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Gnostisches Denken prägt vor allem in der Moderne viele Philosophen, Künstler und politische Ideologen der unterschiedlichsten Lager. Micha Brumliks Darstellung ermöglicht einen anregenden Zugang zu der großen, manchmal furchtbaren Tradition des weltverneinenden Denkens. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 539
Micha Brumlik
Die Gnostiker
Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen
FISCHER E-Books
Das vorliegende Buch, das der Entwicklung und Veränderung des gnostischen Denkens in der Geschichte gilt, ist in vielen Hinsichten mit einem Freundeskreis verknüpft, der über mehr als zehn Jahre lang, Woche für Woche, gemeinsam die Bibel studierte. Es handelte sich um einen typisch akademisch studentischen Zirkel, der sich von 1978 – 1989 traf, um aus dem Blickwinkel von Juden und Christen, von Soziologen, Philosophen und Theologen dem auf die Spur zu kommen, was sich allen materialistischen Erklärungen zum Trotz denn doch als hartes Substrat der abendländischen Geschichte und der sie begleitenden Judenfeindschaft erweisen sollte.
Martin und Nele Löw-Beer, Hermann Kocyba, Cilly Kugelmann und Doron Kiesel beharrten skeptisch auf strikter soziologischer Analyse und ironischem Abstand. Werner Schneider sowie Dietrich und Lisa Neuhaus brachten in diesem Zirkel die Theologie Karl Barths zur Geltung und mir zur Kenntnis. Mein unvergessener Freund Peter Müller, der mir gegenüber zum ersten Mal im Jahr 1975 den Namen Marcions erwähnte, war auch während der Abfassung dieses Buches ein Gesprächspartner. Ulrike Kolb steuerte eine poetische Sichtweise bei.
Unabhängig von alledem diskutiere ich mit Hauke Brunkhorst und Gertrud Koch seit bald zwanzig Jahren über das Problem des Negativismus. Ihr Widerspruch war stets Ansporn.
Ohne meine Lebensgefährtin Renate Nyssen freilich hätte dieses Buch in mehr als nur einer Hinsicht nicht entstehen können. Ihr sei es dankbar gewidmet.
»Wer waren wir? Wer sind wir geworden? Wo waren wir? Wohinein sind wir geworfen? Wohin eilen wir? Wovon sind wir befreit? Was ist Geburt? Was Wiedergeburt?«[1] Diese Fragen, die uns der christliche Kirchenvater Clemens aus Alexandrien, der auf der Wende vom zweiten zum dritten nachchristlichen Jahrhundert lebte, überliefert, bedrängen auch noch die Menschen des ausgehenden zweiten nachchristlichen Jahrtausends – jedenfalls dann, wenn ihnen die Gewißheiten des alltäglichen Lebens vergehen und sie sich plötzlich mit der Frage nach dem Sinn ihres Lebens konfrontiert sehen. Daß derlei Fragen entweder nicht gestellt oder – wenn doch – nur in einer bestimmten Art und Weise beantwortet werden dürfen, war und ist bis heute die Antwort aller Orthodoxien, also all jener, die eine gerade, eine richtige, eine eindeutige Haltung zu Gott, den Menschen und der Welt reklamieren. Diese Fragen zu stellen mag naiv oder sinnlos erscheinen, sie zu beantworten gar eitel und anmaßend. Das menschliche Leben mit seinen Freuden und Leiden, mit seinem Schmerz und seiner Lust, scheint einer letzten Sinngebung nicht zugänglich – es sei denn in gläubigem Vertrauen. An einen letzten, alles verbürgenden Sinn, so scheint es, kann man nur noch glauben.
In einer Welt, die als sicheres Wissen nur noch methodisch gesicherte und gerade deshalb fehlbare Erkenntnis zuläßt, ist dies ein Gemeinplatz. Aber auch unter Lebensumständen, die noch nicht so sehr durch die Wissenschaft bestimmt waren wie die unseren, litten die Menschen daran, auf jene letzten existentiellen Fragen, die sie unbedingt angingen, keine gesicherte Antwort, kein Wissen erhalten zu können. Wir haben uns daran gewöhnt, im Christentum vor allem jene Religion zu sehen, die durch den Glauben an den Fleisch gewordenen, gekreuzigten Gott den Menschen einen Weg aus der Verzweiflung über ihre Sündhaftigkeit und das Verfehlen ihres eigenen Lebens weist. Wenden wir den Blick einen Moment von dem, was das Christentum predigt, ab und dem zu, wie es seine Wahrheit verkündigt, so tritt es als eine Religion auf den Plan, die in unerbittlicher Weise die Kluft zwischen Glauben und Wissen verkündigt und die Menschen auffordert, um des rettenden Glaubens willen die Suche nach gesichertem Wissen aufzugeben. Zu Beginn des ersten Jahrhunderts der Zeitrechnung predigte der Apostel Paulus so den christlichen Gläubigen in Korinth:
»Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist’s eine Gotteskraft. Denn es steht geschrieben« – hier zitiert der Apostel den Propheten Jesaja – »Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen. Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weltweisen? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht? Denn dieweil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch törichte Predigt selig zu machen die, so daran glauben. Sintemal die Juden Zeichen fordern und die Griechen nach Weisheit fragen, wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Christen, predigen wir Christum, göttliche Kraft und göttliche Weisheit. Denn die göttliche Torheit ist weiser, denn die Menschen sind; und die göttliche Schwachheit ist stärker, denn die Menschen sind.« (1. Kor. 1, 18–25)
Jene, die Paulus hier als Juden und Griechen bezeichnet, sind Menschen, die in bezug auf die letzten Fragen auf Beweise und Wahrscheinlichkeiten, auf Tradition und Lebenskunst, auf Wissenschaft und Philosophie setzen. Paulus hingegen hat in einer geradezu bedrückenden Modernität erkannt, daß weder Beweise noch Erkenntnisse, sondern im Gegenteil nur das bedingungslose, blinde Annehmen einer alles Erfahrungswissen überspringenden Botschaft eine Antwort auf jene letzten Fragen zu geben vermag.
Aus Wissenschaft und Philosophie, aus dem Bemühen, über Gott, Mensch und Universum gesicherte Erkenntnisse zu gewinnen, läßt sich dem Leben kein letzter Sinn abringen, läßt sich kein Weg mehr weisen, den Fährnissen des Lebens und der Gewißheit des eigenen Todes getröstet entgegenzusehen. In dieser Radikalisierung des Gegensatzes von Wissenschaft und Glaube ist der Apostel ganz und gar unser Zeitgenosse – die gegenwärtige Sozialwissenschaft sieht die Situation, auch dort wo sie sich progressiv und emanzipatorisch äußert, kaum anders: »In Anbetracht der individuellen Lebensrisiken« – heißt es bei Jürgen Habermas – »ist freilich eine Theorie nicht einmal denkbar, die die Faktizitäten von Einsamkeit und Schuld, Krankheit und Tod hinweginterpretieren könnte; die Kontingenzen, die an der körperlichen und der moralischen Verfassung des Einzelnen unaufhebbar hängen, lassen sich nur als Kontingenz ins Bewußtsein heben: mit ihnen müssen wir, prinzipiell trostlos, leben.«[2]
Das vorliegende Buch handelt von Menschen, die weder bereit waren, bei der Suche nach Sinn ihre Vernunft aufzugeben und sich blindem Glauben zu überlassen, noch auf die Suche nach einer Theorie des Heils verzichten mochten. Es handelt von Philosophen und Gläubigen, die der Trennung von Religion und Wissenschaft, von Glaube und Wissen von allem Anfang an skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden und in immer wieder neuen Anläufen ein Wissen zu erreichen suchten, das ihnen einen Weg zum Heil garantierte. Anders als die reinen Philosophen begnügten sich diese denkenden Trostsucher nicht mit Versuchen, gut zu leben, sondern strebten nach dem Heil; anders als die Gläubigen waren sie nicht bereit, ihre Vernunft zu opfern. Die Geheimnisse Gottes und der menschlichen Existenz galten ihnen nicht als scheu zu wahrende Heiligtümer, sondern als Herausforderungen, die es mutig und gelassen zu bezwingen galt. Der Durst nach rettendem Wissen ließ sie zum Gegner all jener werden, die mit der Unterscheidung von Glauben und Wissen zugleich die absolute Unterschiedlichkeit von Gott und Mensch, von Schöpfer und Geschöpf behaupteten und dabei zugleich die Anerkennung der Schöpfung als gut einforderten. Der Durst nach dem rettenden Wissen war von einer tiefen Überzeugung bewegt: daß die Welt böse, das Leiden in ihr unerträglich und die Welt im ganzen daher nicht nur schlecht, sondern auch gar nicht von Gott geschaffen sein konnte.
