Die Hebel der Macht - Hans Herbert Arnim - E-Book

Die Hebel der Macht E-Book

Hans Herbert Arnim

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Beschreibung

Strategien der Macht
Wenn immer mehr Menschen glauben, Politik werde über ihre Köpfe hinweg gemacht und sei ihrem Einfluss entzogen – ist das ein populistischer Trugschluss? Oder ist der Eindruck der Bürger, sie seien entmachtet, womöglich zutreffend?
Soviel Sprengstoff diese Fragen bergen, so analytisch-nüchtern geht der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim in seiner Systemdiagnose vor. Er belegt: Die Parteienherrschaft hat eine neue Qualität erreicht. Hinter der demokratischen Fassade haben die Parteien einen Machtapparat installiert, der der Volkssouveränität Hohn spricht und absolutistische Züge trägt.
Arnim deckt auf, welcher Mittel und Methoden sich die politische Klasse bedient, um die Regeln zu ihrem eigenen Vorteil umzugestalten. Parteienherrschaft und Willkür wirksam zu begrenzen ist dringend geboten!

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Strategien der Macht

Wenn immer mehr Menschen glauben, Politik werde über ihre Köpfe hinweg gemacht und sei ihrem Einfluss entzogen – ist das ein populistischer Trugschluss? Oder ist der Eindruck der Bürger, sie seien entmachtet, womöglich zutreffend?

Soviel Sprengstoff diese Fragen bergen, so analytisch-nüchtern geht der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim in seiner Systemdiagnose vor. Er belegt: Die Parteienherrschaft hat eine neue Qualität erreicht. Hinter der demokratischen Fassade haben die Parteien einen Machtapparat installiert, der der Volkssouveränität Hohn spricht und absolutistische Züge trägt.

Arnim deckt auf, welcher Mittel und Methoden sich die politische Klasse bedient, um die Regeln zu ihrem eigenen Vorteil umzugestalten. Parteienherrschaft und Willkür wirksam zu begrenzen ist dringend geboten!

Zum Autor:

Hans Herbert von Arnim, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler, früherer Rektor der Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer und Verfassungsrichter in Brandenburg, hat als einer der Ersten Machtmissbrauch, Inkompetenz und Opportunismus in den politischen Parteien angeprangert. Der Autor zahlreicher Bestseller, u.a. Staat ohne Diener, Fetter Bauch regiert nicht gern und Die Deutschlandakte, gehört zu den versiertesten Kennern unserer Wahlsysteme und Parteienstrukturen.

Hans Herbert

von Arnim

DIE HEBEL DER MACHT

UND WER SIE BEDIENT

Parteienherrschaft statt Volkssouveränität

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2017 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering ISBN: 978-3-641-20880-6V002
www.heyne.de

Inhalt

Vorwort

Teil 1: Darf die Politik in eigener Sache entscheiden und alle Kontrollen beseitigen?

1. Wer sitzt an den Hebeln der Macht?

Ausgehebelt: Zum Beispiel Blitzgesetze

Auf die Spielregeln kommt es an

Wer legt die Regeln der Macht fest?

Das Spiel…

… und die Bedeutung seiner Regeln

2. Entscheidungen in eigener Sache

Wann entscheidet das Parlament in eigener Sache?

Eine Frage des persönlichen Vorteils

Eigeninteresse und Gemeinwohl

Wirksame Kontrollen sind unerlässlich

3. Ausgehebelt: Kartelle schalten politische Kontrollen aus

Wie man Kontrollen beseitigt

Wie man die parlamentarische Opposition gleichschaltet und die Gewaltenteilung beseitigt

Wie man die öffentliche Kontrolle schwächt

Wie man Medien einbindet

Wie man den Ausschluss der Öffentlichkeit auf die Spitze treibt

Wie man Sachverständige für seine Zwecke instrumentalisiert

Wie man die eigene Basis hinters Licht führt

Wie man die Wähler entmachtet

Teil 2: Verdeckte Aktionen – Wie Parteien agieren

1. Ausweitung des Einflusses

Wo die Parteien den Hebel ansetzen

Abgeordnetendiäten

Staatliche Parteienfinanzierung

Wahlrecht

Parteiliche Ämterpatronage

Die einschlägigen Vorgehensweisen

2. Camouflage-Gesetze

Bundestag

Das Verfahren zum Abgeordnetengesetz 2014

Das Fraktionsgesetz von 1994

1995: Verfassungsänderung in eigener Sache?

Die Diätennovelle von 2007

Erneute Versuche zur Diätenerhöhung 2008 und 2011

Das Verfahren von 2013 zur Drei-Prozent-Sperrklausel bei Europawahlen

Exemplarische Fälle aus den Bundesländern

Bayern

Ein Abgeordnetengesetz entsteht – und wird zum fatalen Muster für andere Landtage · Das Gesetzgebungsverfahren 2000: Vortäuschen falscher Tatsachen · Ein Fraktionsgesetz wird erschlichen – und zum Muster für den Bund

Hessen

Das Verfahren zum Diätengesetz von 1981 · Das Verfahren zum Diätengesetz von 1988 und später: Der Geburtsfehler wirkt bis heute fort

Saarland

Ministerpension und Fraktionszuschüsse · Das Fraktionsgesetz

Hamburg: Wie ein vorbildliches Abgeordnetengesetz entstand

3. Abschieben in den Haushaltsplan

4. Ämterpatronage: Bestellung geneigter Amtsträger

Das schleichende Gift

Einschlägige Fälle

Ämterpatronage vor Gericht

Der Fall Graefen/Bartz

Politische Beamte

Zunahme von Konkurrentenklagen

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk

5. Parallelen im Privatrecht

Privatautonomie und öffentliche Freiheit

Die Verfallbarkeit der betrieblichen Altersversorgung

Teil 3: Der Kampf ums Recht: Was darf die Politik in eigener Sache?

1. Von entscheidender Bedeutung: ein fairer politischer Wettbewerb

Die Rolle kleinerer Parteien

Was der politische Wettbewerb bewirkt

Ein offener politischer Prozess

Die politische Chancengleichheit

2. Wahlrecht

Strikte Gerichtskontrolle von Sperrklauseln bei Kommunal- und Europawahlen

Verteidigung des Status quo: Beschwichtigende Staatsrechtler

Zwei Politiker als Staatsrechtslehrer: Hans Hugo Klein und Walter Schmitt Glaeser

Der lange Schatten einer abwegigen Doktrin: Gerhard Leibholz

Bedingte Erkenntnis: Thilo Streit und Heinrich Lang

Diskriminierung der parlamentarischen Opposition

Überhangmandate und Ausgleichsmandate: Es droht eine explosionsartige Vergrößerung des Bundestags

Die Blockade notwendiger Reformen durch die Regierungsmehrheit

Teil 4: Das Bundesverfassungsgericht verschärft die Regeln – die Politik ignoriert sie

1. Das Verfassungsgericht legt die Regeln der Gesetzgebung fest

Kreditaufnahme

Hartz IV und Asyl

Beamtenbesoldung

Unbestimmtheit der inhaltlichen Vorgaben

Evidenzkontrolle

Begründungspflicht nur bei Grundrechtsverletzungen?

2. Politikfinanzierung

Die Finanzierung der Abgeordneten

Vorkehrungen zur Ermöglichung öffentlicher Kontrolle: Das Diätenurteil von 1975

Umfassende Neuregelung · Öffentliche Kontrolle unerlässlich · Strenger Gesetzesvorbehalt · Einheitliche Kostenpauschale: Verstoß gegen den strengen Gleichheitssatz

Funktionszulagen: Ein Kampf ums Recht

Die geltenden Grundsätze · Der Bundestag und seine Fraktionen · Verfassungswidrig? · Bundesländer

Die Finanzierung der Parteien

Das Urteil von 1992: Die unmittelbare Finanzierung von Parteien

Entscheidung in eigener Sache · Die Parteienfinanzierung: Ausdruck des Parteienstaats · Die Problematik staatlicher Parteienfinanzierung · Absolute Obergrenze

Die mittelbare Finanzierung der Parteien …

… durch die Finanzierung der Fraktionen · … durch die Finanzierung parteinaher Stiftungen · … durch die Finanzierung von Mitarbeitern der Abgeordneten · Fraktionen, parteinahe Stiftungen und Abgeordnetenmitarbeiter: massenhafte Umgehungen der Kontrollen und Grenzen

Teil 5: Das Wahlrecht öffnen, die Politikfinanzierung begrenzen: Konsequenzen der Rechtsprechung

1. Wahlrecht

Fünfprozentklauseln bei Bundestags- und Landtagswahlen nicht mehr haltbar

Starre Wahllisten: verfassungswidrig?

Vorwahlen zur Durchsetzung von Freiheit, Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl?

2. Politikfinanzierung

Die Schlüsselfunktion der öffentlichen Kontrolle

Begründung im Gesetzgebungsverfahren

Einhaltung von Mindestfristen

Verstöße gegen den Gesetzesvorbehalt

Kosten- und Mitarbeiterpauschalen: Festlegung der Höhe im Haushaltsplan

Scheinbare Ermächtigung im Abgeordnetengesetz: verfassungswidrige Täuschung der Öffentlichkeit

Allgemeine Kostenpauschale · Abgeordnetenmitarbeiter · Bewilligung von Fraktionsmitteln

Funktionszulagen, Fraktionen, Stiftungen

Resümee der Politikfinanzierung

Multiple Verfassungswidrigkeit

Verfassungswidrige Ermächtigungen · Verfassungswidrig: Kostenpauschale, Mitarbeiterpauschale, Fraktionsfinanzierung, Stiftungsfinanzierung

Fazit: Ein missbräuchliches, vielfach verfassungswidriges Gesamtsystem

Teil 6: Grenzen der Kontrolle

1. Rechtliche Grenzen der Gerichtskontrolle

Fehlende Klagebefugnis und mangelnde Klagebereitschaft

Beschränkte gerichtliche Prüfung

Wahlanfechtung: Eine Art Popularklage?

Die Notwendigkeit einer Erweiterung der Klagebefugnis

2. Verflechtung von Rechtsprechung und Politik

Richterliche Unabhängigkeit unter Druck

Angewiesenheit des Gerichts auf die Politik

Richterbestellung durch die »Gegenseite«

Der großzügige Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit Befangenheitsvermutungen

Das Bundesverfassungsgericht: Wegbereiter überzogener Politikfinanzierung?

Asymmetrie des gerichtlichen Gegenhaltens

Begünstigung durch das Bundesverfassungsgericht

Staatliche Parteienfinanzierung · Fraktionsfinanzierung · Stiftungen · Diäten

Ausschöpfen und Überschreiten der Grenzen

Der Sperrklinken-Effekt

Lange Prozessdauer: Verschärfung der Probleme

Autoritätsverlust der Rechtsprechung durch Zickzackkurs

Ergebnis: Zwei zurück, drei vor

3. Sonstige Kontrollinstanzen

Der Bundespräsident

Generelle Zurückhaltung des Präsidenten

Keine Fristen für Bundespräsident und Bundesregierung

Geheimverfahren

Kontrolle durch Öffentlichkeit und Sachverstand

Sachverständige

Das Dilemma · Kontaminierter Sachverstand

Aktivierung der öffentlichen Kontrolle

Die bayerische Verwandtenaffäre · Cornelia Yzer und das Problem der Doppel- und Dreifachbezahlung und -versorgung

Kontrolle durch Rechnungshöfe?

