Hortensiensommer - Ulrike Sosnitza - E-Book
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Hortensiensommer E-Book

Ulrike Sosnitza

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Beschreibung

In einem Regentropfen kann sich ein ganzer Garten spiegeln

Ob Schneerosen, Taglilien oder Anemonen – im malerischen Sommerhausen verzaubert Johanna kahle Gärten in duftende Paradiese. Seit einem tragischen Ereignis lebt sie alleine in einem viel zu großen Haus und vermietet die Einliegerwohnung an Philipp mit dem Panamahut. Nur zögernd freunden sie sich an. Als Philipp beginnt, ihr vorzulesen, schleicht sich langsam die Liebe in ihr einsames Herz. Im Mai dann erklingt Kinderlachen im Garten und Philipp stellt Johanna seine kleine Tochter vor, woraufhin sie entsetzt flüchtet. Als Philipp den Grund für Johannas Verhalten erfährt, setzt er alles daran, sie wieder zum Strahlen zu bringen ...

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Das Buch

Ob Schneerosen, Taglilien oder Anemonen – im malerischen Sommerhausen verzaubert Johanna kahle Gärten in duftende Paradiese. Seit einem tragischen Ereignis lebt sie alleine in einem viel zu großen Haus und vermietet die Einliegerwohnung an Philipp mit dem Panamahut. Nur zögernd freunden sie sich an. Als Philipp beginnt, ihr vorzulesen, schleicht sich langsam die Liebe in ihr einsames Herz. Im Mai dann erklingt Kinderlachen im Garten und Philipp stellt Johanna seine kleine Tochter vor, woraufhin sie entsetzt flüchtet. Als Philipp den Grund für Johannas Verhalten erfährt, setzt er alles daran, sie wieder zum Strahlen zu bringen ...

Die Autorin

Ulrike Sosnitza, 1965 in Darmstadt geboren, liebt ihren Garten, auch wenn die Blumen dort meist nicht so wachsen, wie sie sich das vorstellt. Die frühere Bibliothekarin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Würzburg. »Hortensiensommer« ist ihr zweiter Roman bei Heyne.

Lieferbare Titel

Novemberschokolade

ULRIKE SOSNITZA

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Originalausgabe 04/2018Copyright© 2018 by Ulrike SosnitzaCopyright © 2018 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Friederike ArnoldCovergestaltung: Eisele Grafik Design, München unter Verwendung von Bigstock (swkunst, apagafonova), Gettyimages (milanfoto/E+)Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-21130-1V002www.heyne.dewww.penguinrandomhouse.de

1

Ein Garten im Frühling ist wie ein Versprechen. Niemand kann wissen, was das Jahr bringen wird. Herrliche Narzissenfelder oder eher satte Wühlmäuse? Frost zur Apfelblüte? Wie viel wird es regnen, wie oft wird die Sonne scheinen? Wir Gärtner können düngen und gießen, hier etwas pflanzen, dort etwas säen, und trotzdem … aufregend ist es jedes Jahr aufs Neue. Man hofft und beobachtet, aber man hat nicht alles in der Hand.

Was ich aber in der Hand hatte, war die Auswahl meines Mieters. Und da durfte mir kein Fehler unterlaufen, nachdem die alte Mieterin den Garten halb abgefackelt hatte. Ich blickte noch einmal zur Brandstelle im wintergrauen Rasen, schlang die Strickjacke enger um mich und drehte mich zu den wartenden Interessenten um, die sich inzwischen vor der Einliegerwohnung eingefunden hatten. Von jungen Familien über ältere Paare bis hin zu Studenten war alles dabei.

Der Hut fiel mir als Erstes auf. Ein Mann mit Dreitagebart und einem schwarzen Hut. Er war groß und trug einen Dufflecoat, und als er sich mir zuwandte, erkannte ich, dass er jünger war, als ich gedacht hatte – vielleicht so alt wie ich, Mitte dreißig.

Ich fuhr mir durch die kurzen Haare und erklärte zuerst einmal, dass der Weg an der Garage vorbei und die Treppe hinunter in den Garten der einzige Zugang zur Wohnung sei. Wie erwartet, verdrehten einige die Augen. Aber so ist das eben, wenn man am Berg wohnt, da gibt es nicht nur eine tolle Aussicht, sondern auch jede Menge Treppen. Dafür blühten bereits die ersten Schneeglöckchen.

»Die Terrasse hier nutzen nur die Mieter der Einliegerwohnung.« Auf den Pflastersteinen, die eine Sonne darstellten, waren weitere Brandspuren zu sehen. Wie gut, dass sie nicht mehr da war. Die Rosenmörderin. Nach dem Brand hatte ich ihr natürlich sofort gekündigt. Und sie? Brachte mitten in der Blüte meine wunderschöne Kletterrose um. Schnitt einfach den gesamten Stock, der sich im Vorgarten vor meinem Schlafzimmer bis zum Dach emporrankte, unten ab.

Am liebsten hätte ich gar keinen Mieter mehr aufgenommen, aber ich brauchte das Geld, seitdem Christopher ausgezogen war, und so schaute ich mir alle Interessenten genau an, als sie die Aussicht über Sommerhausen und das Maintal bewunderten. Eine junge Familie flüsterte, dass Platz für einen Sandkasten sei, ein Mann fragte, ob hier Beifuß wachse, dagegen sei er nämlich allergisch. Und einer der Studenten wollte unerlaubterweise mit dem Handy fotografieren. Das ging natürlich nicht. Mein Garten war meine Privatsphäre. Ich hatte Fotos der Wohnung ins Netz gestellt, das musste reichen.

Doch die meisten bewunderten die gelben Winterlinge, die als Erste die grauen Beete zum Strahlen brachten. Auf sie war immer Verlass, sie brauchten keine Pflege und breiteten sich großflächig unter den kahlen Büschen und Bäumen zu beiden Nachbargrundstücken hin aus.

Der Mann mit dem Hut sah gerade zu meinem Haus hoch, dessen einzelne Stockwerke stufenartig den Berg hinauf gebaut worden waren. Unten lag die Einliegerwohnung, darüber meine Wohnung, das obere Stockwerk war leer. Sein Blick blieb an meinem Balkon und den Fenstern der beiden Zimmer daneben hängen. Auf einmal schaute er mich an, und mein Herz klopfte plötzlich unnötigerweise.

Schnell wandte ich mich ab und schloss die Wohnung auf. Mitten im Wohnzimmer standen noch die letzten Umzugskisten. Darauf lagen Gartenhandschuhe, dünne mit Blütenmuster, wie ich sie im Sommer gerne trug. Diese Frau hatte wirklich nur Unfug angestellt. Schnell steckte ich die Handschuhe zu meinem Mobiltelefon in die Tasche meiner Jeans.

Dann öffnete ich die Türen zu den beiden anderen Räumen, erklärte die Aufstellung der Nebenkosten, zeigte Herd und Kühlschrank in der offenen Küche, und als ich den Einbauschrank für die Vorräte öffnete, fielen die Handschuhe auf den Boden.

Sofort bückte ich mich und stieß fast mit einem der Interessenten zusammen. Er war der Einzige, der mir helfen wollte: der Mann mit dem Hut. Als er mich anlächelte, blickten mich versteckt zwischen Dreitagebart und Hutkrempe blaue Augen an, die so hell wie der Himmel waren, wenn die Sonne aufgeht.

»Bitte, Frau Laurien.« Er richtete sich auf und reichte mir die Handschuhe. »Wie ruhig es hier ist. Einfach wunderbar.«

»Da… danke«, stotterte ich auf einmal nervös. Er streckte mir die Hand entgegen. Seine Finger waren lang und schmal und wunderschön. Ich steckte die Gartenhandschuhe zurück in die Hosentasche, dann griff ich zu.

»Philipp Mey, Lehrer für Mathe und Physik aus Berlin, fünfunddreißig Jahre alt, eins achtzig groß, Schuhgröße fünfundvierzig – noch irgendetwas, das Sie wissen wollen?«

Was für eine angenehme Stimme er hatte, tief und mit einem leichten Brummen, es war schwer zu beschreiben, aber ich mochte sie sofort. Er roch ganz leicht nach Kaffee, und unter der Jacke trug er ein weißes Hemd und eine Anzugweste.