So wie alle Anstrengungen des sich im Christentum anmeldenden modernen Denkens darauf zielten, mit der Spaltung von Glauben und Wissen leben zu können, richteten sich alle Bemühungen der Gnostiker darauf, diese Spaltung zu überwinden. Damit erweist sich das Unternehmen der Gnostiker, das bis heute immer neue Anhänger gewinnt, als grundsätzliches Gegenprogramm zu jener Form der abendländischen Kultur, die uns aus dem Judentum, dem Christentum und der klassischen griechischen Philosophie erwachsen ist. »Die Stimmung der Gnosis hat«, so diagnostiziert noch 1966 Hans Jonas, der in den dreißiger Jahren diesem Phänomen eine bedeutende und bahnbrechende Untersuchung gewidmet hat, »abgesehen von dem tödlichen Ernst, der zu einer Erlösungslehre gehört, etwas Rebellisches und Protestierendes an sich. Ihre Verwerfung dieser Welt ist, weit entfernt von der Gelassenheit oder Resignation anderer weltflüchtiger Glaubenslehren, von einer eigenartigen, oft in Schmähung ausartenden Heftigkeit, und wir beobachten allgemein eine Tendenz zum Extremismus, einen Exzeß von Phantasie und Gefühl. Uns kommt der Verdacht, daß die gestörte metaphysische Situation, von der der gnostische Mythos erzählt, ihr Gegenstück in einer gestörten realen Situation hat, daß die Gestalt der Krise, in die seine Symbolik gekleidet ist, eine historische Situation des Menschen selbst widerspiegelt.«[3]
Diese klinische Diagnose operiert mit einer starken soziologischen Vermutung, die vom Autor selbst als »Widerspiegelungstheorie« bezeichnet wird. Bestimmte materielle und ökonomische Lebensverhältnisse lassen den Menschen kaum eine andere Wahl, als sich eine Religion zu wählen, die es ihnen ermöglicht, dem Leid, das sie an dieser Welt verspüren, dadurch Ausdruck zu geben, daß sie die Welt insgesamt und notwendig für eine Ausgeburt des Teufels halten.
Um die Stichhaltigkeit von Jonas’ These und ihre Begründung zu überprüfen, wäre es notwendig, in einer historisch und kulturell übergreifenden Perspektive nach sozioökonomischen und sozialpsychologischen Gemeinsamkeiten all jener Individuen, Gruppen und Gemeinden zu forschen, die gnostischem Gedankengut anhingen. Zu untersuchen wäre beispielsweise, in welcher Hinsicht die Lebensverhältnisse der Gemeinde von Qumran, von chinesischen Manichäern im achten Jahrhundert, von provenzalischen Troubadouren des dreizehnten Jahrhunderts und schließlich von pessimistischen Philosophen im zwanzigsten Jahrhundert miteinander identisch sind. Aber sogar wenn Jonas seine These nicht in dieser weitreichenden Perspektive überprüft sehen wollte, sondern sich lediglich auf das Römische Reich des zweiten und dritten Jahrhunderts bezöge, wäre es unerläßlich, die eine historische Situation, in der sich die Gnostiker befunden haben, zu ermitteln. Womöglich läßt sich jedoch über den Zusammenhang von sozialer Lage und religiöser Haltung nicht mehr sagen, als daß sich in einem gegebenen Weltbild eine bestimmte – auch historische – Situation der Menschen artikuliert.
Es sollte daher auf jeden Fall der Frage, warum Menschen gnostische Lehren annahmen, die Beantwortung der Frage vorausgehen, wie es sich in diesem gnostischen Weltverhältnis leben ließ.
Das Weltverhältnis, in dem wir jedenfalls noch leben, ist wesentlich vom abendländischen Christentum und damit auch vom Denken der Hebräischen Bibel geprägt und beeinflußt. Grundzüge dieses Weltverhältnisses bestehen darin, dem Leben der Menschen auf dieser Erde grundsätzlich Sinn zuzuschreiben, darauf zu vertrauen, daß Gottes Handeln alles in allem, allen Zweifeln zum Trotz, gerecht oder doch mindestens gnädig ist und – vor allem – daß es nur einen Gott gibt. Die Fragen, die sich auf diese Voraussetzungen beziehen, sind die Fragen nach dem Verhältnis von Transzendenz und Immanenz, nach der Theodizee und nach dem Monotheismus, und sie haben sich immer wieder als die Fragen nach der Güte der Schöpfung und des Schöpfers, der Entstehung des Bösen und der Einzigartigkeit und Unvergleichlichkeit Gottes artikuliert. Der Begriff »Transzendenz« soll in diesem Zusammenhang das Bestehen einer von allen weltlichen Zusammenhängen strikt getrennten, ganz und gar andersartigen, eben göttlichen Sphäre bezeichnen, während der Begriff der »Immanenz« dessen Gegenteil ausdrückt: Sogar wenn es etwas »Göttliches« gäbe, so gehört es doch nicht einer ganz anderen, sondern eben jener Welt an, die wir als die unsere kennen.
Die Frage der »Theodizee« ist die Frage nach der Rechtfertigung Gottes, die zum ersten Mal in aller Deutlichkeit im Buch »Hiob« der Bibel gestellt wird: Wie ist es möglich, daß ein Gott, der ja als gut und gerecht und zudem als allmächtig gilt, dem Unglück auch und gerade der Menschen, die ihm stets die Treue hielten, tatenlos zusieht? Das gnostische Weltverhältnis bzw. die Fragen, die die Gnostiker an das biblische Denken richteten, erscheinen heute zunächst als eine Radikalisierung von Teilen der biblischen Tradition. Das gnostische Denken spielt die Idee der Einzigartigkeit Gottes und das strikte Beharren auf universeller Gerechtigkeit und Gnade gegen die Vorstellung eines sinnhaften menschlichen Lebens in einer leidenden Schöpfung aus.
Wo sich das biblische Denken in dem wahrscheinlich im sechsten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung entstandenen Buch »Genesis« dessen versichert, daß alles, was Gott geschaffen hatte, gut sei, fragt das gnostische Denken danach, warum die Menschen dann unschuldig unter Leiden und Unglück leben müssen. Wenn aber die Menschen in Gottes Schöpfung unschuldig unter Leiden und Unglück leben müssen, dann stellt sich die Frage, ob diese Schöpfung zu Recht das Prädikat »gut« trägt und – radikaler noch – ob deren Schöpfer als »gut« bezeichnet werden kann.
Da im Rahmen dieses Weltbildes weder das Faktum der Schöpfung selbst noch daher ihr Schöpfer bezweifelt wird, entsteht die Frage, ob ein Schöpfer, der nicht mehr als »gut« bezeichnet werden darf, in Wahrheit jener Gott sein kann, den der biblische Monotheismus bekennt. Wenn jener Gott, den der Monotheismus in seiner Einzigartigkeit bekennt, in Wahrheit mit nichts auf Erden und im Himmel zu vergleichen ist und er in seiner Güte, Gnade und Gestaltlosigkeit in keiner Weise vorstellbar und faßbar ist, dann entsteht zudem die Frage, ob die menschlichen Bilder, die sich die Bibel dennoch von Gott macht, nicht in Wirklichkeit von einer anderen Größe sprechen, die vieles sein mag, aber nicht Gott.
Wenn aber Gott konsequent als jenes völlig andere Prinzip von Gnade und Gerechtigkeit verstanden wird, dann ist die Frage zu beantworten, wie gleichwohl dieses ganz andere so in die Angelegenheiten der Menschen eingreifen kann, daß sie dieser Güte, Gnade und Gerechtigkeit teilhaftig werden? Aber was, wenn jener Gott gar nicht handelnd in den Weltlauf eingreifen könnte?
Dann bleiben nur noch zwei Möglichkeiten übrig: entweder zu lernen, in der gefallenen Welt zu überleben, oder eben – wenn Gott den Menschen ob seiner Andersartigkeit nicht entgegenkommen kann – als Mensch Gott entgegenzukommen. Zumal die zweite Möglichkeit erfordert aber ein Wissen besonderer Art: nämlich das einer höheren Einsicht in die Geheimnisse des Schöpfungsaktes, in das Wesen Gottes und der Menschen, einer Einsicht darin, in welchen Beziehungen das Göttliche und die Menschen stehen, und zudem erheblicher Erkenntnisse darüber, auf welchem Wege diese Einsichten so gelebt werden können, daß Menschen auch in der Situation einer heillosen Schöpfung entweder Gott helfen können, die Schöpfung zu erlösen oder sich Gott so zu nähern, daß sie selbst erlöst werden.
Biblisches Denken folgt einem aufklärerischen Impuls: Indem es unnachgiebig auf der Einzigkeit Gottes als des Schöpfers und Gebers der Weisung beharrt, entmachtet es die Fixierung an Vorgegebenes und eröffnet damit einen Raum menschlicher Freiheit. Monotheismus und die Idee menschlicher Freiheit hängen innerlich miteinander zusammen: Gegenüber dem einen gestaltlosen Gott, der zudem der Schöpfer der Welt und der Menschen ist, verblassen die Mächte des Vorgegebenen, werden sie zum Stoff menschlichen Handelns.
Die biblische Schöpfungsgeschichte erzählt, wie Gott Sonne und Mond nahm und sie als Lichter an den Himmel hängte. Das Ungeheuerliche dieser Geschichte läßt sich nur verstehen, wenn man weiß, daß Sonne und Mond im alten Orient als leibhafte Götter verehrt wurden, als Götter, denen oft genug Menschenopfer gebracht wurden. In der Bibel werden Sonne und Mond nicht etwa als mindere Götter einem höheren Gott untergeordnet, sondern ihrer Göttlichkeit ganz und gar entkleidet – sie sind hier nichts weiter als kosmische Beleuchtungskörper. Eine besondere Verehrung gebührt ihnen nicht. Mit dem Auszug, der Vertreibung der Götzen aus der Natur wird diese zum Lehen der Menschheit. Gott, der diese Schöpfung als gut erschaffen hat, übereignete sie den Menschen zum pfleglichen Umgang für sich und ihre Nachkommenschaft. Erde und Schöpfung sind nach biblischer Lehre nicht deshalb zu bewahren, weil sie in sich heilig seien, sondern weil sie Gottes Geschenk an die Menschen darstellen. Ebenso sind Monotheismus und die Idee universaler Gerechtigkeit miteinander verbunden: Der einzige, gestaltlose Gott, der nach biblischer Auskunft die Menschen in seinem Bilde schuf, schuf damit eben nur eine, eine einzige Gattung von Menschen, die ihre Würde und ihren Anspruch auf Gerechtigkeit und Gnade aus genau dieser Gottesebenbildlichkeit verstehen können.
