Sternenblütenträume - Ulrike Sosnitza - E-Book
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Sternenblütenträume E-Book

Ulrike Sosnitza

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Beschreibung

Nur wenn Liebe im Vertrauen wurzelt, kann sie zum Himmel wachsen

Die Hochzeitsfotografin Nina braucht eine neue Wohnung und einen neuen Mann. In dieser Reihenfolge. Seit sie wieder Single ist, lebt sie notgedrungen bei ihren Eltern, und das hält sie einfach nicht aus. Da trifft sie auf einer sonnendurchfluteten Lichtung im Wald auf den Schulsozialarbeiter Felix, der so gerne Bäume umarmt. Sie verliebt sich Hals über Kopf in ihn. Und er in sie. Alles ist perfekt. Sogar die riesige Narbe auf ihrem Bauch stört ihn nicht. Doch dann entdecken die beiden, welch schreckliches Geheimnis sie verbindet.

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Seitenzahl: 419

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Das Buch

Seitdem sie ihrem Freund den Laufpass gegeben hat, wohnt Nina wieder bei ihren Eltern. Als Hochzeitsfotografin liebt sie es, romantische Momente einzufangen, aber in ihrem eigenen Leben wollen sich die großen Gefühle einfach nicht einstellen. Bis sie eines Tages beim Joggen im Wald auf Felix trifft. Das ist sie: Die Liebe auf den ersten Blick! Von nun an treffen sich die beiden regelmäßig auf der Lichtung im Wald. Doch das Schicksal kennt keine Zufälle: Nina und Felix verbindet ein Ereignis, das ihr neues Glück für immer zerstören könnte …

Die Autorin

Ulrike Sosnitza, 1965 in Darmstadt geboren, durchstreifte als junge Frau gerne den Wald, um alte Bäume zu fotografieren. Heute liebt sie ihren Garten, auch wenn die Blumen dort meist nicht so wachsen, wie sie sich das vorstellt. Die frühere Bibliothekarin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Würzburg. Sternenblütenträume ist ihr vierter Roman bei Heyne.

Lieferbare Titel

Novemberschokolade

Hortensiensommer

Orangenblütenjahr

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Originalausgabe 03/2020

Copyright © 2020 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Anita Hirtreiter

Umschlaggestaltung: Martina Eisele Design, München,

unter Verwendung der Motive von:

Almay Stock Photo (LightField Studios Inc.);

Bigstock (RAndrey, Elisabeth Coelfen, Juliza71, one AND only, David Franklin Studio)

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-24825-3V001

www.heyne.de

Eine liebende Seele

ist unbesiegbar.

William Butler Yeats

Prolog

Friedlich schienen die Strahlen der Morgensonne durch die Äste auf die kleine Lichtung mitten im Wald. Die Buschwindröschen funkelten wie kleine Sterne, sogar der Tau auf den moosbewachsenen Steinen schimmerte.

Stille lag über allem. Niemand war da, kein Spaziergänger oder Förster. Kein Wildschwein, Reh oder Amsel, die unter dem Laub nach Würmern suchten.

Noch nicht einmal eine Biene summte über die Blüten hinweg.

Nur ein schmaler Trampelpfad führte hierher, und auch auf diesem wuchs ungehindert das junge Gras.

Als ob die helle Lichtung inmitten der schwarzen Baumstämme auf irgendetwas warten würde.

1

Meine Großeltern lernten sich über eine Zeitungsannonce kennen. Junge Frau für Fahrradtouren gesucht lautete sie. Sie waren zweiundfünfzig Jahre lang glücklich verheiratet, und das, obwohl meine Großmutter Radfahren nicht ausstehen konnte.

Ich suchte meinen Mann fürs Leben über eine Dating-App und ein Foto, auf dem ich aussah wie Mona Lisa mit blonden Haaren. Nina, 32 – Fotografin stand darunter. Anonym wie in der Nachkriegszeit war heute nichts mehr. Die Zeitungsannonce meiner Großeltern lag ausgeschnitten in unserem Familienstammbuch und sagte jedem, dass man die Hoffnung nie aufgeben sollte. Da draußen wartete der Mensch fürs Leben, man musste ihn nur finden, egal wie.

Und es funktionierte – meine Familie war riesig. Durch meinen Bruder war ich bereits zweifache Tante und genoss diese Rolle sehr.

Doch ich war Single. Schon wieder, seitdem ich René den Laufpass gegeben hatte. Vier Wochen war das her, vier Wochen und fünf Online-Dates. Und eine Wohnungsbesichtigung. Aber das hieß nicht, dass es leichter wäre, einen Mann als eine neue Wohnung zu finden, ganz bestimmt nicht. Es gab nur einfach mehr Singles als leer stehende Wohnungen.

René Bauer, der gut aussehende Erbe einer Pharmafirma. Wir hatten sehr viel Spaß zusammen gehabt, doch leider wollte er auch Spaß haben, wenn ich samstagabends arbeitete. Ich bin Hochzeitsfotografin, da bleibt das natürlich nicht aus. Und irgendwann erwischte ich ihn an einem dieser Abende mit einer anderen.

Kurz war ich verzweifelt, aber dann fielen mir die Zeitungsannonce und ihr Versprechen wieder ein. Ich hatte bereits Hochzeitspaare fotografiert, die sich per Dating-App kennengelernt hatten. Ganz unmöglich war das also nicht.

Und deshalb war ich an diesem Samstagabend im April, an dem ich ausnahmsweise mal keine Bilder eines glücklichen Paares machte, unterwegs ins Lemontree. Ein Blind Date per App. Wobei, blind war es nicht, er hatte ja mein Profilfoto gesehen. Und ich seins.

Darunter waren richtig professionelle Aufnahmen. Aber es gab auch misslungene Selfies im Spiegel, und manchmal auch von Körperteilen, über die ich hier gar nicht reden will. Die schob ich sowieso so schnell es ging nach links in den Papierkorb.

Wischte man ein Bild nach rechts, hieß es: Interesse. Wenn der andere darauf einging, ergab das ein »Match«. Und wie beim Tennis ging es dann hin und her. Meist fing der Mann mit irgendeinem Spruch an. Harmlos wäre: Hallo, du Schöne. Abschreckend: You wanna lick my dick? Möglichst mit Rechtschreibfehlern. Nicht jedes Match zündete. Und dann höre ich auch schon auf mit den Wortwitzen.

Simon fiel da angenehm auf. Von ihm stammte das Hallo, du Schöne. Bereits beim Chatten hatten wir uns gut verstanden, was nicht oft der Fall war. Ja, ich hatte sogar richtig laut lachen müssen, obwohl ich gerade im Supermarkt an der Kasse gestanden hatte.

Telefoniert hatten wir auch bereits, aufgrund von ein paar Textnachrichten traf ich mich mit niemandem. Manchmal lief so ein Telefonat merkwürdig ab, man fiel sich ins Wort, missverstand sich oder schwieg sich unangenehm an.

Mit Simon hatte es gut funktioniert. Jetzt war ich gespannt, wie er wirklich war, denn das konnte man nur im echten Leben feststellen.

Einmal war mein Date nicht erschienen, ein anderes Mal hatte er sich als Raucher entpuppt oder war irgendwie merkwürdig gewesen. Dann verabschiedete ich mich mit einem »Tut mir leid, aber ich glaube, mit uns beiden, das wird nichts«, und gut war’s.

Alle waren auf schnellen Sex aus. Ich nicht, ich lernte die Männer gerne vorher kennen, weswegen Amira, meine beste Freundin (Kategorie »glücklich verheiratet«), mich bei der Dating-App völlig fehl am Platz sah. Egal, wie oft ich auf die Familientradition hinwies. Sie wollte immer wissen, wen ich wann traf, und rief mich nach einer Stunde an, um Hilfe anzubieten. Die ich bislang nie gebraucht hatte.