Teil 7: Der Fehler liegt im System: Das Kartell auf dem Weg in den exzessiven, bürgerfernen Parteienstaat

1. Systemische Fehlentwicklungen

Wesentliche Elemente

Die strukturellen Regeln des Machterwerbs

Zersetzung durch Ämterpatronage

Staatliche Parteienfinanzierung

Bezahlung und Versorgung von Amtsträgern

Lähmung der Gewaltenteilung und Schwächung des Parteienwettbewerbs

Die Verflüchtigung der politischen Verantwortung

Formales Staatsrecht und politische Praxis

Verantwortliche Parteien?

Verhältniswahl und Koalitionen · Angleichung der etablierten Parteien · Funktionsstörung des politischen Wettbewerbs · Der bundesdeutsche Föderalismus und die Rolle des Bundesrats

Verantwortliche Personen

Mehrheitswahl von Abgeordneten und Exekutivspitzen

Das System hinter dem System

Das Auseinanderklaffen von Form und Inhalt als Folge des hintergründigen Parteienwirkens

Was sich hinter den demokratischen Formeln tatsächlich verbirgt

Artikel 21 des Grundgesetzes: rührend weltfremd · Staatliche Parteienfinanzierung: kleingerechnet · Sperrklauseln: Abschottung des Kartells gegen Konkurrenz · Wahl ohne Auswahl · Abgeordnete: Parteivertreter statt Volksvertreter · Die Fiktion von der demokratischen Legitimationskette

Zweierlei Sprachen: Die Diskrepanz von Reden und Tun

Zurück zum Bürgerstaat: Das Parteienregime eindämmen, den Bürgereinfluss stärken

Fundamentale Reformen?

Weniger weitgehende Änderungen?

2. Frühe Kritiker der Fehlentwicklungen

Richard von Weizsäcker

Erwin K. Scheuch

Hans Herbert von Arnim

3. Die etablierte Politikwissenschaft

Diskreditieren der Kritiker durch Klaus von Beyme und Michael Greven

Politische Klasse und politische Elite

Berufspolitiker als politische Klasse

Führungsgruppen als politische Elite

Politische Vermachtung: Kartellparteien

Parteien: Täter oder Opfer?

Der Wandel der Parteien

Ein untauglicher Versuch, den Parteienstaat zu rechtfertigen

Fazit: Systematisches Ausblenden des unausgewogenen politischen Prozesses

4. Beurteilung: Verlust der Richtung im Kern des Staates

Vorläufige Wertungen

Verfassungstheoretische Grundannahmen: Ausgewogenheit und Richtigkeit demokratischer Entscheidungen

Erschütterung der Grundannahmen: Gefährdung der demokratischen und rechtsstaatlichen Legitimation

Teil 8: Wohin treibt Europa?

1. Verlust der Selbstbestimmung?

2. Die Finanzierung der Parteien: Symbol für politische Kartellierung und Bürgerferne der EU

3. Europäische Diäten

Ausholen zum großen Coup: Vom Scheitern und schamlosen Lügen

Die derzeitigen Regelungen

Überzogene Pauschalen

Abwegige Gleichmacherei

4. Beamte, Kommissare und Richter im Schlaraffenland

5. Die Wahlen zum Europäischen Parlament und das Demokratiedefizit

Ungleiches Wahlrecht

Kein vollwertiges Parlament

Reine Parteienwahl

Sperrklausel durch die Hintertür

6. Die Währungsunion: Mutter vieler Übel

7. Flüchtlingspolitik und Brexit

Teil 9: Das System korrigieren: Direkte Demokratie und ihre Ersatzformen

1. Schein- und Vorformen direkter Demokratie

Meinungsumfragen sind keine Beteiligung

Das Demonstrationsrecht: Ventil für Unzufriedenheit und Protest

Ein Grundrecht

Große Worte des Bundesverfassungsgerichts

Pegida

Der Bürgerbonus – ein charmanter Vorschlag

Planungszellen und »Citizens’ Jury«

2. Frischer Wind durch neue Parteien?

Die Bedeutung eines offenen politischen Prozesses für die Demokratie

Die AfD: Von der Protest- zur Reformpartei?

Bisherige Entwicklung

Zum Programm

3. Der Bedarf an direkter Demokratie

Ergänzung der gerichtlichen und sonstigen Kontrolle durch direkte Demokratie

Direkte Demokratie für Verfassungsgebung und Verfassungsänderung

Einführung direkter Demokratie durchs Parlament

Eine Entscheidung in eigener Sache

Widerstand gegen den Absolutismus der politischen Klasse?

Direkte Demokratie in den Ländern

Restriktive Auslegung der Tabubereiche

Einseitige Bestellung der Verfassungsgerichte

Beeinträchtigung der parlamentarischen Demokratie?

Direkte Demokratie in der Europäischen Union

Teil 10: Die fatale Rolle der Wissenschaft

1. Die Politikwissenschaft: teilweise blind

Unkritische Haltung

Politiknähe

2. Die Staatsrechtslehre: teilweise Bremser

3. Mangelnde Zusammenarbeit

4. Ein neuer Ansatz tut not

Teil 11: Zusammenfassung

Anhang

Anmerkungen

Register

Vorwort

Demokratie ist Herrschaft durch und für das Volk. Was den Bürgern frommt, ist allerdings höchst umstritten. Wie immer, wenn keine klaren Kriterien für die inhaltliche Richtigkeit bestehen, gewinnt deshalb das Verfahren zentrale Bedeutung: Die angemessene Gestaltung des politischen Willensbildungsprozesses soll bewirken, dass die Politik sich am Willen und am Interesse der Menschen ausrichtet. Die Ordnung dieses Prozesses und seine Ergebnisse sind jedoch verzerrt. Denn hinter der formalen Fassade von Regierung und Parlament entscheiden tatsächlich die politischen Parteien, und sie verfolgen ihre eigenen Interessen, die mit denen des Volkes keineswegs immer übereinstimmen.

Dabei geht es nicht nur um »Selbstbedienung« der Parteien an Geld und Posten, also um staatliche Politikfinanzierung und Ämterpatronage. Das sind nur die sichtbaren Zeichen für den Wandel von Parteien und Staat. Das eigentliche Problem ist viel grundlegender, denn die Parteien entscheiden selbst über die sogenannten Regeln des Machterwerbs, die ihnen eigentlich Grenzen setzen sollten. Dies stellt einen grundlegenden Strukturmangel unseres politischen Systems dar, prägt die Entwicklung zum exzessiven Parteienstaat und ermöglicht eine Politik über die Köpfe der Menschen hinweg.

Das 1949, vor bald 70 Jahren, erlassene Grundgesetz ist gegen diese Form der Machtergreifung nicht ausreichend gerüstet – und das vor einem halben Jahrhundert von den Parteien selbst konzipierte Parteiengesetz vom 24. Juli 1967 schon gar nicht. Die klassische Gewaltenteilung versagt, der Wettbewerb wird durch programmatische Angleichung der Parteien und durch politische Kartelle unterlaufen, und die von den Parteien bestellten Richter bewirken nur Randkorrekturen, ohne aber das Strukturproblem wirklich anzugehen.

Die Souveränität, die in der Demokratie eigentlich dem Volk zusteht, haben die Parteien an sich gerissen. Schritt für Schritt haben sie ihre Macht immer weiter ausgebaut, ihre finanzielle Ausstattung ausgeweitet und ihr Personal in Schaltstellen und auf gesicherten Positionen untergebracht, um sich selbst immer unangreifbarer und unersetzlicher zu machen. Auf welche Weise sie das tun und welcher Mittel sie sich dabei bedienen, das wird im Folgenden anhand vieler Beispiele genau dargelegt.

Letztlich kann wohl nur direkte Demokratie, die den Bürgern die Möglichkeit gibt, die Regeln der Macht selbst festzulegen und dem Kartell der politischen Klasse Grenzen zu setzen, wirksam gegenhalten und so die Gefahr eines exzessiven Parteienstaates bannen. Schließlich sind der demokratische Staat und die, die ihn lenken, um der Menschen willen da und nicht umgekehrt der Mensch um des Staates und der Parteien willen.

In diesem Buch geht es bei aller Systemkritik nicht um eine Demontage der Demokratie, sondern im Gegenteil um die Etablierung eines wahrhaft demokratischen Systems. Dazu muss man Fehlentwicklungen aufzeigen und Wege zu besseren Lösungen. Von autoritären Staatsformen, die leicht versteinern und schließlich kollabieren, unterscheidet sich Demokratie dadurch, dass sie öffentliche Kritik verträgt, ja, sie geradezu braucht, um sich stetig fortzuentwickeln. So stellt sie ihre Lebensfähigkeit immer wieder unter Beweis.

Danken möchte ich Christian Pestalozza (Freie Universität Berlin), der große Teile des Manuskripts gegengelesen hat, für seine verständigen Anmerkungen, ebenso meinem Mitarbeiter Andrei Kiraly für die Hilfe bei der Materialrecherche.

Speyer, im Dezember 2016

Hans Herbert von Arnim

Teil 1

Darf die Politik in eigener Sache entscheiden und alle Kontrollen beseitigen?

1. Wer sitzt an den Hebeln der Macht?

Ausgehebelt: Zum Beispiel Blitzgesetze

Wenn es um wichtige Angelegenheiten geht, entscheidet das Parlament in einem besonderen Verfahren, dem Gesetzgebungsverfahren – und solche Verfahren dauern oft ziemlich lang.

Manchmal aber geht es sehr rasch. Dann werden die vorgesehenen Fristen zwischen der Einbringung des Gesetzentwurfs und der ersten Lesung im Parlament und die Fristen zwischen der ersten und der zweiten Lesung nicht eingehalten; da wird der Inhalt des Gesetzes vor der Öffentlichkeit verborgen, tatsächliche und rechtliche Einwände werden unterdrückt; da fehlt eine Begründung, oder sie liegt neben der Sache; da meldet sich in den Plenardebatten niemand zu Wort, oder es werden Ausführungen gemacht, die von der Sache ablenken.

Wenn solche Verfahrensmängel vorliegen und das Ganze auch noch spätnachts beschlossen wird oder unmittelbar vor einem großen Sportereignis wie der Fußballweltmeisterschaft, das medial alles beherrscht, handelt es sich oft um ein Gesetz, welches das Parlament in eigener Sache beschließt. Typisch für solche Blitzgesetze1 ist, dass die Politik sich an allen Kontrollen vorbei in parteiübergreifender Einigkeit »selbst bedient«.2

Auf die Spielregeln kommt es an

Wer legt die Regeln der Macht fest?

