Sei ganz still - Sebastian Thiel - E-Book

Sei ganz still E-Book

Sebastian Thiel

4,8

Beschreibung

Im Sommer des Jahres 1938 brodelt die Stimmung im Deutschen Reich. Hitler verlangt nach mehr Lebensraum im Osten, das Volk stimmt blind vor Euphorie ein. Nur der Schläger, Trinker und Polizist Friedrich Wolf bekommt von alldem nichts mit. Eingesperrt im Strafgefangenenlager schuftet er unter schlimmsten Bedingungen, bis ein mysteriöser SS-Arzt ihn herausholt und ihn beauftragt, ein ganz bestimmtes Mädchen in der Düsseldorfer Unterwelt ausfindig zu machen. Eine Jagd beginnt, die Wolf an seine Grenzen bringt. Und bald schon wird aus dem Jäger ein Gejagter …

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Sebastian Thiel

Sei ganz still

Kriminalroman

Impressum

Dieses Buch wurde vermittelt durch die Agentur scriptzz

Personen und Handlungen sind frei erfunden, soweit sie nicht historisch verbürgt sind.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig oder nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Mirjam Hecht

E-Book: Benjamin Arnold

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – ullstein bild

ISBN 978-3-8392-4678-8

Zitate

»Wenn die Kraft zum Kampfe um die eigene Gesundheit nicht mehr vorhanden ist, endet das Recht zum Leben in dieser Gesellschaft.«

Adolf Hitler

»Mein Kampf«

»Ärztliche Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden.«

Auszug aus dem Eid des Hippokrates

circa 400 vor Christus

Prolog – Ein Tag in der Hölle

Frühjahr 1938

Strafgefangenenlager Aschendorfermoor

»Dreckspack!«

Der Gefangene schien heute Glück zu haben.

Obwohl es beinahe pervers war, in so einer Umgebung überhaupt von Glück zu reden. Die Aufseher beließen es am heutigen Nachmittag bei wenigen Beschimpfungen und schritten gemächlich ihre Route ab. Anscheinend hatte das gestrige Besäufnis Spuren hinterlassen. Der Gefangene erlaubte sich einen kurzen Blick, bevor er den Spaten in den Schlamm schlug und die braune Masse auf eine Karre neben sich wuchtete.

Nichts sehen, nicht gesehen werden.

Bloß nicht die Aufmerksamkeit des Dicken, wie die anderen Insassen ihn nannten, auf sich ziehen. SA-Scharführer Brammel, dieses fette Schwein, welches im zivilen Leben nie eine Anstellung finden würde, hatte seine Peitsche aus Ochsenleder in Fett eingelegt, um sie geschmeidiger zu machen. Jetzt stolzierte er in seiner braunen Uniform über das Gras und wartete nur darauf, dass irgendjemand zusammenbrach, wobei die Koppel über seinem wippenden Wanst bedrohlich spannte. Diesen Gefallen würde der Gefangene ihm nicht tun. Seitdem die SA-Pionierstandarte 10 die Bewachung des Lagers übernommen hatte, rutschten sie Stück für Stück in den Schlund der Hölle ab. Brammel war in diesem unausweichlichen Kreislauf die reinkarnierte Ausgeburt der Perversion.

Nichts sehen, nichts gesehen werden.

Knietief stand der Gefangene im Moor, schmatzend umspielte das eiskalte Wasser bei jedem Schritt seine zitternden Waden. Die braune Kruste des stinkenden Torfs hatte sich fest auf seine Häftlingskleidung gelegt, als würde sie dort ewig verweilen wollen. Sein Magen knurrte und der gepresste Atem bildete an diesem bitterkalten Tag weiße Wölkchen. Und doch – er würde Brammel nicht geben, was er wollte.

Als der Dicke einmal wegsah, verlangsamte der Gefangene seine Arbeit. Jeder Muskel seines Körpers schmerzte, er hatte das Gefühl, als malträtierten Hunderte Nadelstiche seinen Rücken. Für einen Moment schloss er die Augen, legte den Spaten auf die Böschung, stemmte die Hände in die Hüften und drückte seinen Rücken durch.

Was für eine beschissene Wohltat.

Ein kurzer Herzschlag der Ruhe durchzog seinen Körper. Obwohl er links und rechts die anderen Häftlinge schuften hören konnte und ihr Keuchen das Moor erfüllte, war er für einen Moment zu Hause. In seinen Gedanken floss ein kühles Altbier über seine Lippen, weibliches Lachen erfüllte den Puff. In der nikotingeschwängerten Luft lag Freude und Lust. Bald schon würde er eine der drallen Blondinen am Tresen abgreifen und mit ihr im Hinterzimmer verschwinden. Er freute sich auf die hitzigen Küsse, ihren vollen Busen und …

»Was ist los, Bulle? Träumst du?«

Noch bevor der Gefangene die Augen geöffnet hatte, wusste er, wen der SA-Mann meinte.

Nichts sehen, nicht gesehen werden.

Schnell griff er seinen Spaten und arbeitete schneller als zuvor. Heißer Schweiß rann seine Stirn herab und tropfte in den Schlamm. Jeden Tag mussten sie ein anderes Moor trocken legen, damit ein weiterer Arbeitstrupp den Torf stechen konnte. Ob bei Krankheit oder bei schlechtem Wetter. Er hatte es so satt.

»Ihr scheißkriminellen Bullen wollt wohl nie hören!«

Die Stimme des Mannes bebte gewaltig. Er kam einige Schritte näher. Innerlich betete der Gefangene, dass so ein Milchbubi mit einer Waffe nicht sein Todesengel sein würde.

