Uranprojekt - Sebastian Thiel - E-Book

Uranprojekt E-Book

Sebastian Thiel

4,6

Beschreibung

Sommer 1944. Nikolas Brandenburg ist aus Paris nach Düsseldorf zurückgekehrt. Der ehemalige Kommissar muss in seinem Elternhaus untertauchen, da er sich dem französischen Widerstand angeschlossen hat. Als eines Nachts ein Schwerverwundeter vor seiner Tür liegt, führt ihn dieser nicht nur mit alten Weggefährten zusammen, sondern auch in den Dunstkreis des streng geheimen „Uranprojekts“. Eine Operation, die Hitler doch noch zum Sieg verhelfen soll. Nikolas unternimmt alles, um dies zu verhindern.

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Sebastian Thiel

Uranprojekt

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden,

soweit sie nicht historisch sind.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Fritz Goro / Getty Images

ISBN 978-3-8392-4392-3

Zitat

»Die Bombe wird niemals hochgehen, und ich sage das als Bombenexperte.«

William D. Leahy

Amerikanischer Admiral, Anfang 1945

Prolog

– Pariser Nächte –

05. August 1944, Paris

Er hätte nicht die BBC hören sollen.

Die Zeilen dieses Gedichts gingen ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Nikolas Brandenburg lehnte sich gegen die Häuserwand und beobachtete die Fabrik vor ihm. Das vormals schicke Gebäude sah heruntergekommen aus. Einige Fensterscheiben waren zerbrochen, zudem hatte jemand Werbeplakate der ›Milice française‹ an die Außenwände geklebt.

Die ineinander gekreuzten Hörner lagen über den sowjetischen Symbolen Hammer und Sichel. Dazu prangte in roten Lettern ›Contre le Communisme‹ – ›Gegen den Kommunismus‹ – auf dem Plakat. Wie passend, dachte Nikolas und zog an seiner Zigarette. Dabei kamen die gesendeten Zeilen des Gedichts von Paul Verlaine zum wiederholten Mal über seine Lippen: »Les sanglots longs des violons de l’automne – Blessent mon cœur d’une langueur monotone.«

Was hatte Verlaine vor etlichen Jahren dazu gebracht, so traurige Verse zu schreiben? Hatten Absinth und Melancholie die Unbeweglichkeit zu einem verführerischen Erlebnis gemacht? Claire hatte ihm die Zeilen übersetzt. Sein Französisch war auch nach einem Jahr in Paris nicht wirklich vorzeigbar.

›Seufzer gleiten die Seiten des Herbstes entlang – Treffen mein Herz mit einem Schmerz dumpf und bang.‹

Allein die Art, wie der Sprecher der BBC es vorgelesen hatte, hatte Nikolas’ Herz schwer werden lassen. Mit dieser Empfindung war er allerdings allein im Raum gewesen. Vor zwei Stunden hatten die Mitglieder der Résistancegruppe wie hypnotisiert vor dem kleinen Funkempfänger gehockt und den Worten der British Broadcasting Corporation gelauscht. Sie hatten geraucht, an ihren Fingernägeln gekaut und vorn, nahe dem Radio, hatte Rohn mit einer Flasche Wein gesessen, die er für sich allein beansprucht hatte. Natürlich – er war der unangefochtene Chef der Gruppe, koordinierte die Einsätze und würde alle Aktionen an vorderster Front leiten, wenn es nach ihm ginge. Dass dieser grobschlächtige, desertierte Feldwebel der Wehrmacht den Widerstand in Paris organisierte, war eine Ironie des Schicksals. Als Nikolas ihn zum ersten Mal gesehen hatte, hätte er ihm nicht einmal zugetraut, auf einen Dreijährigen aufzupassen. Wie sich herausstellte, war er nicht nur im Umgang mit der Waffe geübt, sondern ganz nebenbei auch das ›Phantom‹, welches die Gestapo und Nikolas über mehrere Jahre hinweg hier in Paris gejagt hatten. Er war ›La Pâquerette‹ – das Gänseblümchen. Welch irreführender Name für den Zweimeter­mann mit dem riesigen Schädel und Händen groß wie Teller. Mit jedem Mal, wenn er einen Strauß getrockneter Gänseblümchen bei seinen Einsätzen hinterließ, vergrößerte sich sein Mythos. Dass Rohn hinter alldem steckte, ging Nikolas immer noch nicht wirklich in den Kopf.

Seine Geliebte Claire hing – wie üblich – tief über die Karten gebeugt. Es schien, als würde sie der ganze Trubel nichts angehen. Er wusste es jedoch besser. Ihr Verhältnis zueinander hatte sich seit den Ereignissen in Düsseldorf und Leverkusen merklich abgekühlt. Natürlich, es gab Wichtigeres zu tun, als in den frühen Morgenstunden das Bett zu teilen. Zum Beispiel ein Land zu befreien – ihr Land, nicht seins.

Bei diesem Gedanken drehte sich Nikolas der Magen um. Doch er hatte eine Entscheidung getroffen. Meistens saß er bei den Treffen der Résistance gelangweilt herum, weil er kaum etwas verstand. Vielleicht war es auch besser so. Er wollte nicht eingeweiht werden, wenn sie planten, irgendwelche hochrangigen SS-Offiziere zu ermorden. Vor zwei Stunden hatte er sich in die hinterste Ecke des Raums verzogen und eine Zigarette nach der anderen gequalmt. Völlig unerwartet waren die anderen plötzlich in Jubel ausgebrochen.

Erst hatte Rohn sie abhalten wollen, ihre Freude laut herauszuschreien, doch schließlich waren selbst bei ihm alle Dämme gebrochen. Sogar Claire hatte mit weit aufgerissenen Augen aufgesehen und sich dem einen oder anderen Résistancemitglied um den Hals geworfen. Nach wenigen Momenten war ihre Freude allerdings verflogen und gespannter Erwartung gewichen, während sie mit ihren Fingern über die Karten gefahren war und Berechnungen angestellt hatte. Es gab noch so viel zu tun …

Zwei Stunden war das her. Nikolas wusste nicht, ob er sich freuen oder traurig sein sollte. Vielleicht müsste er Scham empfinden oder doch Stolz? Er schüttelte den Kopf. Es war schwierig zu sagen, welche Gefühle ihn beherrschten, nachdem dieses Gedicht von der BBC gesendet worden war. Er hatte nicht darauf anstoßen wollen, was ihm den Argwohn einiger Mitglieder eingebracht hatte. Es gab zu viele Leute, die ihm nach wie vor nicht trauten, und hätten sich Rohn und Claire nicht vehement für ihn eingesetzt, würden die Würmer seinen toten Körper inzwischen längst verdaut haben.

