Die Hexe vom Niederrhein - Sebastian Thiel - E-Book

Die Hexe vom Niederrhein E-Book

Sebastian Thiel

4,5

Beschreibung

Kempen, im Winter 1642. Am Niederrhein tobt der Dreißigjährige Krieg. Nach einem Kirchgang rettet der junge Schmied Lorenz die Tochter des Statthalters vor zwei durchgehenden Pferden. Die schöne Elisabeth macht ihrem Retter von der ersten Minute an eindeutige Avancen. Doch nicht sie ist seine Auserwählte, sondern ihre schüchterne und geheimnisvolle Adoptivschwester Antonella. Als hessische Söldner Kempen belagern und einnehmen, bricht das Chaos aus. Und die kräuterkundige Antonella wird von der gesamten Stadt als Hexe denunziert …

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Sebastian Thiel

Die Hexe vom Niederrhein

Historischer Roman

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www.gmeiner-verlag.de

© 2010 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Daniela Hönig

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes »Martha und Maria Magdalena«

von Caravaggio / http://commons.wikipedia.org

ISBN 978-3-8392-3514-0

»Die Suche nach Sündenböcken ist von allen Jagdarten die einfachste.«

Kapitel 1

- Entschuldigungen -

Sankt Tönis bei Crefeld , 17. Januar 1642

Zuversicht spricht aus seinen Augen. Das Schlachtfeld scheint für einen Herzschlag stillzustehen, und die Schreie der Sterbenden höre ich für diese eine Sekunde nicht mehr. Er nickt mir zu und grinst schelmisch. Ich weiß, was er damit sagen will: Ich passe auf dich auf, kleiner Bruder. Seine stahlblauen Augen funkeln in der Nachmittagssonne, und ich beginne seinem Blick Glauben zu schenken. Dann dreht er seinen Kopf und die schwarzen, langen Haare fallen ihm ins Gesicht. Sofort sind die Schreie wieder da, doch meine Angst nimmt ab. Der stechende Geruch von Schwarzpulver hat sich wie ein Schleier über das Schlachtfeld gelegt. Nebel umhüllt die Verletzten beider Seiten, sodass man nur erahnen mag, wie viele Hunderte zwischen den beiden Heeren wohl liegen mögen und um ihr Leben ringen. Mein älterer Bruder klammert sich an den Holzgriff der Muskete und überprüft zum zigsten Male das Steinschloss der Waffe. Ich tue es ihm gleich und bemerke, wie meine Atmung langsam regelmäßig wird. Der gefrorene Acker erstrahlt mit den letzten Sonnenstrahlen in einem glitzernden Orange. Wären da nicht die Toten und Verletzten, die Schreie und das Blut und diese greifbare, allgegenwärtige Angst, hätte diese weiße Pracht fast etwas Harmonisches. Ich bebe am ganzen Leibe. Nicht, weil der Schnee mittlerweile meine Kleidung durchnässt und die klirrende Kälte des Winters sich tief in mich hineinfrisst. Nein, mein Zittern hat einen anderen Grund. In wenigen Sekunden wird der Hauptmann der Kaiserlichen Armee das Signal zum Angriff geben. Und obschon die Artillerie des französisch-schwedischen Verbundes bereits tiefe Furchen in unsere Reihen geschlagen hat und obschon die hessischen Söldner eine Angriffswelle nach der anderen gegen unsere Flanken schlagen, will der Kaiserliche General Lamboy mitten durch das feindliche Zentrum brechen. Beflügelt von seinen vergangenen Siegen, will er nun den französischen Marschall Guébriant stellen. Hier und jetzt. Nur er scheint noch zu glauben, dass die Lage nicht aussichtslos ist. Den ganzen Tag lang ist dieser von Gott verlassene Acker schon Schauplatz verschiedener Scharmützel. Nun, da es dämmert, steht die entscheidende Schlacht bevor. Beide Hauptkampfgruppen stehen keine 400 Fuß auseinander. Ich kann die Angst meiner Feinde spüren, und doch empfinde ich kein Mitleid für sie. Immerhin waren sie es, die Anspruch auf unser Land stellten. Doch welche Wahl obliegt schon einem Partisanen, der nur das beschützen wollte, was er Heimat nennt? Welche Wahl obliegt schon einem Schmied, der dem Ruf seiner Stadt gefolgt ist und sich nun an vorderster Front wiederfindet? Die einzige Wahl, die uns jetzt noch bleibt, ist, ob wir rennend und schreiend vom Feind erschossen und aufgespießt werden oder ob das unsere eigenen Unteroffiziere erledigen. Sie wachen lauernd hinter uns und würden mit ebenso kalter und erbarmungsloser Hand Deserteure und Feiglinge bestrafen. Ich spüre, wie sich ihr Blick in meinen Rücken brennt, und traue mich nicht einmal, mich für eine Sekunde umzuschauen. Reih an Reih stehen wir zusammen und warten auf das Signal zum Marschieren. Mann an Mann zittern wir in dieser eisigen Kälte, wohl wissend, dass die nächsten Atemzüge unsere letzten sein könnten.

