zimmer das Café und aus dem Raucherzimmer mein Nähzimmer gemacht.

Die alte Theke hatten wir an ihrem Platz belassen, und die Lampe der Würzburger Hofbräu hing noch immer über dem Tresen. Und hinter der Theke war eine kleine Küche, in der Sonja Kuchen und Snacks zauberte.

Nur von außen wirkte es dunkel, da die Fassade seit Jahrzehnten nicht mehr gestrichen worden war. Einen Bürgersteig gab es in der engen Gasse nicht, aber es war genügend Platz, um mit ein bisschen wechselnder Deko und einer Schiefertafel für unser Café zu werben.

Aber ein auffälliger Wumms war das natürlich nicht. Auch nicht die alte Nähmaschine im Schaufenster. Sie stammte wie die Möbel und das Geschirr vom Flohmarkt. Sonja und ich wollten beide ein nachhaltiges Café, für das nur Dinge neu gekauft wurden, die es gebraucht nicht gab. Kaffeebohnen, zum Beispiel.

Meinen Kundinnen wollte ich in Nähkursen zeigen, wie man gebrauchte Stoffe zu Kinderkleidung oder anderem umarbeiten konnte und welche Vorteile es hatte: durch das jahrelange Waschen war jeder nur denkbare chemische Zusatz schon lange verschwunden. Und dann natürlich die Klimabilanz. Bei mir in der Nähstube hing ein Plakat, auf dem genau beschrieben war, wie viel CO2 Fast Fashion erzeugte. Da konnte einem schwindelig werden.

Außerdem waren die Babyschuhe aus den karierten Flanellhemden echt niedlich, selbst wenn Sonja gerade so über sie gelästert hatte.

Sie war die ganze Zeit mit dem Konzept einverstanden gewesen. Sie würde das Café betreuen, ich die Schneiderei, und beides würde sich wunderbar ergänzen. Nur über die Lage waren wir uns nicht einig gewesen.

Unser Nähcafé war mitten in der Sandervorstadt, einem der beliebtesten Studentenviertel Würzburgs. Die Hauptgebäude von Universität und Fachhochschule waren in direkter Nähe, dazu eine große Mensa, die Juristische Fakultät, drei Gymnasien und die Sanderstraße mit ihren vielen Geschäften und Studentenkneipen.

Ich fand es perfekt, aber Sonja befürchtete, dass wir in der Nähe all der beliebten Studentencafés keine Chance hätten. Zum Glück aber war die Miete günstig. Das hatte sie dann überzeugt. Jetzt litten wir unter ständig herausspringenden elektrischen Sicherungen, zugigen Fenstern und hohen Heizkosten.

Mir war das egal. Ich hatte die alte Kneipe auf den ersten Blick geliebt. Die beiden ineinander übergehenden Räume waren einfach ideal. Das Schönste waren die beiden großen Tische in der Mitte des Nähzimmers: auf dem einen wurde zugeschnitten, auf dem anderen standen die Nähmaschinen, damit meine Kundinnen sich gegenübersitzen, sich helfen und austauschen konnten. Wir hatten unser Nähcafé so gemütlich wie ein Wohnzimmer eingerichtet, die Gäste sollten sich bei uns wohlfühlen.

Früher war Sonja Filialleiterin eines Schleckermarkts auf der Sanderstraße gewesen, bis dieser Pleite gemacht hatte. Jetzt war dort ein Sportgeschäft. Irgendwie stimmte es Sonja traurig, in der Nähe der alten Filiale zu arbeiten. An die alten Zeiten erinnert zu werden. Seitdem hatte sie nur Pech gehabt und war von einem Job zum anderen gewechselt, griesgrämige Chefs, ausbeuterische Arbeitsbedingungen. Weitere Geschäftspleiten. Weshalb sie sich wahrscheinlich auch so viele Sorgen um unser Café machte.

Trotzdem beschlich mich der Verdacht, dass Sonja recht haben könnte und unser Plan nicht aufging. Dabei hatte ich ihn so gründlich durchdacht wie ein perfektes Schnittmuster.

Aber manchmal hatte ich auch das Gefühl, dass noch etwas Wichtiges fehlte.

Seufzend nahm ich einen vanillefarbenen Stoffballen aus dem Regal und strich sanft über die Baumwolle mit ihren kleinen, weißen Punkten.

Vor vielen Jahren hatte ich sie bei meinem Lieblingsstoffhändler entdeckt und gleich einen ganzen Ballen davon gekauft. Ich hatte gewusst, dass ich früher oder später etwas ganz Wunderbares daraus nähen würde.

Nach meiner Gesellenprüfung war es so weit. Damals lebte ich mit Finn zusammen. Unser dritter Jahrestag stand bevor, wir hatten beide unseren Kleiderschrank ausgemistet, und da lagen sie dann nebeneinander: sein Green-Day-Shirt von unserer ersten Begegnung, mein meerblaues Kleid mit dem Wellenmuster von unserem ersten Date und so vieles mehr.

Ich schnitt längliche Ovale aus ihnen aus und gestaltete sie mithilfe des vanillefarbenen Stoffes zu einem wunderbaren Blütenmuster. Für die Rückseite wählte ich einen dunkelgrünen Wollstoff, der war genauso wasserfest wie Plastik. Den Quilt wollte ich immer zu Picknicken und Ausflügen mitnehmen. Finn liebte die Natur.

Mittlerweile war der Quilt in einen Karton auf meinen Kleiderschrank verbannt worden, und an Finn dachte ich am besten überhaupt nicht mehr, so sehr hatte er mich enttäuscht. Fünf Jahre war es jetzt her, dass er mich ohne ein Wort verlassen hatte.

Reste des zarten Pünktchenstoffes aber waren noch immer da und würden Sonjas Tochter Merle mit ihren langen blonden Haaren und ihrer im Sommer karamellfarbenen Haut bestimmt hervorragend stehen. Denn das Shirt mit dem Fleck, das gehörte meiner Cousine.