Und das nach all dem, was er getan hatte.

Sein Leben als Kriminalkommissar war vorbei. Er war im Untergrund, gehörte zur anderen Seite, kämpfte gegen Nazi-Deutschland … und sollte seine Landsleute töten.

Allein diese Überlegung war verrückt genug.

Noch einmal sah er hinüber zu diesem Backstein­gebäude. In einem Monat würde hier die Hölle losbrechen. Und wenn sich dann alles Pech der Welt in dieser Stadt sammelte, würde es am Ende niemanden mehr geben, der ihren Namen – Paris – ohne Trauer in der Stimme aussprechen konnte. Nikolas war allzu bekannt, was mit belagerten Städten passierte. Der Kessel von Stalingrad war ein trauriges Beispiel. Plünderungen, dauerhaftes Artilleriefeuer, Nahrungsknappheit, ein ganzes Fass voller Todsünden. Er verdrängte diese Gedanken. Erneut bahnten sich die Zeilen den Weg über seine Lippen und er summte die Wörter, ohne sie richtig auszusprechen. Diese zweite Strophe von Verlaines Gedicht war eine verschlüsselte Botschaft an die Résistance und bedeutete nichts anderes, als dass in den nächsten 48 Stunden die Invasion der Alliierten beginnen würde. Nikolas sah sich um. Die Stadt würde nie mehr dieselbe sein, dessen war er sich sicher.

Kapitel 1

– Die andere Seite des Folterknechts –

Dieser August war der heißeste, an den sich Nikolas erinnern konnte. Selbst um Mitternacht schwitzte er noch in seinem Hemd und dem dünnen Jackett. Der Hut hatte ihn tagsüber vor der Sonne geschützt, mittlerweile nervte es nur noch, wenn er ihn abnehmen musste, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Heute war ein beschissener Tag, um sich in die Höhle des Löwen zu begeben.

Die Milice française war nicht gerade bekannt dafür, besonders gesprächsbereit zu sein, wenn man in ihre Operationen hineinpfuschen wollte. Besonders wenn ihnen das Wasser bis zum Hals stand, war der Finger am Abzug meist das einzige Gesprächsmittel, das sie besaßen.

›Polizisten, die bei Sichtkontakt schossen‹, wurden sie von ihren Landsleuten genannt. Eine schöne Bezeichnung für die Bluthunde der Sicherheitspolizei. Die französische Bevölkerung hatte vor der Milice beinahe mehr Angst als vor den regulären deutschen Truppen. Wenn sie vorfuhren mit ihren dunkelblauen Uniformen und den Barette, war sich keiner seines Lebens mehr sicher. Ein Gerücht reichte bereits und die Milice française rückte an. Einfache Folterknechte, eine paramilitärische Gruppe, die der Sicherheitspolizei unterstellt war, streng nach deutschem Vorbild natürlich. Dabei nahmen sie eine Art Kreuzzughaltung ein, als wären ihre Taten Gottes Wille.

Sein Blick fiel wieder mal auf die Werbeplakate. Sie versprachen hohen Sold und gute Ausbildung. Das Einzige, was sie dafür verlangten, war, die eigenen Landsleute zu jagen. Nikolas schnaubte abfällig. Er selbst war nicht besser als diese Hunde. Wenn es einer Gruppe gelang, mit der SS und ihren gefürchteten Blockdurchsuchungen gleichzuziehen, dann der Milice. Das ließ erahnen, mit welch fanatischer Brutalität sie vorging. Nikolas erinnerte sich nur zu gut an diese Methode. Dutzende Mannschaftswagen sperrten einen Bezirk ab, die Soldaten stürmten jede Wohnung, jeden Keller, jede Nische und trieben die Menschen zusammen wie bei einer Treibjagd. Verdächtige wurden mitgenommen und kamen nie wieder frei. Es war ein engmaschiges Netz, welches sich immer mehr zusammenzog. Einer ihrer Hauptleute war besonders in den Fokus der Résistance geraten: Pierre de Bale.

Er stand im Ruf, ein Liebling von Aimé-Joseph Darnand, dem Chef der Milice française, zu sein. Und diesen Status wollte er auf alle Fälle behalten. Nikolas ging durch den Kopf, was Claire über diesen ›Hundesohn‹, diese ›Schande für die Republik‹ gesagt hatte. Aus einer gut situierten Familie stammend, war de Bale aus Überzeugung in die Milice eingetreten. Brutalität und eiskaltes Kalkül zeichneten diesen Mann aus. Obwohl nicht groß gewachsen und sonst nicht mit vielen Talenten gesegnet, entwickelte er schnell die Fähigkeit, die Schmerzgrenzen seiner Gegner zu überschreiten. Im südlichen Paris hatte er angeblich einen Résistancekämpfer an seinen Hoden aufhängen lassen, um zu erfahren, wo das Versteck der übrigen Untergrundkämpfer war. Alles vor den Augen seiner Familie.

Durch de Bales schnellen Aufstieg in der 45.000-Mann-Miliz konnte er sich sogar der Aufmerksamkeit des Ministerpräsidenten Pierre Laval sicher sein. Dieser betrachtete die Milice française ohnehin als seine persönliche Armee, und das alles unter den wachsamen Augen Hitlers.

Nikolas schnippte die Zigarette auf den Asphalt. Wenn die Informationen stimmten, befand sich Hauptmann de Bale, ›der Kleine‹, wie sie ihn hinter vorgehaltener Hand nannten, in der alten Fabrik vor ihnen. Er ließ es sich anscheinend nicht nehmen, deren Bewohner persönlich zu verhören. Das Problem an der Sache war, dass de Bale gut bewacht wurde und den Hauptsitz der Milice nie ohne seine Schutztruppen verließ. Das war der Punkt, an dem Nikolas’ Einsatz gefragt war.

Noch einmal atmete er durch, dann setzte er den ersten, unsicheren Schritt in Richtung Fabrik. Der Plan war einfach, zu einfach für sein Verständnis. Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte vermutet, dass Rohn und Claire ihn loswerden wollten.