Entscheidungen in eigener Sache trifft die Politik in den Bereichen Wahlen, Politikfinanzierung, Ämterbesetzung und bei der sonstigen Ausgestaltung der Demokratie. Dabei geht es um politische Macht.Die Regeln über den Erwerb, den Behalt und den Genuss der Macht,3 kurz: die »Regeln der Macht«,4 haben, je nach Ausgestaltung, in unterschiedlicher Art und Weise Einfluss auf die Gewinnung, die Aufrechterhaltung und den Genuss der Macht. Sie sind fundamental wichtig, weil von ihrer Angemessenheit die Legitimation des ganzen politischen Systems wesentlich abhängt.5 Deshalb gelten sie als besonders bedeutsames, grundlegendes Recht, als sogenanntes materielles Verfassungsrecht.6

Die Regeln der Macht sind nicht nur besonders wichtig, sondern auch besonders gefährdet, eben weil das Parlament – wegen der Entscheidung in eigener Sache – befangen und deshalb versucht ist, die Regeln zum eigenen Vorteil und damit unausgewogen und einseitig auszugestalten.7

Die grundlegende Bedeutung der Regeln der Macht erkennt man auch daran, dass Wahlrecht, Politikfinanzierung, Ämterpatronage und die restriktive Behandlung von Elementen direkter Demokratie zu den »Hebeln« gehören, mit denen die Parteien sich des Staates bemächtigt, ihn zum Parteienstaat geformt und eine politische Klasse mit eigenen Macht-, Status- und Einkommensinteressen ausgebildet haben. Die Erkenntnis, dass der Parteienstaat das Produkt der Selbstermächtigung von Parteien ist, die Parteien sich ihn also sozusagen angeeignet und einverleibt haben, muss seine Legitimation erschüttern.

Das Gewicht dieser Feststellung mag auch die zögerliche Haltung mancher Staats- und Politikwissenschaftler erklären, die grundlegende Problematik von Entscheidungen der Politik in eigener Sache anzuerkennen, ganz zu schweigen vom Widerstand der politischen Klasse selbst.

Das Spiel …

Wie überall sind auch in der Politik die Spielregeln vom Spiel selbst zu unterscheiden, das sich innerhalb der Regeln bewegt.8

Das Spiel wird dadurch bestimmt,

wer entscheidet: zum Beispiel der Bundestag oder die Bundesregierung;was entschieden wird und mit welchem Ergebnis: zum Beispiel die Höhe der Abgeordnetenentschädigung oder wer als Amtsträger eingestellt wird;auf welche Weise, das heißt in welchem Verfahren entschieden wird: zum Beispiel durch Sachgesetz (wie die staatliche Parteienfinanzierung), durch Änderung eines Titels im Haushaltsplan (wie die Höhe der öffentlichen Mittel für Fraktionen und Abgeordnetenmitarbeiter im Bund) oder durch Wahl (wie die Bestellung von Verfassungsrichtern) oder durch Verwaltungsakt (wie die Bestellung von Beamten).

… und die Bedeutung seiner Regeln

Die Spielregeln legen fest, wer worüber nach welchen Kriterien und in welchem Verfahren zu entscheiden hat.9 Wer Erfolg haben will, muss sich an die Regeln halten. Dabei sollten diese so gestaltet sein, dass sie keinen Spieler von vornherein bevorzugen oder benachteiligen. Bestimmen aber einige der Spieler selbst die Regeln, gerät dieser Grundsatz in Gefahr. Niemand sollte die Regeln nach seinen Bedürfnissen so festlegen können, dass er bereits im Vorfeld gewonnen hat oder einen unangemessenen, möglicherweise spielentscheidenden Vorteil erlangt.

Die begriffliche Anleihe beim sportlichen Wettstreit bringt allerdings noch nicht gehörig zum Ausdruck, dass bei der Regelung des Wahlrechts, der Politikfinanzierung und Ämterbesetzung nicht nur die Interessen der unmittelbar betroffenen Spieler, sondern auch allgemeine Interessen auf dem Spiel stehen. Deshalb sollten die Spieler darüber sinnvollerweise auch dann nicht selbst entscheiden können, wenn sich alle einig sind. Gerade in diesem Fall besteht nämlich die Gefahr, dass die Einigung zulasten der Allgemeinheit erfolgt. Deshalb pflegt die Öffentlichkeit auf Änderungen des Grundgesetzes in eigener Sache besonders allergisch zu reagieren. Das hat zum Beispiel 1995 der Versuch des Bundestags gezeigt, den Diätenartikel (Art. 48 GG) zugunsten seiner Abgeordneten zu ändern: Das ist vornehmlich am öffentlichen Protest gescheitert.

Um solche Reaktionen der Öffentlichkeit von vornherein auszuschalten, suchen die Parlamente problematische Regelungen, selbst wenn es sich um materielles Verfassungsrecht handelt, bisweilen auf trickreich-manipulative Weise an der Öffentlichkeit vorbei zu beschließen, wie dies zum Beispiel bei Fraktionsgesetzen immer wieder der Fall war.

2. Entscheidungen in eigener Sache

Wann entscheidet das Parlament in eigener Sache?

Bei Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache geht es nicht um Regelungen, von denen die Abgeordneten in ihrer Rolle als normale Bürger mit betroffen sind. Das Steuerrecht, das Familienrecht, das Straßenverkehrsrecht und die meisten anderen Rechtsgebiete gelten für die Allgemeinheit der Bürger und damit natürlich auch für Abgeordnete. Das ist auch gut so, schließlich sollen sie die praktischen Folgen ihrer parlamentarischen Entscheidungen sozusagen »am eigenen Leibe« verspüren, auch um ein Abheben der Repräsentanten vom Volk möglichst zu verhindern.10

Mit »Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache« sind Entscheidungen gemeint, die nur (oder primär) das Parlament, das heißt dessen Abgeordnete, Fraktionen oder Parteien betreffen. Das sind Entscheidungen über das Wahlsystem oder über wahlrechtliche Sperrklauseln, Entscheidungen über Abgeordnetendiäten sowie über die Aufgaben und die Finanzierung von Parteien, Fraktionen und parteinahen Stiftungen. Auch die Regelung des finanziellen Status von Regierungsmitgliedern geschieht gewissermaßen in eigener Sache, wenn damit gleichzeitig eine Verbesserung der Diäten verbunden ist, um das Parlament und besonders die Opposition einzubinden. Ebenso betreffen Entscheidungen des Parlaments über seine Größe oder über die Dauer seiner Wahlperiode speziell die Abgeordneten und ihre Parteien im Parlament und erfolgen in eigener Sache.11

Auch hier ist wieder zwischen den Spielregeln und dem Spiel innerhalb der Regeln zu unterscheiden. Über die Spielregeln entscheiden in diesen Fällen die Spieler selbst, genauer gesagt eine Seite der Spieler, obwohl diese Festlegung ihnen fairerweise nicht einseitig überlassen werden dürfte, da sie am Ausgang des Spiels interessiert sind. Sie entscheiden also nicht nur über die Sache (das Spiel), sondern auch über die Spielregeln in eigener Sache.

Eine Frage des persönlichen Vorteils

Für die Väter des Verfassungsstaats war die Unterscheidung zwischen allgemeinen Gesetzen und solchen, die allein den Mitgliedern des Parlaments Vorteile bringen, noch selbstverständlich. Der Ausschluss Letzterer galt ihnen als Bedingung für die Legitimität der Staatsgewalt. So schrieb John Locke, dessen politische Philosophie prägend war für die Verfassungen der USA und der französischen Republik: »Den Mitgliedern der gesetzgebenden Versammlung ist es versagt, ein Gesetz zu erlassen, das allein ihnen Vorteile bringt. Sie sind lediglich ermächtigt, in Sachen der Allgemeinheit zu entscheiden, nicht aber in eigener Sache.«12

In der aktuellen Diskussion beharren allerdings manche darauf, dass das Parlament immer in eigener Sache entscheide, und lehnen deshalb das hier vorgetragene Konzept ab.13 Deshalb sei der kategoriale Unterschied zwischen Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache und allgemeinen Regelungen, die Abgeordnete auch betreffen, wie Steuergesetze, noch einmal an zwei Beispielen illustriert.

So würde etwa eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt zwar auch Abgeordnete belasten. Bei einem angenommenen monatlichen Verbrauch von 1000 Euro wären das 10 Euro im Monat. Da das damit erzielte zusätzliche Steueraufkommen aber auf der staatlichen Ausgabenseite in der Regel Nutzen für die Bürger und eben auch für Abgeordnete erbringen würde, dürfte das Nettoresultat für die Bürger (einschließlich der Abgeordneten), jedenfalls im Durchschnitt, bei null liegen oder sogar positiv sein: Steuergelder werden zum Erhalt und zur Entwicklung des Gemeinwesens eingesetzt.

Demgegenüber erbrächte eine Erhöhung der Abgeordnetenentschädigung um zum Beispiel 300 Euro monatlich jedem Bundestagsabgeordneten ein entsprechendes Mehr an Einkommen, ohne dass er in seiner Eigenschaft als Steuerzahler in relevanter Weise zusätzlich belastet würde. Abgeordnete kokettieren gelegentlich damit, wie wenig ihre Diäten die Allgemeinheit belasten, wenn man sie rechnerisch auf alle Bürger umgelegt. Das gilt aber auch für die Abgeordneten selbst in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler. Da sich die steuerliche Belastung zur Finanzierung der genannten Diätenerhöhung von 300 Euro auf, sagen wir, 60 Millionen Steuerzahler verteilt, trüge jeder (und damit auch jeder Abgeordnete selbst) dazu mit weniger als einem Tausendstel Cent im Monat bei.

Während der Verzicht auf die Steuererhöhung die persönliche Nutzenbilanz von Abgeordneten per Saldo also praktisch nicht berühren würde, schlüge der Verzicht auf die Diätenerhöhung in voller Höhe auf jeden Abgeordneten durch.

Diese Unterschiede sind so wesentlich, dass sie von der Quantität in die Qualität umschlagen. Nur wer des Rechnens nicht mächtig ist oder das Arbeiten mit Zahlen für eine unwürdige, niedere Angelegenheit hält, wie Jean-Jacques Rousseau14 oder – bezogen auf Juristen – zum Beispiel Günter Dürig15 gelehrt haben, kann die gewaltigen Unterschiede ignorieren. Beschlüsse von Abgeordneten, die nur sie betreffen, sind eben qualitativ etwas ganz anderes als allgemeine Gesetze, die sie auch betreffen. Damit dürfte der Einwand, Entscheidungen in eigener Sache besäßen keine rechtliche Relevanz, weil Abgeordnete stets auch selbst von ihren Entscheidungen mitbetroffen seien, widerlegt sein.

