Novemberschokolade - Ulrike Sosnitza - E-Book
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Novemberschokolade E-Book

Ulrike Sosnitza

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Beschreibung

Ein Roman, so bittersüß wie das Leben

Zimt, Koriander und natürlich Schokolade – in Würzburgs einzigartiger Chocolaterie liegen verheißungsvolle Düfte in der Luft. Hier zaubert Lea Winter die wunderbarsten Schokoladengenüsse. Doch Liebe und Begeisterung allein bezahlen keine Rechnungen. Lea steht kurz vor der Pleite, und der einzige Ausweg scheint die Teilnahme an einem Wettbewerb zu sein. Mitten in ihrer Recherche entdeckt sie ihre Mutter Anne, die vor über zwanzig Jahren spurlos verschwand, in der Fachzeitschrift der Chocolatiers. Lea macht sich auf den Weg zu ihr und erfährt eine lang verdrängte, furchtbare Wahrheit.

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Seitenzahl: 374

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Das Buch

»Vergiss nie das Geheimnis im Duft der Schokolade«, sagte ihr Vater zu Lea, kurz bevor er starb. Nie hätte er ahnen können, welches Geheimnis sich wirklich dort verbergen würde.

Die Chocolatière Lea Winter wuchs ohne Eltern auf. Sie steckt all ihre Einsamkeit, ihre Sehnsucht und ihr Verlangen in die Erfindung außergewöhnlicher Trüffeln und Pralinen. Bis zu diesem November, der ihr Leben für immer verändern wird. Ihre Vermieterin kündigt ihr fristlos, und der Versuch, die Chocolaterie zu retten, setzt eine Geschichte in Gang, in der Lea nicht nur ihre verloren geglaubte Mutter wiederfindet, sondern auch einem verstörenden Familiengeheimnis auf die Spur kommt. Zum Glück gibt es noch Alessandro, dessen ganz besonderer Duft nach Orangen, Basilikum und Koriander Lea eine ungeahnte Sehnsucht spüren lässt …

Die Autorin

Ulrike Sosnitza ist Diplom-Bibliothekarin und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Würzburg. Novemberschokolade ist ihr erster Roman bei Heyne.

ULRIKE SOSNITZA

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 11/2016

Copyright © 2016 by Ulrike Sosnitza

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-18860-3V002

www.penguin.de

1

Nie werde ich vergessen, wie ich das erste Mal einen Finger in die geschmolzene Schokolade steckte. Ich dachte, sie wäre sehr heiß, weil mein Vater den Topf so lange auf dem Herd stehen ließ. Was ein Wasserbad ist und bei welcher Temperatur Schokolade am besten geschmolzen wird, das wusste ich alles noch nicht.

Die Schokolade war dickflüssig und fühlte sich unerwartet kühl an, kaum wärmer als mein Finger. Als ich ihn in den Mund steckte, eröffnete sich mir eine wunderbare Welt. Es war, als ob ich den Duft, in dem ich lebte, essen mir einverleiben, als ob er ein Teil von mir werden würde. Sein Geschmack war voller Glück, Liebe und Verheißung. Mein Vater flüsterte mir ins Ohr, dass in der Schokolade Geheimnisse versteckt seien und ich nie aufgeben solle, sie zu entschlüsseln.

Nie hätte er ahnen können, was sich wirklich für ein Geheimnis in diesem Duft verbarg.

Wie damals rührte ich in einem Topf flüssiger Schokolade. Vorsichtig goss ich Sahne dazu und wartete auf den Moment, in dem sich die lakritzartigen Geschmackstöne des Kakaos mit dem milchigen Duft der Sahne vermischen. Der Moment, der mir signalisierte, dass alles in Ordnung ist.

Doch dieser Moment trat nicht ein.

Dafür kribbelte es in meiner Nase. Seit Tagen plagte mich eine Erkältung. Ich konnte mich gerade noch abwenden und einen Nieser unterdrücken. Nun musste ich zum Äußersten greifen: der Waage. Und die war nicht dort, wo sie hingehörte.

»Stella?«

Hoffentlich hatte sie sich nicht wieder die Ohren mit ihren Kopfhörern zugestopft, ich konnte jetzt nicht weg und die Waage selber suchen. Wenn ich die Trüffelfüllung stehen ließ, würde sie vorzeitig abkühlen.

»Stella!«, rief ich erneut. »Wo ist die Waage?«

Die Tür knarrte, und meine Freundin streckte die Digitalwaage triumphierend in die Luft.

»Na Lea, endlich arbeitest auch du mal nach Rezept und nicht immer nur nach Gefühl!« Sie grinste. »So oft, wie du joggen gehst, müsstest du doch ein Superimmunsystem haben.«

»Na, hör mal«, gab ich zurück, »schließlich ist es dein Sohn, der eine Erkältung nach der anderen aus dem Kindergarten anschleppt und die Viren großzügig an uns alle verteilt!«

Bevor ich sie daran hindern konnte, hatte sie einen Löffel in die Schokoladenmasse getunkt und leckte ihn ab.

»Also, nein!« Sie zog die Stirn in Falten. »So geht das nicht, Lea, das schmeckt widerlich. Ich bin dafür, dass du dich um die Buchhaltung …«

Na, die konnte was erleben. Ich schnappte mir die Sahneflasche, um Stella mit den letzten Tropfen zu bespritzen. Doch sie wehrte sich mit dem Löffel, und die Sahne landete auf meiner Nase.

»Geniales Make-up für heute Abend. Du kommst doch mit ins Odeon, oder?«

»Halloween feiern mit der Erkältung?« Ich wog frisch geriebene Muskatnuss ab. Die Menge musste exakt stimmen, sonst wurden die Muskattrüffel leicht bitter. Es war ungewohnt, mich nicht am Duft zu orientieren.

»Aber Lea, das machen wir doch jedes Jahr! Außerdem habe ich frei, Mattis ist bei seinem Vater.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Du machst mir alle Chancen zunichte, jemals meinen Traumtyp zu finden. Ich lebe schon lange genug alleine.«

»Tut mir leid. Nächstes Jahr. Und deinen Traumtyp musst du sowieso selber backen. Den gibt es gar nicht.«

Erneut stippte Stella einen Löffel in den Topf, spritzte mich mit Schokolade voll und rannte in die Werkstatt zurück, bevor ich mich revanchieren konnte.

Als die Füllung für die Muskattrüffel fertig war, brachte ich sie zu Stella in die kühle Werkstatt. Sie zog die Stöpsel aus den Ohren und sah mich an.

»Ich könnte wenigstens vorher auf ein Glas Wein bei dir vorbeischauen. Damit du nicht vor lauter Einsamkeit depressiv wirst«, meinte sie und verpackte Lavendeltrüffel in Kartons mit lila Punkten.

»Ich bin nicht einsam und depressiv erst recht nicht. Ich bin glücklich. Manche Menschen sind gerne alleine.«

Vorsichtig holte ich eine Platte voller Schokoladenhohlkugeln aus dem Regal und stellte sie auf die Arbeitsfläche.