»Die Hutgröße?«, fragte ich, und er lächelte. Die ungewohnte Nervosität legte sich trotzdem nicht. »Solange Sie nicht meine Schuhgröße wissen wollen, ist ja alles in Ordnung«, versuchte ich, witzig zu sein. Aber es war nur ein Versuch, denn anstatt zu lachen, schaute ich nach unten auf meine neuen Ballerinas. Und er ebenfalls. Sofort hob ich den Kopf, steckte eine meiner kurzen Haarsträhnen hinters Ohr und lächelte kurz.

»Sie ziehen aus Berlin nach Sommerhausen?« Fakten waren besser. Fakten machten mich nicht nervös. Und normalerweise kamen Berliner nur als Touristen in unser mittelalterliches Weindorf.

»Seit Beginn des Sommerhalbjahrs arbeite ich hier, und die Pension, in der ich untergekommen bin … die Einzelheiten erspare ich Ihnen lieber. Grauenhaft. Genau das Gegenteil von Ihrem kleinen Paradies hier.« Mit einer ausladenden Geste wies er auf die Wohnung.

»Und Sie … möchten die Wohnung alleine mieten?« Am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen. Was für eine dämliche Frage. Bestimmt waren seine Frau und sein liebreizendes Töchterchen nicht weit.

»Gibt’s Rabatt, wenn nur einer einzieht?«, fragte er und grinste. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schaute mich vorsichtig um, ob nicht doch jemand zu ihm gehörte. Aber es sah nicht danach aus. Dabei hatte ich als Vermieterin das Recht zu wissen, wie viele Personen hier einziehen würden.

»Wo geht’s dorthin?« Er deutete auf die Tür neben dem Bad.

»In den Keller, aber da haben die Mieter keinen Zutritt.« Und über eine Treppe in meine Wohnung. Das brauchte er aber nicht zu wissen. Die Verbindung zwischen beiden Wohnungen gab es nur, falls meine Eltern im Alter hier einziehen wollten. Was hoffentlich nie eintrat.

Ein junges Pärchen mit einem kleinen Jungen fragte, wo der nächste Kindergarten sei, ein älteres Paar wollte wissen, wo man hier am besten einkaufen könne, und die Studenten erkundigten sich nach dem Bus. Ich merkte mir genau, wer nach Rauch roch, und welches Paar sich gegenseitig ins Wort fiel. Nach und nach gingen sie alle. Als Letzter verabschiedete sich Herr Mey mit einem Tippen an seinen Hut.

Am Ende fiel mir die Entscheidung nicht schwer. Auf Studentenpartys hatte ich keine Lust – und das ältere Paar nicht auf die Treppen. Paare mit Kind kamen nicht infrage, nein, das wäre … nein, das ging nicht. Aber ein hilfsbereiter Mathelehrer, der nahtlos den Mietvertrag übernehmen konnte und dem die Ruhe gefiel – perfekt.

Und damit alles perfekt blieb, schrieb ich »Die Benutzung des Gartens ist strengstens untersagt« in den Mietvertrag.

2

Philipp

Bald würde das Leben aus dem Koffer vorbei sein, das schimmelige Bad und der aufgewärmte Kaffee. Jedenfalls schmeckte er so. Einen richtig guten Coffee-Shop, wie es ihn in Neukölln an jeder Straßenecke gab, hatte ich bislang leider vergebens gesucht. Vielleicht irgendwo in der Innenstadt von Würzburg, aber nicht hier in der Zellerau, diesem Vorort voller Sozialbauten. Doch der Espresso im Discounter direkt neben der neuen Schule war erstaunlich gut. Und jetzt, wo ich endlich eine Wohnung hatte, war mir sowieso alles egal. Der Nebel auf dem Weg zur Schule, die schlecht gelaunten Gesichter der anderen Fußgänger, die Kälte.

Bald würde ich wieder selber Kaffee kochen. Den sündhaft teuren Kaffeevollautomaten hatte Katharina nicht mitgenommen. Und alles andere, das holte ich mir zurück. Ganz sicher.

Mit der Wohnung in Sommerhausen war der nächste Schritt geschafft, endlich. Hatte länger gedauert als der neue Job. Jetzt noch streichen, die Möbel aus Berlin holen, und das Gartenleben konnte beginnen.

Sofort sah ich wieder Johanna vor mir, Johanna Laurien, meine neue Vermieterin. Wie ihre kurzen, rotbraunen Haare in der Sonne gefunkelt hatten. Ihre grünen Augen. Die Sommersprossen. Und ihr scheues Lächeln.

Wenn sie lächelte. Selbst als ich gestern den Vertrag unterschrieben hatte, hatte sie ernst geschaut. Ernst und ein wenig traurig, sodass ich sofort versucht hatte, sie zum Lächeln zu bringen.

Dafür meckerte sie nicht ständig wie die Wirtin aus der Pension. Keine hängenden Mundwinkel, keine miese Laune. Nein, Johanna Laurien schien eine ernste, scheue Frau zu sein. Als ich sie fragte, wer noch im Haus lebe, sagte sie leise, es gebe nur sie.

Unvorstellbar, in diesem riesigen Haus. Schon alleine in einer Wohnung zu leben fand ich komisch, das kannte ich noch nicht. Aber in so einem Haus? Alleine? Vielleicht wird man da so ernst. Wer weiß, was für Geister sich dort versteckten.

Ich stellte mich beim Bäcker an und bestellte einen doppelten Espresso. Nachdem ich gezahlt hatte, tippte ich wie immer an die Hutkrempe. Die Verkäuferin starrte mich an, als käme ich vom Mond. Schnell noch zwei Tütchen Zucker in den Espresso. Ein blasser Junge war jetzt dran, er kam mir bekannt vor. Physik 7. Klasse? Könnte sein. Er starrte auf sein Handy und bestellte eine gebutterte Laugenbrezel, ohne aufzusehen. Weder grüßte er die Verkäuferin noch mich, seinen Lehrer.

Wäre ja uncool. Da benahmen sich alle Mittelstufenschüler gleich, egal, ob in Berlin oder in der konservativen Provinz.

Vor dem Discounter standen die Raucher und drehten mir den Rücken zu. Auch das gab es überall. Der größte Unterschied war die Herkunft der Schüler. Hier waren es höchstens zwei oder drei Migrantenkinder pro Klasse.

Wie ich es geschafft hatte, in so kurzer Zeit als Berliner Lehrer in Bayern eine Stelle zu finden, war mir immer noch unklar. Eigentlich ging das gar nicht.

Die Schule war neu, aber hässlich. Ein dunkler Glas- und Kupferbau, der abweisend und ungemütlich wirkte. Das alte Haus gegenüber mit seinen weißen Wänden und den roten Sandsteinverzierungen sah viel fröhlicher aus. Oder die Kirche des Deutschen Ordens, nach dem die Schule benannt worden war: Deutschhausgymnasium. Ein komischer Name. Aber das Kollegium schien nett zu sein.

»Na, alles klar?«

Neben mir tauchte ein sportlicher Mann mit schwarzer Brille auf.

»Morgen, Robert.« Robert Lakon unterrichtete ebenfalls Mathe und Physik, dazu noch Informatik. Als ich ihn das erste Mal sah, trug er ein Shirt von Panic! At the disco, einer meiner Lieblingsbands. Heute war es Albert Einstein mit einer Kaffeetasse als Gesicht. Ich grinste.

»Also, ich habe mir Gedanken über das Problem des Monats gemacht.«

Aber manchmal verhielt er sich doch wie ein Mathefreak – das Problem des Monats war ein Mathe-Wettbewerb für die Unterstufenschüler und garantiert nicht das Erste, über das ich mich mit ihm nach den Faschingsferien unterhalten wollte.

»Die Frage, warum du aus Berlin weggegangen bist, kann nur durch die russische Mafia erklärt werden. Du bist auf der Flucht, Spielschulden vielleicht, ja, das würde zu dir passen. Du glaubst, alles im Griff zu haben, verlierst aber immer wieder, und dann musst du fliehen.«

Okay, er war doch kein Nerd, sondern ein Spinner. Wir mussten einem SUV ausweichen, der den Bürgersteig blockierte und aus dem ein junges Mädchen mit langen blonden Haaren stieg.