»Ruhig, Männer! Die Linien halten!«, brüllen uns die Unteroffiziere zum Gehorsam an. Doch die Befehle und ermutigenden Worte der Soldaten finden bei mir kein Gehör. Mein Geist will einfach nicht zur Ruhe kommen und mein Körper zittert wie das letzte Blatt an einem Baum, das sich mit aller Kraft dagegen wehrt, vom Wind abgerissen zu werden. Ein weiteres Mal blickt mein Bruder zu mir.

»Ruhig, Lorenz! Einfach die Linie halten!« Seine Ermunterung allerdings verfehlt ihre Wirkung nicht. Ich nicke ihm zu. Ein kurzes, dankbares Nicken, das mehr zu sagen vermag als alle gesprochenen Worte. Mein Blick fällt auf den schmächtigen, rothaarigen Jungen, den wir alle nur ›Ratte‹ nennen, und auf Jakob den Hünen, der aus der Linie hervorsticht. Ich bin froh, sie meine Freunde nennen zu dürfen, und bete, dass auch sie den Tag überleben werden.

»Jetzt geht es los«, flüstert Jakob ohne Stimme.

Der Hauptmann geht ein paar Schritte vor, sein schneller Atem ist deutlich sichtbar und lässt ihn durch eine weiße, sofort wieder verschwindende Wolke schreiten. Mithilfe von Flaggen hat General Lamboy seinen Offizieren den Befehl gegeben, sein Zentrum marschieren zu lassen. Den Ruf des Hauptmanns höre ich schon nicht mehr. Innerhalb eines Augenaufschlages scheint die Hölle loszubrechen. Waren es vor wenigen Stunden noch vereinzelte Schüsse, die fortwährend auf unsere Reihen barsten, scheint nun der Teufel selbst Donnerschläge zu schicken. Die Artillerie der französisch-schwedischen Armee ist gut justiert, die Einschläge genau. Trommel und Fidel spielen im Hintergrund, als ich wie von Seilen gezogen einen Schritt vorwärts marschiere. Ich will zurückfallen, wegrennen, irgendwas, nur nicht hier sein. Doch wenige Meter hinter der Linie wäre mir der Tod durch die eigenen Männer sicher. Gerade weil wir keine regulären Soldaten sind, sondern billige Partisanen. Man hört die Offiziere über uns lachen, wenn wir an ihren Zelten vorbeigehen.

»Wertloses Kanonenfutter.« Dieser Ausspruch ist stets mit Gelächter und Hohn verbunden. Doch jetzt, zu dieser Sekunde, sind wir alle gleich. Gleich im Leben und gleich im Tod.

Meinem Bruder habe ich es ein weiteres Mal zu verdanken, dass ich nicht stehen bleibe. Für das heftige Ziehen an meinem linken Unterarm bin ich dankbar. Fürwahr würde ich ohne seine Hilfe keine Elle mehr auf diese Wand aus Soldaten zugehen.

Noch 200 Fuß.