»Das nehme ich dir nicht ab. In letzter Zeit lachst du so selten.« Das stimmte. Aber den Grund konnte ich ihr nicht verraten. Stella wäre entsetzt, wenn sie von den finanziellen Schwierigkeiten wüsste, in denen ich steckte. Nein, ich musste es schaffen, ohne dass Stella oder meine Verkäuferin Herlind davon erfuhren.

»Blödsinn«, sagte ich daher und füllte die Ganache in einen Beutel. Vorsichtig spritzte ich sie in die Kugeln. Ein enger Kreis, nach oben ziehen, absetzen, dabei aufpassen, dass kein Tropfen danebengeht, die nächste Kugel. Unzählige Trüffel hatte ich in meinem Leben bereits gefüllt und liebte es wie am ersten Tag.

Danach stellte ich sie zum Festwerden ins Regal. Im nächsten Arbeitsschritt musste ich sie mit einem Schokoladenguss verschließen. In der Zwischenzeit siebte ich Kakaopulver auf weiße Cappuccinopralinen.

Natürlich entging es Stella nicht, dass ich beinahe auf die frisch bestäubten Pralinen geniest hätte. Sie machte noch ein paar Witze über meinen Schnupfen und stopfte sich wieder ihre Kopfhörer in die Ohren. Aber ich schaffte es, alle fehlerfrei zu verzieren.

Trotzdem war ich heute in der Produktion fehl am Platz. Ich zog mir die Gummihandschuhe, den Mundschutz und das Haarnetz aus. Endlich. Draußen im Flur fuhr ich mir mit den Fingern durch die verklebten Haare und war froh, das Plastikzeug los zu sein.

Ich brachte die Cappuccinopralinen in den Laden.

Es roch anders hier als sonst. Zitronig, grün und – leicht holzig.

»Willst du dich nicht um den Kunden kümmern?«, flüsterte ich Herlind zu, die in einer Illustrierten blätternd an der Theke stand.

»Aber Lea, es ist doch niemand da.«

Ich schaute hoch. Tatsächlich, der Verkaufsraum war leer, aber der Geruch war so intensiv, als stünde jemand direkt vor mir. Ein Duft nach Zitrone. Oder war es Orange? Etwas Basilikum. Und ein Hauch von Koriander. Und Zedernholz.

Und es lag noch etwas anderes in der Luft, und zwar … es fiel mir nicht ein. Seit wann roch ich überhaupt wieder etwas? Herlinds typischen Duft nach Kölnischwasser jedenfalls immer noch nicht. Aber dieses Aroma nach Zitrusfrüchten und grünen Blättern kroch mir in die Nase und setzte sich dort fest. Es hatte etwas an sich, das ich nicht benennen konnte. Etwas, das mein Herz mit Sehnsucht füllte.

Langsam folgte ich dem Geruch. Vorbei an den bunten Cupcake-Pralinen, den Tafelschokoladen und Marzipanvariationen bis zur Tür. Draußen verlor er sich in den Abgasen eines vorbeifahrenden Autos. Oder doch nicht?! Unter den Platanen konnte ich noch ein wenig von dem Duft erahnen und ging über den kleinen Platz bis zum italienischen Restaurant gegenüber.

Töpfe klapperten, der Geruch nach Basilikum wurde stärker. Dazu gesellten sich die süßen Düfte von Hefeteig und Tomaten. Aber der Duft, dem ich gefolgt war, löste sich zwischen den Gerüchen des Fiurelli auf, und ich machte kehrt.

Wieder zurück wollte ich gerade in den Laden hineingehen, als die Seitentür quietschend geöffnet wurde und eine grauhaarige Frau im Lodenmantel aus dem Gang trat, der die Chocolaterie Winter vom Nachbarhaus trennte.

»Frau Winter?« Frau Obermüller winkte mit einem Umschlag. »Der Briefträger hat schon wieder Ihre Post in meinen Kasten gesteckt. So geht das nicht. Landet meine denn bei Ihnen?«

»Nein.« Ich seufzte. »Vielen Dank für den Brief.« Ich streckte die Hand aus. Sie betrachtete zuerst die Briefmarke, bevor sie mir den Umschlag gab.

»Aus Spanien«, sagte sie abschätzig.

»Meine Großmutter wohnt auf Mallorca«, antwortete ich und fragte mich, wieso ich ihr das eigentlich erklärte.

»Wenn Sie Ihre Miete pünktlich bezahlen würden, könnte ich mir auch so einen kostspieligen Lebensabend leisten.«

Meine Oma hatte sich die Sonne das ganze Jahr über mehr als verdient. Als ich klein war, hatte sie ihren Sohn – meinen Vater – verloren. Nie werde ich ihre verweinten Augen vergessen, damals, als sie mir das Foto aus der Zeitung zeigte, den zerknautschten Fiat, den Krankenwagen, die Überschrift »Tödlicher Unfall auf der A3 bei Weibersbrunn«, die ich mit sechs noch nicht lesen konnte.

Meine Mutter hatte uns im Sommer vor dem Unfall verlassen. Zum Schluss blieb Oma Greta nichts anderes übrig, als sich um mich, ihr aus dem Nest gefallenes Küken, zu kümmern.

Aber das ging meine Vermieterin nun wirklich nichts an.

»Morgen ist bereits Allerheiligen!«, meckerte sie weiter. Allerheiligen, das hieß nicht nur, dass morgen Feiertag war, sondern auch, dass die Novembermiete fällig wurde. Als ob ich das nicht wüsste.

»Kennen Sie unsere Kürbistrüffel schon?«, versuchte ich sie abzulenken, und bat sie in die Chocolaterie. Kundschaft war noch immer keine da, und von Herlind sah man nur die grauen Haare über der Theke.

Der holzig-grüne Duft war so gut wie verflogen.

»Frau Obermüller möchte gerne unsere neue Ware testen!«

Mit einer Zange legte ich vorsichtig einige Trüffel auf einen Teller. Herlind bot Frau Obermüller ihren Stuhl hinter der Pralinentheke an, und sie ließ sich ächzend darauf nieder. Dann griff sie zu.

»Himbeersahnetrüffel!«, erklärte Herlind. »Stellas Spezialität!«

Stella und ich machten alle Pralinen gemeinsam, bis auf die Himbeertrüffel. Mir wurde beim Geruch von Himbeeren immer schlecht.

»Das Fahrrad ihrer Stella steht schon wieder im Weg«, nuschelte Frau Obermüller, schluckte hörbar und nahm sich eine helle Trüffel mit orangefarbenen Streifen.

»Schmecken Sie das Kürbispüree?«, fragte ich.

Sie schmatzte leise und reagierte nicht.

Was für ein Fehler, mit der Vermieterin unter einem Dach zu wohnen. Von Anfang an hatte sie sich eingemischt. Aber ich war so froh gewesen, als ich bei meiner Suche die verrammelten Türen der Bäckerei Neff in direkter Nähe zum Würzburger Dom entdeckte. Ich kannte sie noch aus meiner Ausbildungszeit im Café Michel und wusste, dass die Räume einfach perfekt waren. Und eine Wohnung im ersten Stock war auch noch frei gewesen.