Endlich hängen der Monotheismus des Schöpfergottes und das Vertrauen auf die Möglichkeit innerweltlichen Handelns miteinander zusammen: Wenn Gott selbst seine Schöpfung im ganzen als gut gewollt hat, haben auch die Menschen zumindest die Chance, durch eigenes Handeln dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen.
Doch scheinen die Ideen von Freiheit, Gerechtigkeit und gelingendem Handeln einer Dialektik zu unterliegen: Wie, wenn die Freiheit der Menschen zum Leiden der Menschen und der Schöpfung, zu ihrer Unterwerfung führt? Wie, wenn die an Gerechtigkeitsvorstellungen gebundene Gleichheit der Menschen sich nicht ohne neues Unrecht durchsetzen läßt?
Wie, wenn das Handeln in einer Welt, die jedenfalls nicht restlos von Freiheit bestimmt ist, sich immer wieder seines Fehlschlagens gewahr werden und daher verzweifeln muß? Das Denken der Gnostiker läßt sich als ein ihnen selbst nicht immer durchsichtiger Versuch werten, die Paradoxien, die das aufklärerisch biblische Denken aus sich hervortrieb, zu verschärfen, es umzudeuten, um damit zu einem neuen Weltbild zu kommen, das Gott ohne diese Widersprüche denken und auf das Heil gleichwohl nicht verzichten wollte.
Die Verschärfung des biblischen Denkens in der Gnosis und damit die Aufklärung über die biblische Aufklärung bestand letztlich darin, den Monotheismus reiner und radikaler zu denken als die Bibel; die Wunde der Theodizee offen zu halten und sich nicht mit der Güte einer Welt zu versöhnen, die ohnehin nur Schein war, sowie einem Handeln zu mißtrauen, dem angesichts der auch von der Bibel verkündeten Sündhaftigkeit der Menschen ohnehin nie zu trauen war.
Wir werden sehen, ob und wie sich solch eine radikalisierte Aufklärung über die biblische Aufklärung leben ließ, ob sie ihrerseits vor der Dialektik ihrer Ideen sicher war, und vor allem, ob sie ihrem Anspruch, Gott in seiner Unvergleichlichkeit und Unverfügbarkeit behaupten zu können, tatsächlich genügte. Wir haben zu überprüfen, ob die Kehrseite dieser Radikalisierung von Monotheismus, Theodizee und Sinnfrage nicht schließlich in einer Rehabilitierung von Polytheismus, fadenscheinigen Glücksversprechen und Affirmation des Gegebenen mündete.
Die bleibende Faszination, die Gnosis und Gnostizismus bis heute auf das gebildete Publikum ausüben, dürfte nicht zuletzt darin begründet sein, daß sie – jenseits aller Exotik – innerhalb des abendländischen Weltbildes einen alternativen Entwicklungspfad verkörpern, einen Entwicklungspfad, der zwar mit Aufklärung und Monotheismus die Überwindung des Mythos zu teilen scheint, dann aber über eine immanente Kritik am biblischen Denken notgedrungen wieder in Bildern denken und dem Diesseits seine Anerkennung verweigern muß.
Der biblische Gott, der neben sich keine anderen Götter mehr kennt, der den Menschen die Natur zum Leben gegeben hat und trotz seiner beinahe menschlichen Handlungen und Gefühle gestaltlos ist, hat verboten, sich ein Bild von ihm zu machen. Das biblische Bilderverbot speist sich aus der Erfahrung, daß die Menschen dazu neigen, alles, was sie sich bildlich vorstellen können, zu vereinnahmen. Das biblische Denken und die europäische Aufklärung kommen darin überein, die Natur zu entzaubern. So wie der biblische Gott Sonne und Mond nur noch als kosmische Beleuchtungskörper übrigließ, verwandelte die naturwissenschaftliche Aufklärung die Natur in ein Kontinuum von kontrollierbaren quantitativen Beziehungen. Die Gnostiker dehnten das Bilderverbot auf die Gestalt des biblischen Gottes selbst aus und erreichten damit einen Punkt, an dem sie paradoxerweise gerade deshalb Gott und die Welt erneut verzaubern und somit bebildern mußten. Ihre radikalisierte Kritik am biblischen Gott im Namen des biblischen Gottes führte sie zurück zum Götzendienst.
Der Rückfall der Gnostiker in mythisches Denken hat systematische Gründe und ist schon früh – etwa von dem im dritten Jahrhundert nach der Zeitrechnung lebenden neuplatonischen Philosophen Plotin – penibel vermerkt worden: »… sie führen da Weltentstehungen und gänzliche Untergänge ein und mäkeln an dieser unserer Welt und werfen die Gemeinschaft mit dem Leibe der Seele als Schuld vor, bekritteln den Regenten dieses Alls, setzen die Seele mit dem Schöpfer in eines und schreiben der Gesamtseele die gleichen Affektionen zu wie den Teilseelen.«[4]
Der Katalog der Vorwürfe ist prägnant: Gnostisches Denken ist für Plotin dadurch gekennzeichnet, daß es in bildhaften Kosmogonien und Apokalypsen denkt, die Leib-Seele-Einheit der Menschen zuungunsten des Leibes denunziert, den Schöpfer der Welt abwertet, Schöpfer und Geschöpf, Gott und Seele in eins setzt und sich Gott im Bilde der Menschen vorstellt. Diese Vorhaltungen sind um so bemerkenswerter, als Plotin selbst gerade kein Christ, sondern ein heidnischer Philosoph war. Von der hebräischen Bibel über die rationale heidnische Philosophie bis hin zur modernen Soziologie scheinen sich die Gegner weltflüchtigen Denkens darin einig, daß eine Versenkung in die Geheimnisse des Alls zugleich eine Flucht vor verantwortlichem Handeln in der Welt darstellt.
Zwischen dem Streben nach transzendenter Erlösung und Erkenntnis des Alls hier und dem Einsatz für eine Verbesserung der Verhältnisse in der Welt sowie dem gläubigen Vertrauen in einen alles in allem gerechten Schöpfergott dort scheint ein innerer Zusammenhang zu bestehen. Deshalb dürfen wir die gnostischen Denker durchaus als Konkurrenten jener Gestalten des ersten Jahrtausends vor der christlichen Zeitrechnung ansehen, die wir als Propheten kennen. Propheten als die zürnenden Mahner, die sich eines göttlichen Auftrages zur schonungslosen Kritik des Gemeinwesens, in dem sie leben, gewiß sind und deshalb entschlossen den Bruch mit allem Bestehenden auf sich nehmen, waren auch in der Antike umstritten. Schon die Bibel muß sich dem Problem widmen, woran wahre von falschen Propheten zu unterscheiden sind.
Max Weber hat die biblischen Propheten 1921 folgendermaßen charakterisiert: »Nirgends und niemals wird von den Propheten oder (soviel wir wissen) ihrem Publikum die Frage nach einem ›Sinn‹ der Welt und insbesondere des Lebens, nach einem rechtfertigenden Grunde seiner brüchigen, leid- und schuldbehafteten Vergänglichkeit und seiner Widersprüche auch nur aufgeworfen, wie sie in Indien allen heiligen Erkenntnissen den entscheidenden Antrieb gab. Und was damit zusammenhängt: nie und nirgends ist es das Bedürfnis nach Rettung, Erlösung, Vollendung der eigenen Seele aus und gegenüber dieser unvollkommenen Welt, was den Propheten oder sein Publikum zum Gott treibt. Niemals vollends fühlt sich der Prophet durch sein Erlebnis vergottet, mit dem Göttlichen vereinigt, entrückt der Qual und Sinnlosigkeit des Daseins, wie dies dem indischen Erlösten widerfährt und für ihn den eigentlichen Sinn religiösen Erlebens darstellt. Niemals weiß er sich dem Leiden oder auch nur der Knechtschaft unter der Sünde entronnen. Nirgends ist Raum für eine unio mystica oder gar für die innere seelische Meeresstille des buddhistischen Arhat. All dergleichen gab es nicht und vollends eine metaphysische Gnosis und Weltdeutung kam gar nicht in Betracht. Denn das Wesen Jahwes enthielt nichts Übersinnliches in der Bedeutung von etwas jenseits von Verstehen und Begreifen Liegendem. Im Gegenteil war gerade das Verstehen der Entschlüsse Jahwes aus berechtigten Motiven die Aufgabe des Propheten wie des Thoralehrers … Eben diesen rationalen Charakter sowohl des Weltgeschehens selbst, welches weder durch blinden Zufall noch durch magische Zauberkräfte bestimmt ist, sondern verständliche Gründe hat, wie auch die Prophetie selbst: daß ihre Orakel im Gegensatz zur gnostischen Esoterik verständlich waren für jedermann, empfanden die Juden auch später als das ihren Propheten spezifische.«[5]
Von Plotin bis Weber sind es die gleichen Einwände, die gegen die Gnostiker geltend gemacht werden: Selbstvergottung der Menschen, überspannte Sinnsuche und schließlich Weltflucht. Und jedesmal kulminieren Kritik und Affirmation gnostischen Denkens im Gedanken eines rationalen Weltschöpfers bzw. eines Schöpfungsprozesses. Dieser Glaube an einen rationalen Weltschöpfer wird vor allem dem Judentum zugeschrieben, weswegen das Judentum in eiserner Konsequenz von den Gnostikern als sein Hauptgegner und schlimmster Feind angesehen wurde – eine Gegnerschaft, die durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte, im Judentum aber niemals jene zentrale Stellung einnahm wie in der Gnostik. Es ist historisch kein Zufall, daß Antijudaismus und Antisemitismus bis heute von gnostischem Denken zehren.[6] Das ändert nichts an dem Umstand, daß die Gnosis wahrscheinlich im Schoß jüdischer Sekten entstanden ist und daß im Judentum selbst, in Kabbala und Chassidismus, gnostische Tendenzen einen erheblichen Raum einnahmen.