Sex, einfach so, das war nichts für mich. Ich lernte denjenigen gerne besser kennen, bevor ich ihm meine innersten und äußersten Geheimnisse anvertraute. Ach, was hieß hier Geheimnis: Ich brauchte ja nur mein Shirt auszuziehen, schon sah jeder sofort, weswegen ich meinen Körper nicht leiden konnte. Denn ich sah aus, als wäre ich wie eine Weihnachtsgans einmal längs aufgeschnitten worden. Die Narbe war siebenundzwanzig Zentimeter lang, und ich hasste jeden einzelnen davon.

Im Lemontree war es dunkel, die Tische verbargen sich in einem Dschungel aus Zimmerpflanzen, nur in der Mitte funkelte ein bunt angestrahlter Zitronenbaum. So sah also das neue und total angesagte thailändische Restaurant Talburgs aus.

Kaum dass ich Simon gesehen hatte, schlug mein Herz wie verrückt. Er war mein absoluter Traumtyp: leicht gewellte dunkelbraune Haare, ein schmales Gesicht, Dreitagebart. Muskeln unterm Hemd. Ziemlich viele Muskeln, wie man auf seinen Fotos hatte sehen können.

Ich strich mir die Haare auf die linke Seite, obwohl sie da bereits gelegen hatten.

Er stand zur Begrüßung auf, umarmte leicht meine Schultern, hauchte zwei Küsse in die Luft und roch dabei nach einem Aftershave, das mir die Sinne schwinden ließ.

Er lobte mein sexy Outfit. Ich trug Jeans und ein sonnengelbes Oberteil, dazu Ballerinas. High Heels und Miniröcke waren nicht so meine Sache. René hatte das immer dazu gereizt, mir hautenge Etuikleider und teure Schuhe zu schenken, die ich dann doch nicht anzog. Und erst recht zu keinem Online-Date, weswegen das sexy Outfit entweder kritisch oder ironisch gemeint war.

»Ein Prosecco?«, fragte er, als die Bedienung bei uns auftauchte.

»Lieber einen Gin Tonic.« Ich stellte gerne von Anfang an klar, dass ich selbst wusste, was mir schmeckte. Wobei es vielleicht keine gute Idee war, direkt mit Gin anzufangen, denn ich vertrug nicht viel Alkohol.

»Okay«, sagte er verwundert und bestellte sich auch einen.

Simon war der Typ Supersportler. Triathlon, Surfen auf Hawaii, so was. Beiläufig erzählte ich von meinem geplanten Marathon, auch wenn ich zurzeit kaum dafür trainierte.

Ich suchte mir ein reines Gemüsecurry aus. Simon zog fast unmerklich die Augenbrauen hoch und wählte für sich Schweinefilet mit Erdnusssoße und gebratenen Nudeln.

»Machst du Diät?«, fragte er skeptisch. »Das hast du doch gar nicht nötig.«

Ehrlich gesagt konnte ich mir nicht vorstellen, wie meine Riesennarbe auf Speckröllchen aussehen würde. Ich war schon immer schlank gewesen und wollte es unbedingt bleiben. Also ja: Ich war eine von diesen Frauen, die auf ihr Gewicht fixiert sind. Aber ich fand, dass ich einen Grund dazu hatte.

Wir tranken, lachten über unsere Witze. Wir liebten die gleichen Filme und hatten an den gleichen Orten Urlaub gemacht. Ich versank in seinen kaffeebraunen Augen und vergaß die Welt um mich herum.

Einmal glaubte ich, dieses typische Geräusch zu hören, das die App machte, wenn ein Match sich gefunden hatte. Ich hatte den Ton ausgeschaltet, aber um uns herum an den anderen Tischen waren so viele junge Leute, irgendeiner von ihnen war bestimmt gerade online. Ein komisches Gefühl, hier zu sitzen und Augen nur für den aufregenden Mann vor sich zu haben, und im gleichen Moment sah sich vielleicht dieser dicke Kerl dort an der Theke mein Profilfoto an.

Wieder dieses Ping. Ziemlich nahe. Wieso schalteten die Leute denn nicht ihr Handy stumm?

Da ging Simon auf die Toilette.

Und kam nicht wieder.

Die Bedienung fragte, ob sie abräumen durfte. Ich überlegte, ob ich Simon auf der Toilette suchen sollte. Ob ihm etwas passiert war?

Ich griff zum Smartphone, keine neue Nachricht. Schaute aus dem Fenster.

Und da ging Simon mit einer Blondine im Arm am Restaurant vorbei. Sie trug einen hautengen Minirock und ein ärmelloses Chiffonoberteil, bei dem man durch die Armlöcher ihren BH sehen konnte. Sie steckten die Köpfe eng zusammen, seine Hand um ihre Taille wanderte gerade Richtung Busen.

Offensichtlich hatte er ein anderes Date gefunden. Eines, das ihm besser gefiel als ich. Das letzte Ping, das ich gehört hatte, war einfach verdammt nahe gewesen.

»So was ist mir noch nie passiert«, beklagte ich mich, als ich kurz darauf bei Amira auf dem Sofa saß, ein Kissen auf dem Bauch und in der Hand einen weiteren Gin Tonic. Ihr Laptop stand aufgeklappt auf dem Sofatisch, daneben lagen ein Gesetzestext und ein Bilderbuch über Bauernhoftiere.

Amira, Anwältin, Mutter und beste Freundin seit Grundschulzeiten.

»Ach, Nina, das tut mir so leid«, meinte sie und legte ihren Arm um mich. »Auf so einer App melden sich doch sowieso nur Loser an.« Sie drückte mich so eng an sich, dass ihre dunklen Locken an der Wange kitzelten.

»Anders lernst du keine Männer mehr kennen. Die schauen alle nur noch in ihr Handy.« Ich trank den Gin in einem Zug aus.

»Du solltest die Trennung von René erst mal verarbeiten«, sagte sie und nippte an ihrem Glas.

»Ich will aber auch nicht alleine sein, Amira.«

»Und was ist, wenn es funkt? Wo willst du dann mit ihm hin? Vielleicht solltest du dich mehr um ein neues Apartment als um einen neuen Mann kümmern.«

»Ein Mann ist aber leichter zu finden als eine Wohnung.«

Sie grinste. »Da hast du recht. Nur mal so für eine Nacht probewohnen geht nicht.«

»Schade auch.« Ich lächelte zurück. »Dann wüsste man wenigstens, wie laut es nachts ist und ob die Nachbarn nett sind.«

Sie gluckste. »Wohnungs-One-Night-Stands – das wäre doch mal ein Markt.«

»Mit Schlafsack auf dem Boden schlafen?«

»Nein, die müssten dann möbliert sein!«

Unser Gelächter wurde immer lauter.

»Pst«, zischte es da vom Esstisch. David, Amiras Mann, Richter am Landgericht, saß gebeugt über Stapeln von Papieren. »Seid leiser, ihr weckt Adile ja noch auf.«

So war es, das traute Familienleben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Samstagabends wurde gearbeitet, um die Schulden fürs Eigenheim abbezahlen zu können. Oder onlinegedatet (gibt es das Wort überhaupt?). Und alle haben Angst, das Kind zu wecken, für das es die Online-Dates und das Eigenheim überhaupt gibt.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Eltern beim Feiern früher darauf Rücksicht genommen hatten, ob ich wach wurde oder nicht. Aber ich konnte mich daran erinnern, wie es gewesen war, von Gelächter aufzuwachen, sich leise ins Wohnzimmer zu schleichen und zuzusehen, wie die Erwachsenen redeten, rauchten und tranken. Und wie ich mir vorstellte, selbst irgendwann so alt zu sein, um mitten in der Nacht Chips essen zu dürfen.

Ich zog mein Handy hervor und zeigte Amira die Männerliste des Dating-Portals. Sie nahm es mir ab und wischte sich selbst durch die Liste, wobei sie zum Glück immer alle Typen nach links schob.

»Die kannst du echt vergessen«, meinte sie kichernd.