»Komm hier raus, Grüner!«

Sofort legte der Gefangene den Spaten auf die Böschung und trat aus der Grube heraus. Er musste sich abstützen, um nicht hinzufallen. Dann sah er in das Gesicht des jungen SA-Mannes. Keine Rune, keine silbernen Kennzeichnungen – ein einfacher Soldat der Sturmabteilung, der sich seine Sporen noch verdienen wollte. Nicht älter als 20. Verdammt, hätte ihn vor einen halben Jahr jemand so angeschrien, der hätte die nächsten Wochen nur Suppe gegessen. Nie im Leben hätte er gedacht, dass er vor einem blonden Bubi, der halb so alt war wie er, stramm stehen müsste.

Der Gefangene nahm mit seinen vor Dreck verkrusteten Fingern die Mütze seiner Häftlingsuniform ab und nahm Haltung an.

»Insasse Nummer 13 …«

»Wir wissen, wer du bist.«

Dieser drohende Ton in der Stimme, die ihn gerade unterbrochen hatte, gefiel dem Gefangenen gar nicht. Momente später tauchte Brammel neben dem Bubi auf und fixierte den ausgezehrten Mann aus seinen kleinen Schweinsaugen. Obwohl der Gefangene die beiden um fast zwei Köpfe überragte, fühlt er sich nun schrecklich hilflos. Früher hatte allein seine hünenhafte Statur für Ruhe gesorgt, wenn er eine Kneipe betrat. Jetzt war er in den Händen von Versagern, die eine Uniform tragen durften.

Wenn man Verlierern nur ein klein wenig Macht gab …, dachte der Gefangene und biss die Zähne zusammen. Er hatte selbst genug Verhaftungen vorgenommen, um zu wissen, dass es jetzt an der Zeit war, die Klappe zu halten.

»Wolf«, war das einzige Wort, das Brammel lang gezogen und voller Verachtung sprach. »Friedrich Wolf, der böse Bulle. Ein Wolf im Schafspelz sozusagen.« Der Scharführer stupste seinen jungen Kameraden in die Seite, beide verfielen in schallendes Gelächter. »Doch hier hast du keinen Namen mehr, nur eine Nummer. Du bist ein Nichts, hast du verstanden?«

»Jawohl!«, brüllte der Gefangene. Sein Blick ging starr geradeaus über die Felder, bis er sich einen Punkt an den Wachtürmen suchte.

Brammel trat so nah an ihn heran, dass er den Geruch von Kaffee mit Schnaps riechen konnte. Richtigen Kaffee, nicht die braune Brühe aus Getreide, die die Häftlinge jeden Morgen zum Frühstück bekamen.

»Deine Uniform ist dreckig, Bulle.«

Am liebsten hätte der Gefangene den Kopf des Mannes einfach mit den Händen zerdrückt. Früher, in Düsseldorf, hätte Brammel sich nicht einmal getraut, ihn auch nur schief anzusehen. Doch das halbe Jahr hier im Strafgefangenenlager zehrte unbarmherzig an seinem körperlichen Zustand. Er war abgemagert, die Oberarme hatten die Hälfte ihres Umfangs eingebüßt, seine Knie zitterten bedrohlich. Und doch war sich der Gefangene sicher, dass er die beiden Wärter in Grund und Boden hätte stampfen können. Wären da nicht die anderen SA-Soldaten mit ihren automatischen Waffen gewesen. Nur ein schneller Schlag gegen den Kehlkopf des Jüngeren und ein kräftiger Stoß mit dem Gewehrkolben gegen den Dicken und sie lägen beide am Boden.

Schnell und lautlos – so wie er es gerne hatte.

Die Hände des Gefangenen formten sich zu Fäusten.

Nicht sehen, nicht gesehen werden.

Für Gefangene gab es nur diese eine gottverdammte Regel. Selbst diese war er nicht imstande einzuhalten. Er versuchte, die aufkommende Wut mit aller Macht zu unterdrücken. Genau das hatte ihn in diese Lage gebracht.

»Ekelhaft«, spie Brammel aus und wischte mit dem behandschuhten Finger über den grünen Balken auf der Gefängniskluft des Häftlings, die diesen als Kriminellen auswies. Er kam noch ein Stück näher, zog hörbar Luft in seine Nase. »Und wie du stinkst. Als würdest du dich gerne im Dreck suhlen, Bulle.«

Was die beiden Idioten natürlich nicht wussten, dass das Wort Bulle aus dem Niederländischen kam. Es hatte früher einmal so viel wie Mensch mit Köpfchen bedeutet. Doch das war hier gleichgültig.

Der Gefangene hatte Mühe, die Kontrolle zu behalten. Seine Zähne mahlten gefährlich aufeinander. Mit jeder Bewegung ging sein Kiefer mit.

Brammel registrierte das, es schien ihn zu erfreuen. »Runter auf den Boden, Wolf. Und zeig mal, was für ein harter Kerl du bist.«

Er wusste, was das zu bedeuten hatte. Sofort legte er sich bäuchlings in das nasse Gras und begann mit Liegestützen. Vor seinen Augen baumelte die Ochsenpeitsche. Dann kam der erste Schlag.

»Schneller, Grüner! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

Der junge SA-Mann zog das Oberteil der Häftlingsuniform bis zum Hals, damit sein Kamerad den nackten Rücken treffen konnte. Bei jedem Schlag durchzogen heftige Schmerzen seinen ohnehin schon gepeinigten Körper. Es war, als schlüge der Teufel selbst mit seiner brennenden Peitsche auf ihn ein. Erst war es nur die Willkür, die ihn wütend machte, doch als die Folter einfach kein Ende nehmen wollte, bemerkte der Gefangene, wie Tränen aus seinen Augen flossen und Zorn sich mit Hilflosigkeit zu einer unaussprechlichen Pein vermischten. Die Kraft verließ ihn allmählich. Er würde es nicht mehr lange durchhalten …

»Wo ist der große Wolf jetzt?«, schrie Brammel, schon ganz außer Atem. Endlich versiegten die Schläge. »Ich muss mich ausruhen.«

Bereits im nächsten Moment spürte der Gefangene ein Gewicht auf seinem Rücken. Brammel hatte sich auf seine Schulterblätter gewuchtet und stützte sich mit der Hand auf seiner blutigen Haut ab. »Los, weiter!«

Er schaffte nicht auch nur eine weitere Liegestütze. Es schien, als würde das Gewicht des Mannes ihn zerdrücken. Aus den Augenwinkel erkannte er, wie die anderen Arbeiter kurz hochblickten, nur um dann schneller zu arbeiten.