»Du weißt doch, warum ich nach Würzburg gezogen bin!«

Das Mädchen lächelte uns an.

»Weil dein Vertrag in Berlin nicht verlängert wurde und du hier mehr Geld kriegst? Vergiss es, das habe ich dir keine Sekunde geglaubt.«

Dabei war es nur halb gelogen, ich verdiente hier wirklich mehr Geld.

»Meine Freundin meint ja, dass du im Zeugenschutzprogramm bist. Da werden die Leute doch auch immer in die langweilige Provinz geschickt. Vielleicht bist du in Wirklichkeit doch der coole Schauspieler, für den dich meine Schülerinnen halten.«

Wir gingen ein paar Treppen hoch und über den vorderen Schulhof.

»Ich will auch so einen Hut«, sagte eine Lehrerin im Vorbeigehen. Sie war mittelalt, vielleicht fünfzig. Kunst? Nach einer Woche konnte ich mir noch nicht alle Namen merken. Direkt nach der ersten Woche im Sommerhalbjahr waren Faschingsferien gewesen, in denen ich wieder nach einer Wohnung gesucht hatte. Und endlich, nach so vielen Wochen, war ich fündig geworden.

Robert verwarf gerade die Theorie, dass ich ein Fan der hiesigen Landesregierung und deshalb nach Bayern gezogen sei. Die Eingangstüren standen offen, und sobald wir das Foyer betraten, nahm ich meinen Hut ab.

»Moin«, grüßte ein Mann in Cordjacke und überholte uns.

»Morgen, Herr Kaufmann!«, rief ich hinterher. Der Mann mit dem Hamburger Akzent war Fachschaftsleiter für Mathematik und neben dem Fachschaftsleiter für Physik der wichtigste Mann für mich. Auch wenn über die Verlängerung meines Vertrages letztendlich das Ministerium entscheiden würde.

»Morgen, Herr Mey«, riss mich eine helle Mädchenstimme aus meinen Gedanken. Eine Schülerin mit rosa Rucksack und blondem Zopf. Die Gruppe Mädchen hinter ihr kicherte.

»Guten Morgen«, grüßte ich zurück und folgte Robert in den Kopierraum.

»Stört dich das nicht, wenn dir alle Mädels so hinterherschauen?« Robert holte eine Mappe aus seiner Tasche.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Na, an mir schauen sie jedenfalls immer vorbei. Ich habe auch noch nie Zettel gefunden, auf denen mein Name mitten in einem rosa Herzchen steht. Pass nur auf, dass du keinen Ärger kriegst.« Er legte ein Arbeitsblatt in den Kopierer. Potenzen und Logarithmen.

»Ärger? In Berlin haben die Mädchen in meinen Klassen jedenfalls bessere Noten nach Hause gebracht als bei den anderen. Außerdem trage ich den Hut nicht im Schulgebäude, da können die Schüler mit ihren Basecaps noch was lernen.«

»Also, ich steh auf Männer mit Hut.« Da war wieder diese Kunstlehrerin. Bunte Ohrringe, schwarze Kleidung. Sie streckte die Hand aus, und schwupp, schon hatte sie mir den Hut aus der Hand genommen und setzte ihn sich auf die graubraunen Locken.

»Frau Liebenstein!«, rief Robert.

»Steht er mir?« Sie bewegte ihren Kopf, sodass ihre bunten Perlenohrringe, die genauso selbst gemacht aussahen wie ihre Kette, hin und her wackelten.

»Besser als dem da!« Robert nickte mir zu.

»Wollen Sie ihn behalten?«, fragte ich und lächelte sie an. Mir gefiel ihre spontane, lockere Art.

»Ach, nein.« Sie lachte und gab ihn mir zurück.

»Viel Spaß heute«, rief sie und winkte uns zu.

Robert kopierte derweil Arbeitsblätter und fragte, wie es mit der Wohnungssuche aussehe. Und dass deswegen das Zeugenschutzprogramm ausscheiden würde, weil das BKA verpflichtet sei, mir eine Wohnung zur Verfügung zu stellen.

»Richtig. Es hat endlich geklappt. In Sommerhausen.« Ich zog mein Telefon aus der Hosentasche und zeigte ihm die Maklerfotos.

»Das wäre mir zu weit.«

»Da findet mich die Mafia wenigstens nicht!« Ich grinste. »Der Preis ist super, ein Garten gehört dazu und eine wunderschöne Vermieterin.«

»Oha!« Robert zog die Augenbrauen hoch. »Du bist auf Frauensuche?« Er nahm das Handy und betrachtete die Fotos, die das terrassenförmige Haus von außen, das helle Bad und die offene Wohnküche zeigten.

»Und wo ist ein Foto deiner Vermieterin? Oder hat sie einen Mann, drei Kinder und einen bissigen Kampfhund?«

Ich musste an ihr zartes Gesicht, die kurzen rotbraunen Haare und den federnden Gang denken.

Robert wischte sich derweil durch meine Fotogalerie. Sofort nahm ich ihm das Handy wieder ab. Zum Glück hatte er nur Bilder von Wohnungen gesehen, die ich nicht bekommen hatte.

»Mehr kommt da nicht mehr.«

»Und, was kostet sie?«, fragte Robert.

»Weniger als in Berlin, das ist schon mal klar.«

»Das ist der Charme der Provinz, mein Lieber!« Robert grinste verschmitzt. »Trotzdem würde ich lieber in Berlin leben als hier.«

Ich auch.

3

Zwei Wochen später wärmte mir bereits die Sonne das Gesicht, und ich spürte das Frühlingsversprechen in jedem Grashalm und jeder Knospe. Ich schlenderte den Serpentinenweg bergab und fand Krokusse, Leberblümchen und Blausternchen. Sie verließen mich nicht, zeigten sich jedes Jahr aufs Neue.

Plötzlich entdeckte ich ihn. Im Liegestuhl neben dem kahlen Lilienbeet, mit Hut auf dem Kopf und einem Buch in der Hand. Meinen neuen Mieter. Nachdem es tagelang nach Farbe im Haus gerochen hatte, war er diese Woche endgültig eingezogen. Viel hatte ich davon nicht mitbekommen, denn die Saison hatte begonnen: Rosen pflanzen, Stauden teilen, Bäume schneiden.

Es war komisch, wieder einen Mann im Haus zu haben. Er war ganz anders als Christopher. Wie ich war Christopher Gärtner und trug nie einen Hut. In Berlin waren wohl auch die Mathelehrer Hipster und keine übergewichtigen Nerds.

»Herr Mey!«, rief ich, aber er reagierte nicht. Das fing ja super an.

»Hallo, Herr Mey!«

Er zuckte zusammen, legte das Buch zur Seite und stand auf.

»Hallo.«

Wieder streckte er mir die Hand entgegen, er benahm sich ziemlich formell.

»Philipp reicht, wir sind ja Nachbarn.«

So formell dann wohl doch nicht. Mit Valerie, der Rosenmörderin, hatte ich mich auch geduzt, und wie hatte es geendet?

»Johanna«, antwortete ich und schlug ein, »was machst du hier?« Es fühlte sich gut an, Du zu ihm zu sagen.

»Entschuldige, ich konnte nicht anders, dein Garten ist einfach unwiderstehlich. Überall blüht es schon!« Er deutete auf die Blausternchen. »Ich hoffe, ich störe nicht.« Er schob sich den Hut in die Stirn und lächelte mich entschuldigend an. Wie hell seine Augen waren, so strahlend blau wie die Sternenhyazinthen neben ihm.

»Doch«, entgegnete ich. Wenn er sich nicht einmal an diese simple Regel halten konnte, was würde dann als Nächstes kommen? Welche Pflanze würde dieses Mal das Opfer sein?

Da traf mich ein Tropfen im Gesicht. Und noch einer. Tatsächlich, es zog sich langsam zu. Na, wenn es regnete, erledigte sich das Problem von alleine.

Genau in diesem Moment klingelte mein Handy. Isa Moritz, eine Kundin und die beste Freundin meiner Schwester. Als ich ins Haus gehen wollte, hielt Philipp plötzlich einen großen, schwarzen Regenschirm über uns. Wo hatte er denn den her? Auffordernd deutete er auf mein Telefon, und ich nahm das Gespräch an.