»Zeig mal.« David beugte sich über mein Smartphone.

»Den kenne ich«, rief er auf einmal. Ein rothaariger Mann mit dunkler Brille und breitem Lächeln.

»Ach, das ist der neue Anwalt von Wagner & Klemm«, bestätigte Amira. Sie hob den Finger. »Rechts oder links?«

»Ist er nett?«, fragte ich zurück.

»Von Familienrecht hat er jedenfalls keine Ahnung«, sagte David.

»Das ist doch super, wenn du dich später von ihm scheiden lassen willst«, sagte Amira. »Dann mache ich ihn so richtig schön fertig.«

Neu in der Stadt und für jeden Unsinn zu haben, stand unter seinem Profilfoto.

»Vergiss ihn. Anwälte kenne ich schon genug.« Belustigt nahm ich ihr das Handy wieder ab.

Mein Glas war leer, wir füllten nach, und David ließ endlich seine Akten Akten sein. Irgendwann vergaß er auch, dass wir leise sein sollten. Wir lästerten über all die schiefgegangenen Online-Dates, aßen Chips, und ziemlich spät lief ich die wenigen Blocks nach Hause zu meinen Eltern.

Denn dort wohnte ich, seitdem ich bei René ausgezogen war.

2

Meine Eltern nannten mich Bumerang, und das nicht, weil ich nach dem Abitur ein Jahr lang als Au-pair in Sydney gearbeitet hatte, was sich genauso toll anhört, wie es letztendlich gewesen war. Nein, sie nannten mich Bumerang, weil ich mal wieder mit gepackten Koffern vor ihrer Tür gestanden hatte, um mich traurig in mein Bett mit der Diddl-Decke und dem Spice-Girls-Poster darüber zu verkriechen.

Wieso hatte ich eigentlich geglaubt, das mit René könne gut gehen? Wenn noch nicht mal Omas altes Sofa in seinem Loft stehen durfte. Ein Loft, so riesig wie die Halle eines Flughafens, inklusive kalten Steinbodens und enttäuschter Hoffnungen.

Vorbei. Das Leben war zu kurz für schlechte Laune. Und deshalb überwand ich am nächsten Morgen meine Müdigkeit, schleppte mich in die Garderobe und zog meine Laufschuhe an.

Oskar, unser Labradoodle mit dem grau-weißen Kuscheltierfell, lief auf mich zu und legte seinen Kopf auf meinen Schoß. Er sah mich traurig an, und ich knuddelte ihn gehörig. Zum Laufen konnte ich ihn nicht mehr mitnehmen. Hüftarthrose.

Meine Mutter folgte ihm. Babette trug bereits ihre rote Schürze, sonntags kochte sie gerne groß, probierte neue Rezepte aus. Es war auch der einzige Tag in der Woche, an dem mittags gegessen wurde. Entweder schmeckte das Essen so gut, dass man den ganzen Tag zum Verdauen brauchte, oder es war so katastrophal, dass wir abends Pizza bestellten.

Bekocht zu werden war natürlich der Vorteil eines Bumerangs. Aber die Fürsorge meiner Mutter war wie eine Hängematte, in der ich es mir schon viel zu gemütlich machte. Stets war der Kühlschrank gefüllt und die Wäsche gewaschen. Ich musste ihr förmlich den Putzlappen aus der Hand nehmen, um mir nicht wie ein Schmarotzer vorzukommen! Wie sie das alles neben ihrem Job als Sekretärin im Büro des Oberbürgermeisters von Talburg schaffte, würde mir immer ein Rätsel bleiben.

Da ich nicht kochen konnte, lud ich meine Eltern ab und an sonntags in ein Restaurant ein. Zwar massakrierte Babette mich stets beinahe mit ihren Blicken, probierte das Essen beim Vietnamesen oder Franzosen dann aber doch gerne.

Meine Mutter aß und kochte so gerne, dass sie ständig über ihre Figur klagte. Dabei sah sie immer gleich aus – gemütlich, rund und voller Energie. Die Haare kurz und blond, im Büro mit Rock oder Hosenanzug, zu Hause in Jeans und Shirt. Weil sie ihre Jeans so lange trug, bis sie Löcher bekamen, konnte sie gar nicht so viel zunehmen, wie sie sich stets beklagte. Sonst bräuchte sie ständig neue.

Doch ich wusste, warum sie jammerte. Mein Vater umarmte sie dann und küsste sie und flüsterte ihr so laut Komplimente ins Ohr, dass mir als Teenager immer übel davon geworden war.

Jetzt summte sie leicht vor sich hin und verschwand in der Abstellkammer neben der Garderobe.

»Wie war es denn gestern?«, rief sie von innen.

»Ganz gut«, antwortete ich und fragte mich, woher meine Mutter von dem Date wusste, das natürlich alles andere als ganz gut gewesen war.

»Hattest du Erfolg?« Sie kam mit einem Beutel Kartoffeln wieder. »Mir wäre das ja zu laut.«

Im Lemontree? Ich hatte doch gar nichts erzählt!

Sie sah mich an und lächelte. »Die Wohnung! Neben der Margaretenkirche! Woran hast du denn gedacht?«

»Ach so.« Ich atmete auf. Natürlich. Gestern war ja die erste und einzige Wohnungsbesichtigung bislang gewesen.

»Keine Chance. Frisch renovierter Altbau, du glaubst gar nicht, wie viele Leute sich da übers polierte Parkett geschoben haben.«

»Irgendjemanden müssen sie doch aussuchen, und wieso nicht dich? Du hast einen festen Job, keine Haustiere oder lauten Kinder. Außerdem bist du Nichtraucherin!«

Ich schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Ich habe gesehen, wie ein älterer Mann dem Vermieter einen Umschlag zugesteckt hat.«

»Wie meinst du das – einen Umschlag?«

»Da war garantiert Geld drin. So, wie die beiden sich dabei ständig umgedreht haben. Bestechungsgelder. Um die Wohnung zu kriegen.«

»In Talburg? Und der Makler hat das angenommen?«

»Sah jedenfalls so aus. War aber kein Makler, sondern der Eigentümer.«

»Wenn das mein Chef wüsste. Kaum darf Talburg sich wegen des einhunderttausendsten Einwohners Großstadt nennen, tauchen schon deren Nachteile hier auf. Bestechung! Was meinst du denn, wie viel da drin war?«

»Ist mir egal, das mache ich sowieso nicht. Und einen Vermieter, der so was annimmt, will ich gar nicht haben. Das sieht doch nur nach Ärger und ständigen Mieterhöhungen aus. Nein danke.«

»Unglaublich.« Sie fischte auch noch eine Packung Linsen vom Regal. »Keine Angst, du findest bestimmt was. Heute Mittag gibt es erst mal was Gutes zu essen.« Sie lächelte verschmitzt. »Und mit wem warst du gestern Abend aus?«

»Mama!«

»Ja, ich weiß, es geht mich nichts an.«

»Ich war bei Amira. Und ich habe mein Handy bei ihr vergessen, deshalb muss ich jetzt erst mal zu ihr. Wann ist das Essen denn fertig?«

»So gegen zwei, vielleicht auch später, ich probiere heute mal Niedrigtemperaturgaren aus. Das dauert noch mindestens drei Stunden.«

»Super, dann habe ich ja Zeit.«

Mein Handy irgendwo liegen zu lassen war mir schon lange nicht mehr passiert. Eigentlich war ich gut organisiert – gab pünktlich meine Steuererklärung ab und ging zweimal im Jahr zum Zahnarzt. So viel Gin hatte ich doch gar nicht getrunken.

Zu Schulzeiten hatte Amiras Familie im Tal gewohnt, in einer Sozialbauwohnung. Jetzt war ihr Zuhause oben am Hirschberg, im allerneuesten und sehr begehrten Baugebiet. Meine Eltern lebten noch immer dort, wo ich aufgewachsen war, in einer Vierzimmerwohnung in einem Mehrfamilienhaus.