Nichts sehen, nicht gesehen werden.

Sie verstanden die Regel. Die meisten waren Politische. Rote Winkel. Nur hier, weil ihre Meinung Hitler nicht passte und die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei systematisch ihre Opposition bekämpfte. Normalerweise wurden sie härter rangenommen. Heute war er dran und sich damit nicht sicher, ob er den Tag überleben würde.

»Du kannst also nicht mehr«, zischte Brammel und erhob sich.

Obwohl sein Blick durch einen milchigen Schleier aus Schmerz und Tränen getrübt war, schaffte es der Gefangene, nach oben zu schauen. Der Scharführer nahm seine Peitsche etwas fester, blickte auf ihn herab. »Vielleicht sollte ich dich etwas motivieren.«

Als die Peitsche ein weiteres Mal auf die aufgeplatzte Haut seines Rückens klatschte, hatte Wolf das Gefühl, endgültig den Verstand zu verlieren.

»Ich werde dich windelweich …«

War das ein Traum?

Dieses Geräusch! Noch nie war er so froh gewesen, das Hupen des Transporters zu hören. Brammel ließ die Peitsche sinken.

»Schluss für heute«, sagte er an seinen SA-Mann gewandt. »Lass die Gefangenen antreten, dann wird das Material gereinigt und gezählt, anschließend Abmarsch ins Lager.«

Noch einmal drehte sich Brammel mit hasserfüllten Augen um. Ihre Blicke trafen sich und der Gefangene wusste, dass ihm die heiße Mahlzeit, die im Innenraum des Lagers auf Brammel wartete, das Leben gerettet hatte.

Der junge Soldat schrie Befehle, die Männer kamen langsam aus den Torfgruben, und auch Wolf schaffte es allmählich, wieder auf die Knie zu kommen. Sein Atem war schwer, der Rücken brannte wie Feuer, das Blut rauschte in seinen Adern und doch lebte er. Allerdings konnte er sich nicht sicher sein, wie lange noch. Brammel liebte es, die Menschen aus nichtigen Gründen in den Tod zu prügeln, sie von den Hunden bei lebendigem Leibe zerfleischen zu lassen oder sie zu verstümmeln. Auch Wolf hatte schon Menschen geschlagen, verprügelt, manch einem sogar ein Messer in die Hand gejagt. Die dunkle Hand des Todes war ihm ebenfalls nicht fremd. Doch das war damals gewesen, im Großen Krieg. Viele Jahre her. Danach, im Polizeidienst, waren es Mörder, Vergewaltiger – Abschaum, der den Tod verdient hatte. Nie aus Willkür oder gar purer sadistischer Freude. Alles erfüllte seinen Zweck.

Nur nicht hier.

Ein paar Sekunden noch sah der Gefangene Brammel nach. Bevor er hier abtrat, würde er diesen Schlächter mitnehmen. Koste es, was es wolle.

Kapitel 1 – Emsländer Nächte

»Verdammter Mist«, fluchte Wolf leise, als er sich im Bett umdrehte. Im nächsten Moment schon hätte er sich selbst verfluchen können. Sprechen nach dem Zapfenstreich war strengstens untersagt. Die Kapos und andere Funktionshäftlinge kontrollierten die Regeln eisern, nur um die Gunst ihrer Aufseher zu erhaschen. Für jeden verratenen Häftling gab es eine größere Ration, eine Packung Zigaretten, manchmal sogar ein halbes Laib Brot. So schuf man absolute Macht, mit einer alles umfassenden Tyrannei, in der jeder vor jedem Angst hatte.

Wolf atmete aus, verzog vor Schmerzen das Gesicht. Häftlinge, die andere Insassen verrieten – ein Terrorregime, das jeden Widerstand auslöschte, indem sich niemand mehr sicher sein konnte. Das Reich hatte es wahrlich weit gebracht. Und das Schlimmste war, ihn hatte es eigentlich nicht mal sonderlich interessiert. Zumindest nicht bis zu dem Zeitpunkt, bis auch er die volle Dosis der mächtigen Obrigkeit zu spüren bekam.

Wolf vernahm Husten, dann ein Röcheln. Irgendjemand spuckte auf den Boden. Wahrscheinlich blutiger Auswurf. Wie viele würden die Nacht nicht überleben und an einer Lungenentzündung zugrunde gehen? Solche Fragen überging man lieber, allein der Gedanke daran ließ Wolf das Blut in den Adern gefrieren.

Kein Wunder. Brammel hatte die ganze Baracke vor wenigen Tagen bei Schneefall und mit freiem Oberkörper draußen antreten lassen und war danach zu seiner Schafkopfrunde verschwunden. Erst Stunden später kam der Scharführer betrunken und bester Laune zurück.

Mittlerweile hatte Wolf das Gefühl beschlichen, er kalkulierte die täglichen Todesfälle ein.

Erneut biss er in der Dunkelheit die Zähne aufeinander. Auf dem Rücken zu schlafen war unmöglich. Brammels mit Fett eingeweichte Peitsche hatte ganze Arbeit geleistet. Er hatte die Verletzungen nur notdürftig versorgen können. Noch immer brannten die offenen Wunden, als würde eine unsichtbare Macht jede Minute Salz hinein reiben. Auf der anderen Seite der Pritschte ruhte ein Politischer, dessen Namen er schon wieder vergessen hatte. Wolf musste sich anstrengen, nicht auf den kalten Boden der Baracke zu knallen.