Eigeninteresse und Gemeinwohl

Das Konzept der Entscheidung in eigener Sache unterstellt keineswegs, das Parlament und seine Abgeordneten handelten immer nur eigennützig und richteten sich bei ihren Entscheidungen stets nur am Erhalt und an der Verbesserung ihres eigenen finanziellen und sonstigen Status aus, ohne sich an den Erfordernissen des Gemeinwohls zu orientieren. Auch das Bundesverfassungsgericht spricht ja lediglich von der Gefahr, dass das Parlament sich etwa bei der Einführung und der Aufrechterhaltung von wahlrechtlichen Sperrklauseln statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen von dem Ziel leiten lasse, die eigene Macht und den eigenen Status zu erhalten, weshalb eine verschärfte Gerichtskontrolle erforderlich sei.16

Die Erfahrung zeigt aber, dass die Rechtsordnung sich nicht allein auf die Gemeinwohlorientierung des Parlaments verlassen kann, wenn massive Eigeninteressen der Abgeordneten und ihrer Parteien auf dem Spiel stehen und es an wirksamen Kontrollen und Gegengewichten fehlt. Aus demselben Gedanken heraus ist es schließlich auch dem ausdrücklich ans Wohl der Allgemeinheit und seine gesetzlichen Konkretisierungen gebundenen Beamten17 untersagt, im Verwaltungsverfahren in eigener Sache tätig zu werden.18 Ebenso ist es dem an Gesetz und Recht gebundenen Richter19 verboten, Urteile zu fällen, die ihn selbst betreffen. Dafür sorgen die entsprechenden Ausschluss- und Befangenheitsvorschriften der Prozessordnungen.20 Grundsätzlich darf kein Richter und kein Verwaltungsbeamter also über eine Angelegenheit entscheiden, die ihn selbst (seine Angehörigen, sein Unternehmen oder seine sonstige Sphäre) betrifft.21 Diesen Grundsatz kannte bereits das römische Recht: »Nemo iudex in causa sua« – niemand sei Richter in eigener Sache. Wer in eigener Sache urteilt, ist befangen. Ihm fehlt, wie bereits der äußere Schein besagt, die für einen fairen Interessenausgleich erforderliche Unabhängigkeit.

Wirksame Kontrollen sind unerlässlich

Entscheidet das Parlament in eigener Sache, fehlt – anders als für Justiz und Verwaltung – zwar ein Verbot, aber auch die Abgeordneten und die Fraktionen beschließen mit ihren Parlamentsparteien Regelungen, von denen sie selbst profitieren können (oder unterlassen es, einschränkende Regelungen vorzunehmen). Auch sie sind also befangen.22

Auf der anderen Seite legt das Grundgesetz ausdrücklich fest, dass die Abgeordnetenentschädigung durch Gesetz zu regeln ist.23 Auch die Regelung des Parteienrechts24 und des Wahlrechts25 weist das Grundgesetz dem Gesetzgeber zu. Und die Gesetzgebung liegt in der Hand des Parlaments.26 Das gilt jedenfalls für den Bund, da das Grundgesetz – abgesehen von den Bestimmungen über die Neugliederung des Bundesgebiets27 – keine direkte Demokratie kennt.28 Die Väter des Grundgesetzes hatten das Problem des Entscheidens in eigener Sache noch nicht gesehen. Eine staatliche Parteienfinanzierung war ihnen noch fremd, und die Diäten galten als bloße Aufwandsentschädigung für ehrenamtlich tätige Abgeordnete; sie waren deshalb gering und sahen keine staatsfinanzierte Altersversorgung vor. Parteipolitischer Ämterpatronage sollte das ausdrückliche grundgesetzliche Verbot29 einen Riegel vorschieben.

Wir stehen also vor einem Dilemma: Einerseits ist das Parlament bei Entscheidungen in eigener Sache befangen und deshalb nach Organisation und Verfahren für solche Entscheidungen wenig geeignet. Andererseits ist in der rein parlamentarischen Demokratie niemand vorhanden, der die Entscheidungen anstelle des Parlaments treffen könnte.

Da aber die Vorbehalte der Rechtsordnung gegen Entscheidungen staatlicher Organe in eigener Sache bei Entscheidungen des Parlaments nicht weniger greifen als bei Beamten oder Richtern, ist es umso wichtiger, den Prozess der politischen Willensbildung möglichst dadurch vor strukturellen Ungleichgewichten zu bewahren, dass für ausreichende Kontrollen und Gegengewichte gesorgt wird. Da das, was das Gemeinwohl verlangt, inhaltlich-positiv praktisch kaum zu bestimmen ist, wäre eine angemessene, problemadäquate Verfahrensordnung umso wichtiger.30

Tatsächlich aber ist die Bedeutung des Verfahrensgedankens im vorliegenden Zusammenhang noch nicht hinreichend erkannt.

3. Ausgehebelt: Kartelle schalten politische Kontrollen aus

Wie man Kontrollen beseitigt

Um die ganze Dimension des Dilemmas zu verstehen, muss man sich zweierlei klarmachen:

welche weiteren Spielregeln normalerweise das parlamentarische Verfahren bestimmenund dass das Parlament bei Entscheidungen in eigener Sache alle diese Spielregeln weitgehend unterläuft und aushebelt.

Dieses fatale Dilemma zu erkennen verlangt allerdings ein gewisses gedankliches »Einsteigen«, denn es handelt sich dabei um Regeln, die zwar vorausgesetzt werden, aber zumeist nicht schriftlich niedergelegt sind; ihr Außerkraftsetzen beruht auf gleichgerichtetem informalem Verhalten31 der – wegen ihrer besonderen tatsächlichen Interessenlage – in eigener Sache entscheidenden Abgeordneten und Fraktionen.

Die dabei angewandten Praktiken, die bisher in Wissenschaft und Rechtsprechung noch zu wenig Beachtung gefunden haben, lassen sich anhand typischer Fälle belegen (siehe Teile 2 und 3). Charakteristisch für solche Gesetzgebungsverfahren ist, dass über Tatsachen getäuscht wird, zum Beispiel werden vergleichbare Regelungen anderer Parlamente unterdrückt oder unrichtig dargestellt. Oder der Inhalt der zu beschließenden Regelungen wird vor der Öffentlichkeit verborgen, etwa durch unverständliche Formulierung. Oder es werden entgegenstehende rechtliche oder politische Argumente, wie zum Beispiel unerwünschte Berichte von Sachverständigenkommissionen, übergangen und verfassungsgerichtliche Urteile ignoriert oder falsch wiedergegeben, um sich eine öffentliche Auseinandersetzung zu ersparen und die öffentliche Kontrolle nicht auf den Plan zu rufen. Oder es wird zur Abschirmung gegen erwartete Kritik der Bericht einer Gefälligkeitskommission vorgeschoben.

Ein Indiz für solche Mängel ist häufig eine überhastete Blitzgesetzgebung; oder es meldet sich bei den »Beratungen« im Parlamentsplenum niemand zu Wort, sodass die eigentlichen »Dollpunkte« öffentlich nicht zur Sprache kommen.

Wie man die parlamentarische Opposition gleichschaltet und die Gewaltenteilung beseitigt

In der parlamentarischen Demokratie ist die klassische Gewaltenteilung32 zwischen Regierung und Parlament geschwächt, weil Regierung und Regierungsfraktionen denselben Parteien angehören und deshalb politisch an einem Strang ziehen. Die Mehrheit bildet mit der Regierung einen gemeinsamen politischen Block, sodass sich der Gegensatz zwischen Regierung und Parlament in der parlamentarischen Demokratie zu einem großen Teil auf den Gegensatz zwischen der Regierung einschließlich der sie tragenden Parlamentsfraktionen einerseits und der parlamentarischen Opposition zusammen mit der Öffentlichkeit andererseits verschoben hat. Wesentlich für das parlamentarische Verfahren ist deshalb das Gegeneinander von Regierungsparteien und parlamentarischer Opposition.33

Die Opposition präsentiert sich im Parlament als Alternative bei der nächsten Wahl und übt so eine wichtige Kontrollfunktion aus. Sie zwingt die parlamentarische Mehrheit in öffentlicher Verhandlung zur Konkretisierung ihres Vorhabens und zum Eingehen auf Gegenargumente. Aus der Gewaltenteilung ist so der Wettbewerb der Parteien um die Gunst der Wähler geworden.

Bei Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache jedoch wird diese Funktion der Opposition ausgehebelt: Bei Beschlüssen über Diäten, Parteienfinanzierung oder Sperrklauseln sowie beim Praktizieren und Tolerieren von Ämterpatronage stimmen die Interessen von Regierung und Opposition überein. Dann wird Opposition manchmal nur geheuchelt, während die öffentlichen Mittel und Posten oder die Ausschaltung außerparlamentarischer Konkurrenten in Wahrheit gern hingenommen werden. Die Halbherzigkeit des öffentlich vielleicht demonstrierten Widerstands zeigt sich dann daran, dass die Opposition selbst gegen Beschlüsse, die sie als verfassungswidrig erkennt, nicht bereit ist, vors Verfassungsgericht zu gehen.

Ist die parlamentarische Opposition aber aus Eigeninteresse mit im Boot, verliert sie ihren Oppositionscharakter. Dann ermangelt das Gesetzgebungsverfahren, wie das Bundesverfassungsgericht formuliert hat, »des korrigierenden Elements gegenläufiger politischer Interessen«.34 Die Parlamentsparteien und ihre Abgeordneten bilden ein »politisches Kartell«, ein Ausdruck, den der Politikwissenschaftler Otto Kirchheimer schon früh gebraucht hat.35 Ein Kartell ist eine Art (Kollektiv-)Monopol, das den Wettbewerb beseitigt. Es entsteht insoweit der Eindruck eines »Einparteienstaats mit mehreren Parteien«.36

Um das Problem politischer Kartelle zu verharmlosen, wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass das Parlament häufig, ja geradezu in der Mehrzahl der Fälle, einstimmig entscheide; solche Beschlüsse könnten deshalb nicht problematisch sein. Die Beurteilung einstimmiger Entscheidungen fällt aber ganz unterschiedlich aus, je nachdem, ob es um Gesetze geht, die auch die Abgeordneten in ihrer Eigenschaft als Bürger betreffen, oder ob die Beschlüsse sich allein auf die Abgeordneten und ihre Parteien beziehen (siehe hier). Im einen Fall beruht die Einstimmigkeit darauf, dass die Interessen der Abgeordneten in denen der Allgemeinheit aufgehen. Im anderen Fall aber geht es um die speziellen Interessen der politischen Klasse selbst, und diese ist in ihren Eigeninteressen befangen.

Es bleibt also dabei: Der Opposition kommt eine wichtige Funktion in der parlamentarischen Demokratie zu. Der öffentliche Wettbewerb von Oppositions- und Regierungsparteien soll darauf abzielen, dass staatliche Entscheidungen »möglichst richtig« getroffen werden.37 Bei politischen Kartellen der Parlamentsparteien fällt dieser Wettbewerb, der an die Stelle der klassischen Gewaltenteilung getreten ist, aus. Aus gewaltenteilendem Wettbewerb wird – kraft »großkoalitionärer Parteieneintracht«38 – ein gewaltenvermengendes Kartell.