Und so bügelte ich das Shirt, faltete es in der Mitte, damit die Ärmel passgenau übereinanderlagen, und schnitt sie oberhalb des Flecks ab. Aus dem vanillefarbenen Baumwollstoff schnitt ich zwei lange Streifen für Rüschenvolants heraus. In Merles Lieblingsboutique hatte ich so ein Shirt mit Rüschenärmeln gesehen und hoffte sehr, dass sie sich über die Verschönerung freuen würde. Sie steckte mitten im Abitur, und obwohl sie so viel lernen musste, half sie uns trotzdem im Café, ein Einsatz, der unbedingt belohnt werden musste.

Zuerst einmal versäuberte ich die Ärmelkante an der Overlockmaschine, durch die Blindsaumnaht konnte der abgeschnittene Stoff nicht ausfransen.

Als ich den Fuß vom Pedal nahm und die Maschine verstummte, räusperte sich jemand hinter mir, und ich drehte mich um.

»Hallo«, flüsterte eine Frau. Sie war etwas älter als ich, vielleicht Mitte dreißig, trug eine formlose Jeans und ein zu enges Shirt und zupfte an ihren langen dunkelbraunen Haaren.

»Verkaufst du Stoffe?«, fragte sie.

»Leider nicht. Du kannst meine Maschinen nutzen oder dir das Nähen von mir beibringen lassen, wenn du es noch nicht kannst.«

»Da verletze ich mir ja doch nur die Finger!« Sie starrte die Nähmaschine vor mir an, als wäre sie ein zähnefletschendes Monster.

»Keine Angst, da passiert schon nichts.« Ich drückte sanft das Fußpedal und führte den Stoff langsam unter der Nadel hindurch. »Was möchtest du denn gerne nähen?«

»Gar nichts.« Sie zupfte immer noch an ihren Haaren.

»Du kannst dich auch einfach umschauen.« Ich wies auf die Kleiderstange, auf der einige Muster hingen, Babystrampler, strapazierfähige Kinderhosen, Sommerkleider für kleine und große Mädchen.

»Ich bin übrigens Clara!« Ich streckte ihr die Hand entgegen, sie ergriff sie zaghaft. Ihre Finger waren schmal und zart, genauso wie ihr Gesicht mit dem Porzellanteint.

»Mein Name ist Amy. Meine Mutter hatte früher auch eine Nähmaschine, die sah so ähnlich aus.« Sie deutete auf eine klassische Singer.

»Ah, deine Mutter hat genäht, sehr gut. Dann hat sie dir bestimmt gezeigt, wie es geht.«

»Nein, ich bin viel zu ungeschickt dafür.« Amy ging einen Schritt zur Seite und stolperte dabei fast über einen Korb.

»Die sind aber niedlich!« Sie holte ein rosa-weiß kariertes Lavendelsäckchen heraus und roch daran. »Himmlisch!«

»Wenn du es in deinen Schrank legst, riecht deine Kleidung genauso himmlisch! Ich nähe sie aus alten Hemden.« Ich wies auf die Hemden, die neben einer anderen Nähmaschine lagen.

»Aus Altkleidern?« Sie drehte das Kissen ungläubig in ihrer Hand hin und her.

»Aus Hemdenstoff kann man viele Sachen machen, Kissen, Schürzen oder hier, diesen Hasen! Man nennt das Upcycling.«

»Der ist ja putzig!« Vorsichtig hob sie Herrn Hase hoch, der ebenfalls mit Lavendelblüten gefüllt war.

»So was zum Kuscheln im Bett«, sagte sie und seufzte.

»Hilft bestimmt beim Einschlafen«, meinte ich.

»Ab … wie nanntest du das?«

»Upcycling. Aus alten Sachen was Besseres machen.« Ich wies erneut auf meine Muster.

Sie drehte sich einmal im Kreis und schaute sich alles in Ruhe an, dann zog sie ihr Shirt gerade und seufzte schon wieder.

»Mir passt mein Lieblingskleid nicht mehr.«

Normalerweise hätte ich jetzt gefragt, ob ich es enger oder weiter machen sollte. Aber so verzweifelt, wie sie mich ansah, war ich mir sicher, dass es zu eng geworden war und sie die Schmach nicht zugeben wollte. Sie war füllig, aber ihr hochgeschlossenes Shirt ließ ein schönes Dekolleté erahnen.

»Bring es doch mal mit, dann schaue ich, wie wir es wieder passend machen könnten.«

»Meinst du?«

»Na klar. Kleine Änderungen sind kein Problem. Besser, als es wegzuwerfen.« Ich lächelte sie an, aber sie starrte immer noch zur Nähmaschine.

»Muss ich das dann nähen?«

»Nur, wenn du möchtest. Ansonsten mache ich das gerne.«

Sie nickte. »Aber was ist, wenn ich abnehme und das Kleid dann zu groß ist?«

Bloß keine Diät, dachte ich. Diäten treiben doch alle nur in den Wahnsinn und machen am Ende dicker, als man am Anfang gewesen war. Aber ich wusste, dass ich gegen diesen gesellschaftlichen Wahnsinn wenig ausrichten konnte. Ich besaß nur die Möglichkeit, Kleidung zu nähen, in der man endlich aufatmete, sich wohl und frei fühlte.

»Wir können es ja so machen, dass man die Änderung wieder rückgängig machen kann.«

»Das geht?« Sie hob erfreut die Augenbrauen.

»Natürlich. Wenn es dein Lieblingskleid ist, dann solltest du es auch anziehen können. Dazu sind Lieblingskleider doch da, oder?«

Sie seufzte wieder. Sie seufzte viel. Ich legte ihr die Hand auf den Unterarm. »Vertrau mir, du wirst bestimmt wunderschön darin aussehen!«

Jetzt atmete sie tief durch, und ich spürte, wie ihre Anspannung langsam wich.

Kleider, die nicht mehr glücklich machen – nach der Philosophie unzähliger Aufräumexpertinnen sollten sie weggeworfen werden.

Eines aber hatte ich in den letzten Jahren gelernt: Es ging nicht darum, ob Kleidung einen noch glücklich macht. Sondern warum nicht. Weil sie nicht mehr passt? Oder weil sie unmodern ist? Weil sie von vornherein ein Fehlkauf war? Oder weil man aus ganz anderen Gründen einen schlechten Tag hat?