Es kann heute nicht mehr darum gehen, eine historisch detaillierte Darstellung gnostischen Denkens und der ihm entsprechenden Lebenspraxis über zwei Jahrtausende zu geben. Zu umfangreich sind Quellen und Sekundärliteratur, zu spezialisiert und ausdifferenziert die wissenschaftlichen Subdisziplinen. Eine zuverlässige historische Gesamtdarstellung würde umfassende Kenntnisse der Kirchenväter ebenso erfordern wie ein profundes Studium der Iranistik, Vertrautheit mit chinesischen Quellen des Manichäismus wäre ebenso vonnöten wie ein vollständiger Überblick über die Literatur zu den Katharern des mittelalterlichen Okzitaniens.
Das Interesse dieser Abhandlung ist – ohne wie Hans Jonas von einem starken Pathologieverdacht auszugehen – therapeutischer Art: Mich interessiert, ob sich die Vermutung erhärten läßt, daß die Abkehr von der Wirklichkeit der Welt und die radikale Suche nach jenseitiger Erlösung durch höheres Wissen auch und gerade dann, wenn diese Suche einer grundsätzlichen Herrschafts- und Gesetzeskritik verpflichtet ist, mit einer gewissen Notwendigkeit noch mehr Herrschaft und Gewalt gebiert. Von dem antijudaistischen und nationalistischen Philosophen J.G. Fichte über den antisemitischen Opernkomponisten Richard Wagner bis hin zu dem Tiefenpsychologen C.G. Jung und dem Denker Martin Heidegger, die den Nationalsozialismus begrüßten, ja bis zu dem die Gnosis zwar äußerlich ablehnenden, aber sie zutiefst denn doch für wahr haltenden Juristen und politischen Denker Carl Schmitt werden wir immer wieder Zeugen des Umstandes, daß die herbe Kritik an einer gefallenen Welt nicht etwa Liebe und Milde, sondern schieren Haß aus sich hervortreibt.
Diesem therapeutischen Interesse ist der Aufbau dieses Buches geschuldet.
Im ersten Teil setze ich mich mit Forschungsergebnissen und Quellen auseinander, in denen es um den Ursprung, die Genesis dessen geht, was wir als Gnosis kennen. Dabei wird die Auseinandersetzung der frühen Kirche mit den sich christlich verstehenden gnostischen Sekten im Mittelpunkt stehen. Dieser Reflexion auf die Entstehung folgen im zweiten Teil Überlegungen zur historischen Reaktion auf das Fortleben gnostischer Gesinnung im christlichen Abendland.
Schließlich setze ich mich in einem dritten Teil mit der auch in der Moderne wirksamen Systematik gnostischen Denkens auseinander und werde dazu das Werk von Intellektuellen untersuchen, die im deutschsprachigen Kulturbereich zwischen den zwanziger und sechziger Jahren die Debatte prägten.
Ich möchte die These belegen, daß im Werk der Linksintellektuellen Theodor W. Adorno und Ernst Bloch hier, im Denken des Liberalen Rudolf Bultmann und in der Grundhaltung der Rechtsintellektuellen C.G. Jung, Carl Schmitt und Martin Heidegger nicht nur verstreute gnostische Motive, sondern systematische Denkfiguren im Geiste der Gnosis enthalten sind. Nun sind geistesgeschichtliche Genealogien an und für sich beliebig und nicht von gesteigertem Interesse – sofern sich nicht nachweisen läßt, daß einem gegebenen Stil zu denken auch eine bestimmte Form des Handelns oder Nichthandelns entspricht. Daß gnostisches Denken zu Quietismus und Weltflucht hier sowie zu Affirmation und Unterwerfung dort neigt, ist die Hypothese, die am Beginn dieser Überlegungen stehen soll. Ob sie mehr als nur ein wohlfeiles Vorurteil darstellt, wird erst der exemplarische Durchgang durch zwei Jahrtausende abendländischer Geschichte erweisen.
Dabei nicht selbst einem gnostischen, manichäischen Denken zu verfallen stellt sich als die entscheidende Schwierigkeit dieser Untersuchung dar.
Gegen Ende des ersten Jahrhunderts nach der Zeitrechnung verabschiedete ein Rabbinerkonvent im Küstenort Javneh in Palästina das fortan verbindliche Achtzehnbittengebet. Die zwölfte Segnung dieses Gebets enthält eine Verfluchung der sogenannten »Minim«, der Abweichler oder – wörtlich übersetzt – »Arten«. Jenes Gebet wird in der talmudischen Literatur als »Ketzersegen« bezeichnet und lautet: »Gepriesen seist du Herr, der die Anmaßenden niederzwingt.«[7] Nach herkömmlicher Auffassung diente dieser »Ketzersegen« dazu, die nach dem Fall von Jerusalem auf sich zurückgeworfene jüdische Gemeinschaft innerlich und äußerlich zu festigen, indem alle, die der rabbinischen Variante des Judentums nicht anhängen mochten, aus der Synagoge gedrängt wurden – vornehmlich jene Juden, die an Jesus von Nazareth als den wiederauferweckten Messias glaubten. Neuerdings setzt sich freilich auch in der Forschung schon die anfangs des Jahrhunderts geäußerte Auffassung durch, daß es bereits im vorchristlichen Judentum Ansätze zu gnostischem Denken gegeben habe und daß daher die im Talmud genannten »Minim« keineswegs nur »Christen« gewesen seien, sondern »gnostisierende« Juden.[8]
Der Talmud berichtet im Traktat Chagiga von dem Rabbi Elisa ben Abuja, genannt »Acher«, der andere, der zu Beginn des 2. Jahrhunderts lebte, einem Mann, aus dessen Munde die griechischen Lieder nicht verstummen wollten und aus dessen Schoß zahlreiche manichäische Bücher fielen.[9] Die Haltung der orthodoxen rabbinischen Mehrheit gegenüber diesem hochgebildeten, originellen Kopf zeichnete sich durch eine eigentümliche Mischung aus Hochachtung und Abscheu aus:
»Als die Seele Achers zur Ruhe einkehrte, sprachen sie: Weder wollen wir ihn bestrafen, noch komme er in die zukünftige Welt. Bestrafen wollen wir ihn nicht, da er sich mit der Tora befaßt hatte, und in die zukünftige Welt komme er ebenfalls nicht, da er gesündigt hat.«[10] Diese Sünde bestand keineswegs darin, eine andere Auffassung über Gott und die Welt geäußert zu haben, sondern darin, die göttlichen Weisungen, die Halacha zu mißachten.
Allen Anstrengungen seiner Kollegen aus dem orthodoxen Lager, in dem er seiner Gelehrsamkeit wegen hochgeachtet wurde, ihn auf den rechten Weg zurückzurufen, entgegnete er mit Hinweisen, daß er ohnehin verloren und vom Ruf zur Umkehr ausgeschlossen sei.[11]
Ist diese jüdische Häresie, der keineswegs nur Elisa ben Abuja anhing, eine Reaktion auf das Christentum? Was können wir über eine vorchristliche Häresie wissen, wo doch der Talmud erst in nachchristlicher Zeit entstanden ist? Vermutlich aus dem ersten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung stammt die nur griechisch überlieferte »Weisheit Salomos«, die in Alexandria, der Zentrale des hellenistischen Judentums, entstanden sein dürfte. In Alexandria, der Metropole, in der damals die größte jüdische Minderheit im Vorderen Orient lebte, wo im zweiten Jahrhundert v.Chr. die erste griechische Übersetzung der Bibel verfaßt wurde und die Juden in einer politisch anerkannten Gemeindeverfassung unter Griechen und Ägyptern, unter dem Wohlwollen der ptolemäischen Herrscher lebten,[12] entstand eine Schrift, in der die von der Tora inspirierte fromme Weisheit gegen eine Weisheit der Gottlosen ins Feld geführt wird:
»Denn Gott hat den Tod nicht geschaffen, und hat keine Freude an dem Verderben der Lebenden, denn ein menschenfreundlicher Geist ist die Weisheit. Und zum Sein hat er alles geschaffen, und heilbringend sind die Geschöpfe der Welt und nicht ist in ihnen ein Trank des Verderbens, noch gibts auf Erden eine Herrschaft der Unterwelt.«[13]
Die fromme Weisheit, die hier beschworen wird, ist eine Weisheit der Welt- und Lebensbejahung, die wider Skepsis und Nihilismus auf der Güte der Schöpfung beharrt. Der Zweifel an dieser Schöpfung, der Verdacht gegen jeden vorgegebenen Sinn des Lebens, das Verzweifeln am Tode, aus dem eine geradezu materialistische Lebensbejahung resultiert, die in manchem an den Epikuräismus erinnert – sind die Haltungen, die der Verfasser der »Weisheit Salomos«, einer apokryphen Schrift, seinen Gegnern in den Mund legt:
»Kurz und traurig ist unser Leben, und nicht gibt es ein Heilmittel beim Tode des Menschen, und nicht hat man gehört von einem Befreier aus der Unterwelt. Denn durch Zufall sind wir entstanden und darnach werden wir sein, als wären wir nie gewesen. Denn Dunst ist der Hauch in unserer Nase, und das Denken ein Funke in der Bewegung unseres Herzens, nach dessen Erlöschen der Leib zur Asche wird, und der Atem wie feine Luft verfliegt. Und unser Name wird dann mit der Zeit vergessen, und niemand gedenkt mehr unserer Werke. Und unser Leben geht vorüber wie die Spur einer Wolke und wie ein Nebel wird es sich verflüchtigen, der vertrieben wird von den Strahlen der Sonne und von ihrer Wärme zum Sinken gebracht wird. Denn eines Schattens Vorüberziehen ist unsere Lebenszeit, und nicht gibt es eine Wiederholung unseres Endes, weil es versiegelt ist und keiner wiederkehrt. Herbei denn, laßt uns genießen der vorhandenen Güter und laßt uns geschwind die Welt ausnutzen als in der Jugendzeit. Mit kostbarem Wein und Salben wollen wir uns füllen, und nicht möge eine Frühlingsblume uns entgehen.«[14]