Wie man die öffentliche Kontrolle schwächt

Wesentlich für das parlamentarische Verfahren sind die öffentliche Diskussion und die öffentliche Kontrolle.39 Dazu ist es erforderlich, die »Mehrheit zur Rechtfertigung ihrer Entscheidungen vor dem ganzen Volk« zu zwingen.40 »Die öffentliche Diskussion insbesondere politisch bedeutsamer oder umstrittener Gesetzentwürfe [gilt] heutzutage [als] selbstverständlich.«41

Nur ein Gesetzgebungsverfahren, das dem öffentlichen Austragen von Meinungsverschiedenheiten und Interessengegensätzen Raum lässt, ist geeignet, eine am Gemeinwohl orientierte Entscheidung zu ermöglichen und zu fördern und – wie das Bundesverfassungsgericht es formuliert – eine mit Allgemeinverbindlichkeit ausgestattete normative Regelung, wie das Gesetz sie darstellt, hervorzubringen.42 Anders gesagt: Öffentliche Kontrolle soll Auswüchse und Machtmissbrauch möglichst verhindern.

Tatsächlich aber wird die öffentliche Kontrolle bei Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache regelmäßig geschwächt oder ganz ausgeschaltet. Das ist das Ziel der erwähnten Blitzgesetze. Die Medien sind in diesen Fällen vielfach auf Hinweise der Opposition angewiesen, die aber, wenn Eigeninteressen auf dem Spiel stehen, meist gar kein Interesse daran hat, auf ein Problem aufmerksam zu machen. Ganz im Gegenteil: Sie pflegt – zusammen mit den Regierungsparteien – an der Abschottung des Gesetzgebungsverfahrens gegenüber der Öffentlichkeit tatkräftig mitzuwirken.

Interessengruppen und Verbände sind regelmäßig mit den Parteien verbunden und zur Durchsetzung ihrer Interessen auf sie angewiesen, sodass auch von ihnen meist kein wirksames Gegengewicht gegen Maßnahmen der Politik in eigener Sache zu erwarten ist. Der Bund der Steuerzahler bot früher – jedenfalls was die Politikfinanzierung anlangt – immer wieder mal eine Plattform für wirksame Kritik.43 Seit zweieinhalb Jahrzehnten ist er aber zunehmend von einer konfrontativen zu einer kooperativen Haltung übergegangen und mehrheitlich nicht mehr bereit, der politischen Klasse mit durchgreifender Kritik an ungerechtfertigter »Selbstbedienung« wirklich wehzutun.44 Er hat damit eine ähnliche Wandlung durchgemacht wie die Grünen, die sich ursprünglich massiv gegen Fehlentwicklungen im parlamentarischen System zur Wehr gesetzt hatten, inzwischen aber Teil dieses Systems geworden sind.

Wie man Medien einbindet

Von den in Berlin, in den Hauptstädten der Bundesländer oder in Brüssel akkreditierten Journalisten kommt eher selten durchgreifende Kritik.45 Zu eng pflegen sie mit der etablierten Politik verbunden zu sein, zu sehr bleiben sie für ihre tägliche Berichterstattung nach Hause auf die häufig auch inoffiziellen Informationskanäle zu Parlament und Regierung angewiesen. Bei Auslandsreisen, zu denen Politiker Journalisten im Flugzeug mitnehmen, und in handverlesenen sogenannten Hintergrundkreisen, von denen es in Berlin mehr als ein Dutzend gibt, werden Journalisten regelmäßig exklusiv informiert.

Für die Fähigkeit zur Kritik bleibt aber eine gewisse Distanz zwischen Politik und ihren Kontrolleuren unerlässlich. Um diese nicht zu gefährden, galt in früheren Zeiten, jedenfalls für den preußischen Oberrechnungshof, das sogenannte Berlin-Potsdam-Prinzip: Der Rechnungshof residierte in Potsdam, um sich auch räumlich den Einflüssen der Berliner Machtzirkel möglichst entziehen zu können. Heute ist das Gefühl für Distanz als Voraussetzung unbefangener Kontrolle vielfach verlorengegangen. Dabei kann allzu große Nähe zur Politik »für kritischen Journalismus tödlich« sein, wie Bascha Mika, ehemalige Chefredakteurin der taz, mit Recht schreibt.

Wenn Hauptstadtjournalisten ein Gesetz erst einmal unbehelligt haben passieren lassen, bedarf es im Nachhinein oft gesteigerter Anstrengungen, sie noch für das Thema zu interessieren. Das gilt selbst dann, wenn seine Unangemessenheit nun klar zutage tritt, denn damit wird nun erst recht deutlich, dass die »zuständigen« Journalisten die Thematik früher verschlafen hatten (Beispiel 1, Beispiel 2, Beispiel 3).

Opposition und Öffentlichkeit bedingen sich in ihrem Funktionieren gegenseitig und sollen zusammen ein Gegengewicht gegen die Macht der Regierung und der sie tragenden Fraktionen bilden. Werden beide Kontrollen aber vom Parlament in eigener Sache ausgeschaltet, so ist meist auch von den offiziellen Pressekonferenzen in Berlin, in den Bundesländern und in Brüssel wenig zu erwarten. Damit wird die durch die Gewaltenteilung versprochene Richtigkeitstendenz staatlicher Entscheidungen vollends geschwächt.46

Hinzu kommt eine auch von vielen Journalisten gepflegte politische Korrektheit, die der politischen Klasse lange in die Hände spielte: Kritiker und ihre Themen, die dem politisch-medialen Mainstream zuwiderlaufen, werden moralisch verurteilt und als populistisch gebrandmarkt, womit man glaubt, sich eine sachliche Auseinandersetzung ersparen zu können. Damit fühlen sich die Betroffenen aber erst recht ausgegrenzt und somit in ihrer Kritik bestätigt.47 Gewiss ist ein Teil der Kritik abwegig und wird von Agitatoren geschürt, von inakzeptabler Wortwahl und Schmähungen unter der Gürtellinie ganz zu schweigen. Der andere Teil aber verdient eine öffentliche Diskussion. So sagt der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach: »Natürlich haben wir in Deutschland ein garantiertes Recht auf eine freie Meinungsäußerung, aber wehe dem, der von diesem Recht in einer Weise Gebrauch macht, die den Politikmainstream oder den Journalisten nicht gefällt.«48

Inzwischen schlagen sich auch nachdenkliche Journalisten wie der frühere WDR-Intendant Fritz Pleitgen49 und der Chefredakteur der Zeit Giovanni di Lorenzo50 an die Brust. Sie fragen, ob nicht auch sie – zusammen mit der Politik51 – mit der Etablierung öffentlicher Benimmregeln, die viele Bürger als Bevormundung empfinden, dazu neigen, wichtige Anliegen breiter Bevölkerungskreise mittels einer Art sozialer Zensur unter den Teppich zu kehren.

Wie man den Ausschluss der Öffentlichkeit auf die Spitze treibt

Bei Änderungen etwa des Parteiengesetzes, eines Wahlgesetzes oder der Entschädigung von Abgeordneten ist immerhin ein spezielles Sachgesetzgebungsverfahren zu durchlaufen und das Ergebnis im Gesetzblatt zu veröffentlichen. Manchmal ist aber überhaupt kein Sachgesetz vorhanden – und folglich auch nicht das entsprechende Gesetzgebungsverfahren, so zum Beispiel bei den politischen Stiftungen; oder wenn das Gesetz die Höhe und die Verteilung der öffentlichen Mittel ausklammert und stattdessen auf den Haushaltsplan verweist, sodass Erhöhungen nur die Änderung eines Haushaltstitels verlangen, wie im Falle der Fraktionsgelder und bei den Kosten- und Mitarbeiterpauschalen von Bundestagsabgeordneten. Dann gehen selbst gewaltige Erhöhungen in den Tausenden Titeln, die der Haushaltsplan enthält, regelmäßig unter. Hier wird der Ausschluss der öffentlichen Kontrolle auf die Spitze getrieben.

Da eine effektive Einzelberatung aller Haushaltsposten ohnehin nicht möglich ist und das Parlament insgesamt meist kein Interesse an der öffentlichen Diskussion der in eigener Sache beschlossenen Etatposten hat, findet eine öffentliche Beratung dieser Haushaltstitel praktisch nicht statt. Auch erfolgt keine Veröffentlichung im Gesetzblatt; dort werden nur das Haushaltsgesetz und der Gesamtplan publiziert, aus denen die Erhöhungen der Einzeltitel nicht ersichtlich sind. Hinsichtlich der Fraktionen steht nicht nur die Höhe der öffentlichen Mittel, sondern auch der Schlüssel für ihre Verteilung meist lediglich in den Erläuterungen des Haushaltstitels, wenn überhaupt,52 und von einer speziellen Aufgliederung der beabsichtigten Ausgaben der Fraktionen nach Art und Zweck entsprechend dem haushaltsrechtlichen Spezialitätsprinzip kann schon gar keine Rede sein.53

Die Öffentlichkeit wird umso mehr unterlaufen, wenn Erhöhungen nicht schon in den zu Beginn des Verfahrens vorgelegten Entwurf des Haushaltsplans eingefügt werden. Stattdessen werden sie in der Regel erst in der letzten Sitzung des Haushaltsausschusses, kurz vor der endgültigen Beschlussfassung im Plenum des Parlaments, gegen die das bisherige Zahlungsvolumen lediglich fortschreibenden Angaben im Haushaltsentwurf ausgetauscht54 (siehe auch hier).

Ein Beispiel für ein solches Camouflage-Verfahren ist die Erhöhung der Mittel für Mitarbeiter um 30 Millionen Euro (17,6 Prozent), die sich die Bundestagsabgeordneten für 2016 klammheimlich bewilligt haben: Im Haushaltsplan, den der Bundestag Anfang September 2015 in erster Lesung im Plenum verhandelt hatte, war davon noch nicht die Rede. Stattdessen war scheinbar nur eine ganz unwesentliche Erhöhung55 gegenüber dem Vorjahr56 vorgesehen.57 Auch aus einem Bericht des Haushaltsausschusses vom 11. November 2015 war noch nichts ersichtlich.58 Erst in einer Ergänzung seiner Beschlussempfehlungen vom 19. November 2015 kam der Haushaltsausschuss mit der Erhöhung auf 202,325 Millionen Euro aus der Deckung;59 und so wurde es kurz darauf in der zweiten Lesung beschlossen,60 allerdings vorläufig unter Sperrung, die der Haushaltsausschuss aber am 16. Dezember 2015 aufhob.61 Eine öffentliche Begründung für die gewaltige Erhöhung erfolgte nicht.