»Johanna, mein Rasen sieht komisch aus«, klagte Isa, »voller weißer Flecken.«

Es war merkwürdig, Philipp so nahe zu sein. Ich drehte mich leicht, damit ich ihn nicht ständig ansehen musste, doch jetzt spürte ich seinen Atem im Nacken.

»Mmh«, antwortete ich abwesend, »die Flecken, sind sie rund?«

»Ja, und an den Grashalmen hängen so Härchen.«

»Schneeschimmel.«

Der Regen wurde stärker, und Philipp rückte näher an mich heran. Ich wich zurück. Lieber wurde ich nass. Ich kannte ihn doch kaum.

»Verschimmelter Schnee?«, wunderte Isa sich. »Bei der Wärme?«

»Nein, Schneeschimmel ist ein Pilz, der sich auf deinem Rasen ausgebreitet hat.«

Der Garten von Isa war von großen Bäumen umgeben. Kein Licht, keine Luft, also perfekte Bedingungen für den Gerlachia nivalis. Ich drehte Philipp den Rücken zu und blickte auf die kahlen Rosen. Der Arm mit dem Schirm folgte, aber Philipp blieb stehen. Gut so.

»Du musst die betroffenen Stellen gründlich vertikutieren und düngen. Das ist alles.«

»Vertikutieren? Vergiss es. Ich kann jetzt schon meine Abgabetermine nicht einhalten, die Redaktion von Theater heute sitzt mir ganz schön im Nacken wegen der Premiere letzte Woche.«

Wenn ich mich nicht um Isas Garten kümmern würde, wären schon viele ihrer Pflanzen eingegangen.

»Wenn es nach meinem letzten Kunden noch hell ist, kann ich ja morgen Abend vorbeikommen.«

»Oh, Johanna, du bist die Beste. Vielen Dank!«

Ich steckte das Handy wieder in die Tasche meiner Jeans und drehte mich zu Philipp um.

»Du gehst mit einem Regenschirm in den Garten?« In meinen Garten, in den er gar nicht durfte.

»Eigentlich wollte ich am Main spazieren gehen und mich danach zum Lesen in ein Café setzen, aber hier ist es so schön! Aber es kommt nicht wieder vor.« Seine blauen Augen schauten mich so eindringlich an, dass ich den Blick abwenden musste.

»Was ist das eigentlich – eine Gartenfee?«, fragte er und spielte auf die Aufkleber auf meinem Kleinlaster an.

»Eine alberne Idee meiner Schwester. Ich bin Gärtnerin, mehr nicht.«

»Aber das macht doch nicht jeder Gärtner … so eine Diagnose am Telefon. Und das am Sonntag.« Er streckte seinen Arm aus, um zu fühlen, wie stark es noch regnete, dabei hörte man doch, dass es nicht mehr auf den Schirm tropfte.

»Wie dem auch sei. Ich möchte nicht, dass Sie noch mal in den Garten gehen, okay?«

»Du.«

»Was?«

»Ach, ist egal, Johanna. Ich hab verstanden.«

Er klang traurig, aber ich musste nur zu den Brandflecken auf dem Rasen blicken, um zu wissen, dass ich richtig handelte. Er klappte den Schirm zu, tippte sich an den Hut und lief den Weg zu seiner Terrasse hoch.

Ich atmete tief durch und ging weiter den Hang hinab zum Gartenhaus. Im Geiste sah ich meinen Garten vor mir, wie er in ein paar Wochen aussehen könnte, wenn zartrosa die Hyazinthen blühten, weiß der Kirschbaum, pink die Tulpen. Später dann würde der Garten sich in ein Meer aus Farbe und Düften verwandeln.

Aber das würde nicht passieren, weil Giersch sich überall ausbreiten, selbst ausgesäter Raps die Stauden überwuchern und die Hortensien verdursten würden. Dazu die Kanadische Goldrute, die schon immer hier wuchs, auch damals, als ich noch ein Kind und der Garten eine Wildnis war, in der wir in den Ferien Verstecken spielten und Vater-Mutter-Kind.

Ich seufzte. Jeden Tag half ich meinen Kunden in ihren Gärten. Einige waren berufstätig und hatten keine Zeit, andere waren zu alt oder zu krank. Manche riefen mich auch an, wenn ihre Sorgenkinder nicht so wuchsen, wie sie es sich vorstellten. All diese Pflanzen wollten gehegt und gepflegt werden, und ich tat es gerne. Mein eigenes Paradies musste sich leider viel zu oft gedulden. Doch auch ein gelb getupfter Löwenzahn-Rasen konnte wunderschön sein. Es kam wie immer nur auf den Blickwinkel an.

Am unteren Ende meines Gartens angekommen, öffnete ich das kleine Tor zur Ölspielstraße. Die Hecke war jetzt schon so breit wie der Bürgersteig. Wenn dann noch der Frühjahrstrieb einsetzte …

Es wurde wieder heller, die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich durch die Wolken. Wann, wenn nicht jetzt! Krach machte ich ja nicht, das ging auch am Sonntag.

Alles, was ich zur Arbeit brauchte, war in meinem Transporter. Ohne eigene Gärtnerei war er so eine Art rollender Arbeitsplatz für mich. Gummistiefel und Regenjacke warteten auf ihren Einsatz, ich konnte alles vollkrümeln und Kaffeebecher stapeln, so viel ich wollte – es war ja niemand da, der sich darüber aufregte.

Außerdem war der Transporter nicht nur mein Arbeitsplatz, sondern vor allem mein Erkennungszeichen. Frühlingsgrün mit der von meiner Schwester Franziska entworfenen, weißen Aufschrift »Die Gartenfee – mobile Gartenpflege«. Anfangs fand ich es doof, aber es brachte mir ständig neue Kunden.

Bevor ich mich wieder anders entscheiden konnte, ging ich schnell den Berg hoch, zog mir meine Arbeitskleidung an und fuhr mit dem Transporter einmal um den Block zum unteren Ende meines Grundstücks.

Die Hecke war so hoch geworden, dass ich die Leiter aufstellen musste. Für den Kirschlorbeer nahm ich immer die Handschere, die zerstörte die dicken Äste weniger. Ast für Ast schnitt ich die Hecke möglichst tief ein. Sie blutete dicken Milchsaft und bedauerte, ihre lieb gewonnenen Blätter zu verlieren.

Plötzlich fuhr ein Motorrad dröhnend den Berg hoch und stoppte. Neugierig ließ ich die Schere sinken. Es blinkte und glänzte wie neu. Der Fahrer nahm den Helm ab, und zu meiner Überraschung kam Christopher zum Vorschein. War sein alter Jeep nicht mehr cool genug?

»Hallo, Johanna«, sagte er. Die Haare waren kürzer und standen in alle Himmelsrichtungen ab.

»Hallo«, antwortete ich und zog mein altes Shirt gerade.

Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Lange nicht gesehen.«

Das war auch verdammt gut so. Er war damals ausgezogen, nicht ich. Mein Herz pochte stärker, als ich es erwartet hätte. Schnell schnitt ich noch einige Äste ab und atmete tief durch.

»Wie geht’s dir?«, fragte er, und mir fiel auf, dass sich die ersten grauen Haare in seine blonden Schläfen mischten.

»Seit wann fährst du Motorrad?«, fragte ich zurück und ließ die Schere sinken. »Midlife-Crisis?«

»Unsinn«, wehrte er ab und öffnete die Klettverschlüsse seiner Jacke. Darunter trug er nur ein Shirt. Ein sehr eng anliegendes Shirt, das seine Muskeln betonte.

»Na ja, du bist jetzt zweiundvierzig …« Ich grinste. Es machte Spaß, ihn zu ärgern. »Was willst du?«

Er stotterte nur herum, statt zu antworten, und räusperte sich. Dann schaute er auf den Tankdeckel und wischte einen Fleck weg. »Nichts«, sagte er, »ich bin auf dem Weg zu Michael, und als ich dich hier arbeiten sah …«

»Hat deine neue Frau nichts dagegen, dass du Motorrad fährst?« Ich hätte Angst um ihn gehabt. Wie schnell konnte man mit dem Motorrad verunglücken. Aber sie hatte es wahrscheinlich nie erlebt, dass alles von einer Minute auf die andere vorbei sein konnte.