Fast bemerke ich nicht, wie ich anfange zu tippeln, verlagere das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Bloß nicht ohnmächtig werden, denke ich und spüre, wie meine Hoffnung mit genau diesem Gedanken auf brutalste Weise aufgefressen wird.

Noch 100 Fuß.

Ein Ziehen schleicht sich langsam, aber unaufhörlich in meinen Kopf und hinterlässt eine schwere, dunkle Last. Ich räuspere mich, ein Schwindelgefühl steigt in mir hoch und ich habe das Verlangen, mich selbst zu ohrfeigen. Zu unwirklich kommt mir diese Situation vor, als wäre ich nicht mehr Herr meiner Sinne. Die Angst schreit mich an, gebietet mir stehen zu bleiben.

Noch 50 Fuß.

Als ob mir jegliche Kraft genommen würde, drückt sich nun ein Kloß meinen Hals hoch und kündigt auf perverse Weise das Würgen an. Es ist nur dem fester werdenden Griff meines Bruders zu verdanken, dass ich die letzten Meter nicht zurückfalle. Zärtlich glitzert der frisch gefallene Schnee zwischen den beiden Armeen, ruhig und unberührt.

Dann beginnt es.

Die Männer warten nicht auf ein Signal. Kaiserliche Truppen geben vereinzelte Schüsse ab und lassen so ein Chaos ausbrechen. Einige hetzen aus der Linie und werfen sich todesverachtend gegen die französisch-schwedischen Reihen. Kurz bevor es zum Nahkampf kommen kann, werden sie von den feindlichen Musketen zu Fall gebracht. Das Feuer der Kanonen schlägt wenige Meter neben mir ein und reißt eine weitere Bresche in die Linie. Ohrenbetäubend scheinen das Schreien der Männer und das Kreischen der Schüsse. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als sich die Reihen daraufhin endgültig auflösen. Mit starkem Griff sucht sich meine Muskete ein Ziel und feuert gegen die Wand aus Soldaten. Für einen zweiten Schuss reicht es nicht mehr. Ich ziehe meinen Säbel und stürze den Feinden entgegen. Die gegnerische Infanterie rüstet sich ebenfalls zum Angriff und prescht mit gezogener Waffe vor. Aus ihren Gesichtern sprechen derselbe Hass, derselbe Wille zum Überleben und dieselbe Angst. Als die beiden Heere aufeinandertreffen, verwandelt sich der Acker zu einem grausamen Tummelplatz. Ein grauer Schleier legt sich über meinen Blick und ich habe das eigenartige Gefühl, keine der handelnden Personen mehr zu sein. Aus vollem Lauf hole ich aus und ziehe einem französischen Soldaten meine Klinge über das Wams. Er bricht sofort zusammen. Für einen Moment beobachte ich, wie das Blut des Mannes meinen Säbel herunterläuft. Dann werde ich mit einem kräftigen Ruck weiter nach vorn gedrückt. Weiter gegen die Wand aus Feinden. Die Kanonenkugeln schlagen nun unmittelbar neben mir ein. Ihnen ist egal, welche Uniform man trägt. Der aufgeschleuderte, gefrorene Boden peitscht in mein Gesicht. Ich muss über meine Augen streichen, bevor ich erneut zum Schlag aushole und mit einem Hieb den Arm eines Soldaten verletze. Einen weiteren kann ich mit einem gezielten Schlag zu Boden werfen und meinen Säbel tief in die Brust des Mannes bohren. Trotz des Lärmes vernehme ich die letzten, geröchelten Worte des Sterbenden ganz genau.

»Je te pardonne.«

Obschon die französische Sprache mir fremd ist, brennen sich seine Worte in meinen Geist. Meine Augen vermögen das Handgemenge, in dem ich mich befinde, nicht mehr zu durchschauen, Freund von Feind nicht mehr zu unterscheiden. Zu vermischt sind die Verbände, zu fremd alle Gesichter. In der unbekannten Masse schweift mein Blick umher, sucht ein ganz bestimmtes Antlitz. Hektisch sehe ich mich um.