Kopfschüttelnd überquerte er die Straße und klopfte an die eiserne Tür, die ins Innere führte. Wie konnte er derart dumm sein? Es wäre unkomplizierter, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Reichte es denn nicht, dass er de Bales Folterkünste vom Hörensagen kannte, musste er sich persönlich von eben diesen überzeugen?

Stimmengewirr drang an seine Ohren. Es dauerte nicht lange, bis die Tür aufgerissen wurde. Sofort blickte er in die Läufe dreier automatischer Waffen. Eines musste man der Sicherheitspolizei lassen: Wenn sie eine paramilitärische Truppe ihre Arbeit machen ließ, stattete sie die wenigstens gut aus.

Die Männer brüllten ihm Wörter auf Französisch entgegen. Er versuchte erst gar nicht, sie zu verstehen. Obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug, setzte er eine gleichgültige Miene auf, griff langsam in die Innentasche seines Jacketts und holte seinen alten Ausweis hervor, der ihn als Kriminalkommissar des Deutschen Reichs auswies. Die Pupillen der Männer sausten vom Foto zu ihm und zurück. Nikolas rechnete jede Sekunde mit einem Schuss in die Schulter oder zumindest mit einer Festnahme.

Rohns Plan hatte nämlich einen gravierenden Haken. Auf der Beliebtheitsskala der SiPo, der Sicherheitspolizei, rangierte Nikolas auf einem der hinteren Plätze. Irgendwo zwischen Churchill und Rohn selbst, wie er nicht ohne Stolz zugeben musste. Wenn er die Vorgehensweise der Kriminalpolizei richtig im Kopf hatte, musste im letzten halben Jahr jede Dienststelle von hier bis Berlin mindestens zweimal am Tag über sein Fahndungsfoto gestolpert sein. Immerhin hatte er der Résistance Zugang zu Geheimakten verschafft, war übergelaufen und hatte mitgeholfen, ein Werk der IG Farben in die Luft zu sprengen. Doch Rohn baute wohl darauf, dass die SS und die Polizei hier in Paris andere Dinge zu tun hatten, als ihre französischen Bluthunde über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten. Kurzum – hoffentlich erkannten sie ihn nicht, ansonsten sah es schlecht für ihn aus.

Nikolas’ Zähne mahlten aufeinander; unendliche Sekunden verstrichen. Schließlich passierte, womit er nicht mehr gerechnet hatte.

Die Mitglieder der Milice ließen ihre Waffen sinken und streckten den rechten Arm zum Hitlergruß. Einige Herzschläge stand Nikolas wie angewurzelt vor ihnen, ehe er ebenfalls seine Arme erhob.

»Pierre …« Seine Stimme versagte beim ersten Anlauf. »Pierre de Bale.« Die Männer nickten, Nikolas räusperte sich und trat ein.

Von innen sah das Gebäude weit schlechter aus, als es von außen den Anschein machte. Es war ausgeschlachtet worden, wahrscheinlich sogar von den Deutschen. Jegliche Maschinen waren abmontiert worden, vermutlich hatten die Gefangenen Holz und alles Weitere, was man vielleicht gebrauchen konnte, mitgenommen; jedenfalls war die Halle fast leer, die er nun betrat. Etwas hier gefiel ihm gar nicht. Hatte Rohn nicht von mehreren Seiteneingängen und Toren geredet? Ein Kloß verfestigte sich in seinem Hals. Entweder erschlossen sich die Tore nicht seinem Blick oder sie waren zugemauert worden. Als er nach rechts blickte, stockte ihm der Atem.

Zwei Männer hingen an Ketten von der 20 Meter hohen Decke herab. Ihre Arme waren auf den Rücken gebunden und an den Händen hatte die Milice die Ketten befestigt. Zusätzlich waren ihre Füße mit Seilen am Boden fixiert. So hingen sie in einer grotesken Position, wenige Zentimeter über dem Boden. Dass ihre Gelenke noch nicht ausgekugelt worden waren, grenzte an ein Wunder. Als de Bale einen Befehl bellte, knirschten die Ketten und der Druck auf die Körper der Opfer erhöhte sich weiter. Die Seile gaben nicht nach und so wurden nur die Arme der Männer weiter nach oben gezogen. Ihre Gesichter waren blutüberströmt, wirkten wie Totenmasken. Die Schreie gingen durch Mark und Bein. De Bale schien seinen Spaß daran zu haben und plauderte entspannt. Erst jetzt begriff Nikolas, wem seine Worte galten. Zwei Frauen und drei Kinder waren auf Stühlen gefesselt, die Münder geknebelt, ihre Glieder fixiert. Ihre Laute drangen gedämpft an Nikolas’ Ohren. Doch als der Knebel bei einer der Frauen gelöst wurde, waren ihre flehenden Worte von Schmerz und Pein erfüllt, während sie ihren Geliebten nicht aus den Augen ließ.

In diesem Moment gaben Nikolas’ Beine nach. In der letzten Sekunde konnte er sich fangen und marschierte weiter auf den kleinen Hauptmann zu. Er zählte circa zwei Dutzend Mitglieder der Milice française. Allesamt schwer bewaffnet und mit einem gleichgültigen Ausdruck, als wäre es nicht das erste Mal, dass sie einem ›Verhör‹ wie diesem beiwohnten. Ohne Frage – die SiPo hatte ihre Bluthunde gut erzogen.

Nikolas nahm all seinen Mut zusammen. Er hielt den Ausweis wie einen Schutzschild vor seine Brust. »Guten Abend zusammen«, eröffnete er und versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen. Das nächste Wort betonte er überdeutlich: »Sicherheitspolizei, Kriminalkommissar Brandenburg, Reichssicherheitshauptamt V!«

Endlich hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeit de Bales. Der Hauptmann verschränkte die Arme hinter dem Rücken und kam langsam auf ihn zu. Ein langer Blick auf Nikolas’ Ausweis folgte.