Ich dehnte mich und lief langsam den Berg hoch zu Amiras Reihenhaus mit der rosafarbenen Zierkirsche. Und kaum dass ich die Klingel neben der Eingangstür gedrückt hatte, strahlte mich Adile an, zuckersüße drei Jahre alt.

Wie Amira hatte sie dunkle Locken, doch ihre Augen waren blau wie Davids. Sie winkte mir zur Begrüßung mit einer weißen Federboa zu, die mich dunkel an ein altes Faschingskostüm erinnerte.

»Morgen«, grüßte Amira mich wacher, als ich mich fühlte. Und ich hatte bestimmt länger als sie geschlafen. Adile war berüchtigt dafür, morgens um sechs hellwach zu sein. Zum Glück brauchte Amira verdammt wenig Schlaf.

»Ich habe mein Handy vergessen.« Ich hob Adile zur Begrüßung hoch und schmatzte ihr einen dicken Kuss auf die Wange.

Wir gingen rein, es duftete nach Kaffee, und Adile quengelte nach »Papa«, aber David war nirgends zu sehen.

»ABBA«, sagte Amira da, »die Band heißt ABBA.«

Ich prustete leise los. Amira grinste mich an. »Sie kann gar nicht genug von den alten Sachen kriegen!«

Sie tippte auf ihr Handy und sofort erklang aus ihrem Bluetooth-Lautsprecher das Klavierintro von Dancing Queen, dazu diese wunderschönen Stimmen und den Rhythmus, bei dem man nicht stillsitzen kann.

Adile wedelte mit der Federboa. Dancing Queen, Lebenslust pur.

Ein Blick von Amira, und wir gingen aufeinander zu und tanzten wie Agnetha und Anni-Frid. Wie damals als Teenager, die dunkle Amira und ich mit meinen langen blonden Haaren. Wir sangen laut und schief, Bananen vom Frühstückstisch wurden zu Mikrofonen, wir drehten und streckten uns und endeten lachend auf dem Sofa.

Als Nächstes kam Waterloo, Adile hüpfte wieder los, wir beide aber blieben erschöpft liegen.

»Und du willst noch laufen gehen?«, fragte Amira. »Du machst doch jetzt schon schlapp.« Sie hielt mir die Banane unter die Nase.

»Von wegen.«

»Dann nimm wenigstens Adile mit.« Die sprang weiterhin wie ein junges Reh rund ums Sofa. »Ich hätte da noch ein paar Akten durchzuarbeiten!«

Als Amira und ich klein waren, hätte ich nie gedacht, dass sie Mutter wird. Anwältin, das auf jeden Fall. Für die Rechte anderer hatte sie immer gekämpft, viel lieber, als Vater-Mutter-Kind zu spielen. Das war eher meine Vorliebe gewesen. Manchmal, in schlechten Momenten, war ich verdammt eifersüchtig und neidisch auf Amira und ihr Familienglück.

»Wo ist denn David?«, fragte ich.

»Der sitzt oben unterm Dach und bereitet seine morgige Gerichtsverhandlung vor. Gestern Abend ist er ja nicht fertig geworden.« Sie boxte mich sanft in die Seite. »Dein Telefon liegt auf dem Schuhschrank. Erstaunlich, dass du es so lange ohne ausgehalten hast.«

»Als ob ich da ständig reinschauen würde!«

Sie wog den Kopf hin und her. »Entweder suchst du dort nach Wohnungen oder nach Männern. Dann noch deine Social-Media-Accounts, mit denen du deine Fotos vermarktest. Chats mit deinen Freundinnen.«

»Mit dir!«

»Na ja, ab und zu.«

»War ganz gut, dass das Handy nicht da war. Sonst hätte ich gestern Abend diesen Mistkerl gestalkt.«

»Dann tu es jetzt auch nicht.«

Ich stand auf, holte mein Smartphone und steckte es in meinen Armgurt. Dann noch die Kopfhörer in die Ohren, fertig.

»Pass auf dich auf«, rief Amira mir hinterher, als wäre ich Adile. Was sollte beim Joggen schon passieren?

Die Wege durch die Felder am Hirschberg oberhalb von Talburg waren maßlos überfüllt. Sonntag und strahlender Sonnenschein, kein Wunder, dass so viele Familien unterwegs waren. Es schmerzte, all die glücklichen Menschen zu sehen. Arm in Arm, Händchen haltend, lachend, fröhlich. Ständig kam ich aus dem Tritt, wenn mir mal wieder ein Kind vor die Füße lief. Auch ohne auf meine Pulsuhr zu schauen, wusste ich, dass er zu hoch war.

Vor allem, wenn ich an Simon aus dem Lemontree dachte. Was für eine Schmach. Ich sollte das Online-Daten wirklich sein lassen! Wer brauchte schon Männer? Ich brauchte eine Wohnung, und zwar dringend.

Voraus lag der Talburger Forst. Normalerweise lief ich wie die meisten Spaziergänger rechts am Waldrand entlang. Doch je näher ich dem Weg in den Wald kam, desto mehr reizte es mich, dort zu laufen. Die Sonne durchflutete die kahlen Bäume, es war viel heller als erwartet. Und es war leer.

Dabei lief ich gar nicht gerne alleine im Wald. Aber der Weg war frisch gekiest und ohne Schlaglöcher. Auf dem Feldweg kam mir bereits wieder eine Familie entgegen, dieses Mal mit frei laufendem Hund, der auf kein Kommando hörte.

Im Wald blühten die ersten Bäume und dufteten süß. Wie eine Verlockung, der ich nicht widerstehen konnte.

Die Musik schaltete ich aus, damit ich hören konnte, falls mir irgendjemand folgen sollte. Dann atmete ich tief durch und lief los. Bald hörte ich die Kinder nicht mehr nach dem Hund schreien. Hörte kein Auto der nahen Landstraße, hörte gar nichts mehr, nur Hummeln und Vögel. Und ein Flugzeug weit über mir.

Natürlich erschrak ich sofort, wenn es im Laub raschelte. Oder mir selten mal Spaziergänger entgegenkamen. Aber mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, dass es nie still war. Die unbelaubten Baumkronen bewegten sich leicht im Wind, es rauschte und knackte immer irgendwo. Ein Vogel, der nach Würmern suchte, eine Maus, wer wusste das schon?

Je länger ich lief, desto mehr fiel mir die Luft auf. Sie war so viel besser als auf dem Feld. Feuchter und würziger. Manchmal duftete es nach Pilzen, und an einem Platz, an dem Holz geschlagen worden war, ganz intensiv nach Tannennadeln. Wie an Weihnachten.

Es war lange her, dass ich im Wald gewesen war. René wollte unbedingt auf Asphalt für den Marathon trainieren, »Wettkampfbedingungen«. Mir war das egal gewesen.

Je sicherer ich mich in der ungewohnten Umgebung fühlte, desto mehr schaute ich mich um. Nach einer Weggabelung wurde es auf einmal dunkel, hier wuchsen hohe Nadelbäume. Ein Gebiet kleiner Tannen war eingezäunt. Ob hier Weihnachtsbäume gezüchtet wurden?

Die unterschiedlichsten Hochsitze für die Jäger standen nahe am Weg. Futterstellen für die Waldtiere konnte ich jedoch keine sehen, die waren bestimmt abseits der beschilderten Wanderwege.

Bald hatte ich keine Lust mehr, auf dem Hauptweg zu bleiben, und bog in einen kleineren Weg ab. Hier musste ich auf Wurzeln achten. Zum Glück hatte es nicht geregnet, und die Erde war trocken.

Der Weg wurde schmaler. Wieder bog ich ab, keine Ahnung, warum gerade hier und jetzt, der Weg sah so vertraut aus. Die Bäume standen immer dichter, Misteln hingen in den Wipfeln. Und voraus eine weitere Schonung dunkler Nadelbäume.