Die Hochbetten waren mit jeweils vier Mann belegt. Das Emslandlager II bot nach dem Ausbau Platz für 1.500 Häftlinge. Wolf hatte allerdings das Gefühl, als wären es Hunderte mehr. Jeden Tag stiegen neue Gefangene aus den Waggons an dem provisorischen Bahnhof des Lagers, die Anzahl der Politischen überwog bei Weitem. Seitdem das Kabinett 1934 per Gesetzbeschluss die Befugnisse des Reichpräsidentenamts an Kanzler Hitler übertragen hatte, waren die Verhaftungen sprunghaft angestiegen.

Wolf wusste noch genau, wo er an diesem Tag gewesen war. Natürlich bei Helene. Wo auch sonst. Sie war in all den Jahren nicht nur zu einer guten Freundin geworden, sondern mittlerweile so etwas wie sein moralischer Anker. Als Prostituierte. Hatte sie ihn nicht gewarnt, dass ihn die Korruption, der Alkohol, die ganzen Schlägereien und die Hurerei irgendwann in den Knast bringen würden?

Was sie wohl gerade in diesem Moment machte? Wahrscheinlich Kunden bedienen, dachte er wehmütig und wünschte sich nichts sehnlicher, als selbst dieser glückliche Tropf zu sein, dem Helene in dieser kalten Nacht ein wenig Wärme schenkte. Genau wie er war auch sie in die Jahre gekommen, doch was sie mit ihrem Mund anstellen konnte, war noch immer …

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als ein Kapo die Tür aufriss.

»Er liegt dort drüben«, hörte Wolf den Mann sagen. Anschließend wurde das Licht angeschaltet. Nach der Anzahl der Schritte zu urteilen waren es mehrere Soldaten, die sich näherten. Er schloss die Augen und stellte sich schlafend.

Nichts sehen, nicht gesehen werden.

Ein Kloß verfestigte sich in seinem Hals, als die Gruppe vor seinem Hochbett stoppte. Der feste Tritt gegen das Bettgestell brachte endgültige Gewissheit. Dieses Mal würde der Kelch nicht an ihm vorübergehen. Das war es also. Brammel hatte ihn nicht vergessen. Der Dicke wollte die Tortur des Abends beenden. Wolf würde nie wieder ein Bier kosten dürfen oder den Kuss einer Frau auf seinen Lippen spüren. Die einzige Frage, die es jetzt noch zu beantworten galt, war: Wie lange würde Brammel seinen perversen Leidenschaften frönen, bevor er ihm den Gnadenstoß gab?

Der Kapo sah mit finsteren Augen auf ihn herab, hatte bereits seinen Knüppel in der Hand. »Das ist der Gefangene, den Sie wollten.«

Erst jetzt öffnete Wolf langsam die Lider und gab nicht einmal vor, verschlafen zu sein. Er erkannte drei Soldaten der Schutz-Staffel. Verdammt, was hatte sich Brammel jetzt wieder überlegt?

»Anziehen, mitkommen!«, waren die einzigen Worte, die der Scharführer der SS ausspuckte. Schnell zog einer der Männer die Decke weg und Wolf wurde von den Soldaten grob aus den Schlafsaal gezerrt. Er hatte gerade noch Zeit, die Häftlingskluft überzuwerfen. Es war den Gefangenen strengstens untersagt, beim Schlafen etwas über ihren fröstelnden Körper zu ziehen. Ein weiteres Mittel absoluter Demütigung.

Auch diese Männer überragte Wolf, jedoch war ihnen ihre militärische Ausbildung anzusehen, die weitaus fundierter gewesen sein musste als die der bewachenden SA.

Ein kühler Wind pfiff über das Strafgefangenenlager, als Wolf nach draußen gestoßen wurde. Die Lichterkegel der Wachtürme erhellten einen Teil des Exerzierplatzes und verwandelten den ohnehin schon mit Trauer und Schmerz erfüllten Ort zu einer gespenstischen Kulisse. Welche Rolle hatte Brammel ihm in diesem Schauspiel heute zugedacht? Suchte er jemanden, den er aus Lust am Foltern zerstören konnte oder wollte er ein Lamm, das um sein Leben bettelte?

Letzteres durfte er ihm keinesfalls gönnen, koste es, was es wolle. Wolf schob die Gedanken beiseite, als sie das Tor zur Verwaltung passierten. Auf der linken Seite konnte er sogar die Spitze des Zehn-Meter-Springturms erkennen. In wenigen Wochen würden sie Wasser in das Schwimmbecken lassen. Ein Schwimmbad im Freizeitpark für die Bewacher, errichtet von den Gefangenen. Ab und zu hörte man im Sommer vergnügte Schreie, wenn die Mannschaften frei hatten und mit ihren Familien dort nach Kurzweil suchten. Wolf schnaufte abfällig. Obwohl der Wind bitterkalt über seine Haut strich, spürte er, wie das Blut in seinem Schädel anfing zu rauschen. Die Narben früherer Schlachten begannen zu schmerzen. Besonders jene, die sich von seinem linken Auge über die Wange bis zu seinem Hals herabzog, spannte unaufhörlich. Ein Andenken seines alten Chefs. Kein Wunder, dass Wolf gerade jetzt an diesen Bastard denken musste. Er hatte den Major der Polizei, Harald Fritsch, einst bewundert. Ein leuchtender Stern am Himmel der Düsseldorfer Ordnungspolizei. Dass er seinetwegen in diese Lage geraten war, musste der traurigen Ironie des Schicksals geschuldet sein.