»Guten Abend«, erwiderte er schließlich mit starkem Akzent, eine Pause folgte. Dieser Mann war Störungen nicht gewohnt, das sah Nikolas sofort. Zu seinem Glück sprach er Deutsch. Eine Fähigkeit, die sich viele in der Milice dienenden Franzosen angeeignet hatten. »Was kann ich für Sie tun, Commissaire?«

Nikolas atmete tief ein, griff in die Innentasche seines Jacketts und holte mehrere Papiere hervor. Gewichtig entfaltete er die Blätter vor seiner Brust und begann zu lesen: »›Nach Rücksprache mit dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes sowie in Anlehnung an Protokoll 44a des Reichssicherheitshauptamts, Abteilung V, darf eine solche Verhaftung laut Paragraf 17, Abschnitt 3, erster Absatz nur durchgeführt werden, wenn die Zustimmung des Stabschefs der entsprechenden Kommandeure der Ordnungspolizei vorliegt.‹« Die Sätze sprudelten aus seinem Mund. »Mit anderen Worten: Die Gefangenen sind laut dieser Verordnung direkt an die Kriminalkommissare des Reichssicherheitshauptamtes zu übergeben.«

Natürlich waren die Papiere leer und er improvisierte nur. Es kam einzig darauf an, dass er sein Publikum überzeugte. Mit ernster Miene faltete er die Papiere zusammen und steckte sie zurück in die Innentasche seines Jacketts. Beinahe schon federnd war sein Schritt, als er am Hauptmann vorbeiging, um zur Vorrichtung für die Ketten zu gelangen. »Machen Sie sich keine Mühe, ich nehme die Herren direkt mit zur Avenue Foch.«

Noch versperrten junge Männer in Uniform seinen Weg. Nikolas ließ die Hände in seine Taschen gleiten, stellte sich demonstrativ vor sie und musterte sie so arrogant wie möglich. Widerwillig traten sie zur Seite. Sein Herz machte einen Sprung, als er endlich die Kurbel in die Hand nahm. Er konnte die Gefangenen allerdings nur wenige Zentimeter herunterlassen, da de Bale ihn plötzlich am Handgelenk packte. Seine feingliedrigen Finger waren nicht einmal lang genug, um es zu umschließen.

»Monsieur … Brandenburg? N’est-ce pas?«

»Fast richtig. Kriminalkommissar Brandenburg, wenn ich bitten dürfte, und nun lassen Sie mich meine Arbeit verrichten.«

»Pardon. Commissaire Brandenburg, dürfte ich die Papiere sehen?« Seine Lippen waren dicht an Nikolas’ Ohr. »Ein Commissaire. Alleine?«, lachte er leise. »Sie sind kein guter Schauspieler.«

Er hatte es ihm gesagt! Herr im Himmel, er hatte Rohn gesagt, dass dies nicht die übliche Vorgehensweise war. Der alte Feldwebel hatte lediglich den Kopf geschüttelt. »Wir brauchen nur eine kleine Ablenkung, Nikolas. Diese paar Milice-Idioten liegen schneller auf dem Boden, als du gucken kannst. Also stell dich nicht so an, Kommissar.«

Zeit für Plan B.

Erst war es ein Röcheln, das über Nikolas’ Lippen kam. Wenige Sekunden später entwickelte sich daraus ein Husten, er musste sich den Bauch halten. Für einen Moment hielt er sich am Hauptmann fest, ehe er in sich zusammensank und mit dem Gesicht auf dem warmen, staubigen Fabrikboden landete. Zwei Milizionäre kamen sofort auf ihn zu, drehten ihn auf den Rücken und lösten die obersten Knöpfe seines Hemds. Französische Worte wurden durcheinandergebrüllt, die Männer fächerten ihm sogar Luft zu und stützten seinen Kopf ab. Seine Lider waren halb geöffnet, als er die beiden Frauen und die drei Kinder erblickte. Ihre Augen waren flehend und voller Schmerz. Wussten sie, was als Nächstes geschehen würde?

Die Milice war in Aufruhr. Alle, bis auf Hauptmann de Bale. Beinahe gelangweilt beugte er sich zu Nikolas herab und holte die Papiere aus seiner Innentasche heraus. Ausdruckslos überprüfte er jedes einzelne, ließ die Blätter anschließend auf Nikolas herunterregnen.

Als die Männer de Bales Reaktion sahen, stellten sie ihre Hilfe sofort ein und richteten stattdessen ihre Gewehrläufe auf Nikolas.

»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Monsieur Commissaire. Sie sind nicht nur kein guter acteur. Ihr Spiel ist désastreux.« Ohne mit der Wimper zu zucken, wandte er sich an seine Männer: »Tuez-le!«

Trotz seiner eingeschränkten Französischkenntnisse wusste Nikolas genau, was diese zwei Silben bedeuteten. Diese Worte hatte er hier im besetzten Frankreich als Erstes gelernt. ›Tötet ihn!‹

Das war es also. Die Männer luden ihre Gewehre durch. Der Milizionär, der ihm eben noch die Knöpfe geöffnet hatte, trat an ihn heran. Seine Augen waren leer, als er auf sein Gesicht zielte. Nikolas schlug das Herz bis zum Hals, als der Mann plötzlich zusammenklappte, auf ihn fiel und warmes Blut sich auf Nikolas’ Hemd ergoss. Die Zeit schien langsamer zu laufen, die Schreie und krachenden Schüsse drangen nur gedämpft an seine Ohren, als wäre er von Watte umhüllt.

Erst dann bemerkte Nikolas das Mündungsfeuer von allen Seiten. Zwei der Milizionäre wollten den Befehl des Hauptmanns offensichtlich nach wie vor ausführen, gingen in Deckung und schossen auf ihn. Der Leichnam, der auf ihm lag, bot ihm Schutz. Nikolas stemmte den leblosen Körper etwas nach oben, kroch darunter hervor und versteckte sich dahinter, so gut es ging. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Résistance die Fabrikhalle stürmte. Aus sämtlichen Richtungen sausten Projektile über seinen Kopf hinweg, die Milice wehrte sich nach Leibeskräften, schoss wild umher, jedoch bot die Halle nur wenige Möglichkeiten, in Deckung zu gehen.

Immer mehr Männer schrien herum. Einem Milizionär wurde in den Fuß geschossen, er klappte wenige Meter neben ihm zusammen, hielt sich die klaffende Stelle und brüllte vor Schmerz. Die blauen Augen des Mannes brannten sich in Nikolas’ Verstand. Er war höchstens 20, vielleicht sogar jünger. Beinahe noch ein Kind. Dass hier Franzosen auf ihre Landsleute schossen, verdrängte er in diesen Sekunden. Die Salve eines Maschinengewehres ließ Funken sprühen, Nikolas drängte sich noch dichter an die Leiche, um Schutz zu suchen. Dann verstummten die Schreie des jungen Mannes. Sein Blick war leer, von seiner Schläfe suchte sich Blut den Weg auf den staubigen Boden und wurde schnell zu einer roten Lache.