Doch was war das, das helle Licht? Langsam näherte ich mich. Breite Strahlen, die auf eine kleine Wiese deuteten und alles hell erleuchteten. In den kahlen Bäumen zeigten sich erste zarte Blätter, an den Baumstämmen wuchs Moos. Hellbraunes Laub vom letzten Jahr lag auf dem Boden. Winterdunkle Tannennadeln und weiß blühende Bäume davor.

Als ich in der Mitte der Lichtung ankam, blieb ich stehen. Wie friedlich es war! Völlig abgeschieden von der Welt, ihren Problemen und ihrer Hektik. Aber nicht alleine, nein, ich fühlte mich nicht alleine.

Für einen Moment hatte ich geglaubt, alles wäre still. Doch dann setzte ein Chor aus Vogelgezwitscher und Insektenbrummen ein. Ein Specht trommelte an einen Baum, Schmetterlinge tanzten direkt vor mir, ich entdeckte Hummeln auf Veilchenbüscheln und kleinen weißen Blumen, deren Namen ich nicht kannte.

Und diese bemoosten Baumstümpfe waren keine Baumstümpfe, sondern Steine, im Kreis stehende Steine. Was war das hier, Stonehenge? Was für ein Unsinn.

Es gab so viel zu entdecken. Saftig gelben Löwenzahn, Brennnesseln, das erste Gras. Langsam ging ich umher, mein Puls beruhigte sich.

Dann setzte ich mich neugierig auf einen der Steine, schloss die Augen. Immer ruhiger wurde ich, aber ich schlief nicht ein. Ich lauschte auch nicht mehr. Oder dachte an René oder das miese Date. Nein, da war einfach gar nichts mehr, und ich fühlte mich so unendlich geborgen inmitten von allem, dem Moos, dem Stein, dem weichen Waldboden voller Laub und Zweige, den Sträuchern, dem süßen Duft der Baumblüte. Den riesigen Bäumen mit ihren Ästen hoch oben am Himmel.

Auf einmal knackte es. Ich öffnete die Augen. Ein Mann kam mir entgegen, ein junger Mann in Jeans, einem graublauen Shirt und Turnschuhen.

Doch ich hatte keine Angst.

3

Felix

»Wieso hast du dich nur so verändert, Felix?« Meine Mutter betrachtete kopfschüttelnd mein verwaschenes Shirt und die ausgefranste Jeans.

»Alles verändert sich«, antwortete ich.

»Früher hättest du nie Socken mit Löchern getragen!« Sie streifte ihren Trenchcoat mit den goldenen Knöpfen über. »Du hättest Karriere gemacht, so wie dein Vater!«

»Nicht schon wieder, Rebekka.«

»Wenigstens heiratet Julia jetzt diesen Arztsohn. Aber du …« Sie schaute mit hochgezogenen Augenbrauen auf den Heizkörper mit der abblätternden Farbe und auf die Flecken auf dem Laminat.

Zum Glück hatte sie die Wohnung nicht gesehen, bevor ich eine neue Küche eingebaut und die Wände gestrichen hatte. Auf dem Laminat, das war Nagellack von meiner Vorgängerin, der ging nicht raus und störte mich überhaupt nicht. Sie dagegen, sie sah immer nur die Fehler und nicht die Möglichkeiten.

»Ich nehme den Koffer«, sagte ich. Er war groß genug für eine Woche Urlaub, dabei war sie bloß eine Nacht hier gewesen. Dann hielt ich ihr die Tür auf.

»In Frankfurt gab es wenigstens einen Aufzug«, meckerte sie weiter und ergriff ihre glänzende Lederhandtasche.

Vor dem Haus parkte ihr schwarzer SUV. So viel Glück konnte nur Rebekka haben – und glauben, es sei ganz normal. Das Ploppen der Zentralverriegelung ertönte, ich öffnete die Heckklappe und verstaute den Koffer.

Mit verkniffenem Mund sah sie zu meinem Haus hoch, einem vernachlässigten Mehrfamilienhaus mit extrem hässlichen türkisfarbenen Streifen mitten in Talburgs beliebtestem Studentenviertel.

»Willst du nicht wieder in die Bank zurückkommen? So als Sozialarbeiter verdienst du ja gar nicht genug.« Sie öffnete die Fahrertür. »Frag doch deinen Vater, der kann das bestimmt regeln!«

»Rebekka, das meinst du nicht ernst, oder?«

»Und wieso sagst du immer Rebekka zu mir? Ich bin deine Mutter und nicht irgendeine dahergelaufene Rebekka!«

»Du wirst nie irgendeine dahergelaufene Rebekka sein.« Ich ging einen Schritt auf sie zu und küsste sie leicht auf die gepuderte Wange.

»Irgendwann musst du mit deinem Vater wieder reden, Felix. Mir zuliebe!«

»Fahr vorsichtig!«, antwortete ich.

Und endlich war sie weg, und ich hatte mein Leben wieder für mich alleine.

Nur einen Tag mit meiner Mutter zu verbringen machte mich völlig fertig. Sie trauerte alten Zeiten nach, als ob sie gut gewesen wären. Vielleicht für sie – für uns Kinder nicht. Meine beiden großen Schwestern und ich waren vor dem elterlichen Einfluss geflohen, und jeder von uns dreien redete entweder nicht mehr mit ihr oder mit Konstantin, meinem Vater.

Bis meine mittlere Schwester Julia sich verlobte und jeden Ärger vergaß, bloß damit sie nicht ohne Eltern feiern musste.

Schnell lief ich nach oben, packte meine Sporttasche und verließ ebenfalls das Haus, um im Fitnessstudio meine verkorkste Kindheit zu vergessen.

Der Opel sprang nicht an. Ich redete ihm gut zu, drehte wieder und wieder den Schlüssel um, bis er endlich startete. Dann verband ich mein Handy mit dem Autoradio und suchte eine Playlist mit südamerikanischem Bossa Nova aus. Sofort besserte sich meine Laune. Die Sonne kam raus, ich atmete durch und entspannte mich.

Ich war so froh, nicht mehr in Frankfurt zu wohnen. Alles dort hatte mich an mein verlogenes Leben als Investmentbanker erinnert, in dem die Gier nach Geld die Hauptrolle spielen sollte, so wie mein Vater es mir vorgelebt hatte. Dieser ewige Wettstreit um seine Gunst und die höchsten Abschlüsse und Boni – hier in Talburg war ich endlich frei davon.

Ich wohnte im Burghof, einem Stadtteil hinter dem Schloss. Etwas, das mich von Anfang an fasziniert hatte, denn: In Talburg gibt es keine Burg. Die war anscheinend irgendwann durch das Schloss ersetzt worden. Bis auf ein Pharmaunternehmen gab es kaum Industrie, die Universität war der größte Arbeitgeber. Ein Drittel der Einwohner Talburgs waren Studenten, etwas, das mir von Anfang gut gefallen hatte. Viele Studenten, das hieß, dass immer etwas los war.

Und wenn sich dann wie heute die Sonne in den Fenstern des Schlosses spiegelte, Familien mit ihren Kindern durch den Park flanierten und die Studenten am Flussufer Frisbee spielten, dann liebte ich diese Stadt, in der ich jetzt seit einem halben Jahr wohnte.

Auf dem Weg zum Fitnessstudio musste ich lange an der Ampel vor der Friedensbrücke warten. Eine Gruppe Jugendlicher mit Baseballkappen, Hoodies und engen Hosen, die die nackten Knöchel zeigten, wartete auf der anderen Straßenseite auf die Fußgängerampel.

Einer davon kam mir bekannt vor. Der mit den abstehenden Ohren. Marlon.

Mein Job, den Rebekka so schrecklich fand, war der eines »Übergangsmanagers«. Ich half Hauptschülern, einen Ausbildungsplatz zu finden. Einen Platz in der Gesellschaft, ein Ziel für ihr Leben. Bei mir hatte das alles lange gedauert. Dieser Job, der war mein Ziel. Den jungen Leuten, Kindern noch, Wissen und Kraft dafür zu vermitteln, wie sie ihr Leben gestalten konnten.

