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Seit mehr als 30 Jahren ist Sebastian Thiel Marathonläufer und Triathlet. Fast von Beginn an berichtet er in Briefen an einen Freund von seinen Wettkämpfen; angefangen von einem Extremlauf über knapp 70 Kilometer in den Schweizer Bergen, über Ironman-Triathlons bis hin zu Teilnahmen am Triple-Ultra-Triathlon, bei denen er 11,4 Kilometer schwamm, 540 Kilometer Rad fuhr und 126,6 Kilometer lief. In den Briefen schreibt Sebastian Thiel nicht nur über die sportlichen Aspekte wie Zeiten und Platzierungen, sondern mehr auch über sehr persönliche Dinge, die ihn zur Teilnahme an diesen extremen Ausdauerbelastungen motivieren. Im vorliegenden Bericht schreibt er über seine Vorbereitung und Teilnahme am Ironman Roth 1997.
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Seitenzahl: 25
[…] Jetzt hatte ich also noch viel Zeit, so viel Zeit, wie ich vielleicht nie mehr im Leben für irgendetwas habe […] Der Weg zurück zur Lände hätte dann eigentlich so etwas wie einen Endspurt einläuten können. Aber ich wurde nicht schneller, machte weiter Gehpausen. Was interessierte mich die Zeit. Ich hatte keine Ziele, außer das eine, es zu erreichen […]
Usingen, den 15. Juli 1997
Lieber B.!
Nach 13:34:41 Stunden bin ich vorgestern beim Ironman in Roth unter der Hymne We are the Champions ins Ziel gelaufen. Erst zwei Stunden vorher, etwa bei Kilometer 27 der Laufstrecke, war mir bewusst geworden, dass ich tatsächlich das Ziel erreiche und dass dieser Tag einmal ein Ende hat. Vorher hatte ich nicht einmal daran gedacht. Dabei hätte ich dieses Ziel schon vor zwei Jahren erreichen sollen. Und diese zwei Jahre hätten mich elf oder zwölf Stunden lang beschäftigen können. Vielleicht spielt Zeit eine zentrale Rolle, wenn es um Verabredungen und um Pünktlichkeit geht; ihre wichtigste Rolle aber ist, vieles der Vergangenheit unbedeutend und lächerlich erscheinen zu lassen. Ich bin weg aus Berlin, wohne seit vier Monaten in Usingen im Taunus und sitze jetzt in meinem Zimmer und frage mich, ob ich mir einen Traum erfüllt habe. Und weiß nur, ich schwebe. Ich mache nichts anderes, als zu genießen. Das Gefühl, es geschafft zu haben, verlässt mich nicht.
Nach dem Langdistanz-Triathlon in Schwerin vor drei Jahren war ich den Berlin-Marathon problemlos in 3:38 Stunden gelaufen und sechs Wochen später in der Wuhlheide eine neue Bestzeit mit 3:26 Stunden. Im Januar hatte ich mich dann zum Ironman in Roth angemeldet. Aber kurz vorher hatte ich Kerstin kennengelernt und wir trafen uns, so oft es ging. Plötzlich blieb immer weniger Zeit zum Trainieren. Im April lief ich nicht beim Halbmarathon mit wie in den fünf Jahren zuvor, aber immerhin im Mai den 25-Kilometer-Lauf am und im Olympiastadion. Kerstin hatte an der Strecke gestanden und mich im Ziel abgeholt. Danach sagte ich aber trotzdem den Start in Roth ab. Früher hatte ich, glaube ich, mit Ehrlichkeit meine Probleme. Und vielleicht sind die Briefe an Dich das einzige, wo ich es wirklich bin. Aber durch eine Beziehung und durch die Nähe zu einer anderen Person lernt man, ehrlich zu sein. Also musste ich mir selbst gegenüber ehrlich sein und den Start in Roth absagen. Es lag noch ein Jahr Abendschule vor mir; das musste auch mal wichtiger als der Sport sein. Vor allem aber war mir Kerstin wichtiger. Es ging um nichts anderes, als so viel Zeit wie möglich mit ihr zu verbringen. Allerdings saß ich dann vor zwei Jahren im Wohnzimmer ihrer Eltern und wir sahen zufällig den Bericht über den Ironman in Roth im Fernsehen. Ich weiß noch, wie sprachlos ich war, als ich das Rennen verfolgte. Sprachlos darüber, dass ich vergessen hatte, dass es an diesem Tag stattfand. Aber auch sprachlos darüber, weil sich Kerstin nicht dafür interessierte und nicht im mindestens begriff, was es mir bedeutete. Ich glaube, beides erschreckte mich damals gleichermaßen.