All das sind Gründe, die Sachen nicht wegzuwerfen, sondern damit zu mir zu kommen. Oder sie zu verkaufen oder verschenken. Es gibt immer jemanden, für den sie ideal sind, und es gibt viele Möglichkeiten, sie über Kleinanzeigen im Internet oder bei Tauschpartys im Freundeskreis zu verschenken.

Kleidung wegzuwerfen ist für mich dasselbe wie Bücher wegzuwerfen: etwas, das einfach nicht geht.

Heute macht mich das Shirt vielleicht nicht glücklich, weil ich keine großen Ausschnitte mehr mag. Aber was, wenn ich das passende Top finde und ich mich in beiden zusammen ganz wunderbar fühle? Oder einen Stoff, mit dem ich den Ausschnitt perfekt verkleinern kann? Und wenn das Shirt bereits weggeworfen wurde? Dann kauf dir ein neues, sagt die Modeindustrie. Ich aber sage: »Wirf nicht alles sofort weg. Fast Fashion ist nicht nur die Ursache für schlimmste Arbeitsbedingungen, sondern auch eine Klimasünde«. Und sie ist, im Gegensatz zu vielem anderen, vermeidbar. Sechzig neue Kleidungsstücke kauft jeder Deutsche im Schnitt pro Jahr, mehr als ein Kleidungsstück pro Woche, das ist doch Wahnsinn.

Mir waren diese ganzen Aufräumgurus ein Graus. Ich liebte alte Dachböden, mit Sachen, die nach langer Zeit noch immer Bedeutung besaßen.

2

Clara

Als Merle eintraf, war ihr Shirt noch nicht fertig. Ich versteckte es schnell unter einem Stapel Stoff, schließlich wollte ich sie damit überraschen.

Wir hatten uns immer gut verstanden, aber seitdem ich in Würzburg wohnte, fühlte ich, dass sich eine Distanz zwischen uns aufgebaut hatte. Vielleicht weil der Kontakt zu Sonja enger als früher geworden war. Irgendwie stand ich genau zwischen den beiden, nicht nur altersmäßig.

Groß, schlank und sehr blond sah Merle ihrem Vater ähnlich, den Sonja als den größten Fehler ihres Lebens bezeichnete. Merle hingegen war Sonjas größtes Glück – hilfsbereit, vielseitig begabt und mit einem süßen Lächeln, das ihr jede Menge Trinkgelder einbrachte.

Leider kaufte sie davon gerne Markenklamotten. Im Moment war sie auf der Suche nach einem Abiballkleid. Mein Angebot, dass ich es ihr nähen könnte, hatte sie bislang geflissentlich ignoriert. Vielleicht überzeugte sie das Shirt vom Gegenteil. Ich würde zu gerne ihr Ballkleid schneidern, schließlich hatte ich für sie bereits als Zwölfjährige Babykleidchen genäht.

Sie setzte sich zu ihren Freundinnen Nora und Charlotte an einen Fenstertisch und redete übers Kolloquium, wie in Bayern das mündliche Abitur genannt wurde. War ich froh, dass das schon hinter mir lag.

Ich fand es großartig, dass Merle niemandem verheimlichte, dass ihrer Mutter nur ein Café gehörte und sie nicht Staatsanwältin war wie die Mutter von Charlotte oder Neurologin wie Noras Mutter. Ich wusste schließlich ganz genau, wie gemein Kinder sein konnten.

Solange Merle sich mit ihren Freundinnen unterhielt, räumte ich schnell die Geschirrspülmaschine aus. Dann begrüßten wir uns mit einer Umarmung, und ich konnte endlich meinen Plan für heute Morgen in die Tat umsetzen: zum Flohmarkt in die Mainwiesen radeln.

Der Nebel hatte sich verzogen, von den Mainwiesen aus sah man die Steinburg in den Weinbergen, und die Sonne zauberte allen Ausstellern und ihren Kunden ein fröhliches Lächeln ins Gesicht. Auf dem geteerten Festplatz und der angrenzenden Wiese am Mainufer standen die Autos, davor große Tische, soweit das Auge reichte. Für Sonja, die so gerne Krimis las, fand ich zwei Agatha-Christie-Bände, fürs Café einige Sammeltassen mit wunderbar gezeichneten Rosen, und ein altes Kinderbügeleisen als Deko.

Natürlich schaute ich mir auch die angebotene Kleidung an. Ich brauchte dringend Hemden-Nachschub für meine Babyschuhe und Lavendelsäckchen. Ich kannte kaum Männer, die Hemden trugen und mir die alten schenken konnten, und so durchforstete ich jede Kleiderstange, die ich finden konnte.

Und auf einmal hing da ein Kleid, das mich fast umhaute. Ein richtiger Hingucker, ein Wumms, ohne Zweifel.

Ein kurzes Hängerkleid aus cremefarbener Seide mit Pailletten auf dem Oberteil und einem Rock aus Glasperlenschnüren.

»Für’ n Fasching«, sprach mich der Verkäufer an. Glatze und ein schwarzes Shirt, das die Tattoos auf den Oberarmen kaum verdecken konnte.

Noch bevor ich es berührte, war mir sofort klar, dass das kein modernes Kostüm war, sondern ein historisches Kleid. Vergilbte Nähte. Keine aufgebügelten Glitzersteine aus Kunststoff, sondern aufgenähte Glasperlen in verschiedenen Größen und Längen. Aufgenähte Pailletten. Und als ich es berührte: schwere, reine Seide und kein Polyester. Das Kleid strahlte unglaublich viel Geschichte aus, als ob es mir alles erzählen könnte, von der Schneiderin bis hin zu den Hoffnungen, die mit ihm verbunden gewesen waren, und auch von den Enttäuschungen, die es erlebt hatte, denn sonst würde es ja nicht hier hängen, zwischen verblichenen Blusen und ausgewaschenen Jeansjacken.

Wie kam so ein Kleid auf einen Flohmarkt? Ausgerechnet in die pralle Sonne, das war gar nicht gut. Und dann die feuchte Luft, der morgendliche Nebel. Es gehörte doch eher in ein Museum.

»Oder vielleicht was für den Sport?« Der Verkäufer hielt mir einen schwarzen Trainingsanzug hin. »Fünfzig Euro.«

»Für das Kleid?«

»Nein, das kostet zwanzig.« Stolz auf sein hohes Angebot wippte er auf den Fußzehen. Er hatte überhaupt keine Ahnung, was das Kleid wert war.