Marlon war der Kleinste in seiner Klasse, mager und dann diese Segelohren. Ohne Freunde. Das typische Opfer. Und er war mit dieser Gruppe Älterer unterwegs? Immer wieder schaute er vorsichtig zu dem offensichtlichen Anführer in einer knallroten Lederjacke und einem Bier in der Hand.

Es war noch nicht mal zwölf Uhr. Und die Jungs noch keine sechzehn.

Die Fußgängerampel wurde grün, Marlon blieb stehen, die Jungs gingen weiter und kümmerten sich nicht um ihn. Gehörte er gar nicht dazu? War das nur ein Zufall? Er stand noch immer, als ich an ihm vorbeifuhr.

Eigentlich kannte ich den Weg zum Fitnessstudio. Aber als ich dann an der großen Straßenkreuzung stadtauswärts links ins Gewerbegebiet abbiegen musste, war ich so in Gedanken, dass ich weiter geradeaus auf die Bundesstraße fuhr. Es war, als läge dort mein Ziel, als ob ich keine Wahl hätte. Als ob da etwas auf mich warten würde.

Nach einiger Zeit ging es den Hirschberg hinauf bis zur Abzweigung in den Talburger Forst. Die Bundesstraße war gesperrt. Komplett. Asphaltierungsarbeiten. Zum Wenden war kein Platz. Also musste ich der Umleitung folgend auf der schmalen Straße durch den Wald fahren.

Ich mochte die Strecke nicht, schaltete die Musik aus und fuhr die engen Kurven so langsam, dass der Fahrer eines Kleintransporters hinter mir zu hupen anfing. Egal. Da, ein kleiner Parkplatz, ich bog ab. Der Kleintransporter raste an mir vorbei.

Ein grüner Jeep stand auf der Seite. Ich parkte vor der Wanderkarte. Hinter dem Zaun wuchs ein alter Baum mit knorrigen Ästen, größer als alle anderen im Umkreis. Ich betrachtete ihn lange, starrte auf die brüchige Borke voller Verletzungen und stieg dann aus.

Die Büsche im Unterholz trugen ihr erstes Grün und sahen so ganz anders aus als der dunkle Baumriese. Fröhlicher. Ich atmete tief durch, schloss den Wagen ab und lief, ohne mich groß umzusehen, einfach den Weg in den Wald hinein.

Ob Marlon wieder Probleme hatte? Erst vor Kurzem hatte Ricki, ein älterer Mitschüler, ihn drangsaliert und geschlagen. Sogar sein Handy hatte Ricki ihm abgenommen, so war es auch rausgekommen. Eine Mitschülerin hatte bemerkt, wie er sich über irgendetwas auf Marlons Handy lustig gemacht hatte. Er hatte einen Verweis bekommen, aber Marlon war noch immer der Loser der Klasse. Doch bei den Schülern auf der Straße eben war Ricki nicht dabei gewesen.

Zu gerne wüsste ich, in was für Parallelwelten Marlon unterwegs war, wenn er in der Pause ganz alleine auf dem Hof saß und in sein Handy starrte.

Immer tiefer und tiefer lief ich. Auf einmal registrierte ich, wie schön der noch winterkahle Wald war. Was für eigenwillige Formen die Zweige und Äste hatten. Eine Birke und ein weiß blühender Baum wuchsen so eng, dass die Stämme sich aneinanderlehnten, als ob sie alleine nicht stehen könnten. Die ersten Blumen blühten bereits, Vögel zwitscherten, und auf einmal konnte ich wieder richtig durchatmen.

Immer weiter ging es, ich bog nach Lust und Laune ab, hoffentlich fand ich später den Rückweg. Aber ein kurzer Blick auf Google Maps zeigte mir, dass sogar der kleine Waldweg hier verzeichnet war.

Die Wege wurden schmaler, meine Gedanken ruhiger. Irgendwann dachte ich nicht mehr an Marlon. An meinen Vater und an Julia. Oder an den alten Baum. Ich dachte an gar nichts mehr, sondern hörte den Vögeln zu, dem leisen Rauschen der kahlen Äste weit oben in den Baumkronen.

Da, eine sonnenbeschienene Lichtung. Wie verzaubert ging ich immer weiter darauf zu. Vor einer Wand aus dunklen Nadelbäumen lag sie friedlich und einladend da.

Inmitten der vielen Braun- und Grüntöne des Waldes war ein sonnengelber Fleck. Eine Elfe? Aber wir waren in Talburg und nicht bei Tolkien in Mittelerde.

Eine Frau. Sie trug ein gelbes T-Shirt und ihr Smartphone am Oberarm. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden, jetzt konnte ich auch noch die schwarze Funktionshose und orangefarbene Laufschuhe erkennen. Sie saß auf einem Baumstumpf, und um sie herum flatterten weiße Schmetterlinge.

Die junge Frau war wunderschön. Alles an ihr strahlte wie die Sonne, als ob es nur ihretwegen so hell auf dieser Lichtung war.

Sie beobachtete mich ohne Scheu, ohne die geringste Regung. Hoffentlich hatte sie keine Angst vor mir. Verständlich wäre es, schließlich war ich irgendein Fremder, ein Mann, den sie alleine mitten im Wald traf. Welche Frau hätte da keine Angst?

Ob ich sie anlächeln durfte? Lieber nicht. Das wirkte bestimmt sehr aufdringlich. Am besten, ich ging einfach weiter und erschreckte sie nicht. Aber sie sah gar nicht ängstlich aus, sondern beobachtete mich mit einem Blick, der mich verzauberte. Er ging mir durch und durch, voller Wissen, Güte und einer unwahrscheinlichen Anziehungskraft. Und Freude. Sie schien zu lächeln, obwohl sie keine Miene verzog.

Vorsichtig setzte ich mich ihr gegenüber auf einen der Steine auf das weiche und trockene Moos. Wieder schaute ich zu ihr.

Und als sie mir in die Augen sah, da verliebte ich mich in sie.

4

Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Ich blieb einfach sitzen, sagte nichts, stand nicht auf, lächelte nicht, wie man es bei Fremden in Bus oder Bahn macht, wenn man sich wegen der ungewohnten Nähe gut mit ihnen stellen will.

Er war groß, hatte kurze blonde Haare, die über der Stirn abstanden und in der Sonne leuchteten.

Er beobachtete mich genauso wie ich ihn. Als er den Steinkreis erreicht hatte, setzte er sich mir gegenüber. Scheu sah er kurz zu mir rüber, mit einem Blick, der mich direkt ins Herz traf, ernst und tief. Dann schloss er die Augen.

Was war das nur mit ihm? Wie konnte ein Fremder mich derart berühren? Er sah völlig normal aus, war auf die nette Art unrasiert, sein Shirt verwaschen, genauso wie die Jeans, aber nicht ungepflegt. Eher gemütlich. An seinen ausgetretenen Sneakers hingen Erde und Laub.

Und doch fühlte ich mich zu ihm hingezogen.

Nach wie vor flatterten Schmetterlinge in der Sonne, nach wie vor zwitscherten die Vögel. Der Mann war hier angekommen wie ein Blatt, das vom Baum geweht liegen bleibt und mit der Landschaft verschmilzt, als wäre es schon immer da gewesen.

Da schloss auch ich wieder die Augen und lauschte dem Konzert der Waldvögel und meinem eigenen Herzschlag.

Als ich die Augen öffnete, befand ich mich alleine im Wald. War ich eingeschlafen? Verwundert stand ich auf. Meine Muskeln waren ganz kalt, ich wärmte mich mit einigen Übungen wieder auf und lief langsam auf der Suche nach dem richtigen Weg nach Hause. Es war ganz einfach, eigentlich erstaunlich, so oft, wie ich nach Lust und Laune abgebogen war, aber ich erkannte hier einen alten knorrigen Baum wieder, dort gestapeltes Kaminholz und an anderer Stelle ein Wanderschild.