Begeistert stürzte ich mich in Schulden für die Klimaanlage, die sündhaft teure Schmelzmaschine und die Tortenstücktische. Hängte das alte Emailleschild der Chocolaterie meines Vaters mit den zwei Schwänen in den Laden. Meine Oma hatte es mir zur Eröffnung vor vier Jahren geschenkt, und es gab immer wieder Kunden, die sich an die alte Chocolaterie Winter in der Schustergasse erinnerten.

Auch ich dachte viel an meinen Vater und seine Geheimnisse im Duft der Schokolade, und es war selbstverständlich für mich gewesen, meine eigene Chocolaterie ebenfalls schlicht Chocolaterie Winter zu nennen.

Ein Nougatstück verschwand in Frau Obermüllers Mund.

»Maronen …!« Wozu erklärte ich noch irgendetwas. Ihr lag offensichtlich nichts daran, in kleinen Bissen zu probieren. Ob sie sich ihr Gewicht auch auf so hektische und genussfreie Art zugelegt hatte?

Das Nougat entlockte ihr ein leises Seufzen. Sie öffnete sogar die Knöpfe ihres Lodenmantels.

»Haben Sie schon gehört?« Sie blieb auf Herlinds Stuhl sitzen, obwohl der Teller leer war. »Das Haus in der Wolfhartsgasse wird jetzt doch nicht aufgestockt. Der Denkmalschutz war dagegen. Was für ein Glück.«

Ich brummte bejahend. Der Blick von ihrem Wohnzimmer hinauf zur Festung Marienberg schien ihr Lebensinhalt zu sein. Neben meinen pünktlichen Mietzahlungen. Ich legte eine dunkle Trüffel mit roten Streifen auf den Teller. Herlind zog die Stirn in Falten, und ich grinste sie möglichst unauffällig an, bevor sie nach hinten ging und der Wasserhahn rauschte.

Die Türglocke erklang. Ein Mann mit einem Vollbart steuerte die Tafelschokoladen an. Frau Obermüller nickte ihm zu und ergriff die rot gestreifte Trüffel. Schwupp, war auch dieses Stück Schokolade in ihrem Mund verschwunden. Aber kaum hatte sie zugebissen, riss sie ihn wieder auf.

»Was?«, japste sie und fächelte sich mit der Hand vor dem Mund Luft zu, »Was?«

»Das ist eine aztekische Spezialität. Enthält kaum Zucker, sehr zahn- und figurfreundlich!« Der »Feuerspeier« verbarg eine explosive Mischung aus Chili, Ingwer und Pfeffer in hochprozentiger Bitterschokolade. In Frau Obermüllers Augenwinkeln glitzerten Tränen. Herlind reichte ihr ein Glas Wasser, das sie gierig austrank.

»Kein Wunder, dass Ihr Laden immer leer ist!« Hustend eilte sie zur Ladentür hinaus. »Frechheit!«, war das Letzte, was wir hörten, bevor wir laut loslachten.

Nachdem Herlind Feierabend gemacht hatte, verkaufte ich noch etwas Marshmallow-Schokolade und Geisternougat und schleppte mich wenig später kraftlos nach oben. Mir war kalt, und ich hatte Kopfschmerzen. Aber mein schlechtes Gewissen ließ mich vor dem Sofa innehalten. Monatsende, das bedeutete, die Abrechnung war fällig.

Von draußen drang Gelächter herein. Zu gerne hätte ich nachgesehen, ob ich von den Gespenstern oder Vampiren jemanden kannte, aber mir fehlte die Energie. Hoffentlich rief die Obermüller nicht wieder die Polizei, so wie letztes Halloween. Die nächtliche Ruhe war ihr genauso wichtig wie der Festungsblick.

Daher würde auch aus meinem Traum, zusätzlich zur Chocolaterie ein Straßencafé zu eröffnen, nichts werden. Die Obermüller beschwerte sich schon, wenn die Gäste des Fiurelli mal etwas lauter wurden.

Ob Stella ohne mich in die Odeon-Lounge gehen würde? Bei dem Gedanken an ihren Traumtypen (reich, humorvoll, sportlich und intelligent, in dieser Reihenfolge) musste ich innerlich schmunzeln. Äußerlich klapperten mir die Zähne. Ich raffte mich auf und kochte einen Kamillentee. Dazu eine Kopfschmerztablette.

Der Tee schmeckte widerlich. Wieso hatte ich ihn gekocht, obwohl ich ihn gar nicht mochte? Aber meine Oma schwor auf Kamillentee als Helfer bei jeder Krankheit. Und auf viel Schlaf. Wie stand es mit ordentlicher Buchführung? Auf die schwor sie garantiert auch.

Und deshalb ging ich noch nicht ins Bett, sondern legte mir ein Kissen auf den Schoß und stellte den Laptop obendrauf. Ich rief das Buchhaltungsprogramm auf, versuchte, die Zahlen zu verstehen, zwirbelte eine Locke um den Zeigefinger; es nutzte nichts. Alles verschwamm vor meinen Augen. Hier, das war die Spalte mit den heutigen Einnahmen. Aber ich hatte vergessen, die Kasse abzurechnen, hatte sie nur abgeschlossen. Wieder runtergehen, Geld zählen?

Sinnlos. Was für ein Glück, dass morgen Feiertag war. Ich verkroch mich mit dem Tee ins Bett und wartete, dass das Zittern aufhörte.

Nicht einmal den Geruch der frisch gewaschenen Bettwäsche nahm ich wahr. Trotzdem hatte ich diesen Duft riechen können, dieses frische grüne Aroma mit der holzigen Note, das mich an irgendetwas erinnerte. Seufzend streckte ich den Arm unter der wärmenden Decke hervor und nahm das gerahmte Bild meiner Eltern vom Nachttisch.

Für meinen Vater stellte nicht die Nase, sondern die Zunge das wichtigste Arbeitsinstrument dar. Sein unübersehbarer Bauch zeugte von seiner gewissenhaften Arbeit. Meine Mutter war noch so jung. Eine blonde Elfe, feingliedrig, zart wie ein Lufthauch. Ich hingegen habe die braunen Locken meines Vaters geerbt, das runde Gesicht und Füße, mit denen man fest auf dem Boden stehen kann.

Ich erinnerte mich kaum an meine Mutter. Nur dass sie Schwäne geliebt hatte, wusste ich noch. Wenige Tage nach der Aufnahme des Bildes war meine Mutter aus unserem Leben verschwunden.

2

Zehn Uhr. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so lange geschlafen hatte. Normalerweise stand ich auch an freien Tagen früh auf und lief eine ausgedehnte Runde, wenn meine Lieblingsstrecke am Main noch leer war. Aber dazu fühlte ich mich immer noch nicht fit genug. Wenigstens hatte ich keine Kopfschmerzen mehr. Auch das Nasenspray wirkte länger als eine Sekunde.

Ein Blick aus dem Fenster machte deutlich, dass es vor der Chocolaterie schlimm aussah. Bierflaschen, zermatschte Kracherreste, zerbrochene Eier. Vor dem Fiurelli war bereits alles sauber. Schnell zog ich mich an. Wem fiel schon beim stillen Allerheiligenspaziergang ein Schaufenster auf, vor dem sich der Müll des Partyvolkes türmte?

Ich fegte alles zusammen und schüttete ein paar Eimer Wasser auf die stinkenden Pfützen in der Hausecke.