»Der Trainingsanzug ist nagelneu«, betonte er sogar noch.

»Woher stammt das Kleid?«

»Ach, meine Frau ist zu dick dafür geworden.« Er grunzte, als ob er einen Witz gemacht hätte. Ich glaubte ihm kein Wort.

»Zehn«, sagte ich und griff nach meinem Geldbeutel.

»Fünfzehn«, wiederholte der Mann.

Ich streckte ihm die Scheine hin. Er nahm sie gierig und wollte das Kleid daraufhin achtlos in einen Plastiksack stopfen. Schnell hielt ich ihn davon ab, riss in den Plastiksack ein kleines Loch für den Bügelhaken und streifte ihn über Kleid und Kleiderbügel.

Das Fahrrad ließ ich stehen und trug das Kleid weg von den drängelnden Menschen mit Kaffeebechern und Zigaretten und hinein in die Straßenbahn.

Dieses Kleid war das Strahlende, auf das Sonja gewartet hatte. Das Besondere, das die Kundinnen in unseren Laden locken würde und sie womöglich dazu inspirierte, ihren eigenen alten Sachen eine zweite Chance zu geben.

Es erinnerte mich an die Kleider, die ich für die Theaterwerkstatt der Universität in Köln genäht hatte. Ich selbst habe nie studiert, aber Nicole, meine beste Freundin. Mit ihr zusammen war ich in der Schule in der Theater AG gewesen und hatte mich um die Kostüme gekümmert, und als sie dann an der Uni in die Theaterwerkstatt ging, fragte sie mich, ob ich nicht weiterhin die Kostüme nähen wolle. Und da ich die quirlige Atmosphäre während der Proben und der Aufführungen sehr mochte, hatte ich natürlich zugesagt.

Und dort hatte ich Finn kennengelernt.

Ich seufzte. So lange hatte ich nicht mehr an ihn gedacht, und jetzt gleich zweimal an einem Tag. Um mich abzulenken, berührte ich vorsichtig das Kleid, schloss die Augen und stellte mir vor, es in einer rauchgeschwängerten Bar zu tragen und Charleston zu tanzen. Meine Beine und Knie zuckten, und ich verspürte ein aufgeregtes, freudiges Prickeln. Ja, wer zuletzt dieses Kleid getragen hatte, der war glücklich gewesen.

Und war das nicht die Krönung, das Allerschönste, wenn man einzig mit Nadel und Faden und dem richtigen Stoff Menschen glücklich machen konnte? Für mich war es das größte Geschenk, eine Frau zum Strahlen zu bringen, ihr zu zeigen, wie schön sie war.

Nähen lernte ich im Kindergarten von meiner über alles geliebten Erzieherin Elif. Es begann mit kleinen Säckchen für den Adventskalender. Die anderen Erzieherinnen klebten die Säckchen mit Heißkleber zusammen. Elif aber nähte gerne, und ihre Stiche waren so klein und gleichmäßig, als sie die Filzquadrate mit buntem Garn aneinanderheftete. Stoffe liebte ich auch damals schon, und als sie mir erlaubte, Nadel und Faden zu benutzen, war der Samen meiner Liebe zum Nähen gesät worden.

Von da an verbrachte ich so viel Zeit wie möglich bei ihr, und sie zeigte mir, wie man mit einem bunten Faden, einer Sticknadel und einem Heftstich Bilder auf Karton stickte. Ich lernte sogar noch den Rückstich und genoss das Vertrauen, das sie in mich setzte: eine Nadel und eine Schere benutzen zu dürfen, denn ich war erst vier Jahre alt.

Als ich später Schneiderin werden wollte, waren meine Eltern nicht sehr begeistert davon. Wie alle Eltern wollten sie unbedingt, dass ich es besser hatte als sie. Frank, mein Vater, war Sanitärfachmann mit einem eigenen Geschäft und mehreren Angestellten, meine Mutter Jutta erledigte die Buchhaltung bei Lichterfelde Heizung Wasser Sanitär, und sie wollten unbedingt, dass ich Abitur machte und studierte. Doch auf dem Gymnasium hatte ich es schwer – die Tochter desjenigen zu sein, der verstopfte Toiletten reinigte, hatte mich viele blaue Flecke gekostet. Aber ich war stolz auf meine Eltern und ihre Arbeit, egal, wie eklig sie manchmal auch war. Nicoles Vater arbeitete als Urologe, so viel besser war das eigentlich auch nicht.

Von meinem Vater habe ich das abstrakte Denken geerbt und von meiner Mutter meine Rechenkünste. Schließlich geht es nicht nur um Mode und schöne Stoffe. Wer jemals einen Faltenrock aus Schottenkaro so zuschneiden sollte, dass auf jeder Falte das gleiche Karo zu sehen ist, der weiß, was ich meine. Dreidimensionale Vorstellungskraft und Kopfrechnen, um Konfektionsgrößen zu gradieren, Stoffverbrauch oder Arbeitszeit zu kalkulieren, dazu die Fähigkeit, eine Nähmaschine inklusive Elektromotor und Elektronengehirn bedienen und ggf. reparieren zu können – all das braucht man als Schneiderin.

Aber das Schönste ist das Gefühl des Stoffes. Weiche, kratzige, samtene, raue Stoffe und all die vielen Garne und Knöpfe. Es gibt Farben und Formen, Blumen und Zierkissen, Schals und Hüte. Schon als Kind musste ich immer alles anfassen. Ich begriff die Welt wortwörtlich – fühlte die Struktur des Materials, die Form, das Gewicht. Es gibt mehr als hart und weich, warm und kalt, leicht und schwer. Viel mehr.

Wenn ich einem Freund die Hand auf den Arm oder den Rücken lege, spüre ich sein Herz schlagen, fühle die Wärme seiner Haut und auch, wie er sich fühlt. Nicht nur anfühlt, sondern fühlt. Ich berühre die Menschen nur kurz, und sie berühren mein Herz.

Keine Ahnung, warum das so ist. Als Kind dachte ich, das sei normal. Ich legte meiner Mutter die Arme um den Hals und wusste, ob sie frustriert, gestresst oder glücklich war.