»Nikolas!«

Durch die Schreie der Sterbenden hindurch hörte er Claires Stimme. Mit ihrer zierlichen Statur ging sie zwischen den ganzen stämmigen Kerlen beinahe unter. Allen voran Rohn, der einen fast widerwärtigen Spaß an der Aktion hatte. Mit einer kleinen Gruppe näherte er sich, schoss im Lauf sein Magazin leer und hechtete hinter einen Holzverschlag. Sofort waren zwei Milizionäre zur Stelle. Die Einschläge ihrer Projektile ließen das Holz splittern. Einer der Männer machte den Fehler, sich Rohn bis auf wenige Fuß zu nähern. Der ehemalige Feldwebel sprang aus seiner Deckung hervor, rammte das Schulterstück seiner Waffe mit voller Wucht gegen die Stirn des Mannes. Der Franzose klappte sofort zusammen, Rohn nahm seine Pistole aus dem Gürtelhalfter und beendete die Schmerzen des Milizionärs mit zwei Schüssen in den Kopf.

Die raspelkurzen Haare des Hünen glänzten im Schein der wenigen Lichtquellen, welche die Fabrik erhellten. Den Blick immer noch auf den Toten vor sich gerichtet, bemerkte Rohn den zweiten Milizionär nicht. Mit der Waffe im Anschlag näherte dieser sich von hinten. Nikolas konnte sich endlich aus seiner Schockstarre lösen, schob die Leiche des Mannes beiseite und rief laut nach Rohn. Doch der reagierte nicht. Nikolas zog seine Waffe und bemerkte, dass seine Hand stark zitterte. Im Gegensatz zu Rohn war er keine fleischgewordene Tötungsmaschine. Hastig zielte er auf den Milizionär, gab drei Schüsse ab und rief dann wieder wie von Sinnen Rohns Namen. Es half alles nichts. Der Soldat näherte sich Rohn, suchte sich eine freie Schussbahn und legte das Gewehr an. Im nächsten Moment fiel er wie ein nasser Sack zu Boden. Hinter ihm kam Claire zum Vorschein. Ihre brünetten Haare hatte sie streng zu einem Zopf gebunden, der schwarze Rollkragenpullover schmiegte sich eng an ihre Haut. Der Blick war eiskalt, als sie ihre Waffe senkte und mit Rohn in Deckung ging.

Manchmal vergaß Nikolas, dass auch ihr das Töten im Blut lag. Wenn Rohn eine Tötungsmaschine war, musste sie ein Todesengel sein. Ihre Haut war beinahe weiß, ihr Blick durchdringend, wenn sie einen Deutschen tötete. In ihren Augen blitzte dann dieser Hauch von Wahnsinn, diese Spur des Verrückten. Doch auch sie hatte eine andere Seite, die Nikolas kennen- und lieben gelernt hatte. Er hatte erfahren, dass ihre Eltern vor vielen Jahren von der Gestapo ›abgeholt‹ worden waren – in dieser Nacht war etwas in Claire zerbrochen. Bis heute hatte er es nicht geschafft, die Scherben zu kitten. Wenn die Milizionäre weiter vorrückten, würde er keine Gelegenheit mehr dazu bekommen. Die Résistance hatte mit höchstens einer Handvoll Mitglieder der Milice française gerechnet. Die Sache hatte schnell, sauber und ohne viel Aufsehen beendet werden sollen. Dass es hier zu einem Häuserkampf kommen würde, hatte niemand geahnt.

»Nikolas!«, schrie Claire aus Leibeskräften. »De Bale! Er entkommt!«

Aus dem Augenwinkel konnte Nikolas einen Schatten erkennen, der in den Vorraum flüchtete. Ohne Pause beschossen sich Milice und Résistance, und er war der Einzige hinter den feindlichen Linien. Claire versuchte, aus der Deckung zu kommen, schoss mehrmals in Richtung der Milizionäre, zog sich aber schnell wieder zurück, da ihre Gegner sie unter Dauerbeschuss nahmen. Es gab keine andere Möglichkeit. Nikolas duckte sich und versuchte, den Vorraum zu erreichen. Mehrmals schlugen Geschosse neben ihm ein und Splitter bohrten sich in seine Wange. Das Blut rauschte in seinen Adern, als wäre es flüssiges Feuer, und seine Lunge brannte, während er in Richtung des Raums hechtete. Der Staub des Bodens bedeckte seinen Anzug, als er endlich die Tür hinter sich schließen konnte. Augenblicklich wurde es ruhiger.

Für seinen Geschmack zu ruhig. Als er sich umdrehte, erkannte er den Grund.

Fünf Widerständler und drei Milizionäre lagen von Kugeln durchsiebt vor ihm. Während innen der Kampf tobte, war augenscheinlich auch hier das Schicksal mehrerer Männer besiegelt worden. Er hatte sich schon gewundert, warum Rohn nicht von allen Seiten stürmen ließ. Die traurige Erklärung lag in Form von acht Leichen vor ihm. Nikolas’ Magen drehte sich um. Noch immer hatte er sich nicht an diesen Anblick gewöhnen können.

In Düsseldorf war er ein normaler Ermittler gewesen. Einbruch, Diebstahl, Bagatelldelikte – und jetzt dieser Wahnsinn.

Hastig sah er in die Gesichter der Männer. Pierre de Bale war nicht dabei. Er musste es bis nach draußen geschafft haben. Vorsichtig öffnete er die eiserne Außentür. Obwohl nach wie vor Schüsse zu hören waren, wollte anscheinend keiner der Anwohner Notiz davon nehmen. Natürlich nicht. Fensterläden waren geschlossen worden und das Licht gelöscht. Nikolas konnte es ihnen nicht verübeln. Er hätte ebenso gehandelt.