Dafür, daß der Verfasser der »Weisheit Salomos« diese Haltung mit aller Kraft geißelt, ist es erstaunlich, daß ihr literarisches Zeugnis so ausführlich wiedergegeben wird – fast so, als habe der Verfasser hier einen ihm vorliegenden Text eingearbeitet. Man mag es daher für eine Erfindung des Verfassers halten, wenn er im Anschluß an dieses melancholische Gedicht die folgenden Strophen folgen läßt:
»Vergewaltigen wir den armen Gerechten, üben wir nicht Schonung gegen die Witwen noch scheuen wir des alten hochbejahrtes Greisenhaar!«[15]
Mit dieser Fortdichtung will der Verfasser der »Weisheit« darauf aufmerksam machen, daß materialistisches, skeptisches Denken auch zu gottlosen Taten führt. Dieses Hinweises bedurfte es in der Tat, finden sich doch ähnliche Einstellungen nicht nur in den nachbiblischen, sondern auch und gerade in den anerkannten biblischen Schriften, vornehmlich in dem im dritten Jahrhundert in Palästina entstandenen und hebräisch überlieferten Predigerbuch, das schließlich im ersten Drittel des zweiten Jahrhunderts nach der Zeitrechnung auf dem Rabbinerkonvent zu Uscha in den Kanon aufgenommen wurde.[16] Der Prediger, der zwar Gottes unendliche Weisheit anerkennt, aber zugleich die Unerforschlichkeit von Gottes Ratschlüssen hinnehmen muß, schickt sich darein, der Verzweiflung unter Hinweis auf die Möglichkeit materiellen Genießens entgegenzutreten:
»So sah ich/daß da kein Gut darüber ist, daß der Mensch sich seines Tuns freut/denn das ist sein Teil/denn wer brächte ihn dahin zu sehn/was nach ihm wird.«[17]
Die deutliche Polemik des griechisch schreibenden, in Alexandria lebenden Verfassers der »Weisheit Salomos« gegen den hebräischen Autor des »Predigers«, der in Palästina wirkte, weist auf religiöse Differenzen innerhalb eines vom Hellenismus in vieler Hinsicht beeinflußten Judentums hin. So wie sich hier orthodoxe Grundhaltung und griechische Sprache miteinander vertragen, harmonieren dort hebräische, biblische Sprache und aufklärerisch-skeptisches Denken.
Freilich wissen wir heute, daß eine unmittelbare Reduktion des Predigers auf griechische Strömungen der Philosophie wie Epikuräismus und Stoizismus zu kurz greift, finden sich doch ganz unabhängig von diesen Strömungen im orientalischen Denken – vor allem in der Tradition der sog. »Weisheitsliteratur« – vergleichbare Haltungen eines sozialen Disengagements, individueller Distanz zum Weltlauf sowie einer Anleitung zum guten Leben. Distanz zur Welt und Enthaltsamkeit von öffentlichen und moralischen Angelegenheiten bedeutete hier in keiner Weise, leib- und lustfeindlich zu sein – im Gegenteil. Die Verbindung von Weltflucht und Leibfeindlichkeit, wie sie im antiken Christentum vorherrschte, ist gerade durch ein Verdrängen der weisheitlichen Tradition geprägt. Die stets mit einer Reflexion auf das Wesen der Zeit und der Weltläufte verbundenen, sich immer mehr von nationalen Überlieferungen ins Universalistische entfernenden weisheitlichen Einstellungen finden sich zu jener Zeit, im dritten Jahrhundert v.d.Zeitrechnung, im ganzen Orient, so daß wir zwar nicht von einer direkten Beeinflussung des »Predigers« durch griechische Philosophie, wohl aber von der Zugehörigkeit zu einem »hellenistischen« Gemeinbewußtsein sprechen können – wobei unter Hellenismus die Symbiose eines ins Universale erweiterten Griechentums mit orientalischen Traditionen ekstatisch-mystischer oder eben intellektuell-weisheitlicher zu verstehen ist.[18] Bevor die Frage beantwortet werden soll, warum und unter welchen Umständen es zuerst im Palästina des dritten vorchristlichen Jahrhunderts zu einem derartigen Einschnitt im jüdischen Glauben kommen konnte, sei kurz das Phänomen der sog. Weisheitsliteratur erläutert.
Zu den sogenannten Weisheitsbüchern der Bibel zählen das »Buch der Sprüche«, das Buch »Hiob«, das Predigerbuch, sowie einzelne Geschichten aus den fünf Büchern Moses, etwa die Josefserzählungen, einige Psalmen sowie einige Stücke aus den Propheten, sowie das Hohe Lied.[19]
Die zentralen Stücke, nämlich Hiob, die Sprüche und der Prediger sind in der Zeit zwischen dem ausgehenden fünften Jahrhundert, als Judäa eine persische Provinz war, und dem Ende des dritten Jahrhunderts, als Judäa unter ptolemäischer Herrschaft stand, verfaßt worden. Das schließt nicht aus, daß in allen Büchern ältere Bestände mitverarbeitet worden sind. Typologisch unterscheidet sich die Weisheitsliteratur von den historischen Büchern, der kultischen Literatur und den Schriftpropheten dadurch, daß sie radikal unhistorisch – ohne wesentliches Interesse an sozialer Gerechtigkeit, wie die Propheten, oder liturgischer Normierung, wie etwa die Quelle der Priesterschriften – ihr Augenmerk vor allem auf drei Bereiche richtet: auf das Problem der Theodizee, auf Spekulationen über die Schöpfung des Alls sowie auf Regeln des guten und gottgefälligen Lebens. Dabei verarbeitet diese Literatur sowohl volkstümliches Spruchwissen ältester Herkunft, höfische Lebensklugheit als auch philosophische Reflexion. Es gilt als gesichert, daß die Weisheitsliteratur, auch in ihren ältesten Schichten, etwa in den biblischen Josefsgeschichten, den Hintergrund eines hochkulturell organisierten, urban verwurzelten, bürokratisch gelenkten und von einer Schreiberkaste verwalteten, zentralisierten Königtums voraussetzt, was nicht zuletzt im häufigen Bezug der Autoren auf König Salomo seinen Ausdruck findet. Die drei Elemente: Theodizee, Schöpfung und Lebensklugheit sind indessen keine zufällige Aneinanderreihung beliebiger Themen, sondern stehen in einem internen Zusammenhang. Wenn die noch zu erklärende Grunderfahrung der weisheitlichen Literatur die Frage nach dem Leiden der Gerechten, der Gewißheit des Todes und des Triumphes der Bösen ist, wenn also plötzlich deutlich wird, daß Gott keineswegs jederzeit rettend in die Geschichte eingreift, dann drängt sich sowohl die Frage nach dem Sinn der Schöpfung und der Ferne Gottes auf als auch der Wunsch nach Unterweisung, wie man in einer so als gottfern erlebten Welt dennoch (über)leben kann. Daß diese Frage in der weisheitlichen Literatur – anders als in den prophetischen Büchern – nicht mehr in den Horizont einer als veränderbar erlebten Geschichte bzw. einer kollektiv erfahrenen Befreiung gestellt wird, verweist auf historische und soziale Umstände, die politisch durch hohe Stabilität und wachsende Individualisierung gekennzeichnet sind. Die Resignation angesichts erfahrener Unveränderbarkeit des historischen Geschehens lenkt den Blick zudem aus der Geschichte auf deren Anfang und führt dazu, nach dem Plan zu forschen, der der Erschaffung der Welt zugrunde lag. Dort, wo der Lauf der Geschichte in ihrer Gegenwärtigkeit als nicht mehr gestaltbar erfahren wird, sucht die fromme Spekulation nach Hinweisen auf den Plan, der Welt und Geschichte steuert – in der Hoffnung, sich klug in ihren Rhythmus einklinken zu können oder doch wenigstens: durch vernünftige Lebensgestaltung nicht in Widerspruch zu diesem Plan zu geraten. So thematisiert die Weisheitsliteratur die transzendente Ferne eines nicht mehr geschichtlichen Gottes, der allenfalls noch in jenen Spuren erkannt werden kann, die er in der Schöpfung hinterließ, Spuren, denen zu folgen ein auch in der Verzweiflung noch akzeptables Leben verheißt.
Die weisheitliche Grundkonstellation – ein ferner Gott, ein entzifferbarer Schöpfungsplan und die Suche nach diesseitiger Erlösung – enthält jene Grundelemente, auf denen dann sowohl Gnosis als auch Christentum entstehen konnten. Beide Glaubenssysteme nehmen ihren Ausgangspunkt in der aufgerissenen Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf.
Die aufgerissene Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf scheint eine vermittelnde Instanz zwischen beiden zu erheischen, während die Verzweiflung an einem im Diesseits erkennbaren Heilsgeschehen den Blick auf eine Metageschichte lenkt, die sich vor und hinter der geschriebenen Historie abspielt. Faktisch erfahrenes Leiden und beanspruchte Gerechtigkeit führen zu der Dualität eines fernen, ganz und gar unverständlichen Gottes und einer dem Menschen zugewandten göttlichen Kraft.