Im Gegenteil: Die Unterlagen stiften geradezu Verwirrung. Denn in den Haushaltsplänen findet sich regelmäßig der Vermerk, die Bewilligung erhöhe sich um den Prozentsatz, mit dem auch die Besoldung im öffentlichen Dienst steigt,62 so auch für 2016. Doch das war nur ein weiteres Element im Prozess der umfassenden Ausschaltung und Irreführung der öffentlichen Kontrolle, denn die Bewilligung wurde keineswegs nur um die 2,4 Prozent des öffentlichen Dienstes erhöht, sondern um 17,6 Prozent.

Dass dies kein Einzelfall war, zeigt die Erhöhung der Globalzuschüsse für die parteinahen Stiftungen um 16 Millionen Euro (13,8 Prozent) im Jahr 2014, die ebenfalls erst in der sogenannten Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses63 unmittelbar vor der zweiten Lesung des Bundeshaushalts 2014 im Plenum beschlossen wurde, ohne dass dort aber der gewaltige Umfang der Erhöhung genannt worden wäre.64 Im Entwurf des Haushalts war noch keine Erhöhung signalisiert worden, sondern im Gegenteil eine Absenkung um 2 Millionen Euro.65

Die Parteistiftungen zeigen auch, dass Intransparenz noch weiter steigerungsfähig ist: Die sehr viel höheren zweckgebundenen Mittel, die sie unter anderem für den Erwerb von Liegenschaften zusätzlich erhalten, sind auf zahlreiche Haushaltstitel verteilt; aus diesen lässt sich oft gar nicht erkennen, dass sie den Stiftungen zufließen. Hier sind Erhöhungen und auch die Gesamthöhe der öffentlichen Stiftungsmittel aus dem Haushalt erst recht nicht zu ersehen.66

Den Ausdruck »Camouflage« für manipulative Versteckspiele zulasten der Bürger und Steuerzahler hatten übrigens Väter des hessischen Abgeordnetengesetzes von 1981 geschaffen, als sie im Rheingau beim Wein ihren Plan zur Täuschung der Öffentlichkeit ausheckten (siehe hier).

Wie man Sachverständige für seine Zwecke instrumentalisiert

Das Bundesverfassungsgericht hat beim Fehlen »des korrigierenden Elements gegenläufiger politischer Interessen« – ein Ausdruck, mit dem Karlsruhe die mangelnde Gewaltenteilung und die geschwächte Öffentlichkeitskontrolle umschrieb – die »Einschaltung objektiven Sachverstandes« vorgeschlagen.67 Doch die Versuchung ist groß, dass das Parlament auch die Berufung von Sachverständigen und von Sachverständigenräten in den Dienst seiner Eigeninteressen stellt, wodurch diese Form der Kontrolle ebenfalls leicht ausgehebelt und zu einem Instrument der Manipulation umfunktioniert wird (siehe hier). Hof-Veröffentlichungen von Autoren, die in den Diensten der politischen Klasse stehen, drohen die Kontrollfunktion der Wissenschaft ebenfalls zu schwächen (hier).

Wie man die eigene Basis hinters Licht führt

Auch die politischen Parteien selbst können eine gewisse Kontrolle über ihre Politiker in den Parlamenten und Regierungen ausüben: Die Partei stellt die Kandidaten auf und verfügt damit über einen Hebel, um Berufspolitiker, die bei Wiederwahl und Wiedernominierung auf ihre Partei angewiesen sind, unter Kontrolle zu halten. Die Mitglieder der Parteien und ihre örtlichen Repräsentanten haben häufig eine andere Auffassung als die Berufspolitiker und kein Verständnis etwa für übermäßige Selbstbedienung. Nicht ganz zu Unrecht hatte Helmut Kohl in seiner Verteidigung gegen die Parteienkritik von Weizsäckers (siehe hier) darauf hingewiesen, die Kritik an Missständen und Machtmissbrauch sei »oft innerhalb der Parteien am schärfsten«.68 Wenn Mitglieder ihre Parteibücher massenweise zurückschicken und die Abgeordneten vor Ort mit entrüsteten Fragen konfrontieren, kann das erhebliche Wirkungen zeitigen.

Notwendige Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Auswüchse überhaupt erst einmal aufgedeckt werden. Die kartellartige Einbindung der parlamentarischen Opposition hilft aber, Missstände etwa im Bereich der Politikfinanzierung nicht nur vor der Öffentlichkeit im Allgemeinen, sondern auch vor den eigenen Parteifreunden zu verbergen.69

Wie man die Wähler entmachtet

Geradezu elementar für die Ausgewogenheit des parlamentarischen Verfahrens und die Legitimität seiner Ergebnisse ist schließlich, dass die Bürger bei den periodisch anstehenden Parlamentswahlen eine gute Politik belohnen und eine schlechte bestrafen können. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts: »Freie Wahlen mit regelmäßiger Wiederholung in relativ kurzen Zeitabständen« sollen »die Kontrolle des Volkes über die Benutzung der Macht durch die politische Mehrheit« sichern.70

Die Möglichkeit der Bürger, die Regierung abzuwählen und die Opposition an die Macht zu bringen, hat somit eine disziplinierende Wirkung auf die Regierungsmehrheit. Das ist jedenfalls die normale Funktionsverteilung zwischen Regierung, Opposition und Wählern in der Wettbewerbsdemokratie. Wen aber sollen die Bürger für eventuelle Missbräuche bestrafen, wenn Regierung und parlamentarische Opposition dafür in gleicher Weise verantwortlich sind?

Bei Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache droht also – aufgrund kartellartiger Einheitsentscheidungen der Parlamentsparteien – auch die Kontrolle durch die Wähler weitgehend stumpf zu werden. Indem den Bürgern insoweit die Wahl zwischen Alternativen genommen wird, verliert ihr verfassungsrechtlich garantiertes Wahlrecht71 seinen Kerngehalt und wird entwertet. Das objektive Defizit mangelnder Kontrolle stellt also auch die Verletzung eines subjektiven Bürgerrechts dar. Das kann die gerichtliche Anfechtbarkeit von Auswüchsen erleichtern, welche die politische Klasse beschließt. Denn vor Gericht muss in aller Regel die Verletzung eines subjektiven Rechts geltend gemacht werden.

Bei Kartellen der Parlamentsparteien mag dem Bürger zwar noch die Wahl außerparlamentarischer Parteien bleiben. Da der Wähler sich aber umfangreichen Programmpaketen der Parteien gegenübersieht, in denen Entscheidungen in eigener Sache meist nur einen eher geringen Teil ausmachen, können die etablierten Parteien selbst bei missbräuchlicher »Selbstbedienung« hoffen, nicht allzu viele Wähler zu verlieren. Das gilt erst recht, seitdem die Parlamente dazu übergegangen sind, Erhöhungen etwa der Diäten gezielt auf die Zeit unmittelbar nach den Wahlen zu verlegen und auf diese Weise der Kontrolle der Wähler vollends zu entziehen.

Damit tun sie übrigens genau das Gegenteil von dem, was in den USA schon vor mehr als 200 Jahren James Madison und in Deutschland vor gut 100 Jahren Julius Hatschek als Gegenmittel gegen parlamentarische Selbstbedienung empfohlen haben: nämlich den Parlamenten aufzugeben, über Abgeordnetendiäten vor der Wahl und nur mit Wirkung für die nächste Legislaturperiode zu entscheiden.72

Wenn sich allerdings eine Partei etabliert, die das Parteienkartell zum Gegenstand ihrer Kritik macht (siehe hier), dürfte sie in der einvernehmlichen Verschiebung von »Selbstbedienungen« auf die Zeit nach der Wahl einen weiteren Beleg für die politische Kartellierung und die Entmachtung der Wähler sehen.

Teil 2

Verdeckte Aktionen – Wie Parteien agieren

1. Ausweitung des Einflusses

Im Folgenden wird mit zahlreichen Beispielen belegt, wie das in eigener Sache entscheidende Parlament versucht, sich zu »bedienen« und dabei die üblichen Kontrollen auszuschalten.

Wo die Parteien den Hebel ansetzen

Abgeordnetendiäten

Das Problem der politischen Kartelle und der Ausschaltung von Kontrollen wurde zuerst bei Beschlüssen über Abgeordnetendiäten virulent, und dies bemerkenswerterweise in den Ländern: Aus der Aufwandsentschädigung, die den Abgeordneten ursprünglich zustand, haben sie eine volle Bezahlung einschließlich üppiger Versorgung und Übergangsgeld gemacht. Hier sprach das Bundesverfassungsgericht auch zum ersten Mal von »Entscheidung des Parlaments in eigener Sache« und erzwang eine umfassende Regelung durch Gesetz (statt lediglich durch Titel im Haushaltsplan, siehe hier, hier).

Besonders deutlich wurde die Gefahr exzessiver »Selbstbedienung«, die auch durch Regierungsmitglieder erfolgte, dann in den Diäten- und Versorgungsskandalen in Hessen (1988), Hamburg (1991), im Saarland (1992) und in anderen Ländern. 1995 hatte die politische Klasse im Bundestag sogar das Grundgesetz ändern wollen, um die Entschädigung durch Ankoppeln an die Bezüge von Bundesrichtern nicht nur gewaltig zu erhöhen, sondern auch zu dynamisieren und so die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auszuhebeln. Das scheiterte zwar am Nein des Bundesrats, wurde dann aber 2014, also fast 20 Jahre später, ohne Grundgesetzänderung nachgeholt – in der begründeten Hoffnung, dass trotz der Verfassungswidrigkeit der Indexierung kein Klagebefugter das Bundesverfassungsgericht anrufen werde.

Staatliche Parteienfinanzierung

Sehr klar wurde der Zusammenhang zwischen politischem Kartell und Kontrolldefizit bei der Bewilligung staatlicher Parteienfinanzierung, sei es durch direkte Zahlungen, sei es indirekt durch Steuerbegünstigung von Parteispenden. Hier zeigten sich auch die zwei Gesichter des Bundesverfassungsgerichts als Bremser und Antreiber der Staatsfinanzierung: So hatte das Gericht 1958 selbst den Anstoß dazu gegeben, dass die Bundesrepublik als erstes europäisches Land eine direkte Staatsfinanzierung der Parteien einführte. Zwar begrenzte das Gericht 1966 und 1968 die Staatsfinanzierung und erzwang auch die Einbeziehung außerparlamentarischer Parteien. Doch das veranlasste die politische Klasse zu einer gewaltigen Umgehung der gerichtlichen Grenzen: Genau wie ab 1959 die direkte Staatsfinanzierung in die Höhe geschossen war, so explodierten ab 1967 die öffentlichen Mittel für Fraktionen, parteinahe Stiftungen und Abgeordnetenmitarbeiter und wurden zu Ersatzinstrumenten der Parteienfinanzierung ausgebaut – dies alles gut verborgen vor der Öffentlichkeit und abgeschottet vor möglichen Kontrollen.

Die Klage einer außerparlamentarischen Partei gegen diese Ersatzfinanzierung, die die Vorkehrungen gegen unangemessene Staatsfinanzierung unterläuft, hat das Bundesverfassungsgericht Mitte 2015 durch einen formalen Nichtzulassungsbeschluss abgewiesen. Ein weiteres Verfahren in Form einer Wahlanfechtung ist aber noch anhängig und harrt der Entscheidung.