Ein warmer Windhauch begrüßte ihn, als er aus der Halle trat. Sein nasses Hemd klebte an seinem Bauch. Kurz befühlte er die rote Flüssigkeit auf dem Stoff, welche sich merklich abgekühlt hatte. Während er die Finger aneinanderrieb, entdeckte er Blut auf dem Boden. Die Spur war nicht besonders deutlich, doch sie reichte aus, um einen ehemaligen Kriminalkommissar aufmerksam werden zu lassen. Mit der Waffe im Anschlag folgte er der Blutspur. Nach und nach wurden die roten Tropfen auf dem Asphalt dicker. Nikolas beschleunigte seine Schritte. Im Gehen dachte er an seine Zeit in Düsseldorf zurück, an die beruhigende Normalität, welche dieser Lebensabschnitt mit sich gebracht hatte. Damals hatte er so etwas wie eine Existenz gehabt. Natürlich, er hatte im Schatten seines Vaters gestanden, dem großen Kommissar Brandenburg, und er hatte eine Verlobte gehabt, die ihn nicht liebte, aber alles in allem war es ein passables Leben gewesen. Viel hatte sich seitdem geändert.

Seine damalige Verlobte Lisa war zu seinem ehemaligen Chef gezogen. Sein Vater war kein Polizist mehr, sondern nur noch ein alter, verbitterter Mann. Im bröckelnden Reich war Nikolas ein Verräter, krankes Fleisch, das vom Körper abgetrennt werden musste. Es fühlte sich an, als hätte er in Deutschland kein Leben mehr und hier in Frankreich nie eines gehabt.

Mit aller Macht drängte er die Gedanken beiseite. In dieser hitzigen Sommernacht waren die Straßen wie leergefegt. Kaum jemand traute sich mehr hinaus, lediglich diejenigen, die etwas zu erledigen hatten. So wie er.

Zwei Lagerhallen weiter endete die Blutspur. Nikolas lehnte sich an die Wand, die Sauer 38H schussbereit vor der Brust. Vor ihm lag eine schmale Gasse. Falls de Bale hier hineingeflüchtet war, hatte er seinen Rückzugsort gut gewählt. Die Gasse lag im Dunkeln, während die Hauptstraße, aus der Nikolas in die düstere Seitenstraße zu spähen versuchte, beleuchtet war. Vorsichtig machte er einen Schritt in die Gasse. Nichts geschah. Vielleicht hatte er sich geirrt? Sollte er die Spur noch einmal genauer betrachten? Eventuell hatte sich der Verwundete in einen Hausflur …

Als sich wenige Zentimeter neben seinem Kopf eine Kugel in die Steinmauer bohrte, waren alle Bedenken weggewischt. Ohne nachzudenken, schoss er in die Dunkelheit, gab unkontrolliert drei Schüsse ab und brachte sich schließlich aus dem Schussfeld, indem er sich auf einen Haufen Abfall warf. Nagetiere flüchteten fiepsend. Mit dem Gesicht landete er auf etwas Lebendigem. Auch ohne Licht wusste er, dass es Maden waren. Ein bestialischer Geruch stieg ihm in die Nase. Während seine Augen wie im Fieberwahn die Dunkelheit absuchten, wischte er sich die Maden aus dem Gesicht. Zumindest bot ihm dieser Ort Sicherheit. In diesem Augenblick bemerkte er ein Stöhnen, das aus der Gasse kam. Irgendwo da vorn war de Bale.

Nikolas hatte keine andere Wahl. Er griff in den Klumpen aus Maden und drückte seine Hand tief in den Kompost, bis er etwas Hartes zu fassen bekam. Vielleicht war es verschimmelter Kohl oder ein altes Brot, er konnte nicht genau sagen, was er da in der Hand hielt. Den Haufen warf er an die gegenüberliegende Wand. Sofort krachten Schüsse in der Dunkelheit. Nikolas duckte sich und zählte mit. Drei, vier, schließlich das Geräusch, auf das er gewartet hatte. Mehrmals hallte das metallische Klicken in der Gasse wider. Das Magazin war leer.

»Merde!«, hörte er jemanden fluchen.

Hastig sprang er auf und rannte in die Dunkelheit. Er erspähte eine Silhouette, die mit unkoordinierten Bewegungen zu flüchten versuchte. Als hätte man einer Spinne drei Beine ausgerissen.

Die Gasse beschrieb einen Bogen, sodass nun wieder Licht hineindrang. Nikolas hatte keine Mühe, de Bale zu erreichen. Noch immer hatte der Hauptmann der Milice seine Pistole in der Hand, mit der anderen hielt er sein blutendes Bein. Er hatte es notdürftig verbunden. Hechelnd lag er rücklings auf dem Boden und fixierte Nikolas.

»C’est toi! Du bist Deutscher! Heil Hitler!«, schrie der Hauptmann. »Ich habe Kinder und Frau.«

Seine Hand zitterte, als er seine Pistole fallen ließ und langsam die obersten Knöpfe seiner Uniformjacke löste. Nikolas ging einen Schritt auf den Mann zu, hielt die Pistole auf ihn gerichtet und umschloss sie so fest, dass seine Finger weiß anliefen. Statt einer Waffe kam die Geldbörse de Bales zum Vorschein. Blutrote Finger fummelten über das Leder, bis er ein Foto zu fassen bekam.

»Sieh! Camille, ma femme, und meine Kinder, Pierre und Louanne.« Seiner Stimme fehlte nun die Kraft und Sicherheit. Sie erinnerte Nikolas an die eines Jungen, der gerade im Stimmbruch war.

»Couvre-moi, ich bitte dich! Für meine Kinder.«

Nikolas musterte den Mann. Der dünne Spitzbart war akkurat rasiert worden. Die dunklen Haare hingen ihm feucht ins Gesicht und seine Hand mit dem Foto war Nikolas entgegengestreckt. Behutsam näherte er sich dem Milizionär.

Das Foto zeigte ein beinahe klischeehaftes Familienidyll. Der Hauptmann auf der Fotografie lächelte, hatte seinen Sohn auf dem Arm, während seine hübsche Frau auf dem Stuhl neben ihm saß. Die Tochter war ein Lockenkopf, schmiegte sich eng an die Mutter und winkte dem Fotografen fröhlich zu. Auf dem Bild trug de Bale keine Uniform, sondern eine Hose mit weißem Hemd und Hosenträgern. Er sah aus wie ein Milchmann oder ein freundlicher Bauer, der zwar zu klein geraten war, aber hart arbeitete, um seine Familie zu ernähren. Kaum zu glauben, dass dies derselbe Mann sein sollte, der noch vor wenigen Augenblicken zwei Familien gefoltert hatte.