Wolf wurde vorbeigeführt an SA-Soldaten, die gelangweilt oder argwöhnisch dreinblickten, abhängig von Stellung und Interesse. Im großen Verwaltungshaus stoppte der Trupp. Die Wärme der Räume schlug augenblicklich in Wolfs Gesicht. Unglaublich. In den Baracken fror man sich den Hintern ab und hier liefen sie mit offenem Hemd herum. Es wurden Worte mit dem Wachhabenden gewechselt, die Wolf nicht verstehen konnte. Dann packte einer der SS-Soldaten ihn grob am Arm und führte ihn weiter. Sie schoben ihn eine ausladende Treppe herauf in den ersten Stock. Etliche Lichter waren gelöscht, niemand sagte ein Wort.

Wolf hatte bisher in seinem Leben selten Angst gehabt.

Als er sich als Freiwilliger zum Großen Krieg meldete und in den Schützengräben von Verdun beinahe verreckte, wusste er, dass er überleben würde.

Als sein Vater, der alte Hurenbock, ihn nächtelang mit dem Gürtel grün und blau schlug, weil seine Frau weggelaufen war, wusste er, dass er überleben würde.

Und als ein völlig besoffener Raubmörder ihm bei einer Verhaftung den halben Bauch aufschlitzte, wusste er ebenfalls, dass er irgendwann wieder aufwachen, der Schmerz versiegen und er bald weiterleben konnte.

Hier und jetzt, an diesem Ort, der irgendwo zwischen einer schrecklichen Realität und einem Albtraum lag, war er sich nicht mehr so sicher.

Der Trupp stoppte in der Mitte des Gangs. Wolf wurde angehalten, stramm zu stehen, der SS-Scharführer klopfte an die Tür, wieder fielen Worte, dann ein kurzes Nicken. Der Soldat bedeutete ihm, näher zu kommen. Noch bevor sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, knallte die Tür.

»Oberwachtmeister Friedrich Wolf?«

Erst jetzt erkannte er, dass er nicht allein war. Vor ihm saß ein Obersturmführer der Schutz-Staffel. Sofort nahm Wolf Haltung an, griff an sein Haupt. Verdammt, in all der Eile hatte er seine Mütze vergessen. Allein deswegen konnten sie ihn an den Galgen bringen. Er musste sich räuspern. »Jawohl. Der Gefangene Nummer …«

»Gut«, unterbrach ihn der Mann und erhob sich. Lächelnd ergriff der Offizier seine Hand und schüttelte sie kräftig. »Ernst Kampa, es freut mich, endlich Ihre Bekanntschaft zu machen. Bitte, setzten Sie sich.«

Der Mann nahm Platz, unsicher folgte Wolf an der gegenüberliegenden Seite des Tischs. Wann hatte ihn zuletzt jemand mit seinem Rang angesprochen? Erst jetzt erlaubte Wolf sich umzusehen. Er befand sich in einem Verhörzimmer. Früher war er selbst oft in diesen Räumen gewesen – allerdings hatte er einst auf der anderen Seite gesessen. Lediglich ein Tisch und zwei Stühle gehörten zum Interieur des Raums. Vor ihm stand eine dampfende Tasse Kaffee und eine offene Zigarettenschachtel.

»Bitte, bedienen Sie sich«, sagte Kampa lächelnd und zündete sich selbst eine an.

Noch wusste Wolf nicht, wie er diesen Burschen einzuordnen hatte. Er war ein alter Hase im Polizeidienst, das Beobachten von Menschen lag in seiner Natur. Hoffentlich hatte Brammel ihm seine Fähigkeiten nicht vollends aus dem Kopf geprügelt. Er konzentrierte sich, wie schon so oft zuvor, wenn er mal wieder in einer verrauchten Kneipe nach Verdächtigen Ausschau gehalten hatte. Er atmete tief ein, die Zeit schien langsamer zu laufen.

Die mittellangen, blonden Haare des Offiziers waren zu einem akkuraten Scheitel gekämmt. Der Mann besaß ein schmales Gesicht, war perfekt rasiert und sogar der Schmiss – wahrscheinlich eine Schnittverletzung aus einer schlagenden Verbindung, anders war diese Narbe nicht zu erklären – fügte sich gut in das ansonsten sanfte Aussehen. Mit den durchdringenden, blauen Augen war er der Inbegriff eines Ariers. Hitlers Liebling. Die Ärmelraute drei Zentimeter über dem Band wies ihn als Führer im medizinischen Dienst aus. Er hatte also studiert und trug den Äskulapstab am linken Arm, dennoch hatte er sich nicht als Doktor vorgestellt. Entweder war dieser Mann überaus bescheiden oder die Tatsache war für ihn nicht wichtig. Seiner Ausdrucksweise nach zu urteilen stammte er aus gutem Hause. Er wirkte weder nervös, noch aufgesetzt. Zudem fehlte das aggressive Blitzen in den Augen jener Männer, die sich daran ergötzten, Macht über Menschen zu besitzen. Er war also mit Einfluss aufgewachsen, wahrscheinlich aus einer angesehenen Familie stammend. Doch all das brachte Wolf leider keinen Deut weiter. Dazu kam, dass der Offizier eine fast schon unheimliche Ruhe ausstrahlte. Lediglich das nervöse Wippen seines rechten Beins deutete darauf hin, dass ihm die Zeit davonlief.

»Danke schön«, murmelte Wolf, nahm die Salem No. 5 Zigarette und ließ sich Feuer geben. Es folgte ein Schluck Kaffee. Er wurde vom Hustenreiz durchgeschüttelt. Wolf musste sich bemühen, nicht die Augen zu schließen. Das hier war richtiger Kaffee, nicht der Mist, den die Gefangenen bekamen. Und erst die Kippe … wenn es seine letzte sein sollte, würde er sie genießen. Ein Hauch von Leben floss in seine Adern zurück.

Kampa besaß einen fast stechenden Blick, so einen, bei dem die Frauen direkt ihren besten Augenaufschlag auflegten und ihr Lachen eine Nuance höher wurde. Dazu sein Aussehen, die Tatsache, dass er Arzt war – Wolf war sich sicher, dass dieser Mann noch nie eine Nacht bei einer Prostituierten verbracht hatte. Hatte er nicht nötig.