Im Schaufenster tauschte ich die lachenden Papierkürbisse und Gespenster gegen weiße Kerzen aus. Die Ware konnte bleiben, Maronennougat passte hervorragend zum November. Noch ein kleiner Kontrollblick von außen – perfekt.

Es war ungewohnt still. Kein einziges Auto drehte seine Runden, kein Fußgänger war zu sehen. Die Glocken des Doms begannen zu läuten, und ich überlegte, ob ich nach langer Zeit mal wieder in den Gottesdienst gehen sollte.

Eine Tür quietschte. Da! War das nicht …? Ja! Da war er wieder, der mysteriöse Duft. Ein Mann trat aus der Seitentür des Fiurelli. War er die Quelle des Duftes?

Ich dachte, ich würde alle Mitarbeiter von Paolo Fiurelli kennen. Allen voran seine Frau und seinen Sohn, Tommaso, der genauso klein und rund war wie er. Teresa, die Frau von Tommaso, arbeitete seit der Geburt ihrer Tochter nicht mehr im Restaurant. Es gab noch eine Aushilfe, der Name fiel mir gerade nicht ein, mit einem Dreitagebart, aber der bekam keinen Schlüssel für das Restaurant. Außerdem Fredo, den Koch, der sich sein ganzes Leben über Kochtöpfe gebeugt hatte und nicht mehr gerade stehen konnte.

Der Mann jedoch hatte keinen Bart. Und er hielt sich sehr aufrecht. Schlank war er und mindestens zwei Köpfe größer als Paolo.

Er kam auf mich zu. Mir wurde auf einmal ganz heiß, und ich drehte mich um, als ob ich die Pralinen anschauen wollte. In Wahrheit schloss ich die Augen und konzentrierte mich auf seinen Duft. Wieder breitete sich eine ungeahnte Sehnsucht in mir aus.

Seine Schritte erklangen leise auf dem Kopfsteinpflaster. Ich öffnete die Augen und betrachtete ihn im Spiegel des frisch geputzten Fensters. Er trug eine braune Lederjacke und Jeans. Als er an mir vorbeiging, schaute ich ihm nach, um noch einen Hauch seines Geruchs zu erhaschen.

Da wandte er sich um und strich sich die dunklen Haare aus dem Gesicht.

Ein Blick – und ich war verzaubert. Nicht nur von seinem Duft, sondern von seinen dunklen Augen. Von der Melancholie, die sie ausstrahlten.

Wieder im Haus, kochte ich Tee und zog eine Strickjacke an. Trank den Tee jedoch nicht und zog die Jacke wieder aus. Schob die Buchhaltung vor mir her. Eine innere Unruhe befiel mich. Da war etwas an diesem Mann, das mich irritierte. Nicht nur sein Duft. Sondern die Tatsache, dass er aus dem Fiurelli gekommen war.

Es war schon zu meiner Kindheit eines der besten italienischen Restaurants der Stadt gewesen. Die Familie wohnte in Lengfeld, einem Vorort von Würzburg. Ihren Sohn Tommaso kannte ich durch die Tanzschule, meine Freundin Laura ging mit ihm zum Abschlussball. Als ich die Chocolaterie mietete, freute ich mich über die Nachbarschaft. Einige Male hatte ich mit Stella einen Espresso im Fiurelli getrunken oder ein Glas Wein. An Weihnachten waren wir mit Herlind zum Essen dort gewesen. Einfach köstlich.

Von den Fiurellis hingegen hatte noch nie jemand einen Fuß in meinen Laden gesetzt. Paolo grüßte mich noch nicht einmal. Nur seine Frau Maria. Und natürlich Tommaso.

Aber es war nicht wichtig, wer der Mann war. Wichtig war sein Duft. Und die Komponente, die mir bekannt vorkam, deren Name mir aber nicht einfallen wollte.

Wenn ich sie schon einmal gerochen hatte, dann hatte ich sie vielleicht auch aufgeschrieben. Neue Rezepte, Gerüche und Inspirationen notierte ich mir immer. Aber egal, wie oft ich mein Notizbuch durchblätterte, es half mir nicht weiter.

Das Einzige, was mir beim Durchlesen klar wurde, war: Ich musste diesen Duft in Schokolade konservieren.

Als die Abrechnung endlich geschafft war, rannte ich die Treppe hinunter in die Chocolaterie. Die Schmelzmaschine stand geputzt in der Ecke, aber ich schaltete sie besser nicht ein. Schließlich wollte ich nur etwas Kleines ausprobieren.

Schon bald erfüllte das starke Holzaroma der Bitterschokolade aus São Tomé den Raum. In die Ganache streute ich frisch geriebene Orangenschale, dazu einen Löffel Koriander. Gänsehaut kroch meine Arme hinauf. Noch einen Schuss Wodka und ein bisschen fein gehacktes Basilikum aus meiner eigenen Küche, die Gänsehaut verstärkte sich. Aber das geheimnisvolle Detail fehlte noch immer. Ich schnupperte mich durch alle Zutaten, die ich besaß, von Ahornsirup bis Zitronengras. Mit geschlossenen Augen rief ich mir den Duft ins Gedächtnis, aber es fiel mir einfach nicht ein.

Wieder ging ich früh schlafen, und am nächsten Morgen fühlte ich mich tatsächlich besser. Die Duft-Ganache hatte ich gestern in dunkle Halbkugelformen gespritzt und gab Stella nun eine zum Probieren.

»Köstlich!«, sagte sie schmatzend. »Muss ein toller Typ sein, wenn du ihm zuliebe eine Praline erfindest!«

»Sein Duft ist etwas ganz Besonderes, das stimmt. Über den Rest kann ich leider nichts sagen.«

Sie grinste.

»Natürlich. Wonach hat Tobias immer gerochen?« Sie lachte und band sich die Schürze um.

Tobias, mein Exfreund. Sein Duft hatte mich immer an einen von der Sonne beschienenen Sandstrand erinnert. Ich hatte ihn beim Laufen kennengelernt. Ein Fitnesstrainer. Eigentlich hätte ich gewarnt sein müssen, denn er aß keine Schokolade, sondern plante immer den nächsten Marathon oder Triathlon oder sonst was. Irgendwann musste er sich zwischen seinen Ernährungsplänen und mir entscheiden.

Wie lange ich nicht mehr an ihn gedacht hatte.

Herlind schloss gerade den Laden auf, als ich die Obermüller bei den Briefkästen traf. An einen Zufall glaubte ich schon lange nicht mehr.

Wieder trug sie einen Brief in der Hand. Sie sah mich ernst an. »Es tut mir leid«, sagte sie.

Meine Hand zitterte, als ich den unfrankierten Umschlag entgegennahm. Ich ahnte, was er enthielt; schwer lag er in meiner Hand.

»Aber jetzt kommt das Weihnachtsgeschäft!«, sagte ich leise.

»Wenn ich bis Weihnachten warte, sind Sie mit fünf Monatsmieten im Rückstand. Für den Laden, die Werkstatt, die Wohnung. Und ich kann mich nicht nur von Ihren Pralinen ernähren. Es tut mir wirklich leid, Frau Winter.«

Dann nickte sie mir noch einmal zu und ging.