Der Krieg holt aus uns allen das Schlimmste hervor, dachte Nikolas. Die Pistole zitterte stärker und er hatte das Gefühl, als würde sie Tonnen wiegen.

»Bitte«, flehte der Hauptmann erneut. »Für meine Familie.«

Er sollte ihn töten. Das Ganze hier und jetzt beenden. Das war der Auftrag, aus diesem einzigen Grund war die Résistance hier!

Nikolas hatte schon einmal gemordet. Vor einem halben Jahr im Werk der IG Farben in Leverkusen. Doch damals war es anders gewesen. Sein Gegenspieler hatte seinen besten Freund getötet. Der Hass hatte sich über Wochen aufgebaut, bis er sich in diesem finalen Akt entladen hatte. Von Varusbach, so der Name des Mannes, war ein Monster, das nichts anderes verdient hatte als den Tod. Aber der große Unterschied war: Von Varusbach hatte nicht bettelnd auf dem Boden vor ihm gelegen.

Dieser Mann hier hatte ein Heim, eine Frau, die vor Trauer zusammenbrechen würde, sollte ihrem Mann etwas zustoßen, und zwei kleine Kinder, denen sie erklären müsste, dass ihr Vater nicht zurückkäme und jetzt im Himmel sei.

Hunderte Gedanken schossen Nikolas durch den Kopf. Wie das kleine Mädchen wohl reagieren würde? Hatten die Eltern sie darauf vorbereitet? Würde sie weinen? Schreien? Oder würde sie sich gar nicht rühren und in stiller Trauer diesen unendlich großen Verlust erdulden?

Der Hauptmann hielt das Foto wie Nikolas zuvor seinen Ausweis. Schweißperlen suchten sich den Weg nach unten und verfingen sich im Bart des Mannes. Langsam kroch er vorwärts, die Augen auf Nikolas gerichtet. Es gelang ihm, sich in die Straße zu schleppen. Dabei schleifte er mit seiner Uniform über den Boden und verursachte ein schabendes Geräusch, das die kleine Gasse erfüllte. Nikolas blieb wie angewurzelt stehen. Er war nicht wie die anderen, Töten hatte man ihm nicht beibringen können. Und doch drängten sich mit jeder Überlegung Claires Erzählungen in sein Bewusstsein. ›Der Kleine‹ war der Folterknecht der Milice, verdammt. Reiß dich zusammen, Nikolas!, ermahnte er sich selbst.

Er wollte abdrücken. Es wäre nur eine kleine Bewegung gewesen. Kaum der Rede wert. Doch er brachte es nicht über sich. Sein Mund war staubtrocken und glich einer Wüste, als er die Waffe senkte.

»Merci … merci«, flüsterte de Bale atemlos und kroch ein paar Meter in die Straße hinein. Plötzlich hielt er inne und seine Augen weiteten sich, als blickte er dem Unausweichlichen persönlich ins Antlitz.

»Non, non«, war das Einzige, was über seine Lippen drang.

Erst jetzt bemerkte Nikolas, wo der Mann hinstarrte. Vor ihm stand Claire, bereit zur Exekution, sah aber nicht de Bale an, sondern Nikolas. Einige Sekunden lang musste er dem Blick ihrer rehbraunen Augen standhalten, schließlich stapfte sie die wenigen Schritte auf de Bale zu und hob ihre Waffe. Zwei Kugeln ins Gesicht machten aus dem flehenden Menschen einen leblosen Körper. Dann drehte sich Claire zu Nikolas um.

»Du hättest ihn laufen lassen, n’est-ce pas?« Ihre Stimme war von Enttäuschung getränkt.

Nikolas seufzte tief. »Ich kann keinen Menschen töten, der wehrlos vor mir auf dem Boden liegt.«

Claire ging energisch an ihm vorbei. »Wir sind im Krieg, Nikolas. Vielleicht solltest du es lernen.«

Er hatte keine andere Möglichkeit, als seiner Geliebten nachzusehen, wie sie in der Dunkelheit der Gasse verschwand. Er wollte etwas sagen, ihr nachlaufen, doch als plötzlich Rohn ins Licht trat, hielt er inne. Nikolas setzte sich auf den Boden. Sein Hemd klebte, ein dünner Film aus Schweiß hatte sich über seinen Körper gelegt und einige Maden fielen vom Ärmel seines Jacketts herab. Es kostete ihn alle Kraft, hochzusehen. Rohn hatte die Arme überkreuzt, in der einen Hand eine Waffe, in der anderen einen getrockneten Strauß Gänseblümchen. Er würde den Strauß auf de Bales Leiche legen. Als Mahnmal für alle, die dieses Land im Würgegriff hielten. Diese unscheinbaren getrockneten Blumen waren zu einem Symbol der Freiheit geworden. Jugendliche malten sie an Wände, es reichte allein die Erwähnung des Namens aus, um für die Nationalsozialisten als Bedrohung zu gelten. Nachahmer gab es genug. Doch wenn vor einer Fabrikhalle einige reichs­treue Milizionäre aufgebahrt wurden, umrahmt von ein paar Gänseblümchen, würde kein Zweifel bestehen, wessen Werk das war. Ein kurzes Kopfschütteln folgte, dann wandte Rohn sich ab und ließ Nikolas allein in dieser Pariser Nacht zurück.

Kapitel 2

– Schmerzende Lügen –

Nikolas lag auf seiner Pritsche und starrte gedankenverloren an die Decke. Eine einzelne Kerze warf ihr goldenes Licht an die Wände seiner Kammer und flackerte, wenn er zu heftig ausatmete. Seine Hand war mit dem Blut des Soldaten beschmiert, er fand weder die Lust noch die Kraft, sich zu waschen. Sein Hemd war ebenfalls voller Blut und erst jetzt bemerkte er, wie seine Gelenke schmerzten. Sein Körper war erschöpft, kraftlos, sein Verstand hingegen hämmerte und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.