Wahlrecht

Ganz ähnlich ist die politische Klasse immer wieder versucht, das Wahlrecht in ihrem Sinne zu gestalten, denn damit hat sie den Schlüssel, das klassische Recht des Machterwerbs in der Demokratie, in der Hand. Mehrere Urteile der Verfassungsgerichte der Länder und des Bundes, welche die Sperrklausel bei Kommunal- und Europawahlen aufhoben, haben dies neuerdings gezeigt. Dabei haben die Gerichte nunmehr auch ausdrücklich anerkannt, dass es bei Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache einer besonders intensiven gerichtlichen Kontrolle bedarf, denn hier bestehe die Gefahr, dass der Gesetzgeber sich statt vom Gemeinwohl von Überlegungen des parteilichen Macht- und Mandatserhalts leiten lasse.

Parteiliche Ämterpatronage

Auch hinsichtlich der Ämterpatronage gehen die Gerichte inzwischen zu einer verschärften Kontrolle über, wie einige Leiturteile belegen. Zugleich nimmt die Scheu benachteiligter Bewerber vor Konkurrentenklagen ab.

Die einschlägigen Vorgehensweisen

Charakteristisch für Entscheidungen in eigener Sache ist, dass die Parlamente die üblichen Kontrollen vielfach durch informales Handeln von Quasi-Kartellen ausschalten; sie folgen dabei Praktiken, die nirgendwo schriftlich niedergelegt sind und sich deshalb nur anhand typischer Fälle belegen lassen. Wenn es um Sachgesetze geht, kommen typischerweise folgende Verfahrensweisen zum Einsatz (siehe hier):

ein Schnellverfahren,ein Verfahren ohne Begründung oder mit getürkter Begründung,ein Verfahren unter Heranziehung bestellter Sachverständiger o. Ä.

Ebenso wird die Kontrolle ausgeschaltet bei Bewilligungsverfahren, die für Erhöhungen öffentlicher Mittel nur die Änderung eines Haushaltstitels verlangen, weil entweder überhaupt kein Gesetz vorhanden ist (wie bei den parteinahen Stiftungen) oder weil die Höhe der Bewilligung nicht im Gesetz steht, sondern nur im Haushaltsplan (wie bei Kosten- und Mitarbeiterpauschalen von Abgeordneten und bei Zahlungen an Fraktionen) (siehe hier).

Von derartigen Beschlüssen des Parlaments über Sachfragen zu unterscheiden ist die Bestellung geneigter Personen zu Amtsträgern (siehe hier).

2. Camouflage-Gesetze

Bundestag

Das Verfahren zum Abgeordnetengesetz 2014

Wie das in der Praxis laufen kann, zeigt das jüngste Änderungsgesetz zum Abgeordnetengesetz des Bundes vom 16. Juli 2014.1 Mit diesem Gesetz wurden die Diäten rückwirkend zum 1. Juli 2014 und dann ein weiteres Mal zum 1. Januar 2015 weit überdurchschnittlich erhöht. Ferner sah das Gesetz für den 1. Juli 2016 eine weitere, automatische Erhöhung entsprechend der Entwicklung des sogenannten Nominallohnindex vor,2 durch die die Entschädigung noch einmal um 245 Euro stieg, sodass sie nun 9327 Euro beträgt. Zudem erhalten Ausschussvorsitzende eine monatliche Zulage von 1300 Euro und selbst ehemalige Abgeordnete eine höhere Altersversorgung.

Das verfassungswidrige Gesetz,3 welches auch zahlreiche weitere, schon vorher bestehende verfassungsrechtlich zweifelhafte Regelungen unbeanstandet lässt,4 konnte nur ergehen, weil die öffentliche Kontrolle durch ein mehrstufiges Vorgehen ausgetrickst wurde.

Als ersten Schritt hatte der Bundestag eine Kommission unter Vorsitz des ehemaligen Bundesjustizministers Edzard Schmidt-Jortzig installiert und sie vornehmlich mit ehemaligen Ministern, Parlamentarischen Staatssekretären, Abgeordneten und anderen partei- und parlamentsnahen Mitgliedern besetzt.5 Diese Kommission interpretierte in ihrem im März 2013 vorgelegten Bericht die Urteile des Bundesverfassungsgerichts ausgesprochen bundestagsfreundlich und blendete dabei fast die gesamte staatsrechtliche Fachliteratur aus, welche die einschlägigen Urteile ganz anders versteht.6

Die Kommission hatte vorgeschlagen, die Entschädigung auf das Niveau der Bezüge von Bundesrichtern zu erhöhen. Um die Medien nicht aufzuschrecken, hatte sie den Betrag, zu dem ihr Vorschlag führen sollte, aber verschwiegen7 und so ihre Vorschläge verharmlost. Da die Bezüge von Bundesrichtern, die als Bezugsgröße dienten, schwer zu berechnen sind, hantierten die Medien mit weit untertriebenen Zahlen und beachteten den ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl vorgelegten Bericht kaum. In Wahrheit lief der Kommissionsvorschlag auf eine Erhöhung der Entschädigung um monatlich fast 1000 Euro hinaus.8

Bundestagspräsident Norbert Lammert hatte das Parlament aufgefordert, die Vorschläge der Kommission vor der Bundestagswahl im Herbst 2013 zu behandeln, um dem Wähler reinen Wein einzuschenken, wie die von ihm zu bestellenden Vertreter bezahlt werden sollten. Andernfalls drohe der Eindruck unkontrollierter Selbstbedienung. Doch Lammerts Rat wurde von Fraktionssprechern zurückgewiesen.9Nach der Wahl hat der Bundestag dann das Vorhaben Anfang 2014 als erstes Gesetz der neuen Legislaturperiode im Schnellverfahren beschlossen – mit den Empfehlungen der Kommission als scheinbare Rechtfertigung im Rücken.

Um durchgreifende Kritik gar nicht erst aufkommen zu lassen, war das Gesetz blitzartig – und im medialen Windschatten der sogenannten Edathy-Affäre und der Olympischen Winterspiele – in kaum mehr als einer Woche durch den Bundestag gepeitscht worden. Zu einem äußerst kurzfristig anberaumten Sachverständigen-Hearing hatten die Regierungsfraktionen wiederum vier Mitglieder der genannten Kommission eingeladen, die – wenig überraschend – das Gesetz absegneten. Die Fraktion der Linken verzichtete auf die Benennung von Sachverständigen, weil dafür, wie sie erklärte, nicht ausreichend Zeit gewesen sei.

Flankierend war eine Desinformationskampagne des Bundestags auf den Weg gebracht worden. Es wurde nämlich der Eindruck erweckt, die Entschädigung würde zwar erhöht, gleichzeitig die Altersversorgung der Abgeordneten aber abgesenkt.10 In Wahrheit jedoch wurde auch die Versorgung für fast alle Abgeordnete in zwei Schritten um 10 Prozent erhöht. Ferner wurde suggeriert, gegen die Novelle könne man nur mittels der Normenkontrolle nach Artikel 93 des Grundgesetzes vorgehen.11 Den Antrag für eine Normenkontrolle des Bundesverfassungsgerichts kann nur mindestens ein Viertel der Mitglieder des Bundestags erheben, und selbst gemeinsam erreichten die beiden Oppositionsfraktionen der Linken und der Grünen dieses Viertel nicht. Das wäre aber auch gar nicht erforderlich, denn auch einzelne Bundestagsabgeordnete waren durchaus befugt, innerhalb einer Sechsmonatsfrist gegen die Diätennovelle zu klagen. Kein Volksvertreter braucht sich einen verfassungswidrigen Status aufdrängen zu lassen. Die Behauptung mangelnder Klagemöglichkeit, die die Opposition aufgriff, verdeckt, dass ihr Protest gegen das Diätengesetz nur vordergründige Schau war; tatsächlich dürfte keine Bereitschaft bestanden haben, wirksam gegen das Gesetz vorzugehen, und diese Doppelzüngigkeit sollte möglichst nicht publik werden.

Dass die Oppositionsparteien im Bundestag nicht wirklich etwas gegen das Gesetz haben, wird auch dadurch bestätigt, dass diese Parteien in mehreren Bundesländern der Einführung der verfassungswidrigen Teile des Gesetzes (Automatismus, Zulagen für besondere Funktionen und übermäßige Altersversorgung) bei Landtagsdiäten zugestimmt haben, ohne deren Verfassungswidrigkeit zu beanstanden.

Das parlamentarische Camouflage-Verfahren, in welchem die Öffentlichkeit entweder falsch oder gar nicht informiert und die Rechtsprechung ignoriert worden war, segnete Bundespräsident Joachim Gauck schließlich ab, indem er das Diätengesetz unterzeichnete – zwei Tage vor dem Finale der Fußballweltmeisterschaft 2014 in Rio de Janeiro ; in der allgemeinen erwartungsvollen Begeisterung nahm davon natürlich kaum einer Notiz. Völlig undurchsichtig blieb, warum der Bundespräsident das Gesetz trotz des Widerspruchs zu verfassungsgerichtlichen Urteilen unterschrieb, wen er dabei zu Rate gezogen und was seine Ratgeber empfohlen hatten.

Das Fraktionsgesetz von 1994

Nachdem das Fehlen von Fraktionsgesetzen und die gewaltigen Wachstumsraten der »Fraktionszuschüsse« immer wieder in der Öffentlichkeit kritisiert worden waren,12 gingen die Parlamente seit 1992 daran, Fraktionsgesetze zu erlassen. Den Anfang machte Bayern mit einem Fraktionsgesetz vom März 199213 (siehe hier). Der Bund folgte dem bayerischen Muster mit einem inhaltlich und verfahrensmäßig ganz ähnlichen Gesetzentwurf vom März 1993,14 wobei die Regelungen als neuer Abschnitt ins Abgeordnetengesetz eingefügt wurden.15

Noch vor der Verabschiedung stießen die vorgesehenen Regelungen auf erhebliche Kritik,16 denn die verfassungsrechtlichen Problembereiche (wie Öffentlichkeitsarbeit und Gehaltszulagen für Funktionsträger) wurden nicht etwa beseitigt, sondern im Gegenteil durch das Gesetz nun scheinbar legalisiert. Zugleich blieb die Bewilligung der Mittel bloß im Haushaltsplan, also ohne Änderung des Fraktionsgesetzes, der Kontrolle durch die Öffentlichkeit ebenso entzogen wie die Kontrolle besonders heikler Verwendungen durch den Rechnungshof.17

Um von der Unhaltbarkeit des in eigener Sache zu beschließenden Gesetzes abzulenken und die Nichtbeachtung des Berichts einer von Bundespräsident Richard von Weizsäcker eingesetzten Kommission, für deren Vorschläge Arnim angeblich verantwortlich war,18 zu übertönen, überschütteten die CDU/CSU, die SPD und die FDP bei der Beratung des Gesetzes im Plenum des Bundestags am 12. November 1993 den lästigen »Parteienkritiker« mit Schmähungen. Sein Name oder die Umschreibung etwa als »Professor aus Speyer« wurde nicht weniger als einundzwanzigmal genannt. So glaubte die Berliner politische Klasse sich der Auseinandersetzung mit den Sachargumenten der Kommission (und von Arnims) entziehen zu können.19