»Maximilian! Max!«

Obwohl ich es gar nicht will, beginne ich laut den Namen meines Bruders zu rufen und bete innerlich zum Allmächtigen, dass er in derselben Sekunde neben mir auftauchen möge und mich schelmisch angrinst, so wie er es immer getan hat. Wie damals, als er mich zum ersten Mal mit auf Hühnerjagd nahm und ich auf einmal im Feld allein war, bis er auftauchte und mich rettete. Wie damals, als der Bauer Kelson uns jagte und er ihn in den Wald lockte, um von uns abzulenken, und später zu Hause wieder breit grinsend auftauchte. Doch irgendetwas sagt mir, dass er jetzt nicht kommen und mich retten wird. Um mich herum tobt das Chaos des Schlachtgetümmels, und so sehr ich mich auch anstrenge, ich vermag nicht einmal meine eigene Stimme zu hören.

Der dumpfe Aufprall der Kanonenkugel reißt mich aus meiner Suche. Mein letzter Gedanke gilt nicht meiner Familie, nicht meinem Bruder, meinem Leben oder Gott, er gilt ihr. Es ist ihr Gesicht, das ich als Letztes sehe, als der Ackerboden sich auf einmal unter meinen Füßen verliert und der weiße Schnee immer mehr in ein tiefes Schwarz gleitet.

Kempen am Niederrhein, zwölf Tage zuvor

Was für eine Pracht! In der Nacht zum Sonntag war Schnee gefallen und hatte die festgetretenen, braunen Pfade und die schäbigen Kopfsteinpflaster in ein majestätisches Weiß getaucht. Die Schritte der Familie gaben nun kein Schlurfen oder Scheppern, kein Klackern oder Stampfen, sondern nur ein leichtes Knirschen von sich, als sie sich ihren Weg zur Peterskirche bahnte.

»Amelie, Maria, Siegfried! Kommt aus dem Schnee heraus und macht euch nicht schmutzig! Der Gottesdienst beginnt gleich!«

Die raue Stimme des Vaters grollte über den gut gefüllten Marktplatz. Die Kleinen schreckten hoch und gesellten sich zu ihren zwei älteren Brüdern, die sich vor der Gruppe leise unterhielten. Als der Vater diese Worte gesprochen hatte, kehrte sein sorgenvolles Gesicht zurück. Tiefe Furchen hatte der Winter bereits in das Antlitz des hünenhaften Mannes geschlagen. Die muskulösen Oberarme spannten das Wams, das er sich übergeworfen hatte. Doch die Kälte des Winters war nicht der Grund, warum er sich so in seinem Mantel vergrub.

»Was hast du, Josef?«

Die mitfühlende Miene seiner Frau rang ihm ein Lächeln ab.

»Es ist nichts, Marta.«

»Das glaube ich dir nicht«, sagte sein Weib und stupste ihn zärtlich in die Seite. Obwohl sie eher von zierlicher Gestalt und ihre Gesichtszüge fein und spitz waren, schien der Winter ihr weniger anhaben zu können als ihrem Ehegatten. Gelegentlich blies ein kräftiger Windstoß ihre langen, dunklen Haare vor das Gesicht, doch das konnte sie nicht davon abhalten, den Blick auf ihrem Mann ruhen zu lassen. Mit einem lauten Seufzen gab er schließlich nach.

»Man sagt, dass Marschall Guébriant seine Truppen in diesem Gebiet sammelt. Das Hauptheer der Franzosen und Schweden, zusätzlich Söldner aus Hessen. Die Reiter sprechen von vielen tausend Mann.«

»Seit wann interessiert dich das Wort der Reiter? Du kennst dieses gottlose Gesindel. Trunkenbolde und Spielsüchtige.« Dabei stieß sie einen verächtlichen Ton aus. »Du solltest nicht auf sie hören. Der Kampf wird viele Meilen von uns entfernt stattfinden.«

Die Stimme der Frau war laut und klar, doch auch Angst schwang in ihren Worten mit. Schließlich hatte sie die Gerüchte ebenso gehört. Der Blick der beiden wanderte automatisch auf ihre Kleinsten, die schon wieder tobten und mit Schneebällen aufeinander warfen. Die Müßiggänger und Kirchenbesucher lächelten, wenn sie an ihnen vorüberkamen. Das Jauchzen der Geschwister erfüllte den gesamten Marktplatz der kleinen Stadt und die Herzen ihrer Eltern. Wehmütig schauten sie ihren Kindern einen Moment lang zu.