Kampa ließ Wolf selbst nicht aus den Augen, als er aus seiner Tasche eine Akte fischte und diese sanft, beinahe bedächtig auf den Tisch legte. Erst als er sie aufklappte, sah er nach unten und stützte sich mit der einen Hand ab, als würde er gerade eine besonders interessante Stelle in einem Buch lesen.

»In Ihrer Akte steht eine ganze Menge«, sagte er leise, mit einem gespielten Hauch von Anerkennung. »Was ist aus Ihrer Mutter geworden?«

Die Frage kam aus heiterem Himmel, dass es sich anfühlte wie ein Donnerschlag. Fast wären Wolf die Gesichtszüge entglitten. Oh, dieses Aas. Er wusste, welche Stellen am meisten wehtaten. Wolf überspielte den Zorn in seinem Inneren und zuckte lediglich mit den Schultern. »Hat es irgendwann nicht mehr ausgehalten und ist abgehauen.«

»Einfach so?«

»Einfach so«, schnaubte Wolf und lehnte sich zurück. Er unterdrückte den aufkommenden Schmerz der blutenden Wunden. »Wenn man Tag für Tag Prügel von seinem Gatten bezieht und dauernd von ihm vergewaltigt wird, ist jeder Ort besser als das eigene Zuhause.«

Kampa nickte verstehend. »Zurück blieben Sie und der Hass Ihres Vaters.«

»Irgendwer muss es immer abkriegen.«

»Zumindest, bis Ihr alter Herr diesen …« Kampa lehnte sich über den Tisch, blickte in Richtung der einzigen Lampe und suchte nach den richtigen Worten. »… tragischen Unfall hatte.«

Obwohl er es nicht wollte, musste Wolf lächeln. »Wenn man betrunken noch ein Bad nehmen will, kann man schon mal ersaufen.«

Wieder fixierte Kampa Wolf und blätterte ein paar Seiten weiter. »Nach mehreren Gelegenheitsarbeiten bei Schreinern, Wirten, Bauern und Jägern meldeten Sie sich anschließend zum Großen Krieg. Sogar ein Eisernes Kreuz 2. Klasse dürfen Sie Ihr Eigen nennen.« Kampa pfiff anerkennend. »Mehrere Feinde mit bloßen Händen abgewehrt, Tapferkeit und Mut, sehr eindrucksvoll.« Wolf sagte kein Wort, als der Offizier erneut blätterte. »Mit diesen Referenzen sind Sie schließlich in den Ordnungsdienst der Düsseldorfer Polizei eingetreten, haben es in all den Jahren aber nicht geschafft, über den Rang eines Oberwachtmeisters hinauszukommen.« Kampa zog die Stirn in Falten. Diese Tatsache schien ihn zu amüsieren. »Andere sind in Ihrem Alter längst Major, mindestens aber zu Hauptleuten aufgestiegen. Doch Ihre Aktenvermerke bestehen lediglich aus Korruption, Gewalt gegen Zivilisten, Trunkenheit im Dienst, Förderung der Prostitution, kriminelle Einflussnahme und, und, und.« Er machte eine kurze Pause, zog an seiner Zigarette und lächelte. »Eigentlich wären Sie schon viel früher eingesperrt worden, doch immer wieder konnte Ihr Chef das verhindern, weil Sie eine der höchsten Verhaftungsquoten in ganz Düsseldorf aufweisen. Sie scheinen den richtigen Riecher zu haben und scheuen sich nicht davor, Gewalt anzuwenden. Stimmt das?«

Ganz klar, dieser Mann hörte sich gerne selbst reden. Und trotzdem war es eine Wohltat, dieser ruhigen und sachlichen Stimme zuzuhören. Wolf hielt es für das Beste, ihm recht zu geben.

»So ungefähr.«

Kampa überkreuzte die Arme. »Ihren ehemaligen Kollegen nach zu urteilen kennen Sie in Düsseldorf so ziemlich jede Prostituierte, jeden Taschenspieler, Kleinganoven oder Schläger.« Seine Stimme wurde fordernder. »Der gesamte Abschaum, der sich erst bei Anbruch der Nacht aus den Häusern wagt, ist Ihnen also wohlbekannt?«

Wolf mahnte sich zur Vorsicht. Noch immer konnte er diesen Mann nicht durchschauen, allerdings sprach die Akte für sich, eine Lüge würde er sofort erkennen. Er hatte schon viele Tölpel kennengelernt. Einfaltspinsel, die einem jedes Wort abnahmen, wenn man nur entsprechend auftrat. Dieser Offizier gehörte definitiv nicht dazu. Natürlich lagen etliche Geschichten weitaus komplizierter, doch im Großen und Ganzen passte der zusammengefasste Lebenslauf. Leider. Wem machte er etwas vor? Es hatte keinen Sinn, sich zu winden. Es stand schwarz auf weiß auf den Blättern vor ihm.

»Ja«, hauchte er schließlich.

Kampa nickte zufrieden. Er hatte das bekommen, was er wollte. Genüsslich klappte er die Akte zu und ließ sie in seine Tasche gleiten.

»Dann sind Sie genau der Richtige. Sie werden neu eingekleidet und dann fahren wir.«

Eine geschickte Form der Folter. Er hatte Brammel gar nicht zugetraut, so eine perfide Schau zu organisieren. Die SS-Uniformen wirkten echt, dazu dieser Mann mit seinen stechenden Augen und dem einnehmenden Auftreten. Bestimmt ein Leutnant, der Brammel einen Gefallen schuldig war.

Wolf hielt den Atem an.