Wie in Trance öffnete ich den Briefkasten. Eine Zeitschrift, Werbung, mehr nicht. Ungelenk nahm ich die Sendungen heraus, beinahe wären sie zu Boden gefallen. Dann schleppte ich mich ins Büro, schloss die Tür hinter mir.

Ich saß da, aber ich konnte mich nicht erinnern, mich gesetzt zu haben. Da war nur Leere, nichts als Leere. Gekündigt. Sollte alles vorbei sein? Mein Traum von der eigenen Chocolaterie? Kaum begonnen, schon Vergangenheit?

Würde dann ebenfalls ein Handy-Geschäft hier einziehen, so wie in die Chocolaterie meines Vaters? Ob er auch finanzielle Probleme gehabt hatte? Einen Vermieter, eine Bank, das Finanzamt, irgendjemanden, der ihm das Leben zur Hölle gemacht hatte?

Ich wusste es nicht. In meiner Erinnerung war er ein Held, der alles schaffte. Ein großer Mann, auf dessen Schultern ich wie ein Riese durch die Welt lief und der mit seiner Schokolade ein Lächeln auf jedes Gesicht zauberte.

Bis er viel zu früh starb. Die Chocolaterie wurde geschlossen. Werkstatt und Küche waren für immer verloren. Nur der Duft der Schokolade war geblieben.

Da lag der Umschlag. Weiß und unschuldig. Ich machte ihn auf, zog den Brief heraus und las, was ich längst wusste.

Fristlose Kündigung wegen Zahlungsverzug …

Ich fühlte nichts, zitterte, ohne zu frieren, konnte mich nicht mehr bewegen. Wozu auch. Ich starrte einfach so vor mich, starrte und sah nichts.

Erst allmählich erkannte ich, wohin ich die ganze Zeit gestarrt hatte. Auf etwas, das nicht sein konnte. Etwas, das ich kannte.

Auf dem Schreibtisch lag die neue Schokolade heute, die Mitgliederzeitschrift des Deutschen Verbandes der Chocolatiers.

»Sébastien Malineau, der belgische Meister aus München«, stand über dem Coverbild eines sonnengebräunten Mannes im silbernen Blazer. Der Kerl war ständig im Fernsehen und nervte. Und hinter ihm, halb verdeckt von seiner Schulter, glaubte ich, eine Frau zu erkennen. Blond und zart wie meine Mutter.

Aber ich irrte mich bestimmt, wie so oft. Sie konnte es nicht sein, und es brachte auch nichts, sich falschen Hoffnungen hinzugeben.

Voller Enttäuschung warf ich die Zeitschrift in den Papierkorb. Ein Flyer rutschte heraus und landete daneben, ich hob ihn auf. Irgendetwas mit einem Schwan. Ab ins Altpapier damit.

3

Die Kündigung versteckte ich sorgfältig im Schreibtisch und half dann Herlind im Laden. Heute war Freitag, nach dem Feiertag hatten viele frei, und es war bereits morgens viel los. Das Klingeln der Tür, leises Murmeln und Tütenrascheln wollten gar nicht enden. So sollte jeder Tag sein, so voller neugieriger Kunden, die ausgefallene Kompositionen probierten und begeistert kauften.

In jeder noch so kleinen Verschnaufpause erzählte Herlind von der Kreuzfahrt, die sie ihrem Mann zur Silberhochzeit schenken wollte. Offensichtlich hatte sie den Feiertag zum Lesen von Kreuzfahrtkatalogen genutzt. Sie konnte sich nur noch nicht entscheiden, welches Schiff sie buchen sollte. Es ging um Oberdecks, Abendkleider und Candle-Light-Dinners in Venedig, und ich fühlte mich grässlich. Auch wenn sie die ganze Zeit damit angab, einen Großteil des Geldes bereits gespart zu haben. Ich würde es sein, die diesen Traum zerstörte. Es musste doch einen Weg geben, die Katastrophe abzuwenden, zu verhindern, dass das Traumschiff sinken würde.

Paula, die im Café Kiess arbeitete und früher mit mir auf der Berufsschule gewesen war, kam kurz vorbei und fragte, ob ich wie jeden Freitagabend mit in die Sauna käme. Aber ich sagte ab, da Stella am Abend noch auf ein Glas Rotwein vorbeischauen wollte.

Mattis war immer noch bei seinem Vater. Der Kleine war jetzt fünf – und unglaublich süß. Stella und ich hatten letztens bei ihr zu Hause Trüffel gemacht. Wie er gestrahlt hatte, als er probieren durfte. Über und über voller Schokolade war er gewesen, nachdem er beim Füllen und Abdeckeln geholfen hatte. Wahrscheinlich verstand er noch gar nicht, was es bedeutete, wenn Stella ihren Job verlor. Aber die Probleme, die es bereitete, würde er zu spüren bekommen.

Ich musste es ihnen erzählen, ich musste sie enttäuschen, noch vor Weihnachten ihre Träume und Hoffnungen kaputt machen, und ich hatte Angst davor.

Der Hibiskus am Wohnzimmerfenster ließ die Blätter hängen. Vorsichtig goss ich ihn und entfernte die vertrockneten Blüten. Hibiskus liebte ich, seitdem ich gelesen hatte, dass er mit dem Kakaobaum verwandt ist.

Als ich aus dem Fenster schaute, fiel mein Blick auf einen Mann vor dem Fiurelli. Ohne seinen Duft erkannte ich ihn erst auf den zweiten Blick. In der langen grünen Schürze? Hatte Paolo eine neue Aushilfe eingestellt? Seine Frau Maria lag im Krankenhaus. Ein Bandscheibenvorfall, hatte Herlind erzählt.

Er wischte die Tische ab, hielt inne. Plötzlich sah er direkt zu mir hoch, und ich wich einen Schritt zurück. Konnte er mich auf die Entfernung erkennen? Drei Reihen parkende Autos und zwei Fußwege trennten uns.

Es war egal, wie viele Meter es waren. Denn er wandte den Blick nicht ab. Die Tür des Restaurants öffnete sich, Gäste kamen heraus, aber er beachtete sie nicht weiter.

Da drängte sich die Obermüller an ihm vorbei und raffte ihren Lodenmantel vor ihrem dicken Bauch zusammen. Paolo Fiurelli folgte ihr heftig gestikulierend. Beide überquerten den kleinen Platz und blieben vor meinem Ladenstehen. Ich beugte mich vor und konnte erkennen, dass Paolo einen Zollstock auseinanderklappte.

Was sollte das denn? Wollte er das Haus abmessen?

Auf einmal klingelte es. Neugierig rannte ich nach unten. Sie grüßten mich übertrieben höflich, aber nur Paolo lächelte mich an.

»Herr Fiurelli wird die Chocolaterie mieten«, sagte Frau Obermüller.

»Nein«, flüsterte ich verzweifelt. Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht damit.

»Ich erweitere«, sagte er und wippte auf den Absätzen, »und eröffne hier einen Pizzalieferdienst mit Straßenverkauf!«

»Dürfen wir eintreten?«, fragte die Obermüller.

»Nein!«

Sie drängelte sich an mir vorbei in den kleinen Flur. Paolo folgte ihr. Frau Obermüller deutete auf die Hintertür zur Chocolaterie, und ich schloss laut seufzend auf.