3

Clara

»Kommt mal mit!«, rief ich Sonja und Merle zu und trug mein Fundstück vorsichtig durch das Café ins Nähzimmer. Sonja ließ das Kuchenmesser sinken und folgte mir, Merle starrte weiter in einen großen Bildband.

Ich hängte den Plastiksack ordentlich an einen Haken, riss ihn vorsichtig oben auf und zog ihn langsam nach unten, bis ich das Kleid befreit hatte.

Die Seide schimmerte, die Glasperlen glitzerten im Licht der Lampen. Es sah noch so viel schöner aus als auf dem Flohmarkt. Und zerbrechlicher, denn jetzt erkannte ich kleine Löcher in der Seide, vor allem rund um die Perlen und Pailletten. Auch unter den Armen war die Seide dünn und verletzlich geworden.

Das Kleid sah aus, als wäre es gerade aus einem hundertjährigen Dornröschenschlaf geweckt worden, gut geschützt vor Licht und Motten (das Naphthalin der alten Mottenkugeln war noch immer zu riechen).

»Wow!« Sonja pfiff anerkennend durch die Zähne. Einige Gäste drehten sich zu uns um. »Wo hast du das denn her?«

»Vom Flohmarkt. Und, hat das Kleid nun Wumms oder nicht?«

»Auf jeden Fall«, flüsterte sie. Vorsichtig strich sie über die schmalen Träger, die Seide, die aufgestickten Perlen. »Häng es auf die Kleiderpuppe und stell es so hin, dass es jeder sehen kann. Du bist immer so schüchtern, was Werbung angeht. Von allein merken die Leute nicht, was du hier vorhast!«

Sie schob mir die mit schwarzem Samt bezogene Büste hin.

»Was willst du denn damit?« Auf einmal stand Merle neben mir und betastete die Perlenornamente. »Du wolltest doch mit Abendkleidern nichts mehr zu tun haben.«

»Ich liebe Abendkleider, ich finde es bloß idiotisch, wenn sie nur ein- oder zweimal getragen werden. Das ist eine unglaubliche Ressourcenverschwendung.«

»Bitte, halt mir nicht schon wieder einen Vortrag«, winkte Merle ab und ging wieder zu ihren Büchern zurück.

Hatte sie mich deshalb noch nicht gefragt, ob ich ihr Abiballkleid nähen wollte? Weil sie glaubte, ich hätte keine Lust dazu? Okay, das musste ich bei Gelegenheit mit ihr noch klären.

»Da hast du für uns ein wahres Prachtstück gefunden.« Sonja strich immer noch ehrfürchtig über die schwere Seide.

»Ich musste es retten, der Verkäufer hielt es für ein Karnevalskostüm! Einfach unglaublich.«

Ich war ganz aufgeregt. Als hätte ich einen Schatz gefunden. Ja, ich hatte das Kleid gerettet. Vor den groben Händen des Verkäufers, vor einer ungewissen Zukunft, vor Unwissenheit und Zerstörung.

Ich legte das Kleid erst mal auf den Schneidetisch und untersuchte es gründlich. Die Glasperlenschnüre waren mit der Hand angenäht, das sah man. Auch die Pailletten. Was für eine Arbeit! Heutzutage wurden sie maschinell angenäht, man konnte Paillettenstoff als Meterware kaufen. Und auf T-Shirts oder Blusen funkelten einzelne Hot-Glue-Steine, die man aufbügelte.

Ich öffnete an dem alten Kleid sehr, sehr vorsichtig die kleinen Perlmuttknöpfe am Rücken. Noch ein Hinweis darauf, wie alt das Kleid war, denn heutzutage würde man einen verdeckten Reißverschluss dort einnähen.

Die Seitennähte waren ungewöhnlich breit. Als wäre es mal enger gemacht und der nicht mehr benötigte Stoff nicht abgeschnitten worden, falls man es später wieder rauslassen müsste.

Auch der Rock war offensichtlich mal kürzer gemacht worden. Die Einstichlöcher sahen so aus, als ob eine ganze Reihe Perlenschnüre entfernt worden wäre. Jetzt war der Rock so kurz wie ein Mini aus den Sechzigern.

Sonja zog der Kleiderpuppe das blau geblümte Carmenkleid aus, und gemeinsam streiften wir ihr das Kleid über den nicht vorhandenen Kopf. Durch den schwarzen Samt schimmerte der cremefarbene Stoff noch intensiver als vorher.

Mein Mode-Geschichtsbuch stand neben den Schnittbüchern im Regal. Das schnörkelige Muster der Perlen und Pailletten erinnerten mich eher an die Zwanziger- als die Sechzigerjahre, auch damals endeten die Röcke bereits überm Knie.

Aber die abgebildeten Charleston-Kleider sahen anders aus. Ärmellose Hängerkleider mit breiten Trägern, ohne Taille und völlig gerade geschnitten. Sie waren aus bunter, durchscheinender Baumwolle, und man trug noch ein andersfarbiges Unterkleid darunter, sodass man mit wenigen Kleidungsstücken verschiedene Kombinationsmöglichkeiten hatte.

Spaghettiträger gab es bei den Charleston-Kleidern überhaupt nicht.

War es vielleicht doch noch nicht so alt?

Ich zog mein Smartphone aus der Hosentasche und schob die Schneiderpuppe ins Licht. Fotos von vorne und hinten, Vergrößerungen der Steine, der Nähte. Es war ein Traum.

Neue Gäste kamen, andere wollten gehen, Sonja musste sich wieder ums Café kümmern. Ich aber strich wieder und wieder mit den Fingern über die Seide und fühlte, wie mein Optimismus zurückkehrte. Hoffnung. Dieses Kleid würde neue Kundinnen anlocken. Vor langer, langer Zeit hatte es schon mal jemandem Glück gebracht. Wieder hörte ich Musik und stellte mir vor, in diesem Kleid zu tanzen.

Sollte ich es wagen und es einfach anziehen? Die Seide auf meiner Haut spüren, mich drehen, die Perlen schwingen lassen? Es war für eine kleine und schmale Frau genäht worden. Und ich war auch zierlich. Oder riskierte ich, dass es riss?