Hier im 17. Arrondissement de Batignolles-Monceaux gab es für die Résistance eine trügerische Sicherheit, der er sich allzu gern hingab. Jede Sekunde könnte es so weit sein, dass entweder die Milice, die Gestapo oder sogar die Wehrmacht vor der Tür stand. Für ihn gäbe es wahrscheinlich nicht einmal die Gnade einer schnellen Exekution. Ein Schauprozess wäre ihm sicher. Sie würden Gift und Galle spucken, und nachdem sich die Zeitungen und Richter des Volksgerichtshofs genug ausgelebt hätten, würde das Urteil ›Tod durch den Galgen‹ lauten. Der Henker würde die Handfesseln festzurren und die Schlinge um seinen Hals legen. Sein Leben und die Zeit im Widerstand hätten ihren dramatischen Endpunkt erreicht. Dabei würden sie jede Geste, sein Flehen und alle Tränen auf Zelluloid bannen. Die Kamera würde gewissenhaft einfangen, wie sein Körper in Richtung Erde fiel, und das Entsetzen in seinen Augen im Todeskampf filmen. Speichel und Blut würden aus dem Mund treten, braune Striemen würden bereits nach wenigen Augenblicken am Hals zu sehen sein. Irgendwann würden seine Beine aufhören zu zittern, und sein Henker würde zum letzten Akt schreiten, den er längst nicht mehr mitbekäme. Mit einem Ruck würde er seine Hose herunterziehen, damit jeder erkennen konnte, dass sich sein Schließmuskel gelockert hatte. Er kannte die Vorgehensweise. Oft genug war sie in Paris ausgeübt worden. Keine schöne Vorstellung.

In seine düsteren Gedanken hinein ertönten plötzlich Schritte auf dem Gang. Dann erstarb das Geräusch. Dieses Wohnhaus war hellhörig.

Sie hatten es mit Bedacht gewählt, um den Schein zu wahren. Oben lebten Familien völlig normal, doch hier im Keller hatte die Résistance ihren Verschlag. Sein Zimmer hatte die Größe einer Abstellkammer. Gerade einmal eine Matratze auf einem Holzgestell, ein kleiner Beistelltisch und ein Koffer fanden Platz. Aber man konnte in dieser Zeit nicht wählerisch sein.

Als erneut Schritte an sein Ohr drangen, richtete er sich auf. Vielleicht war es Claire? Hatte sie nach all den Wochen endlich zu ihm zurückgefunden? Er vermisste die Wärme ihrer Haut und wie ihre langen brünetten Haare seine Nase kitzelten, wenn sie sich an ihn schmiegte. Obwohl das Bett kaum Platz für eine Person bot, hatten sie sich darauf oft geliebt. Ihre Küsse waren leidenschaftlich gewesen, jede Berührung hatte ihn zum Rasen gebracht. Zumindest in der Anfangszeit. Umso mehr Frauen und Männer in die Reihen der Résistance eintraten, desto härter war ihre Arbeit. Irgendwann wusste er nicht mehr, wo sie schlief, und in den meisten Nächten nicht einmal, wo sie war. Sie blockte jedes Gespräch ab und je mehr Zeit er mit den Widerständlern verbrachte, umso fremder fühlte er sich unter ihnen.

Vielleicht suchte sie zumindest in dieser Nacht seine Nähe?

Mit einem Knarren öffnete sich das Türblatt und die Kerze erlosch beinahe.

»Claire?«

»Ich muss dich enttäuschen, Kommissar«, sagte Rohn mit einem Lächeln auf den Lippen und setzte sich auf das Bett. Das Gestell ächzte unter seinem Gewicht. »Und ich komme nicht zum Kuscheln, ein paar schöne Gedanken musst du dir selber machen.« Grinsend zog er unter seinem Hemd ein Magazin hervor und warf es Nikolas zu. »Man kann sich auch allein ganz gut amüsieren.«

Skeptisch nahm Nikolas die Zeitschrift an sich.

»›Men Only‹, ›January 1944‹«, las er laut vor und betrachtet das knallrote Titelbild. Es zeigte eine junge Blondine in der Marineuniform der Briten. Auf ihre Kopfbedeckung waren die Buchstaben ›HMS‹ gestickt. Schnell durchblätterte er das Magazin und wusste im nächsten Moment, womit Rohn die letzte halbe Stunde verbracht hatte. Beim Bild einer besonders drallen blonden Frau waren die Seiten verklebt. Ihn überkam ein Ekelgefühl.

»Ist von einem britischen Fallschirmjäger«, erklärte Rohn. »Der arme Tropf wurde angeschossen, aber wir haben ihn vor den Krauts gefunden.«

Nikolas wusste nicht, was ihn mehr irritierte – dieses Heft oder die Tatsache, dass Rohn die Wehrmachtsangehörigen als ›Krauts‹ bezeichnete. Er kam zu dem Schluss, dass es besser war, nicht darauf einzugehen. Rohn hatte seine eigenen Gesetze und er wollte sie nicht hinterfragen.

»Du bist widerwärtig«, entgegnete Nikolas und warf ihm das Magazin gegen die Brust. »Bist du etwa deswegen zu mir gekommen?«

»Nicht ganz, Kommissar«, antwortete Rohn und atmete hörbar aus. Man sah, wie schwer ihm das Gespräch fiel, und genau das machte Nikolas stutzig. »Ich wollte mich bei dir bedanken, dass du die Sache mit de Bale heute durchgezogen hast. Die letzten Monate … du warst uns eine große Hilfe. Die Geschichte mit Sarin-Beauté, diesem Teufelszeug, womit von Varusbach Paris einnebeln wollte … Ich meine, ohne dich hätten wir es wohl nicht geschafft. Es gibt mehr als einen Menschen hier, der sich bei dir bedanken sollte.«

»Und warum tut es keiner?«

Rohn stand auf, stemmte die Hände in die Hüften. »Was erwartest du? Du bist ein ehemaliger Polizist und die Hälfte der Résistancemitglieder da oben denkt, dass du ein Doppelagent bist. Diese Geschichte in Leverkusen, das Werk der IG Farben, Sarin-Beauté … Viele bezweifeln, dass es dieses Zeug überhaupt gab.«

Jetzt konnte sich Nikolas nicht mehr halten. Blanker Hass ergriff von ihm Besitz. Wutentbrannt donnerte er seine Faust gegen die Wand. »Ich habe es gesehen, Rohn. Und du auch! Da waren Dutzende Zylinder voll mit dem Zeug. Die IG Farben hatte so viel Sarin gelagert, dass es für halb Europa gereicht hätte.«