»Hier das Büro, laut Plan acht Quadratmeter«, erläuterte Frau Obermüller mit verkniffenem Gesicht.

»Das ist ja nicht größer als eine Abstellkammer.«

Genau das war mein Büro früher auch gewesen.

Ein Geräusch ließ mich erstarren. Stella? Ich hörte Schritte, die die Treppe hochkamen, dann war es still. Hoffentlich nur Frau Strobel, die Mieterin, die zwischen Frau Obermüller und mir wohnte.

»Daneben die Küche, sechzehn Quadratmeter, angrenzend ein Raum mit ebenfalls sechzehn und ein weiterer mit vierundzwanzig Quadratmetern.«

Sie riss die Tür zur Küche auf, Paolo blickte sich prüfend um.

»Die Küche ist zu klein«, sagte er. An allem hatte er etwas auszusetzen. Die Wand zwischen Küche und Werkstatt wollte er rausbrechen, das Lager neu fliesen und die Klimaanlage auf keinen Fall ablösen.

»So etwas Überflüssiges!« Er schnaubte.

»Schokolade reagiert sensibel auf starke Temperaturschwankungen. Im Gegensatz zum Käse auf der Pizza«, erwiderte ich.

»Und wann wird alles frei?«, fragte er und maß die Schaufenster aus.

»Gar nicht«, rief ich.

»So schnell wie möglich«, entgegnete Frau Obermüller.

Nachdem er noch einige Fotos gemacht hatte, gingen sie endlich. Wütend rannte ich nach oben. Nie hätte ich gedacht, dass die Obermüller es so eilig haben würde. Irgendetwas musste mir einfallen, um diese Katastrophe noch abwenden zu können. Ich öffnete eine Flasche Wein, trank einen Schluck. Aber er beruhigte mich nicht. Und zum Nachdenken kam ich auch nicht mehr, denn jetzt klingelte Stella.

Sie zog die Augenbrauen hoch, als sie mein halb volles Weinglas sah, sagte aber nichts.

»Die Obermüller steht unten mit dem Fiurelli. Wusste gar nicht, dass die sich so gut verstehen!«

Ich grunzte und trank noch einen Schluck. Jetzt müsste ich es ihr sagen, jetzt.

Sie legte die Füße aufs Sofa, hob ihr Glas und strahlte mich an.

»Was ich dir schon die ganze Zeit erzählen wollte – ich habe im Kindergarten einen tollen Mann kennengelernt. Alleinerziehend und mit einem süßen Lächeln!«

»Super!«, antwortete ich erleichtert. Wenn Stella frisch verliebt war, traf sie die baldige Kündigung vielleicht nicht mehr ganz so hart.

»Sein Sohn lebt bei ihm, die Mutter arbeitet in China, wenn ich es richtig verstanden habe. Er hat einen guten Job bei … ach, dieser großen Online-Druckerei.«

Sogar frisch verliebt in einen Mann mit Geld.

»Und, wie sieht er aus?«

»Total attraktiv. Leicht gewellte blonde Haare, strahlend blaue Augen … Und sportlich ist er, fährt immer mit dem Rad zum Kindergarten. Und er hat wahnsinnig viel Geduld mit seinem Sohn. Ach!« Sie seufzte.

Klang wie das Gegenteil von ihrem Ex.

»Das letzte Mal hat er sein Rad geschoben und ist mit mir in die Sanderau gelaufen.« Sie seufzte schon wieder. »Irgendetwas an dem Rad war kaputt.«

Und ich dachte schon, er hätte wegen ihr geschoben.

»Apropos kaputt«, sagte sie, »hast du gemerkt, die Schmelzmaschine rattert so komisch. Ist da noch Garantie drauf?«

O nein, das nicht auch noch.

»Ich habe gar nichts gehört. Das bildest du dir bestimmt ein.«

»Nein. Du solltest einen Techniker kommen lassen.«

Noch mehr Kosten! Ob ich überhaupt jemanden fand, der sie reparieren konnte? Die Maschine stammte von einem Spezialisten aus Italien.

»Ach, das wird schon. Komm, erzähl mir noch mehr von deinem Traumtyp. Wie heißt er denn?«

»Lea! Nicht dass die Maschine mitten in der Weihnachtsproduktion ihren Geist aufgibt.«

Ich seufzte. »Ich schaue sie mir morgen an, okay? Und am Montag läuft sie wie am Schnürchen, versprochen. Weihnachten kann kommen!«

Ich hob mein Glas und trank es aus.

»Kriegen wir dieses Jahr eigentlich wieder Weihnachtsgeld?«

Letztes Jahr hatte ich den beiden dreihundert Euro extra gegeben.

»Weiß ich noch nicht«, blieb ich möglichst vage. »Das hängt vom Verkauf ab.«

Wie feige ich doch war. Egal was passieren würde, eines war sicher: Weihnachtsgeld würde es keines geben.

»Mattis wünscht sich ein Piratenschiff von Playmobil. Die sind ganz schön teuer.«

Ich stand auf, ging im Zimmer umher, blieb vorm Fenster stehen. Mattis das Piratenschiff zu verweigern tat weh. Es musste etwas geschehen. Aber was?

Mittlerweile war Stella bei einer Geschichte übers Laternenbasteln angekommen. Sie redete, ich nickte und war mit meinen Gedanken ganz woanders.

»… er will jetzt in dem Karton leben. Da habe ich extra mein Schlafzimmer geopfert, damit er ein großes Kinderzimmer hat, und er will im Karton leben! Angeblich braucht er keine Wohnung.«

Auf einmal hörte ich auf, darüber zu grübeln, wo ich mir Geld leihen konnte.

»Karton?«

»Den von unserem Nachbarn! Hörst du mir überhaupt zu? Wo dessen gigantischer Fernseher drin war. Der Karton ist so groß, dass Mattis drin stehen und auch liegen kann. Jetzt hat er sein Bettzeug reingeräumt und aus dem Karton vom neuen DVD-Spieler einen Schrank gebaut. Eigentlich braucht er gar kein Playmobil zu Weihnachten. Eine Fuhre Kartons vom Elektronikmarkt reicht völlig aus.« Sie kicherte.

Aber das war es nicht, was mich aufhorchen ließ. Sondern der Gedanke, wie wenig Platz man zum Leben eigentlich braucht.

Sie zog ihr Telefon aus der Hosentasche und zeigte mir ein Foto, das sie von Mattis in seinem Karton gemacht hatte. Als Beleuchtung hatte er sich eine Weihnachtslichterkette reingehängt.

»Und das hat er alles selber gemacht?«, fragte ich.

»Klar. Der wird mal Architekt!«

Als sie weg war, kroch ein Schluchzen meine Kehle hoch, und ich versuchte, es hinunterzuschlucken, doch es war stärker. Tränen schossen mir in die Augen, und ich warf mich aufs Sofa und heulte, bis das Kissen nass war.

Danach fühlte ich mich besser.

Ich klappte meinen Laptop auf und googelte, was ich bei einer außerordentlichen Kündigung unternehmen konnte. Schnell wurde mir klar, dass ich noch Zeit hatte. Frau Obermüller müsste erst eine Räumungsklage erwirken, und das dauerte offensichtlich. Einen weiteren Aufschub würde ich wohl auch bekommen, wenn ich einen Teil der Miete nachzahlte.