Hinter dem Nähzimmer war ein kleiner Raum für die Anprobe. Vorsichtig schob ich die Kleiderpuppe dort hinein und schloss die Tür. Dann zog ich meinen Rock und das Shirt aus und schlüpfte in das Kleid.

Es war schwerer als erwartet. Die Seide war kühl und anschmiegsam wie eine zweite Haut, und das Kleid passte wie angegossen. An die Knöpfe im Rücken kam ich nicht ran, ich drehte mich trotzdem im Kreis, bis die Glasperlenschnüre flogen, und fühlte mich wie Liza Minelli aus Cabaret. Oder eine Tänzerin aus Babylon Berlin. Mein Herz klopfte, alles war so aufregend! Zu dumm nur, dass die Träger ständig rutschten. Behutsam hielt ich das Oberteil fest und öffnete verstohlen die Tür, um Sonja oder Merle zu rufen.

Im Nähzimmer stand ein Mann in heller Jeans und weißem Shirt und drehte mir den Rücken zu. War das nicht …? Ein großer Mann mit breiten Schultern und einer schmalen Taille. Mein Herz klopfte stärker, dabei waren die Haare zu kurz. Braune Locken hatte er gehabt, durch die ich meine Finger gleiten ließ und die so wunderbar weich und doch widerspenstig gewesen waren. So wie er.

Ich seufzte. Das Kleid vernebelte mir noch ganz die Sinne.

Da drehte sich der Mann um, und mir stockte der Atem. Unwillkürlich hob ich die Hand und legte sie auf meinen Mund. Meine Finger berührten meine Lippen, als wünschte ich mir, er würde sie berühren. Er.

Finn.

Er war es tatsächlich. Finn, der mir das Herz gebrochen hatte.

Er streckte die Hand aus, deutete auf das Kleid und rief »Endlich!«

4

Finn

(Eine Woche früher)

Teller klapperten, ich schreckte auf. Wo war ich? Es roch nach Kaffee. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Buntstiftzeichnungen, Bücherregale und Zimmerpalmen. Natürlich, ich war bei meiner Schwester in Bonn auf dem gemütlichsten Sofa der Welt.

Und mit unerträglichen Kopfschmerzen.

Die Balkontür wurde geöffnet, kalte Luft drang herein. Vögel zwitscherten und ließen ahnen, dass es noch ein Leben außerhalb des dumpfen Gefühls in meinem Kopf gab.

»Finn, wollen wir draußen frühstücken?« Mit einem Glas Wasser und einem Tablettenblister in den Händen stand meine Schwester vor mir. Unwillig ergriff ich beides. Alice ging, ein Kinderlied vor sich hin summend, in die Küche.

Ich schaute die Tabletten skeptisch an. Aber wahrscheinlich war es besser, ich nahm sie. Ich hatte noch dreihundert Kilometer Autofahrt vor mir. Ich setzte mich auf und würgte eine Tablette mit sehr viel Wasser runter.

»Wieso bist du denn schon so unerträglich wach?«, rief ich.

»Ich habe halt nicht so viel getrunken wie du. Und Schlafentzug bin ich gewöhnt.«

Hatte ich den Gin etwa ganz allein ausgetrunken? Kein Wunder, dass mein Kopf zu zerspringen drohte. Aber der Abend mit meiner Schwester hatte mir gutgetan. Ich begriff langsam, dass die Welt nicht unterging, nur weil Diana mich verlassen hatte.

Als ich aufstand, wurde mir leicht schwindelig. Ich brauchte frische Luft.

Auf dem Balkon atmete ich tief durch. Die Morgensonne schien mir ins Gesicht, über den Balkonkästen tummelten sich die Hummeln, und im Hinterhof blühte der Flieder und erinnerte mich an eine Zeit in meinem Leben, als ein Fliederbusch direkt vor dem Schlafzimmer gestanden hatte.

Was sollte das denn jetzt? Wollte ich mir unbedingt noch mehr Schmerz zufügen, als ich durch Diana sowieso schon ertragen musste? Vorbei. Alles war vorbei.

Vor unserem Fenster blühte kein Flieder. Diana und ich wohnten, nein, hatten mitten in einer Baustelle gewohnt.

Jetzt war Diana ausgezogen, und ich lebte ganz allein dort, umgeben von Baukränen und Baggern, und das Einzige, wonach es roch, war Beton.

Auf dem kleinen Tisch standen bereits ein zur Hälfte geleerter grüner Smoothie und eine angetrocknete Schale Cornflakes. Die Reste von Patricks und Augusts Frühstück, nahm ich an. Ich trug beides zu Alice in die Küche.

»Wo sind denn die anderen?«, fragte ich.

»Na ja, es ist ja schon fast elf, wo werden sie schon sein? Patrick ist arbeiten und August in der Kita.«

Erstaunlich, dass mein dreijähriger Neffe mich hatte ausschlafen lassen. Er tobte sonst immer auf mir herum, während ich auf dem Sofa zu schlafen versuchte.

»Und wann musst du in die Buchhandlung?«

»Ich gehe heute später. Ich kann dich doch mit deinem Elend und dem Kater nicht alleinlassen!«

Sie legte mir die Hand auf den Unterarm und drückte ihn sanft. Ich nahm ihr den Korb duftender Croissants ab und ging nach draußen zu dem kleinen Tisch, auf dem bereits Butter und selbst gemachte Marmelade standen. Dann setzte ich mich auf einen der dunkelgrünen Metallstühle und massierte mir den Kopf.

»Hat Spaß gemacht, so viel über Diana zu lästern«, rief Alice aus der Küche.

Sie hatte Diana vom ersten Augenblick an nicht leiden können und gestern richtig abgelästert. Dabei war es leicht, sich über Diana und ihren Ehrgeiz lustig zu machen. Sie zu lieben war viel schwieriger gewesen. Wobei ich mich nach dem dritten Glas Gin gestern heftig gefragt hatte, wieso ich mir das überhaupt angetan hatte.

Aber ich wusste, warum. Ich war einsam gewesen und Diana verdammt attraktiv.