»Lass bitte Vanessa aus dem Spiel.«

»Schon gut, schon gut«, beschwichtigte ich ihn.

Er richtete sich auf, stützte die Hand in die Hüfte und lehnte an der Maschine, als wollte er wie Marlon Brando aussehen. Midlife-Crisis, was sonst.

»Wie geht es deinen Eltern?«, fragte ich.

»Mein Vater hört Ende des Jahres in der Gärtnerei auf. Sein Rücken macht einfach nicht mehr mit.«

Ich sah ihn vor mir, wie er sich über die Setzkästen beugte und Pflanzen pikierte. Eine helle Jacke, der Rücken krumm, und wenn man ihn ansprach, dann lächelte er breit wie die schönste Sonnenblume.

»Wie alt ist er jetzt? Siebzig?«

Christopher nickte. »Ohne ihn kann ich mir die Gärtnerei gar nicht vorstellen. Jetzt bin ich für die Büroarbeit zuständig. Von kreativer Arbeit keine Spur mehr. Weißt du noch, Johanna, der Park der neuen Kurklinik? Fehlt es dir nicht? Ich meine, du machst ja nichts anderes mehr als … Hecken schneiden.« Christophers Stimme klang feindselig. Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

»Das muss auch jemand machen.«

»Aber – wo sind deine Visionen geblieben?«

Was für eine dämliche Frage. Visionen, Vorstellungen von der Zukunft, Pläne? Wozu?

»Du hast alles aufgegeben, auch dich selbst. Alleine deine Haare … wie konntest du nur deine wunderschönen Haare abschneiden?« Er fummelte erneut sinnlos an dem Tankdeckel rum.

»Was ist los? Bist du hier, um zu streiten?« Er wusste doch genau, warum ich damals mit der Nagelschere Strähne um Strähne meines alten Lebens abgeschnitten hatte und nie nachwachsen ließ. Außerdem konnte ihm das völlig egal sein. Wir gingen getrennte Wege, trafen unsere eigenen Entscheidungen.

Aber trotzdem hingen wir für immer aneinander.

»Michael hat erzählt, dass du einen neuen Mieter hast.«

»Dein Freund ist eine ganz schöne Klatschtante.«

»Schließ auf jeden Fall immer die Türen ab, Johanna.«

»Seit wann machst du dir denn Sorgen um mich?«

Er blickte auf und schaute mir in die Augen. Das erste Mal, seitdem er angehalten hatte. »Ich weiß, du glaubst es mir nicht, aber ich denke oft an unsere gemeinsame Zeit.« Dann machte er seine Jacke wieder zu. »Ich werde sie nie vergessen«, sagte er noch, setzte den Helm auf und fuhr los.

Ich hob die Gartenschere und schnitt weitere Äste ab, als wäre nichts gewesen. Erst als er außer Sichtweite war, hielt ich inne. Die Hecke konnte ich sowieso nicht ausstehen. Immergrüner Kirschlorbeer – lieber wäre mir eine lebendige, abwechslungsreiche Hecke voller Nahrung für Bienen und keine grüne Plastikwand. Christopher hatte die Idee gehabt. Sollte er sie doch schneiden, anstatt mir die Zeit zu stehlen.

Genervt packte ich alles in den Transporter, fegte die wenigen Äste zusammen und verschob den Rest auf ein anderes Mal. Wieso war er nach so langer Zeit nur vorbeigekommen? Um mit seinem Motorrad anzugeben? Bestimmt nicht wegen des neuen Mieters, die hatten ihn noch nie interessiert. Jedenfalls nicht, als der Rasen gebrannt hatte.

4

Ich fuhr nicht sofort wieder mit dem Transporter nach oben. Christopher zu sehen bedeutete weit mehr, als nur an unsere Trennung erinnert zu werden. Es holte noch ganz andere Bilder hervor, die ich sofort wieder verdrängen musste.

Meistens gelang es mir, indem ich an die Zeit dachte, als mein Garten noch die »Wildnis« war. An meine Kindheit hier in Sommerhausen. Geboren wurde ich zwischen Frankfurts Hochhaustürmen und wuchs auch dort auf, aber die Ferien verbrachten meine Schwester Franziska und ich hier bei unserer Oma in Sommerhausen.

Voller Disteln war die Wildnis damals, mit Schlehenbüschen und einem alten, verkrüppelten Apfelbaum. Dazwischen meterhoch die Kanadische Goldrute. Man konnte sich in ihr wie in einem Maisfeld verstecken, und gemeinsam mit den Nachbarskindern flochten wir aus den harten und doch biegsamen Stängeln Wände für eine Hütte oder bauten Pfeil und Bogen.

Frei waren wir, und alles schien möglich zu sein. Mancher missbrauchte das ungenutzte Grundstück als Müllkippe, wir fanden eine Waschmaschine ohne Trommel, ein Fahrrad ohne Reifen, alles wunderbare Sachen zum Spielen.

Und ich fand meine Liebe zum Gärtnern durch eine halb vertrocknete Zwergtanne. Oma zeigte mir, wie ich sie einpflanzen und pflegen konnte. Sie riet mir zu der Ecke des Grundstückes, was ich erst nicht verstand. Doch heute ist die Zwergtanne über drei Meter hoch und spendet dem weißen Gartenhäuschen Schatten.

Meine Eltern hatten eine Augenarztpraxis im Frankfurter Westend. Sie war das Wichtigste in ihrem Leben. Und wir Töchter sollten hübsch aussehen, gute Noten schreiben und nicht stören. Trotzdem glaubten unsere Eltern, wir würden später Medizin studieren und die Praxis übernehmen – selbst jetzt noch muss ich darüber lachen.

Wir liebten unsere Oma, die Ostereier mit Zwiebelschalen färbte, im Sommer Himbeermarmelade kochte und im Herbst Apfelkuchen backte. Und wir liebten Sommerhausen, wo immer die Sonne zu scheinen schien und sich zwischen den Weinbergen und dem Main so viele Überraschungen versteckten. Die verwinkelten kleinen Gässchen mit den eng stehenden Häusern, die Gärten und Schleichwege entlang der Stadtmauer, die Türme, in denen es spukte.

Leider starb Oma, kurz nachdem ich meinen Meister für Garten- und Landschaftsbau gemacht hatte und endlich bei ihr in der Nähe wohnte. Franzi erbte Omas altes Haus und ich die Wildnis, und so lebten wir heute nah beieinander.

Auch meine kleine Schwester verdankte den Ferien bei Oma ihren Lebenstraum – inspiriert von Sommerhausens Künstlerszene (und vielleicht auch von Vaters Museumsbesuchen, aber das würde sie nie zugeben), hatte sie Kunst studiert und schuf ihre Werke aus Ton und Holz. Gemeinsam mit ihrem Mann Fabian baute sie das Haus um. Die gute Stube und das Esszimmer wurden zur Galerie, Küche und Vorratsraum zur Töpferei. Im ersten Stock wohnten sie.

Franziska. Sie war diejenige, mit der ich über Christopher und seinen merkwürdigen Besuch reden sollte. Schnell startete ich den Motor und fuhr nach oben zum Haus, um mich umzuziehen. Als ich den Schlüssel in den Kasten hängte, musste ich an Christophers Mahnung denken, immer abzuschließen. In Sommerhausen fühlte ich mich sicher, ich schloss nie ab. Er war es gewesen, der früher immer vor dem Schlafengehen alle Türen überprüfte.

Wieso ging er mir nur nicht mehr aus dem Kopf?

Über Franzis Eingangstür hing ein neues Schild: »Rund und Eckig – Tonkunst von Franziska Nowak« stand jetzt in schwarzem Metall über der hell gebeizten Holztür.

»Johanna! Das ist ja eine Überraschung.« Franzi erdrückte mich fast mit ihrer Umarmung. Sie trug ein »Keep calm and create art«-Shirt und roch nach Ton.

»Dein neues Schild sieht ja cool aus!«

Wir gingen die knarzende Holztreppe hinauf. Im ersten Stock hatten Fabian und sie sich ein richtig gemütliches Nest aus hellen, türkisfarbenen Wänden und einem Mix aus Alt und Neu gebaut, und so stand in der Küche der blitzende Induktionsherd neben dem hundertjährigen Geschirrschrank. Wie immer stapelte sich das ungespülte Geschirr auf Omas altem Esstisch.