Irgendwie musste ich es schaffen, dass sie genauso wie ich auf das Weihnachtsgeschäft vertraute. Allein die heutigen Verkaufszahlen – sagenhaft.

Ich grübelte so lange, bis ich den Finger kaum noch aus der gezwirbelten Locke bekam, und auf einmal sah ich die Lösung klar vor mir: das Foto von Mattis im Karton.

4

Samstagabend, der Kühlschrank war leer und mein Magen auch. Samstags arbeitete ich alleine – kaum eine Chance, zwischendurch mal Pause zu machen. Zu viel gegrübelt hatte ich auch, denn es war ja nicht leicht, sich richtig zu entscheiden, wenn die Existenz auf dem Spiel stand.

Jetzt musste ich aber erst einmal was essen.

Am Morgen hatte ich, warum auch immer, auf dem Markt ein Bündel Karotten gekauft. Vielleicht wegen der durchdringenden Farbe im grauen Morgennebel. Ich fand noch einige Kartoffeln, schälte sie, putzte die Möhren und schnitt alles in Würfel. Dann erhitzte ich Knoblauch in Olivenöl. Der Geruch belebte meine Geister, da steckte der Sommer drin und die grünen Blätter, die würzige Erde und die frische Säure der Früchte. Kochen ist wie das Backen und die Schokolade eine große Leidenschaft von mir. Ob Hirschgulasch mit Zimt oder Schokoladentrüffel mit Olivenöl und Meersalz. Alles war eins, alles war verführerischer Duft und befriedigender Geschmack.

Die Möhren und Kartoffeln in die Pfanne, dazu ein Stück Ingwer, dann löschte ich es mit Weißwein ab, gab Salzwasser dazu und ließ das Gemüse etwas köcheln.

Auf dem Markt hatte es nach Orangen gerochen, nach Basilikum und Koriander, und als ich mich umgedreht hatte, hatte er dagestanden. Die neue Bedienung von Paolo. Er kaufte gerade einen kleinen Strauß zartrosafarbener Rosen, und für einen kurzen Moment war ich enttäuscht. Für eine Sekunde, bis die Verkäuferin ihm Grüße an seine Mutter hinterherrief. Wieso irritierte er mich nur so, ohne dass wir je ein Wort miteinander gewechselt hatten? Nur weil sein Duft mich an etwas erinnerte, schlug mein Herz schon stärker. Und sein Aussehen, das die Verkäuferin dazu brachte, ihm so lange hinterherzublicken, dass die nächste Kundin sich erbost räuspern musste, musste mich das gleich beeindrucken?

Zweimal war ich schon von gut aussehenden Männern verlassen worden. Meine erste große Liebe, Sascha, verschwand von einem Tag auf den anderen, um Chefpatissier auf einem Kreuzfahrtschiff zu werden. Meine zweite Liebe war Tobias, der Fitnesstrainer. Er lief mir beim Joggen vor die Füße, und dann rannte er vor mir und der Freiheit, essen zu können, was und wann ich wollte, zugunsten eines Triathlons davon.

Natürlich hatte Stella recht. Ich war einsam. Aber meine finanziellen Probleme reichten mir. Ich hatte keine Kraft, mich auch noch um meine Gefühle zu kümmern.

Seufzend holte ich eine zweite Pfanne aus dem Schrank. Ich gab wieder ein paar Tropfen Olivenöl hinein und röstete Pinienkerne und Koriandersamen. Der Geruch der ätherischen Öle des Samens beruhigte mich ein wenig, genauso, wie das Gemüse zu pürieren, das ich nun mit Sahne, Paprika und Kreuzkümmel abschmeckte.

Es war noch nicht perfekt. Ich drehte mich zu meinem Gewürzregal um und überlegte, was noch fehlte. Dann betrachtete ich die Schränke, den kleinen Tisch. Wie oft ich wohl noch hier kochen würde? Ich seufzte und wandte mich ab. Aus dem Küchenfenster sah man in den Innenhof und in die gegenüberliegenden Wohnungen. Auf einem Balkon blinkte bereits ein beleuchteter Weihnachtsmann, vier Wochen zu früh.

Ich musste an Mattis und die Weihnachtslichterkette in seinem Karton denken. Und daran, wie wenig Platz ein Mensch doch brauchte. Ob es die richtige Entscheidung war? Einen Teil aufzugeben, um alles zu retten? Ausgaben senken war immer ein wichtiger Schritt, um einen Betriebaufrechtzuhalten. Ausgaben senken, Einnahmen steigern. Wenn jetzt die Weihnachtsproduktion startete …

Mein Blick fiel auf eine alt gewordene Orange. Ich schnitt in die harte Schale, sofort verbreitete die überreife Frucht ihren wunderbaren Duft. Ein paar Spritzer in die Suppe, dazu die gerösteten Kerne und fürs Auge einige Blätter Basilikum von meinem Kräuterbeet im Küchenfenster. Fertig.

Auf einmal schlug mein Herz schneller, und ich sah das Gesicht des Unbekannten vor mir. So einfach gelang es mir wohl doch nicht, ihn aus meinen Gedanken zu verbannen.

Nach meiner morgendlichen Laufrunde, dieses Mal im Schneeregen, duschte ich heiß, zog meine Lieblingsjeans und einen schwarzen Pulli an. Dann schritt ich fast beschwingt die Treppe hoch.

Von Stockwerk zu Stockwerk wurde ich langsamer. Bis jetzt war ich noch nie hier oben gewesen. Wozu auch. Vor Frau Obermüllers Tür roch es nach gekochten Kartoffeln, und auf dem Fußabtreter stand »Grüß Gott«, mit Herzchen über dem Ü.

Ich klingelte und entschuldigte mich für die Störung am Sonntagmorgen. Kommentarlos bat sie mich ins Wohnzimmer. Eiche rustikal und Gummibäume. Wie im Museum. Die Sitzecke war auf das große Panoramafenster und auf die im Regen verschwundene Festung ausgerichtet. Frau Obermüller bot mir einen Platz auf ihrem abgenutzten braunen Ledersofa an. Aber ich konnte nicht stillsitzen und lief vor dem Fenster auf und ab.

»Ich möchte Ihnen eine Lösung vorschlagen, die uns beiden entgegenkommt. Ich ziehe aus der Wohnung aus. So spare ich Kosten, und Sie können sie neu vermieten. Und im Gegenzug nehmen Sie die Kündigung für den Laden und die Werkstatt zurück.« Ich ließ mich auf das Sofa fallen.

»Sofort?«, fragte sie und nahm gegenüber Platz.

Ich nickte. Ihre Neugierde war unübersehbar.

»Eine Großtante von mir wohnt in Würzburg, bei der werde ich wohnen.«

»Meinen Sie die Kunkel? Aus der Zellerau?«

Was für ein Mist. Woher kannte die Obermüller meine Großtante? Lotte lebte seit einigen Wochen im Heim, die merkte nichts mehr. Leider. Wenn ich sie besuchte, gab sie in kindlichem Tonfall damit an, dass ein GI ihr Schokolade geschenkt habe und nicht mir. Sie hielt mich für Oma.