Oskar empfing mich schwanzwedelnd, aus der Küche duftete es bereits verführerisch nach in Butter angeschwitzten Zwiebeln. Alltag, ganz normaler Alltag, während ich noch völlig erfüllt war von der würzigen Luft des Waldes und der Begegnung mit dem Fremden.

Wie ein scheues Tier hatte er sich genähert, wie ein Hase oder ein Fuchs, hatte sich im Sonnenschein kurz ausgeruht und war dann wieder seiner Wege gegangen. Ich hatte ihn noch nie vorher gesehen, und wahrscheinlich würde ich ihn auch nie wiedersehen. Eine Zufallsbegegnung. So, als ob man in der Stadt aneinander vorbeilaufen würde. Auch wenn es sich anders anfühlte.

Meine Mutter rief, dass das Essen noch eine gute halbe Stunde dauern würde, und ich verzog mich ins Bad.

Als ich das Handy aus dem Armgurt nahm, fiel mir sofort eine neue Mail ins Auge. Deprimierende Nachrichten eines Maklers.

Auf dem Symbol der Dating-App prangte eine rote Drei. Drei Matches. Aber ich hatte keine Lust, sie mir anzusehen.

Der niedrig gegarte Zwiebelrostbraten verging wie Butter auf der Zunge. Dazu gab es Spätzle und Linsen, und meine Mutter schaute ganz glücklich, als ich mir den Teller üppig voll füllte. Charlie, mein Vater, brummte selig, es war sein Lieblingsessen genauso wie meines. Wir hatten überhaupt vieles gemeinsam – wir waren beide Fotografen.

Bereits als kleines Mädchen hatte es mich fasziniert, wie in der Dunkelkammer auf einem weißen Papier plötzlich die Schatten und Umrisse von Dingen und Menschen erschienen, die ich vorher mit einer alten Kamera fotografiert hatte. Schwarz-weiß, natürlich, und analog. Mitte der Neunziger konnte man zwar schon digital fotografieren, aber nur mit teuren Spiegelreflexkameras, die kein vernünftiger Mensch einer Achtjährigen in die Hand gedrückt hätte.

Mein Vater hatte immer darauf geachtet, mich die Grundlagen zu lehren. Von Elektronik hielt er für Anfänger nichts. Dafür war mir sehr schnell der Zusammenhang von Blende, Zeit und Lichtempfindlichkeit klar gewesen.

»Für die Wohnung in der Süd-West-Stadt stehe ich auf der Warteliste«, sagte ich mit vollem Mund, weil es einfach viel zu gut schmeckte.

»Warum suchst du dir nicht was weiter weg?« Mein Vater sah mich über die Gläser seiner Brille hinweg an und wirkte strenger, als er eigentlich war. Er war genau wie Oskar: grau, gemütlich und knuddelig. In Babettes selbst gestrickten Pullovern bestätigte er jedes Klischee, dass Hund und Herrchen sich ähnelten.

»Weiter weg? Du meinst, die Wohnung ist zu nahe an der Fabrik von René?« Die FKB Pharma AG nahm einen Großteil der Süd-West-Stadt ein, aber das war mir egal. Renés Büro war trotzdem sehr weit weg. Eine Wand riesiger Wohnblocks trennte die Fabrik vom Wohnviertel mit den kleineren Häusern.

»Ja, Hamburg. München. Berlin! Du warst doch so glücklich, als du Assistentin von Ferdinand Frank wurdest und dem großen Werbefotografen über die Schulter schauen durftest! Was ist aus deinen Zielen geworden? Willst du auf ewig hier versauern?« Er führte eine ziemlich volle Gabel Linsen zum Mund und schaute dann an sich hinab. »Mist.« Ein Soßenfleck zierte seinen Pulli.

»Versauern?«, fragte ich, während er mit der Serviette auf dem Fleck rumwischte.

»Na ja, die Arbeit bei mir im Fotostudio, das ist doch alles völlig unter deinen Möglichkeiten!« Schwungvoll warf er die Serviette auf den Tisch.

Meine Mutter rollte mit den Augen. »Zieh ihn am besten sofort aus, der Fleck muss eingeweicht werden.«

»Nach dem Essen«, murmelte er und befüllte die nächste Gabel mit Linsen. »Passbilder, Nina? Ich dachte, du würdest Preise gewinnen und berühmt werden!«

»Papa, du weißt doch, wie sehr ich die Arbeit als Hochzeitsfotografin liebe! Meine Kunden an diesem emotionalen Tag zu begleiten … früher hatte ich mir nicht vorstellen können, wie inspirierend das ist und wie viel Spaß das macht! Menschen lesen, den richtigen Moment erwischen. Kreative Spontaneität und keine perfekt geplanten Produktfotos!«

»Ich hasse Hochzeiten.« Charlie nahm sich eine weitere Gabel voll.

»Deshalb bin ich ja da, Papa.«

»Das Studio hat doch keine Zukunft.«

»Von wegen. Lass mich nur machen, Papa …«

»Nein. Ich will nicht. Und noch gehört das Geschäft mir. Du bist noch so jung! Und ungebunden! Geh raus in die Welt! Als Fotograf muss man viel gesehen haben.«

»Und was ist mit Australien? Und Marokko während des Studiums? Den anderen Reisen? Außerdem lebe ich gerne in Talburg. Du bist ja schon fast wie René, der wollte auch, dass ich bei dir im Studio aufhöre.«

Er sah mich erstaunt an.

»Er wollte nicht, dass ich am Wochenende arbeite«, erklärte ich.

»Er hat doch selbst am Wochenende gearbeitet!«

»Eben. Es ging um Kinder.«

Meine Mutter hob den Kopf. »Bist du schwanger?«

»Nein, mein Gott. Wir haben uns über Babys gestritten, die noch gar nicht gezeugt waren.«

»Der beste Zeitpunkt«, sagte mein Vater sarkastisch.

»Du willst doch aber ein Kind, oder?«, fragte meine Mutter. »Willst du René nicht noch eine Chance geben?«

»Das ist nicht dein Ernst, Mama!« Ich konnte nicht glauben, dass sie das ernsthaft vorschlug, und rührte Zucker in meinen Cappuccino, ein bisschen jedenfalls.

»René war doch ein Idiot«, sagte Charlie. »Wie der immer mit seinem Geld angegeben hat.«

»Hat er gar nicht!«, warf Babette ein.

»Ist doch egal, oder?«, sagte ich. »Er hat mich betrogen, und offensichtlich nicht nur das eine Mal, als ich ihn erwischt habe. René ist Vergangenheit.«

Mein Vater hatte das Fotostudio zusammen mit Ilona aufgebaut, der Mutter meines Halbbruders Sascha. Ilona war auch Fotografin gewesen. Als sie ungeplant schwanger wurde und beide heirateten, hielt die Ehe leider nur ein Jahr.

Sascha war ganz in Ordnung. Er war elf Jahre älter als ich und arbeitete als Chemiker bei der FKB Pharma. Wir verstanden uns gut. Nur René, von dem hielt er nichts. Wie recht er doch gehabt hatte!

Von Ilona stammte noch immer die Schaufensterpuppe, die wir als Deko im Aufnahmestudio stehen hatten. Früher hatten die Auszubildenden an ihr das Beleuchten gelernt.

Natürlich sah das Studio nicht mehr aus wie damals, alles in Weiß mit orange gemusterten Tapeten, Teppichen und Lampen. Die jetzige Einrichtung aus Buchenholz war zeitloser, aber mittlerweile auch schon zwanzig Jahre alt. Nach wie vor gab es die großen Schubladen, in denen früher die Taschen mit den Fotoabzügen der Kunden gelagert wurden. Waren sie jemals voll gewesen? Schon damals gab es die ersten Online-Shops, aber mein Vater hatte sich die virtuelle Welt eindeutig nicht vorstellen können.