»Möchtest du mitessen? Fabian kommt später, er musste noch zu einem Patienten.« Sie zog einen Zopfgummi aus ihrer Hosentasche und band sich die langen blonden Haare zusammen. »Es gibt vegetarisches Chili!«

Zum Trost unserer Eltern hatte wenigstens einer der Schwiegersöhne Medizin studiert. Allerdings wollte er nicht in die Praxis einsteigen, aus der mittlerweile eine Augenklinik geworden war, sondern wurde Allgemeinmediziner und übernahm eine Landarztpraxis – in Sommerhausen. Manchmal fügt sich eins ins andere.

Aus einem großen Topf duftete es nach Olivenöl und Knoblauch. Franzi gab klein geschnittene Zwiebelstücke hinein und rührte um. Der Geruch wurde immer verführerischer. Im Brotkorb lag ein Baguette, und ich brach mir das knusprige Endstück ab.

Verschmitzt schaute sie mich an. »Na, mal wieder keine Lust gehabt, selber zu kochen?« Sie küsste mich auf die Wange. »Du weißt, dass du immer bei uns willkommen bist. Hauptsache, du isst was. Du siehst nämlich aus, als hättest du schon wieder abgenommen.« Sie wusch eine knackige Paprikaschote und schnitt sie in kleine Stücke.

»Ja, Mama.« Wie gesagt, Franzi war jünger als ich. Aber sie benahm sich nicht so.

Sie verdrehte die Augen und hackte in einem Wahnsinnstempo auf die Paprikaschote ein. Ich erzählte von Isa und ihrem Schneeschimmel und davon, dass Christopher mich beim Heckeschneiden gestört hatte.

Franzi legte das Messer zur Seite und sah mich an.

»Und wie geht es dir?«, fragte sie und kaute auf ihrer Lippe herum. Sie machte das immer, wenn sie nervös wurde.

»Gut«, antwortete ich. Mit Christopher hatte ich doch einen zivilisierten Umgang. Also eigentlich gar keinen. Um mich brauchte sie sich jedenfalls keine Sorgen zu machen.

»Was wollte er denn?« Sie nahm das Messer wieder in die Hand und starrte die Paprikaschote an.

»Sich einmischen, was sonst. Michael hat ihm wohl erzählt, dass jetzt ein Mann bei mir wohnt.«

»Ach.«

»Ich soll immer abschließen! Wo leben wir denn, dass ich wegen Philipp Angst haben soll! Der übertreibt völlig.«

»Er macht sich eben Sorgen um dich.«

»Ich schaff das alles auch alleine.«

Sie drehte die Schote auf dem Schneidbrett hin und her und schnitt so kleine Würfel, wie ich es nie schaffen würde.

»Aber Vanessa …«, begann ich, während ich mir ein weiteres Brotstück abriss.

»Mist«, schrie Franzi plötzlich und warf das Messer hin, »ich habe mir in den Finger geschnitten!«

Sie hielt den linken Zeigefinger unter den Wasserhahn. Blut tropfte ins Waschbecken. Ziemlich viel Blut.

»Wow, ist das tief, das muss bestimmt genäht werden.«

»Fabian kommt ja gleich. Schau mal, in der Schublade dort sind Pflaster.« Sie wickelte sich ein Küchentuch um den Finger. Nach einigem Suchen fand ich ein zerknittertes Päckchen Dinosaurier-Pflaster und schnitt ein passendes Stück ab. Die Wunde trockneten wir mit einem Papiertaschentuch und klebten das Pflaster drauf. Dann sah mich Franzi wieder fragend an. »Und was ist mit Vanessa?«

»Na, ich verstehe nicht, wie sie das aushält. Christopher hat voll die Midlife-Crisis und sich ein Motorrad gekauft.«

»Ist nicht wahr.« Sie zog die Augenbrauen hoch.

»Doch! Echt peinlich. Er stand da wie so ein Rocker, schade, dass ich kein Foto gemacht habe. Irgendwie hatte ich das Gefühl, er wollte mir was sagen, aber dann hat er nur an mir rumgemeckert.« Ich schüttelte den Kopf. »Gibt’s eigentlich keinen Wein zum Essen?«

Franzi wies mit dem Kinn auf eine Weinflasche neben dem Kühlschrank. »Hat mir der Steinmann vorhin geschenkt.«

Ein Sommerhäuser Rotling, köstlich. Ich öffnete die Flasche und schenkte uns etwas ein.

»Auf den Schrecken«, sagte ich und hob mein Glas.

»Welchen Schrecken?« Franzi kaute schon wieder auf ihrer Lippe herum.

»Na, du bist ja echt durch den Wind heute. Dein Finger!«

»Ach.« Sie wurde rot und stieß mit mir an. Als sie nach der nächsten Paprikaschote greifen wollte, schob ich sie beiseite.

»Nee, lass mal, Schwesterchen, den Rest übernehme besser ich. Meine Finger sind ja noch ganz.« Ausnahmsweise jedenfalls. Mir ging die Gartenarbeit oft genug im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut.

Das Messer war wirklich sehr scharf, dafür konnte man damit hervorragend hauchdünne Scheiben schneiden. Selber gekocht hatte ich schon lange nicht mehr. Für wen auch.

»Von deinem Mieter hast du kaum was erzählt.« Franzi sah mich neugierig an.

»Er ist jetzt eingezogen.«

»Alleine?«

»Ja.«

»Ein gleichaltriger Single, kein Wunder, dass Christopher beunruhigt ist. Sieht er gut aus?«

Wenn ich ihr jetzt von dem Dreitagebart, den blauen Augen und dem Hut erzählte, würden wir den ganzen Abend nur über Philipp reden. Und darüber, dass ich mich mal wieder verabreden soll.

»Keine Ahnung.«

Franzi seufzte, dann holte sie die Teller aus dem Schrank.

»Merkst du eigentlich, wie verrückt die Männer nach dir sind? Oder schaust du immer noch weg, wenn dich einer ansieht?«

»Franziska!« Jetzt fing sie doch damit an. Ich trank mein Glas leer. Am liebsten wäre ich sofort gegangen.

»Du kannst dich nicht ewig einigeln. Das Leben geht weiter, du bist noch jung!«

Ich füllte mein Glas wieder. »Halt dich einfach raus.«

Sie sah mich mit aufgerissenen Augen an und biss wieder auf ihrer Unterlippe rum.

»Du hast ja recht, Johanna. Tut mir leid.«

5

Immer wenn ich mit meinem Transporter den Berg erklomm und Richtung Kitzingen fuhr, genoss ich den freien Blick über die Ebene oberhalb des Maintals. Hier war es anders, hier gab es keinen morgendlichen Schatten, keine Hanglage, keine Weinberge. Alles war offen, und mein Herz wurde weit.

Das grüne Karomuster der Felder und die Windräder erinnerten mich an meine Ausbildung im flachen Niedersachsen in der Nähe von Oldenburg. Nach dem Abi hatte ich mir nichts Herrlicheres vorstellen können, als aus der Enge der Hochhäuser und der Familie auszubrechen und die Welt zu erkunden.

Heute war ich unterwegs zu einem neuen Kunden in Kaltensondheim, einem kleinen Dorf im Osten von Sommerhausen. Am Straßenrand tauchten die Obstbaumplantagen auf. Noch waren die Bäume kahl, aber schon bald wuchs hier ein weißes Blütenmeer. Kurz vor Kaltensondheim säumten grüne Krötenfangzäune die Straßen, einige Naturschützer in orangefarbenen Warnwesten sammelten die Tiere in Eimern und trugen sie über die Straße. Einfach bewundernswert.

Kaltensondheim mit seinen gelben Sandstein-Häusern wirkte etwas trostlos. Manche der alten Bauernhäuser zerfielen langsam. Doch im Sommer rankten sich hier die schönsten Kletterrosen neben den Eingangstüren, und hinter den Häusern blühte es farbenfroh. Im Moment jedoch waren das einzig Bunte die grauenhaften Plastik-Ostereier in den Sträuchern.

Herr Wiedinger war neu im Dorf. Er hatte mich angerufen, weil ich vor vielen Jahren den Garten eines Arbeitskollegen angelegt hatte. Den Namen hatte er mir auch genannt, aber ich konnte mich nicht mehr an ihn erinnern. Es war schon lange her, dass ich einen Garten geplant hatte.