Als wir uns kennenlernten, erforschte sie für ihre Doktorarbeit an der Bonner Uni eine seltene Grippeart. Sie arbeitete unglaublich viel und vergaß dabei, dass man essen und schlafen musste. Und ich kümmerte mich gerne um sie. Gebraucht zu werden gab meinem Leben einen Sinn.

Alice stellte mir einen Kaffee hin. Schwarz wie die Nacht, sie wusste, wie ich ihn mochte. Jetzt noch zwei Löffel Zucker hinein, und der Tag begann allmählich.

Seit dem viel zu frühen Tod unserer Mutter hatte Alice mir immer geholfen, wenn es mir nicht gut ging. Einmal hatte ich mich sogar für mehrere Monate bei ihr verkrochen, aber sie hatte mich wieder auf die Beine gestellt. Zu gerne hätte ich mich ein weiteres Mal auf ihr weiches Sofa gelegt, die Decke über den Kopf gezogen und tagelang geschlafen, bis ich Diana vergessen hatte.

Aber jetzt ging das nicht mehr. Jetzt war ich kein Student mehr, sondern hatte einen Job.

»Und was machst du jetzt?«, fragte Alice.

Ich trank einen kleinen Schluck Kaffee. Mein Magen rebellierte nicht, sehr gut.

»Nach dem Frühstück fahre ich heim, ich arbeite gerade an einem Artikel über die Stadtleseaktion Würzburg liest ein Buch und interviewe heute Nachmittag eine Buchhändlerin aus dem Organisationsteam.«

»Nein, ich meine: mit dir! Willst du in Würzburg bleiben?«

»Mensch, Alice! Es ist gerade mal ein paar Tage her, dass Diana Schluss gemacht hat, und du überlegst, ob ich wegziehen soll? Findest du das nicht ein bisschen früh?«

»Nein.« Sie biss in ihr Croissant. »Ist Mimis Kleid denn noch da?«

»Welches Kleid?«

»Du weißt schon, das Charleston-Kleid aus Mimis altem Schrank.«

Mimi war unsere Urgroßmutter und wohnte bei uns, oder besser gesagt: Meine Eltern, Alice und ich wohnten bei ihr in der Jugendstilvilla mit der Fachwerkverzierung, dem knarzenden Parkett und den hohen Tannen vor den Sprossenfenstern. Mimi liebte es, wenn wir durchs Treppenhaus tollten. Und ich liebte sie. Nur Mimi schaffte es, mich zu trösten, wenn ich hingefallen war. Mimi mit dem Maiglöckchenduft und den vielen alten Kinderbüchern.

Und manchmal öffnete sie ihren trutzigen, alten Schrank, und wir durften Verkleiden spielen. Meine Schwester stolzierte dann in viel zu großen und zu hohen Schuhen vor dem fast blinden Türspiegel hin und her, eine Federboa um den Hals und einen Glockenhut auf dem Kopf. Und ich spielte mit dem Chapeau Claque, einem zusammenklappbaren Zylinder. Ich hatte noch immer das Geräusch im Ohr, wenn ich die Hutkrempe des Zylinders auf meinen Handballen schlug und er sich mit einem Plopp entfaltete.

Vage erschien ein glitzerndes Etwas in diesem Schrank vor meinem geistigen Auge. Wir hatten es bewundert, aber anziehen durfte Alice es nicht.

»Simone hat Diana das Kleid am sechzigsten Geburtstag von Papa ausgeliehen«, erklärte Alice.

Simone war die zweite Frau unseres Vaters. Da er sie aber erst kennengelernt hatte, als wir bereits erwachsen waren, war sie für uns nie eine Stiefmutter oder Mutter gewesen, sondern einfach nur Simone.

»Wieso hat Simone ausgerechnet Diana dieses Kleid ausgeliehen? Sie würde so was doch nie anziehen.«

»Keine Ahnung. Also, ist es noch da?« Alice schob eine Haarsträhne zurück in den Dutt auf ihrem Kopf.

»Die Schränke sind alle leer.« Die Trennung hatte Diana gut geplant und vorher bereits eine neue Wohnung gemietet, in die sie sehr schnell mit allem Wichtigen einzog.

Also schrieb ich Diana und fragte, wo Mimis Kleid sei.

Nach einem weiteren Espresso schauten Alice und ich entsetzt auf ihre Antwort.

Das ist weg. Zusammen mit all den anderen Sachen, die du mir mal geschenkt hast.

Die Erinnerungen an das Leben, das wir gemeinsam geführt hatten – im Müll? Wenigstens schrieb sie in einer zweiten Nachricht, sie hätte es mit anderen Altkleidern zur Caritas gebracht. Simone hätte es ihr geschenkt (was ich nicht glauben konnte), und es gäbe kein Gesetz, das ihr verbieten würde, Geschenke wegzuwerfen.

Gesetze vielleicht nicht. Aber Gefühle.

Die graue Autobahn stets im Blick träumte ich mich bei der Fahrt zurück in eine Zeit, in der ich Diana noch nicht gekannt hatte. Aber es tröstete mich nicht. Ich stellte die Musik lauter, dröhnte mich mit Green Day voll und fragte mich, wie es weitergehen sollte. Haus, Job und Leben, alles hatte von Diana abgehangen.

Es war mir leichtgefallen, mich nach ihren Karrierewünschen zu richten. Ich wollte kein Patriarch sein wie mein Großvater, nach dessen Pfeife alle hatten tanzen müssen. Auch mein Vater war nicht besser gewesen – meine Mutter hatte ihr Studium unterbrochen, als sie schwanger wurde, während er wie selbstverständlich weitergearbeitet hatte. Vom gemeinschaftlichen Teilen von Verantwortung war nie die Rede gewesen. Es war nur Mimi zu verdanken, dass meine Mutter ihr Pädagogikstudium später fortsetzte. Und dass er Alice und mich gegen unseren Willen nach dem Tod unserer Mutter ins Internat gesteckt hatte, hatte ich ihm sehr lange nicht verzeihen können.

Ich wollte eine gleichberechtigte Partnerschaft, und als Diana die Stelle am Institut für Virologie an der Universitätsklinik in Würzburg bekam, war es für mich selbstverständlich gewesen, dass wir gemeinsam umzogen. Ich wollte, dass sie glücklich war.