»Zu der ziehen Sie?«, fragte sie erstaunt.

»Sobald ich einen Kleinlaster aufgetrieben habe.« Was hoffentlich lange dauern würde.

Lottes Wohnung war aufgelöst worden, nur die Garage in der Zellerau, in der Omas Sachen lagerten, gab es noch. Meine Möbel passten da bestimmt auch noch rein. Ich würde hierbleiben, in der Chocolaterie, und aus dem Koffer leben.

Egal, zum Kochen gab es die Schokoladenküche, waschen konnte ich mich im WC, und das Sofa kam ins Büro.

»Da schick ich Ihnen meinen Enkel, der schuldet mir sowieso noch einen Gefallen.«

Ich bekam einen Kloß im Hals.

»Ob Herr Fiurelli mit seinem Straßenverkauf wohl mehr Glück hat als ich?«, sagte ich lächelnd.

»Wieso Straßenverkauf? Ich dachte, er will nur sein Restaurant erweitern.«

»Nein, er hat gestern eindeutig von einem Straßenverkauf gesprochen. Wenn er ihn abends so lange wie den Lieferdienst öffnet, kann er bestimmt genügend Kunden anlocken. Seine Pizza ist schließlich berühmt, die Leute werden Schlange stehen.«

»Schlange stehen? Nachts?«

»Und die Auslieferer mit ihren Vespas, das gibt richtig italienisches Flair.«

»Meinen Sie Motorroller? Nachts? Das wird doch total laut!« Empört hob sie die Hand.

»Manche Lieferdienste fahren bis weit nach Mitternacht aus. Da bekommt er schnell genügend Geld für die Miete zusammen.«

Sie sah mich verunsichert an. Hatte ich es mir doch gedacht. Paolo Fiurelli hatte ihr seine wahren Pläne verheimlicht.

Es kostete mich Überwindung, aber dann lächelte ich sie an. »Die Chocolaterie kann ich retten, versprochen, aber Sie müssten mir noch einen Aufschub für die Mietschulden gewähren.«

Mürrisch lehnte Frau Obermüller sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und woher weiß ich, dass Sie mir dann das Geld bezahlen?«

»Wissen können Sie es nicht. Sie können mir nur vertrauen – und der Qualität meiner Produkte. Sie wissen doch, wie gut meine Pralinen sind!«

Sie schluckte hörbar. Aber dann atmete sie tief ein und aus und antwortete: »Vertrauen! Ich habe Ihnen die letzten Monate vertraut. Nein, die Kündigung ziehe ich nicht zurück.«

»Warten Sie doch das Weihnachtsgeschäft noch ab, Frau Obermüller!«

Aber sie schüttelte erbarmungslos den Kopf.

Enttäuscht rannte ich die Treppe hinunter. Jetzt musste ich darauf hoffen, dass die Mühlen der Justiz langsam mahlten und es bis zur Räumungsklage lange genug dauerte, sodass ich zumindest einen Teil der Schulden bezahlen konnte.

Es auf einen Rechtsstreit ankommen zu lassen war eigentlich nicht meine Art. Aber eine andere Möglichkeit hatte ich nicht. Für einen Lottogewinn fehlte mir die Glückssträhne, und eine Erbschaft war ebenfalls nicht zu erwarten. Omas Geld steckte bereits in der Chocolaterie. Soweit sie es entbehren konnte. Billig war ein Lebensabend auf Mallorca nicht, auch wenn ihr Freund Rüdiger die meisten Kosten trug.

Auf einmal erschien mir meine Wohnung wie ein Paradies, das ich nie verlassen konnte. Auf dem alten Sofa hatte ich schon als kleines Mädchen gekuschelt. Ich kannte jeden Fleck in seinem verblichenen Bezug. Die Glasränder im Eichenfurnier des Couchtisches stammten von Opas Schoppen. Das Billyregal mit der roten Kante – beim Zusammenbau hatte ich ein Brett falsch eingeschraubt und die vordere Kante mit roter Farbe angemalt, damit man den Pressspan nicht sah. Am liebsten mochte ich die Stehlampe. Als der Stoff beim Umzug einen Riss bekam, hatte ich aus alten CDs eine neue Verkleidung gebastelt. Diese Dinge waren mein Leben, auch wenn es wenige waren. Und das sollte jetzt alles zu Ende sein?

Um mich abzulenken, verzog ich mich mit meiner Kuscheldecke, einer heißen Schokolade und dem Telefon aufs Sofa. Stella konnte ich nicht anrufen, sowohl sie als auch Herlind sollten möglichst noch nichts von der Kündigung erfahren. Das hatte mir Frau Obermüller versprechen müssen.

Paula ging nicht ran. Blieb nur Oma übrig.

»Winter«, meldete sich eine zittrige Stimme. Sie klang schwächer als sonst.

»Hallo, Oma, hier ist Lea«, antwortete ich.

»Küken, was ist denn, ist was passiert?«

Immer glaubte sie, dass ich nur anrufen würde, wenn es schlechte Nachrichten gab. Aber dieses Mal stimmte es sogar.

Um ihre Sorgen zu zerstreuen, bedankte ich mich erst einmal für den Brief und erzählte von den neuen Kürbistrüffeln. Währenddessen überlegte ich, wie ich ihr von meinen finanziellen Problemen erzählen konnte, ohne dass sie sich sofort Sorgen machte.

»… das Püree langsam einkochen lassen …«

»Rüdiger hat mich verlassen«, unterbrach sie mich mit dünner Stimme, schluchzte auf und weinte.

Ich kannte den Mann kaum. Rüdiger spielte gerne Golf und trug Goldkettchen. Oma war offensichtlich schon vor Opas Tod mit ihm befreundet gewesen. Wovon weder Opa noch ich etwas geahnt hatten.

»Das wird schon wieder, Oma. Bestimmt kommt er morgen zurück. Wer lässt denn eine so tolle Frau wie dich alleine!«

»Wir haben uns gestritten. Er findet, ich würde ihn zu viel kontrollieren. Dabei habe ich doch nur Angst, dass … er … ach, ist egal.«

»Soll ich mit ihm sprechen?«

»Nein, mein Kind. Wie sieht das denn aus. Meine Enkelin beschwert sich bei meinem Freund!« Sie putzte sich die Nase. »Ach, und wenn es ganz einsam wird, dann komme ich zu dir, Lea.«

Wie konnte ich ihr da von der Chocolaterie erzählen? Dass es bald kein »bei mir« mehr geben würde? Nichts konnte ich sagen, nichts. Nur hoffen.

5

Eisiger Wind trieb die letzten Blätter der Platanen vor sich her. Die blaue Altpapiertonne stand abholbereit vor dem Haus, ich hob den Deckel und schüttete den Inhalt meines Papierkorbes aus meinem Büro hinein. Montagmorgen. Neue Woche, neues Glück? Wer wusste das schon. Aber eine Entscheidung gefällt zu haben war eine Erleichterung. Ich war der Obermüller entgegengekommen, das war gut, auch wenn ich sie bis jetzt nicht umstimmen konnte. Aber vielleicht überlegte sie es sich mit der Räumungsklage noch.