Normalerweise fing man mit den Planungen bereits an, bevor das Haus gebaut wurde. Herrn Wiedingers zweifarbiger Neubau stand jedoch schon – die eine Hälfte weiß, die andere grau, viele schmale Bodenfenster, einen Balkon, der auf die Dorfstraße ging, und einen Wintergarten. Die Farbe passte nicht so richtig zum gelben Kaltensondheim, aber ich hatte schon Schlimmeres gesehen, quadratische Flachdachhäuser aus Stahl und Beton, die ich am liebsten unter schnell wachsendem Efeu oder wildem Wein versteckt hätte.

Der Weg bis zur Eingangstür bestand momentan noch aus Brettern. Durch ein rundes Fenster konnte ich in die Küche sehen, ein Mann in rosafarbenem Hemd winkte mir mit einer Kaffeetasse in der Hand zu und öffnete mir dann die Tür.

»Guten Morgen, Frau Laurien, wie schön, dass Sie da sind.« Obwohl er mich anlächelte, wirkte sein längliches Gesicht mürrisch. Im Eingang lag ein Fahrradhelm, und es standen Sportschuhe herum. Mit seinen hängenden Schultern und dem üppigen Bauch wirkte Herr Wiedinger nicht sonderlich sportlich, aber vielleicht wollte er das ändern.

Ich gab ihm zur Begrüßung die Hand und bedankte mich für den Auftrag. Bevor ich nach weiteren Eckdaten fragen konnte, führte er mich in einen offenen Wohn-Essbereich und wies mit einer ausladenden Geste auf die Theke.

»Sie sollten erst mal einen Cappuccino trinken. Meine neue Maschine macht eine Crema …« Er schnalzte begeistert mit der Zunge.

Da sagte ich nicht Nein. Der Abend bei Johanna und Fabian gestern war lang geworden. Das riesige Hightech-Monster zischte bereits, Herr Wiedinger erklärte weitschweifig, wie alles funktionierte, und verzierte am Ende den Cappuccino mit einem Kakaoherz.

»Der Garten muss Eindruck machen«, er reichte mir den Zucker, »damit die Leute verstehen, warum ich aufs Land gezogen bin. Und er muss anders als die Gärten der Bauern aussehen. Besser!«

»Jeder Garten ist anders«, erklärte ich und trank einen Schluck. Der Kaffee war genau richtig und schön stark. »Es ist nicht nur eine Frage des Geschmacks, sondern auch von Licht und Luft, von Wasser und Erde. Und des Budgets.«

»Oh, darum machen Sie sich keine Sorgen. Ich besitze ein großes Steuerberaterbüro und brauche nicht aufs Geld zu schauen.«

Dann war das Thema auch geklärt. Es machte keinen Spaß, einen Garten anzulegen, wenn bei jeder Pflanze erst die Preisliste gecheckt werden musste.

»Ich möchte alles in Rosa haben. Ich habe gelesen, dass es modern ist, alles in einer Farbe zu bepflanzen. Und Rosa mögen doch alle Frauen.« Er legte seine Hand auf meine. Ich zog sie sofort weg.

»Wir sollten am besten nach draußen gehen.«

»Jetzt schon? Na gut, Sie sind sicher eine viel beschäftigte Frau.« Er zog die Mundwinkel nach unten.

Noch bestand der Garten nur aus gepflügter Erde und den ersten Frühlingsunkräutern. Ich hatte von ihm einen maßstabsgetreuen Plan bekommen, allerdings ohne Himmelsrichtungen, dazu Fotos, die an einem wolkenverhangenen Tag gemacht worden waren. Doch für die spätere Bepflanzung waren gerade die zu erwartenden Lichtverhältnisse von entscheidender Bedeutung. Genauso wie die Bodenbeschaffenheit.

In eine Kopie des Plans übertrug ich meine Beobachtungen und nahm Bodenproben. Herr Wiedinger (der stets auf dem Bretterweg blieb, als hätte er Angst, seine weißen Turnschuhe dreckig zu machen) erzählte, dass sich hier ein normaler Acker mit irgendeinem Getreide drauf befunden habe. Welches, das wisse er leider nicht. Aber es war egal, das Labor würde mir schon genaue Hinweise für die beste Bepflanzung liefern.

»Während der Planungsphase sollten wir mit einer Gründüngung starten, Klee, Lupinen, um die Bodeneigenschaften zu verbessern.«

»Sieht das nicht wie Unkraut aus? Nein, das brauchen wir nicht, ich hoffe, dass alles ganz schnell geht. Wichtig ist vor allem ein Teich.« Er wippte auf den Zehenspitzen. »Mit einem Wasserfall und Seerosen.«

»Nein, keinen Teich«, antwortete ich schnell.

»Aber warum nicht? Das leise Plätschern des Wassers wirkt so beruhigend. Und Seerosen sind wunderschön.«

»Der … der Platz ist nicht ideal.«

»Na, da wird sich bestimmt was finden lassen, Sie sind doch eine Meisterin, habe ich mir sagen lassen. Herr Wollatschek …« Und es folgte eine Beschreibung der üppigen Seerosenblüten im Garten seines Kollegen. Jetzt erinnerte ich mich: Das Projekt war eines der letzten gewesen, das ich mit Christopher entwickelt hatte. Er hatte auch die weitere Pflege übernommen. Wieso beauftragte Herr Wiedinger dann mich und nicht ihn?

»Ich baue keine Gartenteiche mehr«, erklärte ich.

»Ach, jetzt verstehe ich, Ihnen fehlen die Geräte, jetzt, wo Sie nicht mehr in Christophers Firma arbeiten.«

Ich nickte, auch wenn es nicht stimmte. Und wieso sprach er von Christopher und nicht von Herrn Laurien? Kannten die beiden sich?

»Ich kann mir das schon so gut vorstellen, hinten der kleine Wasserfall, daneben ein paar Kugeln, eine Kieseinfassung und vor allem: rosa Seerosen. Können Sie sich die Geräte nicht ausleihen?«, fragte er.

»Seerosen mögen kein bewegtes Wasser.«

»Ich kann natürlich auch noch Land dazukaufen, dann kann man einen Bachlauf und einen Seerosenteich anlegen.«

»Ein Quittenbaum würde hier wunderbar Schatten spenden«, warf ich ein, um ihn vom Thema abzubringen. »Die Quitte ist eine ganz alte Obstsorte, die gerade erst wiederentdeckt wird. Die hat nun wirklich nicht jeder.« Wobei das eine schlechte Idee war. Quitten sind schließlich leuchtend gelb, aber das wusste er bestimmt nicht.

»Der Teich muss sein«, beharrte er.

»Herr Wiedinger«, sagte ich und versuchte, ihn ruhig anzulächeln, »warten Sie doch erst mal meine Pläne ab. Jetzt kenne ich den Garten und weiß, was Sie für Wünsche haben. Noch eine Frage: Haben Sie Kinder? Oder Haustiere? Wer wird später die Gartenarbeit erledigen, Sie oder Ihre Frau?«

»Der Garten ist nur für mich.«

Das überraschte mich. Bei einem rosafarbenen Garten war ich automatisch davon ausgegangen, er hätte eine Frau. Wer zieht als Junggeselle auch schon in ein Einfamilienhaus?

»Aber ich hoffe, dass ich bald eine Frau finden werde, die ihr Leben hier mit mir verbringen möchte.« Er lächelte mich strahlend an und kam einen Schritt auf mich zu, und für eine Sekunde befürchtete ich, er meinte mich. Ich weiß nicht, wie ich ihn angeschaut habe, aber er zog pikiert die Augenbrauen hoch.

»Ich habe Sie übrigens nicht nur wegen des Gartens von Herrn Wollatschek beauftragt. Ich bin mit Ihrem Ex-Mann zur Schule gegangen. Wollen Sie nicht, dass er auf diesen Auftrag ein wenig neidisch ist?«

Ich verstand nicht, was das bedeuten sollte: Warum sollte Christopher neidisch auf diesen Auftrag sein? Es klang eher so, als ob Herr Wiedinger Christopher neidisch machen wollte. Genauso wie seine Freunde. Der Mann schien Probleme zu haben.