Indem die weisheitliche Tradition schon früh – im Buch der Sprüche – die Vermittlung zwischen Schöpfer und Geschöpf in einem Schöpfungsplan lokalisierte und schließlich diesen Plan als eine abkünftige Gestalt Gottes, nämlich seine Weisheit, beinahe personifizierte sowie endlich – im Buch Jesus Sirach – diese personifizierte Weisheit in Gestalt der in Israel wohnenden Tora domestizierte, scheint die aufgebrochene Kluft wieder geschlossen. Einsicht in die Ordnungen der Schöpfung, distanzierte Schau der geschichtlichen Ereignisse sowie religiös inspirierte Lebenskunst erweisen sich für Menschen, deren verbindliche Lebensordnung zerbrochen ist, als ein Ausweg aus der Verzweiflung. Über Philo von Alexandrien und seine Spekulationen bezüglich eines zwischen Gott und Menschen vermittelnden Logos hat später das Christentum diesen Gedanken paradox entfaltet, in der Frage der Theodizee dramatisch zugespitzt und im frommen Glauben stillgestellt. Systematischer Ausgangspunkt gnostischen Denkens ist es, diesen Weg der Vermittlung auszuschlagen. Das gnostische Denken, das ohne den Hintergrund der weisheitlichen Tradition unverständlich bleiben muß, reißt die Wunde der Theodizee dort wieder auf, wo sie die Frömmigkeit in Gestalt einer Vermittlungsinstanz, der Weisheit, wieder schließen wollte. Welt und Geschichte bleiben unverständlich, das Leiden nimmt kein Ende, und die Vermittlungen bringen keinen Trost. Ist es in dieser Situation nicht schlüssig, in einer zweiten Runde Schöpfung und Geschichte, fromme Lebensführung und göttliche Hypostasen selbst als die eigentlichen Urheber der Misere zu identifizieren und noch einmal alle Hoffnung auf den immer ferner rückenden Gott zu richten, mehr noch: erweisen sich nicht Schöpfung und Geschichte, Frömmigkeit, Schöpfer geradezu als jene Mächte, die das Übel nicht nur darstellen, sondern geradezu hervorbringen?
Eine systematische Erläuterung der dem Judentum entspringenden Gnosis kann freilich den historischen Nachweis dieses Ursprungs nicht ersetzen. Ob es eine vorchristliche jüdische Gnosis gegeben hat oder nicht, ist nach wie vor in der Forschung umstritten,[20] zumal hierzu kaum vorchristliche Quellen existieren. Auch die talmudischen Quellen, auf die sich die Befürworter einer vorchristlichen jüdischen Gnosis stützen, datieren erst aus nachchristlicher Zeit. Gleichwohl lassen sich – mit aller Vorsicht – eine Reihe von Indizien benennen, die mindestens für gnostisierende Strömungen im vorchristlichen Judentum sprechen und deren Entstehen auch historisch plausibel werden lassen: die samaritanische Religion, die Sekte von Qumran sowie einige jüdisch-hellenistische, in Alexandrien beheimatete bzw. täuferische Sekten in Palästina und Syrien.
Die samaritanische Religion, die gegen Ende des vierten vorchristlichen Jahrhunderts infolge eines politischen Schismas in der Jerusalemer Priesterschaft entstand und sich in Sichern um einen eigenen Tempel scharte, teilte mit dem Judentum die fünf Bücher Mose, nicht aber die Schriftwerke und Propheten, glaubte dafür jedoch an die endzeitliche Wiederkehr des Moses als eines erlösenden Propheten. Indem die Samaritaner einerseits an die Verwerfung Israels durch Gott und andererseits an die Wiederkehr eines erlösenden Mose glaubten,[21] verbanden sie bereits die Verwerfung der biblischen Geschichte mit dem Bekenntnis zu einem endzeitlich auftretenden Vermittler. Kirchenväter und heidnische Kritiker des entstehenden Christentums in den ersten zwei Jahrhunderten berichten nun von einer Prophetenreligion, in der selbstbewußte Propheten sich als Gottes Geist oder Gottes Sohn rühmen. »Ich bin Gott oder Gottes Sohn oder ein anderer göttlicher Geist. Ich bin da. Denn die Welt ist schon am Untergehn, und ihr, Menschen, werdet um eurer Ungerechtigkeit willen umkommen. Ich will euch retten. Ihr werdet mich mit himmlischer Kraft wiedersehen. Selig, der mich jetzt verehrt, über die andern alle werde ich himmlisches Feuer bringen und über Städte und Länder. Die Menschen, die ihre Strafe nicht kennen, werden vergeblich bereuen und seufzen; die mir folgen aber werde ich ewig bewahren.«[22] Dieser Lehre, die in Syrien und Palästina verbreitet gewesen sein soll, hingen nach dem Zeugnis einiger Kirchenväter beinahe alle Samaritaner an – freilich in einer charakteristischen Konkretion: Sie glaubten, daß der aus dem samaritanischen Dorf Gittai stammende Magier Simon jener göttliche Vermittler, ja jener Gott selbst sei, den die samaritanische Religion in der Gestalt des Mose ursprünglich nur als von Gott abhängigen endzeitlichen Retter bekannte.
Bereits die Apostelgeschichte (Apg. 8, 9–11) berichtet von Simon Magus, den die Samaritaner, die ihn verehrten, für einen Gott hielten. Kirchenväter und spätere Überlieferung orteten in Simon Magus und dem Glauben an ihn die Urform aller Ketzerei und – in gewisser Weise – den Ursprung der Gnosis. Der Kirchenvater Irenäus, der gegen Ende des zweiten Jahrhunderts als Bischof von Lyon wirkte, berichtet in seiner Schrift »adversus haereticos« über den in seiner Sicht frühgnostischen, samaritanischen Glauben. Da in diesem Text die wesentlichen Züge und wesentlichen Vorurteile des orthodoxen Christentums gegen die Gnostiker im Kern enthalten sind, lohnt es sich, die entsprechende Passage im ganzen wiederzugeben:
»Der Samaritaner Simon, von dem alle Häretiker herkommen, hat die Grundgedanken folgender Häresie. Eine Helena, die er in Tyrus, einer phönizischen Stadt, als Dirne losgekauft hatte, führte er mit sich herum und sagte, diese sei sein erster ›Gedanke‹, die Mutter von allem, durch die er im Anfang den Gedanken faßte, Engel und Erzengel zu machen. Diese Ennoia, die aus ihm hervorsprang, sei, im Wissen darum, was ihr Vater wollte, nach unten herabgestiegen und habe Engel und Mächte geboren, von denen nach ihm auch diese Welt gemacht sei. Nachdem sie sie aber geboren habe, sei sie von ihnen aus Neid zurückgehalten worden, da sie nicht für das Erzeugnis irgend eines anderen gehalten werden wollten. Denn er selbst sei ihnen gänzlich unbekannt geblieben; seine Ennoia aber sei von den Mächtigen und Engeln, die von ihr ausgegangen seien, zurückgehalten worden und habe Schmach aller Art von ihnen erlitten, damit sie nicht wieder zu ihrem Vater zurückkehre, und das bis zu dem Grade, daß sie auch in menschliche Körper eingeschlossen wurde und durch die Jahrhunderte hindurch wie von Gefäß zu Gefäß in immer andere weibliche Körper überwechselte. Sie sei aber auch in jener Helena gewesen, deretwegen der trojanische Krieg angefangen worden sei; deswegen sei Stesichorus, der sie in einem Gedicht geschmäht hatte, des Augenlichts beraubt, danach habe es ihm leid getan und er habe die sogenannten Palinoden geschrieben, in denen er sie verherrlichte, und sei wieder sehend geworden. Bei ihrer Wanderung von Körper zu Körper, wobei sie immer wieder Schmach erduldete, habe sie schließlich sich in einem Bordell preisgegeben und sei das verlorene Schaf. Darum sei er selbst gekommen, daß er zuerst sie zu sich nehme und sie von den Fesseln befreie; den Menschen aber gewähre er Rettung durch seine Anerkennung. Denn da die Engel die Welt schlecht verwalteten, weil jeder von ihnen die Herrschaft haben wollte, sei er gekommen, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Er habe sich verwandelt und sich den Kräften, Mächten und Engeln angeglichen und sei so herabgestiegen, daß er auch den Menschen als ein Mensch erschien, ohne ein Mensch zu sein; man meinte auch, er habe in Judäa gelitten, wo er doch nicht gelitten hat … Denn durch seine Gnade würden die Menschen gerettet, aber nicht durch gerechte Werke. Es gäbe auch nicht von Natur gerechte Werke, sondern durch Herkommen, wie sie denn die Engel, die die Welt gemacht hätten, erlassen hätten, um durch solche Gebote die Menschen zu versklaven. Darum habe er versprochen, daß auch die Welt aufgelöst werde und, die sein sind, von der Herrschaft derer, die die Welt gemacht hätten, befreit würden. Darum leben ihre Mysterienpriester ausschweifend und vollbringen Zaubereien, wie ein jeder von ihnen es kann.«[23]
Simon der Magier scheint Schüler und Mitstreiter besessen zu haben, etwa Meander und Dositheos, die beide von sich behaupteten, der von Gott geschickte unsterbliche Heiland zu sein. Der Kirchenvater Origenes berichtet gar von Dositheos, dieser habe gesagt, »daß er der prophezeite Christus sei«[24] – Dositheus selbst wurde zum Begründer einer samaritanischen Sekte, die bis in das vierte Jahrhundert n. Chr. existierte.
An der Nachricht des Irenäus über Simon, die mit Vorsicht zu genießen ist, da sie von einem erklärten Feind dieser Religion verfaßt wurde, fällt mehreres auf:
Erstens stellt Irenäus diese Religion und ihren Stifter zwar als einen Häretiker, aber doch an keiner Stelle als einen abtrünnigen Christen dar, was auf eine eigene vorchristliche, jüdisch-heterodoxe Entstehung der Gnosis verweist.