Wenn ich daran denke, wie Papas Website ausgesehen hatte, als ich hier anfing: ein grellbunter Haufen blinkender und uralter Informationen. Jetzt war sie schlicht und weiß, und unsere Brautpaare kamen wegen ihr oder meines Instagram-Accounts, bei dem ich mittlerweile über 5000 Follower hatte.

Heute war Laufkundschaft selten. Die meisten kamen wegen der Passbilder.

Wenn meinem Vater der Laden nicht gehören würde, könnten wir uns die Miete bestimmt nicht mehr leisten.

Am liebsten würde ich nur noch Hochzeiten fotografieren. Ich liebte das Flair der Gefühle, die Freude und die vielen Menschen. Als Fotografin war man ganz nahe dabei, wenn die Brautschuhe angezogen wurden oder der Vater des Bräutigams dessen Krawattenknoten richtete. Hochzeitsfotografie war sehr intim geworden, viel persönlicher als früher. Kein Wunder, dass ich später auch die Babys meiner Brautpaare aufnehmen durfte.

Charlie war doch eigentlich immer ein guter Fotograf gewesen, ein Vorbild für mich. Aber in letzter Zeit, da war irgendwie der Wurm drin.

Als ich am nächsten Morgen eine dieser alten Schubladen im Laden öffnete, war nichts drin außer einem Stapel unbenutzter Papierbeutel, in die früher die Filme gesteckt und alles zusammen ans Labor geschickt wurde. Und als ich die Schublade schloss, brach der Griff ab.

Hier musste sich etwas ändern, und zwar dringend. Es waren ja nicht nur die leeren Schubfächer, sondern auch die Regale, in denen früher Kameras auf Kunden gewartet hatten, die schon seit Langem lieber in den Elektronikfachmarkt gingen. Oder gleich im Internet bestellten.

Eine neue Einrichtung würde meinem Vater frischen Schwung verleihen.

Da kam er mit dem Kalender in der Hand aus dem Büro.

»Lass uns mal die Termine für die nächste Zeit abstimmen«, sagte er. »Kannst du die Schöppenstedts am Donnerstag übernehmen?«

Er wirkte alt und kraftlos. Waren seine Arme nicht dünner geworden?

»Nina!«, rief er, und Oskar schaute von seinem Lieblingsplatz hinter der Theke zu mir auf.

»Was?«

»Die Schöppenstedts! Hörst du mir eigentlich zu?« Er blickte mich vorwurfsvoll an. »Wo warst du denn gerade in Gedanken?«

»Nirgends«, wiegelte ich ab, als die Glocke ertönte, Oskar aufsprang und neugierig einem schmalen Jungen in einer viel zu großen Jeansjacke entgegentrottete.

»Guten Morgen«, begrüßte ihn mein Vater mit seiner lauten Bass-Stimme. Der Junge zuckte zusammen.

»Ich mach das schon«, flüsterte ich. Charlie ging durch die Tür hinter der Theke zurück ins Büro.

Ich lächelte den Jungen an, er nahm seinen Rucksack ab. Er sah süß aus mit seinen Knopfaugen und den großen, abstehenden Ohren. Oskar schnüffelte an seinem Hosenbein und schaute ihn hinter seinen langen Ponyfransen an, doch der Junge reagierte nicht.

»Sag es einfach, wenn ich helfen kann.«

Ohne irgendeine Reaktion starrte er die Fotos auf der gegenüberliegenden Wand an. Meine Trauring-Galerie.

Ich rief Oskar zurück, klappte den Laptop auf und klickte auf den Terminkalender. Für die Schöppenstedts am Donnerstag hatte ich keine Zeit, da hatte ich ein Fotoshooting mit einer Indie-Gitarristin.

Auf einmal stand der Junge vor mir und flüsterte irgendetwas Unverständliches. Ich fragte nach. Er wiederholte es.

»Kann … Praktikum …?«, war alles, was ich verstand.

»Ja, natürlich bieten wir Praktikumsplätze an.« Ich lächelte ihn an, er aber schaute lediglich auf die Theke.

»Auf welcher Schule bist du denn?«

»… Schlehenhecke.«

»Ah, die Hauptschule! Ihr macht immer eine Woche Praktikum in der siebten Klasse, oder?«

Er räusperte sich und sah mich ganz kurz an. »Ich bin in der Achten.«

Dann sackte er wieder etwas zusammen.

»Natürlich, du bist ja auch viel zu groß für die Siebte! Hast du deine Bewerbungsunterlagen dabei?«

Er reichte mir eine weiße Plastikmappe. Die Lehrer legten Wert darauf, dass die Schüler eine ausführliche Bewerbung schrieben. Nur so konnten sie es lernen.

Ich schlug die Mappe auf. Der Junge hieß Marlon Hernández.

»Und du fotografierst gerne, Marlon?«, fragte ich, da hörte ich meinen Vater demonstrativ husten.

»Ja«, sagte Marlon.

»Dann schauen wir uns die Mappe an und melden uns bei dir, okay?«

Marlon ging einen Schritt rückwärts. Oskar stand noch immer mitten im Raum, der Junge wäre beinahe über ihn gestolpert. Er sah ihn an, als hätte er ihn eben erst so richtig wahrgenommen, dann lächelte er sanft.

»Ist das Ihr Hund?«, Er beugte sich zu Oskar und strich ihm vorsichtig über den Kopf.

»Ja, wir wollen ihn tagsüber nicht allein lassen.«

Oskar schmiegte sich an Marlons Bein, damit dieser ihn noch mehr streichelte. Er konnte da sehr ausdauernd sein. Zum Glück liebten ihn unsere Kunden.

Marlon jedoch machte einen Schritt Richtung Tür, Oskar hinter ihm her, bis Marlon ihm wieder über den Kopf strich.

»Der sieht aus wie ein Kuscheltier.«

»Na komm, mein Alter, lass Marlon mal in Ruhe, der muss zur Schule.« Ich schnalzte kurz, Oskar trottete zu mir.

Und Marlon ging ohne ein weiteres Wort.

»Ich will keine Praktikanten, die stehen nur im Weg rum«, rief mein Vater vom Büro aus. Ich nahm die Mappe und ging zu ihm, Oskar hinter mir her.

Unser Büro war ziemlich groß. Früher hatte hier die Druckmaschine gestanden, davor war es das Fotolabor gewesen. Heute reichte für alles ein PCund ein Fotodrucker, der kaum größer als ein normaler Papierdrucker war. Trotzdem war der Raum angefüllt mit Dias und alten Fotoalben, die digitalisiert werden sollten. Bilderrahmen lehnten für den Verkauf an einem Haufen Kartons und anderem Zeugs, das sich über die Jahre angesammelt hatte und entsorgt gehörte. Das Wichtigste war sowieso das Regal, in dem unsere Kameras, Objektive und Blitzgeräte fein säuberlich auf ihren Einsatz warteten.

Die Kaffeemaschine musste daher auf der Fensterbank röhren. Ich nahm mir eine Tasse und schenkte mir etwas ein, dazu viel Milch und Zucker. Mein Vater kochte immer unglaublich starken Kaffee.

»Jeder fängt mal klein an.« Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schlug die Mappe auf.

»Wenn der noch nicht mal die Zähne auseinanderkriegt, um Guten Morgen zu sagen!«, brummte er.

»Du kannst ihm ja die richtigen Umgangsformen beibringen.«

Marlon war vierzehn Jahre alt, in Spanien geboren worden und lebte seit seinem zweiten Lebensjahr in Talburg. Als Hobby hatte er einen Instagram-Account angegeben. Mehr nicht.

»Wenn du ihn einstellen willst, kannst du dich auch um ihn kümmern, ich habe genug anderes zu tun.«

Ich liebte meinen Vater. Aber diese abwiegelnde Stimme, die mich wie ein kleines Mädchen behandelte …