Ich wendete den Wagen und verließ Kaltensondheim in Richtung Würzburg. Trotzdem ließ mich der Gedanke nicht los. Wollte ich mit dem Anlegen dieses Gartens Christopher etwas beweisen? Wollte ich ihm überhaupt irgendetwas beweisen? Manchmal wusste ich gar nicht mehr, was ich eigentlich wollte. Ihn vergessen konnte ich nicht. Dazu müsste ich wegziehen und Sommerhausen und meinen Garten verlassen.

Nein, mit Christopher hatte es überhaupt nichts zu tun gehabt, als ich beim ersten Anruf von Herrn Wiedinger am Tag der Wohnungsbesichtigung nicht sofort Nein gesagt hatte. Ich erinnerte mich an die Kraft, die ich auf einmal gespürt hatte, an das Gefühl, ich könnte etwas ändern, etwas erreichen. Als ob es aufwärtsginge, nur weil ich einen neuen Mieter hatte. Bereits die Fotos hatten meine Fantasie angeregt, und die freie Fläche am Dorfrand in schönster Südlage inspirierte mich noch mehr. Vielleicht war die Zeit reif, etwas Neues zu wagen.

Zuerst steuerte ich die Gärtnerei von Felix Fontana am Ortseingang von Würzburg an. Obwohl er ein Freund von Christopher war, kaufte ich immer noch bei ihm ein. Er zog seine Setzlinge selber und verkaufte nur robuste Pflanzen, auf deren Qualität ich mich immer verlassen konnte, so wie bei den Duftstauden, die ich heute für einen Kräutergarten aussuchte.

Danach brachte ich die Proben nach Heidingsfeld ins Labor. Sobald die Ergebnisse vorlagen, konnte ich mit der konkreten Planung beginnen.

Der Tag flog nur so dahin, und am späten Nachmittag fuhr ich zu Isa nach Winterhausen. Sie jammerte, dass bei ihnen noch gar nichts blühe. Rund um ihren Garten standen dicht gedrängt lauter Fichten und Douglasien und schirmten ihn nicht nur von der Bahnlinie dahinter ab, sondern von jedwedem Licht.

»Du musst die Bäume fällen«, riet ich ihr zum wiederholten Male, »wenigstens die an der Seite, da kann doch niemand reinschauen. Wenn du nichts änderst, bleibt alles kalt und leblos.«

»Das musst gerade du sagen, Johanna.«

Ich verstand nicht gleich, was sie meinte.

»Wenn du willst, dass sich etwas ändert, dann sprich doch mal mit Franzi«, ergänzte sie mit grimmigem Blick.

»Was hat Franzi mit deinen Bäumen zu tun?«

»Frag sie. Oder lass es sein. Nein, lass es sein, ist schon alles in Ordnung so.« Ihre Stimme wurde immer leiser. Sie redete nicht mehr über die Bäume, aber mir war unklar, was Franzi damit zu tun hatte.

Also widmete ich mich dem Schneeschimmel, der sich schon ziemlich ausgebreitet hatte. Kein Wunder, auch das Herbstlaub lag noch auf dem Rasen. Isa rief mich nur dann, wenn es Probleme gab. Schnell machte ich ein paar Fotos für meinen Gartenfeen-Blog, in dem ich über Pflanzenkrankheiten und Schädlinge informierte und Hilfestellungen gab. Vielleicht hatte sich der Pilz auch in anderen Gärten ausgebreitet, und meine Leser wollten mehr darüber wissen.

Da der gesamte Rasen sehr vermoost war, vertikutierte, düngte und goss ich nicht nur die vom Schneeschimmel befallenen Stellen. Trotz fehlender Sonne würde hoffentlich alles schnell trocknen, und der Pilz würde sich von ganz alleine erledigen. Noch ein paar Fotos, fertig.

Als ich mich verabschiedete, versuchte ich Isa damit zu trösten, dass in ihrem Garten die Schneeglöckchen noch blühten, wenn sie woanders längst eingegangen waren. Aber ihr Blick blieb verschlossen. Bestimmt sah sie wieder Probleme, wo keine waren. So war Isa eben.

Der Himmel glühte in unglaublichem Rot und Orange, als ich nach Hause kam. Noch in Arbeitskleidung ging ich in den Garten und setzte mich auf die obere Gartenbank neben dem Küchenfenster, wo der Blick am besten war. Hier hatte ich schon viel zu lange nicht mehr gesessen. Ich genoss den Anblick und dachte nicht mehr an Herrn Wiedinger oder Franzi. Aber das Vergnügen dauerte nicht lange – Philipp lag bereits wieder auf seinem Liegestuhl neben dem Lilienbeet.

Ich hatte schon Wühlmäuse vertrieben, Maulwürfe und Schnecken. Sogar einen Specht, der in unserer Hauswand nisten wollte. Also würde ich auch diesen Eindringling loswerden, der dort unten im Strickpullover und Hut in meinem Garten saß.

»Philipp«, rief ich laut.

Er hob den Kopf, und als er mich erkannte, sprang er sofort auf.

»Sorry.« Er lief zu mir und hielt mir wieder die Hand hin. Ich ergriff sie zögernd. Höfliche Wühlmäuse waren etwas anderes als die, die mir die Blumenzwiebeln wegfraßen.

»Was für ein Sonnenuntergang!«, schwärmte er. »Dieses Orange, Wahnsinn.«

»Wolltest du nicht … auf deiner Terrasse kann man den Sonnenuntergang doch auch sehen.«

»Natürlich, entschuldige. Du warst nicht da, und da dachte ich … Oh, schau mal!« Er deutete auf den Vogel, der vor uns her zum Sanddorn flog.

»Ein Stieglitz!« Das leuchtend gelbe Band in den schwarzen Flügen war gut zu erkennen. Er erhob sich vom Sanddorn und flog erneut an uns vorbei.

»Wie bunt der ist.« Philipp konnte seinen Blick gar nicht abwenden.

»Die sind echt selten.« Jetzt landete er auf der Felsenbirne und pickte an den letzten Früchten.

Philipp drückte mir sein Buch in die Hand. Ein ziemlich zerlesenes Taschenbuch, Der Wolkenatlas. Automatisch schaute ich zu dem Wolkenspektakel am Himmel, dann wieder auf das Buch. Etwas über Wolken erschien mir passend für einen Physiker, aber im Klappentext ging es nicht um Thermodynamik, sondern um Schicksale, die über Jahrhunderte miteinander verknüpft waren.

Philipp brachte derweil seinen Stuhl auf die kleine Terrasse, vor die ich einen neuen Sichtschutz aus geflochtenen Haselnusszweigen gestellt hatte. Ich folgte ihm. Durch den Sichtschutz drang kaum Licht.

»Oh«, sagte ich. »Vielleicht kannst du vom Sonnenuntergang noch was sehen, wenn du den Stuhl zur Seite schiebst?«

Er probierte es aus, aber so verdeckte der Kirschbaum die Sicht.

»Im Sommer steht die Sonne höher, dann ist es bestimmt wunderschön.« Ich gab ihm das Buch zurück.

Er blickte vom Sonnenuntergang zu seiner schattigen Terrasse und glaubte mir offensichtlich kein Wort.

»Wenn du den Hut aufhast, kannst du sowieso nicht in den Himmel schauen.« Eine lahme Ausrede, ich wusste es schon, als ich die Worte aussprach.

Er nahm den Hut ab und drehte ihn nachdenklich in der Hand. Eine kleine Vogelfeder steckte im Hutband, und auf der Innenseite stand Stetson.

»Der ist noch von meinem Vater. Er soll mich daran erinnern, nie so zu werden wie er.« Er lachte. »Mein alter Herr hat viel zu viel gearbeitet. Und das mache ich ganz bestimmt nicht.«

Der Stieglitz flog hoch am Himmel an uns vorbei.

»Vögel hat er sicherlich auch nie beobachtet. Wie auch, du hast recht, der Hut versperrt einem die Sicht.«

»Na, dann setz ihn ab.«

»Nur wenn du den Sichtschutz abbaust.« Er lächelte mich verschmitzt an. Aber er konnte seinen Charme spielen lassen, wie er wollte. Den Gefallen tat ich ihm nicht.