Wenn er ganz ruhig war, konnte er dann nicht sogar das Gelächter der SA-Wachmannschaft aus dem Nebenzimmer hören? Vielleicht würden sie ihn wirklich neu einkleiden und in ein Auto steigen lassen. Wenn sie es auf die Spitze trieben, fuhren sie sogar vor das Tor, nur um im letzten Moment umzudrehen und ihn wieder in seine Baracke zu führen. Wolf konnte jetzt schon Brammels kleine Schweinsaugen sehen, aus denen er sich die Lachtränen wischen musste.

Hast du wirklich geglaubt, dass wir dich gehen lassen, böser Wolf? Du wirst für immer hier bleiben. Und jetzt zieh dich aus, der Schlauch mit kaltem Wasser wartet schon auf dich.

Zumindest im besten Fall. Noch immer war Wolf nicht vollends davon überzeugt, dass er den nächsten Sonnenaufgang erleben würde. Er fuhr sich über das stoppelige Kinn und erinnerte sich daran, dass auch ein Bart unter Strafe stand.

»Wenn mir die Frage erlaubt ist, wohin fahren wir, Herr Obersturmführer?«

»Nach Düsseldorf. Abfahrt in zehn Minuten. Stehen Sie bitte auf, es gibt eine Menge zu tun.«

Wolf nickte müde, erhob sich langsam. Sollten sie ihren Spaß haben. Ändern konnte er es beileibe nicht.

»Natürlich gibt es das.«

Kapitel 2 – Totenruhe

Wolf wollte nicht schlafen.

Die quälende Ungewissheit ließ ihm keine Ruhe. Zu seiner Überraschung hatten sie ihn tatsächlich neu eingekleidet und sogar seine Wunden versorgt. Die alten Utensilien waren wohl verloren gegangen. Woher die Stücke stammten, wollte er gar nicht so genau wissen. In dem Nadelstreifenanzug, der etwas zu eng saß, sah er aus wie ein Geldeintreiber. Sie gaben ihm passende Schuhe sowie einen Hut und führten ihn zu einer Wagenkolonne. Drei Adler Trumpf Junior.

»Beinahe fabrikneu«, hörte Wolf Kampa sagen. In seiner Stimme lag der Anflug von Stolz. »Baujahr 1937, 25 Pferdestärken, bei freier Fahrt kann der Torpedo bis zu 95 Kilometer die Stunde machen. Schon einmal in so einem Gefährt gesessen?«

Wolf schüttelte den Kopf und stieg ein. Es würde eine kurze Fahrt werden, dachte er noch, als die Türen sich schlossen und der Motor sein monotones Surren über das nächtliche Lager II warf. Obwohl Wolf sich zur Ruhe anhielt, kam er nicht umhin zu bemerken, wie sein Herz einen Sprung machte, als das Haupttor geöffnet wurde. Er spürte etwas, was er schon lange vergessen geglaubt hatte: Hoffnung.

Vielleicht hatten sie in diesem halben Jahr noch nicht jeden Funken Menschlichkeit aus ihm herausgeprügelt.

Bald schon drang ihm nicht mehr dieser widerliche Gestank des Moors in die Nase. Die Bäume flogen immer schneller an ihm vorbei. Es war, als befände er sich in einer anderen Welt, ohne Stacheldrahtzäune, bellende Hunde und sadistische Aufseher. Und das, obwohl sie nur wenige Kilometer gefahren waren. Wie gebannt starrte Wolf aus dem Fenster, sein Blick verlor sich in der Dunkelheit. Er wünschte sich für einen Herzschlag, dass diese Fahrt ewig dauern würde. Der Schlafmangel zehrte an ihm. Er wollte aufmerksam bleiben, sah noch einmal zu Obersturmführer Kampa neben sich und registrierte, dass der Offizier die Augen geschlossen hatte. Empfand er weder Angst noch Furcht in Gegenwart eines Gewaltverbrechers? Oder war es die Sicherheit, welche die beiden bewaffneten Soldaten im vorderen Teil mit sich brachten? Nach wie vor wartete Wolf darauf, dass die Kolonne im tiefen Wald umkehrte oder ganz hielt. Ein paar letzte Worte und dann ein Genickschuss im tiefen Nebel. Andererseits, warum der Aufwand – sie hatten im Lager schon ganz andere Leute wegen Nichtigkeiten mitten auf dem Exerzierplatz totgeprügelt. Ohne es wirklich zu wollen, schüttelte Wolf mit dem Kopf.

Sei nicht so melodramatisch, Mann!

Als der Fahrer nach etlichen Kilometern immer noch keine Anstalten machte zu drehen, verlor Wolf die Konzentration. Das gleichmäßige Wummern des Wagens war einschläfernd, sein Kopf schwer und er hatte das Gefühl, als würden auf seinen Lidern Tonnen lasten. Nur ein kurzer Moment der Ruhe …

*

»Herr Obermeister!«

Warum … warum um alles in der Welt hatten die Kapos keine Gnade? Ausnahmsweise waren es keine Albträume, die Wolf in dieser Nacht heimsuchten. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft im Lager waren es schöne Träume. Von Alkohol, der in Strömen floss, rosigen Nippeln, die er küsste, und süßlichem Tabak, der in der Luft lag.

»Wolf, wachen Sie auf! Wir sind gleich da.«

Drecks Kapos! Irgendwann würde er die Aufseher und Brammel ungespitzt in den Boden rammen. Eine Sekunde der Ruhe gönnte er sich noch, dann schlug er die Augen auf. Alles war besser, als den Knüppel schon morgens zu spüren.

Es brauchte nur wenige Momente zur Erkenntnis: Er war nicht mehr im Lager. Vor seinen Augen breitete sich nichts Geringeres als seine Heimatstadt auf.

»Der Rhein«, flüsterte er.

»Sie klingen überrascht.«

Wolf traute seinen Augen nicht. Verdammt, er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal geheult hatte, aber jetzt war ihm danach zumute. Es war früh am Morgen. Gerade kroch die Sonne über den Horizont und spiegelte sich sanft auf der Wasseroberfläche. Hauchdünne Wogen ließen erahnen, mit welcher trotzigen Stetigkeit der Fluss seinen Weg suchte.