Und jetzt? Was sollte ich jetzt mit meinem Leben anfangen? Wieder nach Bonn, zu Alice? Oder nach Berlin, wo mir ein Freund seit Langem anbot, in sein Start-up mit einzusteigen?

Seit meinem Volontariat bei einem Pressebüro in Bonn, das sich auf Marketingkampagnen für Fernsehproduktionen spezialisiert hatte, arbeitete ich in Würzburg als freier Journalist für verschiedene Lokalzeitungen. Endlich konnte ich eigene Ideen entwickeln, war viel ungebundener und kreativer und durfte auch mal kritisch sein. Mir fehlte noch ein Netzwerk in der Lokalpolitik und der regionalen Kulturszene, aber ich war dran.

Trotzdem, ein Ortswechsel stellte eine verlockende Alternative dar. Irgendwo anders neu anzufangen lenkte ab, das hatte mir schon mal geholfen.

Ein Flugzeug flog sehr tief über die Autobahn, neben mir tauchte der Frankfurter Flughafen auf. Eine Reise, vielleicht wäre das das Richtige. Raus hier, weg von allem.

Ich fuhr weiter, an Frankfurt vorbei und durch den Spessart bis zum Main. Kurz vor der großen Würzburger Brückenbaustelle verließ ich die Autobahn und nahm den Stadtring quer durch die Stadt. Dann ging es die Rottendorfer Straße den Berg hoch, und schon tauchte der große gemauerte Torbogen am Eingang des Hublandes auf, dort, wo früher der Checkpoint der Leighton Barracks, einer amerikanischen Kaserne, gewesen war.

Jetzt wurde ein neuer Stadtteil daraus. In der einen Hälfte baute die Universität eine neue Mensa, zusätzliche Hörsäle und Forschungsinstitute. Auf der anderen Hälfte entstanden Reihenhäuser, Appartementanlagen, Studentenwohnheime und ein Seniorenstift. Viele alte Gebäude blieben aber stehen, der Tower zum Beispiel, das Kasino, sogar eine alte Tankstelle, in der während der Landesgartenschau im letzten Jahr eine Milchbar gewesen war.

Denn der ehemalige Flugplatz in der Mitte der Leighton Barracks war zu einem Park umgestaltet worden, was mir ganz besonders gut gefiel.

Unser Haus war das Erste, das fertig geworden war, obwohl der Erbauer mittendrin Pleite machte. Diana und ich kauften ihm das Haus ab, als nur noch der Innenausbau fehlte, und stellten es dann nach unseren eigenen Vorstellungen fertig.

Ein halbes Jahr hatten wir zusammen hier gewohnt. Ein halbes Jahr voller Streit. Dieses Haus schien wohl niemandem Glück zu bringen.

Der weiße Kubus im Bauhausstil sah wie ein Würfel aus. Es war ein Passivhaus, was mich von Anfang an fasziniert hatte. Diana war die Nähe zur Universitätsklinik wichtig gewesen.

Jetzt brauchte sie nur noch fünf Minuten zu Fuß zum Institut. Sie hatte sich eine kleine Wohnung in einem nichtssagenden Mehrfamilienhaus gemietet.

Ich schloss die schwarze Metalltür auf. Mir graute vor dem leeren Haus. Wenn sie sowieso alles wegwerfen wollte, wieso hatte sie es dann mitgenommen? Die ganzen Erinnerungen. Unsere Erinnerungen. Sie hätte die Sachen doch auch dalassen können.

Das Kleid.

Ich musste es finden. Diana konnte mich gerne verlassen, aber Mimis Kleid, das musste wieder her.

Auf dem Weg in die Buchhandlung ging ich beim Caritasladen gegenüber dem Juliusspital vorbei. Als ich der Verkäuferin mit den rosarot gefärbten Haaren das Kleid beschrieb, schüttelte sie leider den Kopf.

»Daran könnte ich mich erinnern. Und das wurde bei uns abgegeben?«

»Ja, in einem weißen Plastiksack mit anderen Sachen, die meine Freundin aussortiert hat.«

Sie schüttelte noch immer den Kopf. Ich schrieb Diana, sie antwortete wieder sofort, dabei war sie bestimmt gerade im Labor.

Die hatten geschlossen. Ich habe den Sack vor die Tür gestellt.

Die Verkäuferin zuckte nur mit den Schultern. »Das soll man halt auch nicht machen, dann kann ihn jeder mitgenommen haben. Wir sind hier mitten in der Stadt, gegenüber das Parkhaus, hier kommen viele Leute vorbei.«

»Aber wer stiehlt denn Altkleider?«, fragte ich fassungslos.

»Na, die sind doch Geld wert! Manchmal glaube ich ja, dass gezielt geschaut wird, ob bei uns oder den anderen Kleiderannahmestellen was rumliegt. Die guten Sachen landen dann auf eBay oder in irgendeinem Secondhandladen. Und was nichts wert ist, im Müll. Oder wieder bei uns.«

Mimis Kleid – auf eBay? Frustriert bedankte mich für die Hilfe.

Das Gespräch mit der Buchhändlerin über die Stadtleseaktion Würzburg liest ein Buch war sehr informativ. Noch hatte die AG nicht entschieden, welches Buch 2020 gelesen und im Mittelpunkt zahlreicher Veranstaltungen stehen sollte. Von den Büchern der engeren Wahl klang Die Frau ohne Reue von Max Mohr am interessantesten, ein fast vergessener Roman aus der Vorkriegszeit.

Neugierig kaufte ich mir eine antiquarische Ausgabe. Bei Ein Buch für die Stadt in Köln hatten sie immer aktuelle Bücher ausgesucht, aber mir gefiel die Idee, alte Geschichten vor dem Vergessen zu retten.

Auf dem Marktplatz setzte ich mich in ein Straßencafé und begann, Die Frau ohne Reue zu lesen. Der Roman spielte in den Zwanzigerjahren, und bei einer Szene in einem Berliner Nachtklub musste ich auf einmal wieder an Mimis Kleid denken.

Der Espresso kam, ich legte das Buch weg und zog meinen Laptop aus meinem Rucksack, um Mimis Kleid zu googeln. Zwar hatte ich noch immer kein präzises Bild vor Augen, war mir aber sicher, es zu erkennen, wenn ich es sah.