Der Staatsrechtler Hans Meyer kommentierte das so: »Das Hohe Haus« konnte sich »nicht genug tun, ein Scherbengericht [...] auf Kosten eines abwesenden Dritten [...] abzuhalten und dabei die Grenzen [...] des guten Geschmacks weit hinter sich zu lassen«.20 Man hätte meinen können, merkte der Abgeordnete Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen) im Parlamentsplenum sarkastisch an, »das Gespenst derer von Arnim« schwebe »über dieser Debatte«. Die »Unbelehrbarkeit« der großen Mehrheit des Hauses »in Sachen Geld« kenne »offenbar keine Grenzen«.21

Der verfassungswidrige Zustand besteht im Bund und in vielen Ländern heute noch fort.22 Die Bundestagsfraktionen haben ihr Staatsgeld von 1968 bis 2015 auf das 35-Fache angehoben: von 4,9 Millionen DM auf 83,8 Millionen Euro. Die Maßlosigkeit dieser Steigerung zeigt der Vergleich mit der staatlichen Parteienfinanzierung. Diese stieg, weil sie Ende der Sechzigerjahre gedeckelt und der öffentlichen Kontrolle unterworfen worden war, von 1968 bis 2015 nur auf das 6,7-Fache: von 47,3 Millionen DM auf 149 Millionen Euro. Eine entsprechende Begrenzung und Kontrolle fehlt bisher bei der Fraktionsfinanzierung, weshalb die übermäßigen Steigerungsraten zustande kommen.

So haben etwa die Fraktionen in Bayern, Thüringen und im Saarland ihr Staatsgeld in den Jahren 2008 und 2009 schnell einmal um die Hälfte aufgestockt.23 Die gewaltigen Wachstumsraten waren natürlich auch ein Thema für ein Fernsehmagazin wie Panorama.24

Die Fraktionen missbrauchen das Staatsgeld nicht zuletzt dafür, ungeniert Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, obwohl die Mittel von Verfassungs wegen nur für parlamentsinterne Koordinierung bestimmt sind.25 Dabei wird auch noch der Umfang der Ausgaben für Öffentlichkeitsarbeit verheimlicht, indem die Rechenschaftsberichte in sinnwidriger Weise nur die Sach- und nicht auch die Personalausgaben öffentlich ausweisen.26

Zur Abschirmung vor der Kritik beauftragte der Bayerische Landtag den Münchner Staatsrechtslehrer Hans-Jürgen Papier mit einem Gegengutachten gegen von Arnims Veröffentlichungen. Unmittelbar nach der Vorlage seines »Persilscheins« 27 wurde Papier, den der Spiegel später als »Mietfeder« bezeichnete,28 zum Verfassungsrichter in Karlsruhe gewählt und bald darauf zum Präsidenten des Gerichts befördert.

Da die politische Klasse sich in Sachen Fraktionsfinanzierung gegenüber öffentlicher Kritik29 bisher ziemlich ungerührt zeigt, hatte die Ökologisch-Demokratische Partei im Juni 2012 eine für Parteien vorgesehene sogenannte Organklage zum Bundesverfassungsgericht erhoben; darin spielten die Fehlentwicklungen der Fraktionsfinanzierung eine wesentliche Rolle.30 Das Gericht beendete zwar das Verfahren, indem es den Antrag der ÖDP mit Beschluss vom 15. Juli 2015 aus formalen, speziell für Organklagen geltenden Gründen verwarf.31 In der Sache ist damit aber noch nichts entschieden. Ein weiteres Verfahren, das auf einer Wahlanfechtung des Verfassers dieses Buchs beruht, ist beim Bundesverfassungsgericht weiterhin anhängig.32 Und hier greifen die im ÖDP-Verfahren vom Gericht geltend gemachten formalen Gründe von vornherein nicht.

1995: Verfassungsänderung in eigener Sache?

Dieses eben geschilderte Diätengesetz hat eine längere Vorgeschichte, von der hier einige Etappen skizziert werden sollen. 1995 wollte der Bundestag seine Diäten gewaltig erhöhen und sie an die Gehälter von Bundesrichtern ankoppeln.33 Das widersprach allerdings dem Grundgesetz, denn das Bundesverfassungsgericht hatte eine derartige Koppelung untersagt, um das Parlament bei solchen Beschlüssen in eigener Sache zu einer selbstständigen, der öffentlichen Kontrolle zugänglichen Entscheidung zu zwingen. Die beiden ganz unterschiedlichen Systeme des öffentlichen Dienstes und des Parlamentsmandats dürften besoldungsmäßig nicht miteinander verknüpft werden.34

Dieses Urteil wollte der Bundestag gezielt unterlaufen, die Koppelung im Grundgesetz festschreiben und dadurch das Verfassungsgericht und die Öffentlichkeit aushebeln, obwohl beide bei Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache unverzichtbare Kontrollinstanzen darstellen. Die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) und ihr Vizepräsident Hans-Ulrich Klose (SPD) sprachen beschwichtigend von einer bloßen »Diätenanpassung« und beriefen sich auf ein angebliches Zurückbleiben der Entschädigung hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung. Dabei verschwiegen sie aber ihre Verdoppelung im Jahre 1977, durch welche die Diäten der Entwicklung immer noch weit vorauseilten.35

Entgegen den Verlautbarungen der Parlamentsspitze, die behauptet hatte, zur Kompensation der Diätenerhöhung sei eine Absenkung der Versorgung vorgesehen, sollte auch die Altersversorgung angehoben werden und erst recht die von Mitgliedern des Bundestagspräsidiums wie Süssmuth und Klose.36 Das stellte vor allem den SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzenden Rudolf Scharping mit seinem vielzitierten Satz bloß, die Abgeordneten seien unterbezahlt, aber überversorgt.37

Der geplante Artikel 48, Absatz 3 des Grundgesetzes war zudem so gefasst, dass er nicht nur eine Anbindung an die Bezüge eines (einfachen) Bundesrichters (Besoldungsgruppe R 6) erlaubt hätte, wie sie im Abgeordnetengesetz zunächst vorgesehen war, sondern später auch eine Koppelung an die Bezüge von Vorsitzenden Richtern (Besoldungsgruppe R 8) und sogar von Gerichtspräsidenten (R 10), deren Grundgehalt nach R 10 fast doppelt so hoch ist wie das der Besoldungsgruppe R 6. Die Verfassungsänderung wurde deshalb auch als »Ermächtigungsgesetz« kritisiert.38

Die Unverfrorenheit der Gesetzesinitiatoren veranlasste das Nachrichtenmagazin Der Spiegel zu einer Titelgeschichte und seinen Herausgeber Rudolf Augstein zu einem geharnischten Kommentar.39 Das Heft erschien allerdings erst drei Tage vor der abschließenden Lesung des Bundestags,40 sodass es seine Wirkung zunächst verfehlte. Um bloß die Sachargumente zu verdrängen, wurde »jener Professor aus Speyer«, der den Inhalt der geplanten Aktion aufgedeckt hatte,41 immer wieder persönlich diffamiert; insgesamt wurde er in der Bundestagsdebatte nicht weniger als vierundzwanzigmal genannt.42 Augstein wurde – unter dem »Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abgeordneten der F.D.P. [damals schrieb sie sich mit Pünktchen] und des Bündnisses 90/Die Grünen«, wie es im Protokoll heißt – der »intellektuellen Selbsterniedrigung« bezichtigt, weil er sich »fast ausschließlich auf die Argumentation jenes Professors« gestützt hatte.43

Angesichts der anschwellenden öffentlichen Kritik beantragte die »große Diätenkoalition«, der Bundesrat solle der Grundgesetzänderung im Eilverfahren zustimmen, das heißt ohne die sonst übliche Dreiwochenfrist. Die Ministerpräsidenten wollten sich aber nicht zum Komplizen machen lassen und verschoben die Sitzung um einige Wochen, während die Union und die SPD Durchhalteparolen verbreiteten.44

Immerhin verschaffte der Aufschub einigen Staatsrechtslehrern die Zeit, Unterschriften zu sammeln und mit einem von 86 Kollegen unterschriebenen Offenen Brief den Bundesrat aufzufordern, seine Zustimmung zur Verfassungsänderung zu verweigern,45 was der Bundesrat schließlich am Freitag, dem 13. Oktober 1995, auch tat.46 Begründet wurde das exakt mit den Formulierungen des Offenen Briefs, die sich im Protokoll des Bundesrats fast wörtlich wiederfinden.47 Damit war – nach den gescheiterten Versuchen in Hessen (siehe hier), in Hamburg (siehe hier) und im Saarland (siehe hier) – ein weiterer missbräuchlicher Versuch der legislativen Korruption, diesmal des Bundestags, spektakulär gescheitert.

Wie sehr der Skandal die Öffentlichkeit erschütterte, kam auch darin zum Ausdruck, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache »Diätenanpassung« zum »Unwort des Jahres 1995« erklärte.

Der Bundestag aber gab nicht klein bei. Wolfgang Schäuble, der damalige Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion und heutige Bundesfinanzminister, hatte bereits angekündigt, man werde »in der Sache keinen Millimeter zurückweichen«. Wenn der Bundesrat der Grundgesetzänderung nicht zustimme, »dann müssen wir halt den anderen Weg der Gesetzgebung beschreiten«.48 Der Bundestag schrieb nun ins Abgeordnetengesetz, die Entschädigung solle sich in Zukunft an den Bezügen von (einfachen) Bundesrichtern (Besoldungsgruppe R 6) und Oberbürgermeistern (B 6) »orientieren«. Diese selbstgeschaffene Formel diente in den folgenden Jahren zur Begründung für weitere, wohlcamouflierte Erhöhungen (siehe hier, hier), bis man dann 2014 schließlich einen Diätenautomatismus beschloss, diesmal – anders als 1995 – ohne Grundgesetzänderung und ohne Zustimmung des Bundesrats, obwohl dem Gesetz der Widerspruch zum Diätenurteil auf die Stirn geschrieben steht (siehe hier).

Dabei handelte der Bundestag in der durchaus berechtigten Erwartung, dass sich kein Kläger finden würde, der das neue Diätengesetz vors Verfassungsgericht bringt, und dass auch die Regierung es gegenzeichnet und der Bundespräsident es unterschreibt.

Die Diätennovelle von 2007

Im November 2007 hatte die Große Koalition im Blitzverfahren ein Gesetz durchgeboxt, welches die Abgeordnetenentschädigung um rund 10 Prozent anhob.49 Zugleich gab das Gesetz Abgeordneten schon nach einem einzigen Jahr im Bundestag einen Versorgungsanspruch; bis dahin waren mindestens acht Jahre erforderlich gewesen.