Zweitens fällt auf, daß Simon zwar mit den weisheitlichen Traditionen des Judentums einerseits die Schöpfungsmittlerschaft einer göttlichen Weisheit anerkennt, sie aber andererseits nicht nur personifiziert, sondern auch vermenschlicht und sogar erniedrigt. In einem ersten Schritt wird dem einen, gestaltlosen Gott eine seiner Eigenschaften als Person zugeschrieben, sodann wird diese Person aus der göttlichen Sphäre in die irdische herabgezogen, zum Menschen gemacht, um endlich als weiblicher Mensch, als Helena, so erniedrigt zu werden, wie ein Mensch nur erniedrigt werden kann: die samaritanische Helena wird als Hure in einem Bordell gefangengehalten.
Schreiben die im fünften Jahrhundert v.Chr. entstandenen, nach-exilischen »Sprüche« von der Weisheit: »Mich hat Jahwe geschaffen als Erstling seines Waltens, als frühestes seiner Werke von urher. Ich ward vor aller Zeit gebildet, von Anbeginn, vor den Uranfängen der Erde … Da war ich der Liebling an seiner Seite, war Tag für Tag das Ergötzen, indem ich die ganze Zeit vor ihm spielte. Da spielte ich auf dem weiten Rund seiner Erde und hatte mein Ergötzen mit den Menschenkindern« (Spr. 8,22f.), so steigt die »Ennoia« der simonianischen Religion als Frau unter die Menschen herab und bleibt dort im Körper verschiedener geschichtlicher Frauen eingesperrt. Während sich im Judentum die Weisheit allenfalls als Tora verwirklicht und so unter den Juden niederläßt, gewinnt sie in der samaritanischen Religion die Gestalt eines unerlösten, leidenden Menschen. Dessen Prototyp ist die heilige Hure, die erzwungene Prostituierte – ein Gedanke, der bis heute einen klassischen literarischen Topos darstellt. Gewiß allegorisiert auch die Hebräische Bibel die Weisheit als Frau, aber doch nie so weit, daß sie sie in einem einzelnen Menschen Wirklichkeit werden läßt.
Drittens stechen die vielfältigen Bezüge auf die hellenische Bildungswelt wie die der Ilias ins Auge. Sogar wenn in Rechnung gestellt wird, daß Irenäus seine Darstellung mehr als hundert Jahre nach dem Auftreten des Simon verfaßte, ist doch nicht anzunehmen, daß er oder seine Informanten die »hellenistische« Interpretation der Geschichte der Helena einfach dazu erfand. Vielmehr ist davon auszugehen, daß hellenistisches Bildungsgut spätestens seit dem Ende des dritten Jahrhunderts in Palästina bekannt war – hellenistische Bildung ist für jenen Zeitraum nicht nur an der Mittelmeerküste, sondern auch in Samarien bezeugt.[25]
Viertens enthält die simonianische Predigt die in der Tat revolutionäre Selbsterklärung eines Menschen, Simons, zum Schöpfer der Welt, der seine menschgewordene Schöpfungsmittlerin selbst aus den Fängen der Materie befreit.
Fünftens postuliert diese Religion die Erlösung nur aus Glauben, nicht aus Taten, was schließlich konsequent in den Libertinismus führt. Wo angesichts der Schlechtigkeit der Welt ohnehin jedes fromme Handeln zerbricht, hat es keinen Sinn mehr, sich an irgendwelche menschlichen Ordnungen zu halten – im Gegenteil!
Unter der – bestreitbaren – Voraussetzung, daß die Kirchenväter den Umriß dieser Religion einigermaßen objektiv wiedergegeben haben, gewinnen wir damit das Bild einer auf dem Pentateuch und dessen Verheißungen aufbauenden Erlösungsreligion, die den erwarteten Propheten zum Erlöser der hellenistisch umgedeuteten und verendlichten Weisheit der Hebräischen Bibel werden läßt und dabei systematisch die Grenze zwischen Gott und Mensch aufhebt. Für diese Religion, die angeblich von allen Samaritanern, sogar im fernen Rom[26] akzeptiert wurde, steht schließlich der Gedanke einer in Materie und Geschichte gefangenen göttlichen Substanz im Zentrum. Es wird sich zeigen, daß die damit beanspruchte Dualität von göttlicher Seele und verworfener Materie das hervorragende Grundelement aller eventuell vorchristlich-jüdischer Wurzeln der Gnosis ist.
Die Sekte von Qumran, deren Identität mit den sogenannten »Essenern« immer noch in Frage steht, entstand, nicht unähnlich den Samaritanern, aus einem politisch-religiösen Schisma in Jerusalem, allerdings erst zweihundert Jahre nach dem samaritanischen Schisma.
Dieses Schisma ereignete sich nach der Machtübernahme der Makkabäer im Bereich des Jerusalemer Tempels mit der Folge, daß die dort bis dahin wirkende hohepriesterliche Aristokratie der Zadokiten entmachtet wurde und sich am Toten Meer eine eigene Gebetsstätte schuf. Die Sekte, die sich von einem »Lehrer der Gerechtigkeit« gegründet sah, ist in ihrer Theologie und Liturgie von stark endzeitlichen, asketischen und dualistischen Vorstellungen bestimmt.
Sowohl der antike Historiker Flavius Josephus als auch die Sektenregel dieser Gruppe bezeugen umfangreiche und penible Reinigungsrituale, denen sich die Mitglieder zu unterziehen hatten, Rituale, die sie aber nie äußerlich, sondern stets nur als Hilfestellung zum Erringen innerer Reinheit ansahen.[27] Einer strikten Praxis von täglichen Reinigungen, rituellen Tauchbädern und genau geregelten Mahlliturgien korrespondierte eine sexual- und frauenfeindliche Askese, die gleichwohl nicht in ein Eheverbot mündete.
Die Sekte von Qumran bekräftigt die schöpferische Souveränität Gottes über seine Schöpfung, sieht diese aber als einen Akt der Entscheidung für eine unabänderliche Weltordnung an, in dem jedem Menschen von Anfang an seine Stellung als Gerechter oder Frevler zugewiesen ist.[28] Entsprechend ist auch das Heer der Mittlerwesen zwischen Gott und Menschen, der Engel, geteilt: Dem Fürsten des Lichtes, dem Erzengel Michael, steht der Fürst der Finsternis, Belial, gegenüber. Am Ende der Zeiten, da königliche und priesterliche Messiasse gemäß dem Glauben der Sekte auftreten werden, steht zugleich der große Endkampf zwischen den Söhnen des Lichtes und den Söhnen der Finsternis bevor, in dem sich die Sekte geistlich wohlgerüstet auf der Seite des Lichtes weiß:
»Aber Gott hat in den Geheimnissen seiner Einsicht und in seiner herrlichen Weisheit ein Ende gesetzt für das Bestehen des Frevels und zur festgesetzten Zeit der Heimsuchung wird er ihn vernichten auf ewig. Und dann wird die Wahrheit der Welt für immer hervorkommen; denn sie hat sich dahingeschleppt auf den Wegen der Gottlosigkeit unter der Herrschaft des Frevels bis zum Zeitpunkt des bestimmten Gerichtes. Und dann wird Gott durch seine Wahrheit alle Werke des Menschen läutern und wird einige aus den Menschenkindern reinigen, indem er allen Geist des Frevels aus dem Innern ihres Fleisches tilgt und sie reinigt durch heiligen Geist von allen gottlosen Taten … Bis dahin kämpfen die Geister der Wahrheit und des Frevels. Im Herzen des Menschen wandeln sie in Weisheit und Torheit, und entsprechend dem Erbteil eines Menschen an Wahrheit und Gerechtigkeit haßt er den Frevel, und entsprechend seinem Anteil am Lose des Frevels handelt er gottlos in ihm und verabscheut die Wahrheit.«[29]
Die Schöpfungslehre der Gemeinde von Qumran erklärt sich die Existenz des Bösen in der Welt durch eine Art von Prädestinationslehre, eine Lehre von der notwendigen Vorbestimmtheit allen menschlichen Schicksals, die in eine dualistische Anthropologie mündet, die ihrerseits im Bilde einer letzten, apokalyptischen Schlacht zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis ihre Entscheidung und Auflösung findet. Im Buch der sog. »Kriegsrolle«, die die letzte Schlacht in äußerster Konkretion, bis hin zur Schlachtordnung und zu den Kriegsfanfaren ausmalt, erklärt sich die Sekte zum wahren Israel, zu jenem Volk, das von Anfang an für den Kampf wider den Fürsten der Finsternis bestellt war:
»Du Gott erkauftest uns dir zum ewigen Volk, und in das Los des Lichtes ließest du uns fallen für deine Wahrheit. Und den Fürsten des Lichtes hast du seit ehedem zu unserem Helfer bestellt und in seinem Los sind alle Söhne der Gerechtigkeit und alle Geister in seiner Herrschaft. Du hast Belial gemacht zum Verderben, zum Engel der Feindschaft. Und in der Finsternis seiner Herrschaft und in seinem Ratschluß sucht er Frevel und Verschuldung zu verursachen.«[30]
Die Sekte von Qumran gestaltete sowohl ihren Alltag (Waschungen/Sexualität), ihre Liturgie (Mahlgemeinschaften) als auch ihre Eschatologie (Auseinandersetzung zwischen Licht und Finsternis) strikt dualistisch – ein Umstand, der den Blick bald auf persisch-zoroastrische Einflüsse lenkte.[31] Dies hat die neuere Forschung bezüglich des Dualismus bestätigt, für die ebenfalls als Indiz hinzugezogene Engellehre der Sekte aber in Frage gestellt.[32] Engel- und Sternenglaube weisen vielmehr auf gemein-orientalische bzw. hellenistische Vorstellungen zurück, womit wir nach dem Feststellen samaritanischer und iranischer Einflüsse auf eigensinnige jüdische Sekten im zweiten Jahrhundert v.d.Zeitrechnung nun nach direkten hellenistischen Einflüssen zu fragen haben.