»Wo sind wir?«, wollte Wolf wissen.

Kampa blickte kurz aus dem Fenster. Er sah nicht aus, als hätte er geschlafen, und lugte immer wieder von seinen Notizen auf die Straße. Der Offizier strotzte vor Tatendrang und schien nervöser, mit jedem Meter, dem sie sich Düsseldorf näherten.

»Wir passieren gerade Kaiserwerth.«

»So schnell?«

»Nun, des Führers Autobahnen leisten ganze Arbeit. Wir sind die ganze Nacht gefahren, die Sache duldet keinen Aufschub.«

Jetzt erkannte auch Wolf die zwei mächtigen West-Türme der Stiftskirche St. Suitbertus. Mehrmals hatten ihn Ermittlungen auf den Marktplatz und die Kaiserpfalz geführt. In den gespenstischen Ruinen, die noch von Kaiser Barbarossa erbaut worden waren, hatte er beinahe einmal aus Versehen einen Mönch erschlagen. Nur gut, dass er dann noch den richtigen Halunken gefunden hatte. Konnte ja keiner wissen, dass der Verdächtige sich die Kutte nur zur Tarnung angezogen hatte.

»Sie haben bestimmt Appetit«, fuhr Kampa übermäßig freundlich fort.

Appetit – wie sich das anhörte. Wolf hätte ein ganzes Schwein verdrücken können – zu lange hatte er nicht mehr das Gefühl von Appetit verspürt, das einzige war Hunger gewesen. »Habe ich.«

»Das kann ich verstehen, aber das muss leider warten. Wir haben wichtigere Dinge zu tun.«

Ihre Blicke trafen sich. »Und das wäre?«

Kampa atmete tief. Es fiel ihm sichtlich schwer, darüber zu reden. »Alles zu seiner Zeit. Wir sind gleich da.«

Von Kaiserwerth bogen sie auf die Danziger Straße. Bald schon nahm der Verkehr zu. Viel hatte sich nicht verändert. Ein paar Hakenkreuzbanner mehr als vor seiner Verhaftung wippten von den Häuserdächern im Wind mit. Die Menschen gingen zur Arbeit. Vor einem Bäcker hatte sich eine Schlange gebildet, einige ältere Damen lachten. Hier und da waren Polizisten in olivgrüner Montur zu sehen. Dieser unbequeme Dienstrock löste etwas in Wolf aus. Er hatte lange Zeit genau so einen getragen. Es fühlte sich an, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Alles schien seinen gewohnten Gang zu nehmen. Ganz so, als hätte er die Stadt niemals für einen Abstecher in die Hölle verlassen.

Als der Wagen vor dem Nordfriedhof hielt, konnte Wolf gar nicht schnell genug aussteigen. Ein strammer Wind umspielte sein Gesicht, sodass er den Anzug zuknöpfte. Erst jetzt bemerkte er, wie sein Rücken schmerzte. Die Peitschenhiebe würde er noch lange im Gedächtnis behalten. Trotz der Wunden streckte er seinen Rücken durch. Seine Beine gaben nach, nur schwerlich begann sein Kreislauf wieder zu arbeiten. Schließlich überwog die Euphorie der vorgeblichen Freiheit.

»Kommen Sie bitte mit.« Kampa ging voran, seine SS-Männer nahmen sie in die Mitte, hielten aber respektvollen Abstand. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, führte Kampa ihn mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die Anlage.

Auch der Nordfriedhof war Wolf wohlbekannt. Zu oft verschlug es hier das Gesindel hin. Tempelbauten wechselten sich mit verzierten Gruften und Engelsgestalten ab. Manche Grabsteine waren längst verwittert, vor anderen lagen noch frische Blumen.

Memento mori – bedenke, dass du sterblich bist.

Er konnte sich nicht erinnern, wann er diesen Ausspruch aufgeschnappt hatte, aber auf eine sehr bedenkliche Art war er zu seinem Credo geworden. Es war ihm unbegreiflich, warum nicht alle Menschen das Leben in vollen Zügen genossen. Es konnte so schnell vorbei sein. Besonders die Gräber der reichen Industriellen übertrafen sich in Prunk und Marmor, als wollten sie den Tod ein letztes Mal übertrumpfen. Natürlich wartete am Ende der Reise auch für sie der Unvermeidliche, wie für alle anderen, die hier lagen oder über diese geheiligte Erde wandelten.

Bald schon nahmen die frisch ausgehobenen Gräber zu. Blumenmeere schmückten einfache Mahnsteine. Wolf las die Daten beiläufig. Gevatter Tod hatte viele von ihnen erst vor ein paar Tagen heimgesucht.

»Herr Obermeister, kommen Sie?«

Wolf war sich nicht bewusst, dass er zurückgefallen war. Gemächlich schloss er auf.

»Dort.« Die Stimme des Obersturmführers zitterte nun gewaltig. Vor einem Grab hielten zwei Soldaten der SS Wache. Sie tranken Kaffee aus dem Versorgungsgeschirr und unterhielten sich angeregt, bis sie Kampa erblickten. Augenblicklich nahmen sie Haltung an.

Auch wenn Wolf keine weitere Schulbildung genossen hatte, war ihm schlagartig bewusst, dass Kampa ein wenig mehr Einfluss hatte, als es den Anschein machte. Das Pendant eines Obersturmführers bei der Wehrmacht war lediglich ein Oberleutnant. Dieser Mann hatte mehrere Wagen zur Verfügung, darüber hinaus die Macht, ihn einfach so aus dem Strafgefangenenlager zu holen, und etliche Bereitschaftssoldaten unter sich.

»Sie müssen gute Verbindungen haben.« Es war an der Zeit, ein wenig mehr aus diesem undurchsichtigen Menschen herauszukitzeln.