»Lorenz, Maximilian, kümmert euch um eure Geschwister, ich will sie nicht dreckig in der Kirche sehen«, unterbrach die Mutter schließlich das Gejohle in dem Bewusstsein, dass die Kirchturmglocken aufgehört hatten zu schlagen.

»Ja, Mutter«, ertönte es von den älteren Brüdern. Fürsorglich klopfte der 20-jährige Maximilian seinen beiden jüngeren Schwestern den Schnee aus den Kleidern. Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Lorenz nahm sich den Kleinsten der Familie vor, der trotzig weiterspielen wollte. Innerhalb von wenigen Minuten waren alle drei Kinder vom Schnee befreit und nahmen, wenn auch etwas durchnässt, neben ihren Brüdern und ihren Eltern auf der Holzbank Platz.

Schon lange tobte der Krieg im Land. Könige, Feldherren und Fürsten entsandten ihre Armeen und machten Gebiete zu einem Tummelplatz des Kampfes. Doch noch nie war der Krieg so nah an dieser kleinen, gebeutelten Stadt am Niederrhein gewesen. Vor vielen Jahren hatte die Pest die Hälfte der Einwohner hingerafft. Einige Ältere erzählten bis zu diesem Tag vom ›schwarzen Tod‹. Angst und Gefahr lagen damals wie ein dunkler Schleier über der Stadt. Jedes Wort, jede Tat, jeder Gedanke drehte sich um die tödliche Krankheit. Und obschon die meisten Wissenden bereits gestorben waren, wurde auch heute die Stadt überschattet. Jedoch aus einem anderen Grund.

Das leise Gemurmel auf den Bänken erstarb, als die Glocke geläutet wurde und Pfarrer Tillmann an den Altar trat. Der Geistliche begann mit der Messe, doch auch wenn Lorenz sich noch so sehr zu konzentrieren versuchte, seine Gedanken und Hoffnungen schweiften ein ums andere Mal ab. Zu sehr hasste er die Eindringlinge, die ihn, seine Familie, ja die gesamte Stadt in diese nicht greifbare, doch allzu reale Angst versetzten. Verbissen kaute er auf seiner Unterlippe, bis er von seinem Bruder Maximilian einen leichten Schlag auf den Hinterkopf verpasst bekam.

»Möchtest du der Messe nicht beiwohnen?«, fragte er herausfordernd.

»Natürlich.«

Lorenz strich seine dunklen, kurzen Haare glatt und versuchte, der Heiligen Messe zu folgen. Ein kurzer Seitenblick auf seinen Bruder ließ ihn lächeln. Obwohl Maximilian nur zwei Jahre älter als er war, benahm er sich wie ein zweiter Vater. Seine ebenfalls schwarzen Haare hatte er lang wachsen lassen, nur unterhalb der Ohren sorgfältig gestutzt. Sie fielen jedes Mal vor seine Augen, wenn er sich zum Gebet runterbeugte. Belustigt stierte Lorenz nach vorn, um sich nun den Worten des Pfarrers zu widmen. Dieser hatte das heilige Buch zugeschlagen und wandte sich direkt an seine Gemeinde.

»Liebe Freunde«, begann er lächelnd.

Seine weißen Zähne strahlten in den einfallenden Sonnenstrahlen. Die Priesterkutte wirkte bei Tillmann fehl am Platze. Hätte er nicht das Zölibat gewählt, die Frauenwelt hätte ihm zu Füßen gelegen.

»Angst macht sich breit in unserer Gemeinde.«

Seine Stimme war laut und erfüllte noch die letzte Bank der Kirche. »Und genau das ist richtig!«

Drohend wandelten sich seine feinen, ja fast weiblichen Gesichtszüge in die eines Lehrers, der seine Schüler strafen wollte.