Der um die Zeitenwende lebende jüdisch-alexandrinische Philosoph Philo berichtet von der in Ägypten wirkenden jüdischen Sekte der »Therapeuten«, die ihren Besitz ebenso verschenkten, wie sie ihre Familien aufgaben, um sich dem kontemplativen Leben zu widmen. In ihrem Alltag fasteten sie tagsüber, um nachts, in der Zeit der Finsternis und des Leibes, allenfalls etwas Salz, Brot und Wasser zu sich zu nehmen. Kärgliche Wohnungen dienten ihnen zum Schutz, und einfache Kleider deckten ihren Leib. Im Unterschied zu den oft patriarchalischen Liturgien des damaligen Judentums waren in der Sekte der Therapeuten Frauen gleichberechtigt – jedenfalls wenn sie im Stande freiwilliger Enthaltsamkeit den asketischen Idealen der Sekte genügten. Während der Woche lebten die Sektenmitglieder abgeschieden voneinander in den Zellen klosterartiger Gemeinschaftsunterkünfte und widmeten sich dem Studium der Schrift, um sich am siebten Tage, dem Sabbat, zu gemeinschaftlicher Unterweisung zusammenzufinden.[33] Orthodoxe jüdische Frömmigkeit und asketische Lebensführung fielen hier auf das engste mit der von Platon geprägten theoretisch-kontemplativen Philosophie des Hellenismus zusammen, mitsamt ihrer Geist/Seele-Dichotomie. Das geht aus Philos Bericht plastisch hervor:
»Die Gesellschaft der Therapeuten verlange, im Schauen immer fortschreitend, nach dem Anschauen des Wahren, überfliege die sichtbare Sonne, möge aber niemals diesen Weg, der zur vollkommenen Glückseligkeit führt, verlassen. Denn die, welche sich der Beschauung widmen, und zwar nicht aus Gewohnheit, noch über Aufforderung anderer, sondern von himmlischer Liebe hingerissen, sind wie Korybanten, von heiliger Begeisterung erfüllt, bis sie das Ersehnte schauen.«[34]
Um eine praktische Veränderung des Lebens in Buße und Umkehr ging es auch den täuferischen Sekten Palästinas zur Zeitenwende. Die Schlüsselfigur zur Annahme derartiger Sekten ist die im Neuen Testament bezeugte Gestalt Johannes des Täufers, den zwar die Evangelien als Vorläufer und Verkünder Jesu darstellen, von dem aber angenommen werden darf, daß er eine eigenständige Gestalt darstellte – schließlich berichtet unabhängig von den Evangelien auch Flavius Josephus von ihm. Josephus läßt Johannes als einen Lehrer erscheinen, während ihn die Evangelien als einen Bußprediger zeigen, der die Umkehr durch rituelle Waschungen und Tauchbäder im Jordan beglaubigte.
Außerhalb des Christentums lebte die Gestalt des Johannes in einigen abgelegenen Überlieferungen des Judenchristentums sowie in der Religion der Mandäer fort.
Tatsächlich überliefern einige judenchristliche Schriften, daß Johannes der Täufer als Sektenhaupt unmittelbar von Dositheos beerbt wurde, den wir oben als Nachfolger von Simon Magus kennenlernten.[35] Diese Legenden legen eine historische Gemeinsamkeit täuferischer und samaritanisch-simonianischer Gruppen nahe.
Vor allem aber wird die Gestalt des Johannes im Mandäismus verehrt, einer Religion, die aller Wahrscheinlichkeit nach vor dem Untergang des judäischen Reiches in Palästina entstand, deren Anhänger aber noch vor dem Fall Jerusalems im Jahre 70 ins Ostjordanland auswanderten und dann in polemischer Abgrenzung gegen Judentum und Christentum eine eigene gnostisierende Weltanschauung in Verbindung mit vorgeschriebenen Taufriten in fließendem Wasser, liturgischem Brot und Wassermahlen, Mildtätigkeit und Gemeinschaft kanonisierten.[36]
Im Mandäismus, an dessen vor- oder nachchristlicher Entstehung sich die Geister schon deswegen scheiden, weil sich die Frage nach der Entstehung der Gnosis letztlich hier – bei einer lebendigen gnostischen Religion, die ebenso alt ist wie das Christentum und das rabbinische Judentum – entscheiden ließe, sind ähnliche Elemente und Grundzüge überliefert wie in der simonianischen Religion – freilich allesamt aus sehr viel späteren Quellen.
Der Religionshistoriker W. Brandt beschreibt das Weltbild der Mandäer als kosmischen Mythos: »Hoch oben, jenseits des Planetenhimmels, gibt es eine selige Welt voller Licht und Glanz, in welcher als höchste Gottheit ›das Leben‹ und andere göttliche Wesen sich aufhalten – nach einem anderen Lehrtopos ›der hohe König des Lichts‹ von zahlreichen Engelscharen umgeben thront. Von dorther stammt die Seele des Menschen, die Seele des Adam und die Seelen seiner Nachkommen in der mandäischen Religionsgemeinschaft. Unten befindet sich die Welt der Finsternis mit dem schwarzen Wasser. Von diesem ist ein Teil ›verdichtet‹ oder zum Gerinnen gebracht: die von den Menschen bewohnte Erde. Sie hat jetzt das schwarze Wasser im Süden, im Norden reicht sie durch hohes Gebirge an die Lichtwelt hinan. Aus ihr kommen, von den hohen Bergen herab, die Flüsse. Durch das lebendige Wasser der Flüsse bleiben die Mandäer, die darin untertauchen, im Zusammenhang mit der Lichtwelt. Die Seelen der Frommen sind auf unserer Erde in der Fremde. Hier sind böse, mit den jetzt gefesselten Mächten der Finsternis verwandte Geister, die Götter anderer Nationen und Konfessionen, mächtig. Darum harrt der Gläubige mit Sehnsucht der Erlösung, nämlich der Erlösung von dem irdischen Dasein (…). In der Todesstunde kommt ein Genius aus der Lichtwelt: als ›Befreier‹ führt er die Seele aus dem Leib hinaus und durch die Himmelssphären sicher empor in die Welt des Lichtes und des großen Lebens.«[37]
Sogar wenn der größte Teil der vorliegenden mandäischen Überlieferung sehr viel später als die Evangelien verfaßt wurde, scheint inzwischen doch gesichert, daß sich »die Mandäer (…) im Westen spätestens zur Zeit Johannes des Täufers konstituiert haben. Sie gehören in die Geschichte der jüdischen Täufersekten, und viele Ideen und Riten verknüpfen sie mit der Qumransekte und dem samaritanischen Gnostizismus.«[38]
Sofern dieser Befund stichhaltig ist, hat er für die Auseinandersetzung mit der christlichen Gnosis nachhaltige Konsequenzen. In diesem Fall ist nämlich zu fragen, ob das Christentum nicht selbst, trotz seiner vielfältigen antignostischen Polemik, mehr von bereits zuvor existierenden gnostischen Lehrmeinungen übernommen hat, als es später zuzugeben bereit war. Zuvor aber soll ein Resümee bezüglich der jüdisch-häretischen Sekten gezogen werden.
All das, was sich als Elemente einer vorchristlichen jüdischen Gnosis bezeichnen läßt, wurzelt in der spätestens Ende des vierten vorchristlichen Jahrhunderts ungemildert aufbrechenden Frage nach der Theodizee, der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, die unmittelbar in die Frage nach der Rechtfertigung Gottes umschlägt. Die Elemente jüdischer Gnosis lassen sich als unterschiedliche theoretische und praktische, theologische und liturgische Antworten auf diese Frage verstehen.
In einem ersten Schritt wird – vor allem im Buch Hiob und im Buch Prediger – Gott gleichsam aus der Geschichte entlassen bzw. in der Unerforschlichkeit seiner Ratschlüsse bestätigt und zugleich zum kosmischen Walter der Geschicke des Menschen erklärt. Damit wird die innige Beziehung zwischen Gott und seinem Volk, eine Beziehung, die durch wechselseitiges Handeln gekennzeichnet ist, aufgebrochen und durch ein Modell individueller Lebensgestaltung in einem sinnvollen Kosmos ersetzt. An die Stelle des unmittelbar eingreifenden historischen Schöpfers tritt nun – in den jüngsten Passagen der »Sprüche« – die Gestalt einer zwar von Gott geschaffenen, aber doch nicht menschlichen Weisheit, die sowohl die Harmonie des Kosmos garantiert als auch zwischen dem fern gerückten Gott und den Menschen vermittelt.
In einem zweiten Schritt wird in der samaritanischen Religion, die zunächst lediglich einem politischen Schisma entstammte, die politisch restaurative Idee des Messianismus, wie sie sich etwa bei Jesaja findet, eschatologisch umgedeutet und konkretisiert. Der Glaube an die endzeitliche Ankunft des Messias allein findet sich bereits bei einer Reihe von Propheten und Apokalyptikern. Die klassische samaritanische Religion, aus der später die Gnosis erwuchs, unterscheidet sich vom jüdischen Messianismus dadurch, daß sie den endzeitlichen Messias in einem später wiederkehrenden Moses sieht und ihn damit in die unmittelbare Nähe Gottes rückt.
In einem dritten