»Frevel und Habgier erfüllen das Land allerorts. Das Gute scheint überall abzunehmen und das Böse an Einfluss zu gewinnen. Der andauernde Krieg ist die gerechte Strafe dafür. Denn nur wer reinen Herzens ist, muss keine Angst haben.«

Die Menge starrte den schlaksigen Prediger gebannt an. Die immer dicker anschwellende Ader an seiner Schläfe verriet, dass er nun noch lauter und eindringlicher auf die Menschen einreden würde.

»Drum sage ich euch, liebe Leute: Keuschheit, Nächstenliebe und Bescheidenheit sind die höchsten Tugenden, um der katholischen Kirche zu dienen, und nur dann wird der Allmächtige in seiner unendlichen Güte diese Stadt verschonen und die Eindringlinge in die Flucht schlagen.«

Trotz der eisigen Temperaturen begann Pfarrer Tillmann zu schwitzen und fuhr sich durch die blonden Haare.

»Gott hatte versprochen, Sodom und Gomorra zu verschonen, wenn sich nur zehn Gerechte unter den Bürgern der Stadt befinden. Und was ist, wenn dem Herrn zehn Gerechte für Kempen zu wenig sind? Wie viele mögt ihr wohl sein? Zwanzig? Dreißig? Und wenn das auch zu wenig ist?«

Strafend fuhr sein Blick über die Anwesenden, als schaue er jeden Einzelnen von ihnen an. Seine Augen funkelten. Lorenz’ kleine Schwestern drückten sich ängstlich an die Mutter und versuchten, sich unter ihrem weiten Umhang zu verstecken.

»Wie viele von euch lassen sich allzu leicht von körperlichen Lüsten ablenken, obwohl ihr geistige Nahrung beim Herrn finden solltet? Wie viele von euch saufen und prügeln, obwohl sie Kraft und Ruhe im stillen Gebet suchen sollten? Wie viele von euch sind eben nicht gerecht?« Die Ader an seiner Schläfe pulsierte nun. Ein weiteres Mal ließ der Pfarrer seine Worte im Raume verhallen und blickte die Menge herausfordernd an.

»Ich möchte euch die Antwort geben, meine Brüder und Schwestern.«

Tillmann war außer Atem. Die Gemeinde war nun so ruhig, dass man das gleichmäßige Hecheln des Mannes in der gesamten Kirche hören konnte.

»Sie lautet: Es sind zu viele für Gott. Viel zu viele!« Ein Schaudern lag über den Menschen. Pfarrer Tillmann war für seine harten Worte und seine Frömmigkeit bekannt, doch dass er die Sünden seiner Gemeinde so direkt an den Pranger stellte, war selbst in seinen Predigten eine Seltenheit. »Lasst uns beten, dass er uns die Stärke gebe, unsere Tugenden zu leben und unsere Laster zu besiegen.«

Kapitel 2

- Ein dunkler Begleiter -

Der eisige Wind hatte noch einmal zugenommen, als sie aus der Kirche heraustraten. Da sie nun mehr als eine Stunde in dem dunklen Gebäude gesessen hatten, kam ihnen der Schnee umso weißer vor. Das reflektierende Glitzern stach in ihren Augen. Pfarrer Tillmanns Predigt hinterließ bei ihnen allen ein Gefühl der Schuld, obwohl die Familie fromm war und sich weitestgehend an die Regeln und Gebote der Kirche hielt. Natürlich war das nicht immer möglich, das Leben der Schmiede war hart, und manchmal musste sogar sonntags gearbeitet werden.

»Der Pfarrer wählt deutliche Worte«, sagte die Mutter und blickte dabei unverhohlen ihren Gatten an.

»Fürwahr. Doch sie sind recht«, murrte er. »Wer weiß, ob der Krieg eine Strafe ist, die uns Gott auferlegt hat.«

»Würde er das wollen?«, schaltete sich Lorenz in das Gespräch ein. »Warum sollte der Allmächtige seine eigenen Kinder mit Krieg und Tod überziehen wollen? Was sollte das für einen Sinn haben?«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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